18
Der Tag begann ruhig. Im Morgengrauen überprüften die Reiter ihre Pferde, verstauten ihre Habseligkeiten und versorgten sich mit Proviant. Das Wetter war gut, der Tag versprach nicht zu heiß zu werden, und so herrschten ideale Bedingungen für einen Ritt. Dennoch sollte bald ein Sturm losbrechen.
Als die Pferde gesattelt und die letzten Zünder in der Burg gelegt waren, versammelten sich die Rabenkrieger, alte wie neue, im Innenhof. Talan saß bereits auf seinem Pferd.
»Mit jedem Atemzug bin ich bei euch«, sagte Talan.
»Und?«
»Ich werde dennoch fortgehen.« Er zuckte mit den Achseln.
»Wohin?«
»Das geht dich nichts an, Barbar. Wenig gesagt, wenig gewusst, nie gefunden.«
»Was?«
»So hat es meine Mutter immer ausgedrückt. Gott weiß warum, aber es kommt mir richtig vor.«
Hirad zog die Augenbrauen hoch und gab Talan die Hand. »Du wirst immer zum Raben gehören«, sagte er. »Vergiss das nicht.«
»Bei den Göttern, Hirad, ich …«
»Es ist vorbei, Talan. Nun wünschen wir einander ein langes Leben und viel Glück. Mehr können wir jetzt nicht mehr tun.« Er lächelte. »Wir sehen uns dann in Korina, wenn alles vorbei ist.«
»Kommt ganz darauf an.« Talan wendete sein Pferd und trabte zum Tor. Als er sich den Mauern näherte, trat Sol ihm in den Weg.
»Ich denke, du solltest besser anhalten, Talan«, sagte Denser, der mit der Katze auf dem Arm aus dem Haus kam.
»Was ist los?«, wandte Hirad sich an den Xetesk-Magier.
»Ich dachte nicht, dass er wirklich gehen würde. Ich habe darauf vertraut, dass du ihn umstimmst.«
Hirad wurde es trotz des warmen Morgens kalt.
»Dies ist eine Angelegenheit des Raben. Es ist allein seine Sache«, erklärte er, »und er hat das Recht zu gehen, wenn er will.«
»Nein, es ist nicht allein die Sache des Raben«, widersprach Denser. Seine Stimme war ruhig und kalt. »Wir können nicht das Risiko eingehen, dass er gefangen wird. Er darf nicht gehen.«
»Lass das lieber, Denser«, warnte Ilkar.
Denser ignorierte ihn. »Überdenke deine Entscheidung.«
Talan schüttelte den Kopf. »Nein.«
Auf ein Zeichen seines Gebieters riss Sol die Axt aus dem Rückengeschirr und hielt sie bereit.
»Überlege es dir«, sagte Denser noch einmal.
Erneutes Kopfschütteln.
»Du würdest ihn töten lassen?« Hirads Gesicht lief dunkel an.
Denser zuckte mit den Achseln. »Es ist das, was Sol am besten kann.«
Hirad dachte nicht einmal darüber nach. Er marschierte zu Denser, legte ihm einen Arm um den Hals und setzte ihm die Messerspitze unters Kinn.
»Überlege es dir noch einmal«, knirschte er.
Sol kam mit gemessenen, unerbittlichen Bewegungen herüber.
»Noch ein Schritt, maskierter Mann, und die ganze Angelegenheit endet hier und jetzt.«
Hirads Dolch fügte Denser eine kleine Wunde zu. Sol blieb wie angewurzelt stehen. »Und vergiss deine Sprüche. Du bist nicht schnell genug, um mich aufzuhalten«, sagte Hirad in Densers Ohr. Er blickte zu Talan. »Verschwinde hier.« Talan nickte zum Dank, gab seinem Pferd die Sporen und entfernte sich im Galopp. »Wie ich schon sagte, es ist eine Angelegenheit des Raben.« Er gab Denser frei und schob den Dolch wieder in die Scheide. »Jetzt kannst du mich entweder töten, oder wir machen weiter mit unserer Aufgabe.«
»Es wäre sinnlos, dich zu töten«, sagte Denser. Er rieb sich den Hals.
»Das dachte ich mir. Dann lass uns reiten.«
Ilkar schnaufte vernehmlich, warf Hirad einen langen Blick zu und marschierte zu den Ställen. Thraun und Will verschwanden im Haus. Erienne war noch am Grab ihrer Söhne.
Sol baute sich neben Denser auf, die Katze hockte jetzt auf der Schulter des Protektors. Alle drei starrten Hirad an.
»Was ist los? Überrascht es euch, dass es mir so wichtig ist?« Hirads Zorn war noch nicht ganz verflogen. »Du verstehst uns immer noch nicht, was, Denser? Die paar von uns, die noch am Leben sind. Du bist zwar auf den Kodex eingeschworen, doch solange du dies nicht verstehst, wirst du niemals wirklich zum Raben gehören.«
»Nein«, sagte Denser, »ich verstehe es nicht, und ich gehöre nicht wirklich dazu, obwohl ich mit jedem Tag ein besseres Bild bekomme.« Er hielt inne. »Hättest du mich wirklich getötet?«
»Es ist das, was ich am besten kann.« Hirad lächelte.
»Damit hättest du Dawnthief den Wytchlords überlassen.«
»Ich werde nicht zulassen, dass du diese Behauptung als Druckmittel einsetzt, um uns herumzukommandieren. Du hattest nicht das Recht, Talan aufzuhalten …«
»Ich hatte sehr wohl das Recht …«
»Es war eine Angelegenheit des Raben«, fauchte Hirad. »Ich werde mich nicht noch einmal wiederholen. Ich weiß, dass du wichtig bist, und ich weiß, dass wir dich am Leben erhalten müssen. Aber wenn du noch einmal so einen Trick versuchst, dann werde ich das auf jede Weise vereiteln, die ich für richtig halte. Und wenn das bedeutet, dass wir beide sterben und anschließend Balaia untergeht, dann soll es mir recht sein.«
Nach einer Weile nickte Denser. »Aber du verstehst meine Befürchtungen.«
»Natürlich. Ilkar teilt sie ebenfalls. Aber du hättest mit uns darüber reden müssen. Glaubst du wirklich, wir stehen herum und sehen tatenlos zu, wie dein Schatten ein Mitglied des Raben niedermacht?«
Denser schwieg eine Weile, dann holte er tief Luft.
»Im Rückblick, nein. Hör mal, ich habe nicht richtig darüber nachgedacht. Wir haben eine Menge Schwierigkeiten …«
»Das hat Ilkar mir schon erzählt.«
»… und ich habe es als ein Risiko gesehen, das ich unbedingt vermeiden wollte.« Er hielt inne. »Ich bin in Panik geraten. Es tut mir leid.«
»Dann wollen wir es vergessen.« Hirad gab Denser die Hand. »Er sollte aber wissen, dass es nichts Persönliches war.« Er richtete den Blick auf Sol. Die Augen starrten aus der Maske heraus zurück und zeigten keinerlei Reaktion.
»Er wird keinen Versuch unternehmen, dir etwas anzutun, solange du nicht mein Leben bedrohst«, sagte Denser.
»Ich glaube, wir wissen beide, wie wir das vermeiden können, nicht wahr?« Hirad drehte sich um, als von der Burg her ein Geräusch zu hören war. Will und Thraun kamen aus dem Gebäude getrabt.
»Die Zünder sind aktiviert«, sagte Will. »Sie werden etwa vier Stunden brennen. Ich hoffe, wir finden einen schönen Hügel, von dem aus wir zuschauen können.«
»Wir werden sehen, ob sich das machen lässt.« Hirad holte tief Luft. »Der Rabe! Aufsitzen und los. Die Sonne zieht nicht unseretwegen langsamer über den Himmel.« Er hielt noch einmal inne und fasste Denser am Arm. »Kümmerst du dich um Erienne?« Dann rannte er zum Pferd. Minuten später war das Knistern und Knacken der brennenden Zünder das einzige Geräusch, das in den Mauern der Burg der Schwarzen Schwingen noch zu hören war.
Der Rabe ritt zehn Minuten auf dem Weg, der von der Burg fortführte, dann ging es querfeldein, einen sanften Hügel hinauf durch den Wald. Das Gelände war nicht schwierig, doch hier und dort lagen Felsblöcke herum, was eine gewisse Vorsicht beim Reiten geboten erscheinen ließ. Bis Dordover waren es drei Tagesritte. Wenn ein Pferd verletzt wurde, kamen sie langsamer voran, und Zeit war etwas, das der Rabe im Moment ganz gewiss nicht im Übermaß zur Verfügung hatte.
Den ersten Halt, viel zu früh für Densers Geschmack, machten sie etwas mehr als drei Stunden von der Burg entfernt am Hang eines Hügels.
Es war kein idealer Aussichtspunkt, denn die Burg war weit entfernt und außerdem durch Bäume halbverborgen, doch es war das Beste, was sie hier finden konnten, und Will war fest entschlossen, an genau dieser Stelle eine Rast einzulegen.
»Stimmt etwas nicht, alter Freund?«, fragte Ilkar.
Hirad wandte den Blick von der Burg ab. »Ich habe mir gerade überlegt, wie lange es her ist, dass ich mir das letzte Mal einen guten Schluck genehmigen konnte, und die Antwort auf diese Frage hat mir überhaupt nicht geschmeckt.«
»Es war in den Ruinen von Septerns Haus, nicht wahr?«
Hirad nickte.
»Travers hatte einen Vorrat eingelagert«, meinte Ilkar.
»Da würde ich lieber den Inhalt meiner eigenen Blase saufen«, erwiderte Hirad.
»Sehr klug. Das wäre ein gutes Antiseptikum, wie Talan einmal gesagt hat.«
Hirad zog die Augenbrauen hoch. »Ich hoffe, er hat Recht damit«, sagte er. »Ich glaube, ich werde ihn vermissen.«
»Ja, ich auch«, stimmte Ilkar zu.
»Bist du überrascht, dass er uns verlassen hat?«
»Überrascht und sehr enttäuscht. Ich dachte wirklich … weißt du, nach vier Jahren …«
»Ja, ich weiß. Und da wir gerade über Enttäuschungen reden, so muss ich sagen, dass ich allmählich das Vertrauen in Wills Versprechungen über dieses große Feuerwerk zu verlieren beginne.« Er wandte sich an Will, der, die Hände in die Hüften gestemmt, ein paar Schritte entfernt stand. »He, Will, besteht die Möglichkeit, dass das große Ereignis tatsächlich noch stattfinden wird?«
Will fuhr empört hoch und warf ihm einen scharfen Blick zu. »Nur Geduld«, sagte er.
»Rauch!«, meldete Jandyr gleich darauf. Er deutete in die Ferne und stand auf.
»Wo?«, fragte Ilkar.
»Vordertür, aus allen Spalten.«
»Hab es«, sagte Ilkar.
»Wo?« Noch während Hirad sich bemühte zu erkennen, was nur für Elfenaugen sichtbar war, explodierte die Vordertür zusammen mit den umgebenden Wänden. Eine gewaltige Feuerlanze stieß in den Hof hinaus, eine Wolke von Schutt und Rauch folgte ihr, und Hirad schauderte, als er sich erinnerte, wie knapp er Sha-Kaan entkommen war.
Ein gedämpftes Explosionsgeräusch war einige Sekunden später zu hören, und nicht lange danach stürzten die beiden Türme gleichzeitig ein. Einer brach in sich selbst zusammen, im zweiten waren die Ladungen eher nach oben gerichtet, und das verzierte spitze Dach stieg auf einer Wolke von pulverisiertem Mauerwerk träge in die Luft. Will stieß einen entzückten Ruf aus. Erienne begann zu weinen. Denser ging zu ihr, nahm sie in die Arme und wischte ihr die feuchten Wangen ab. Sie schaute zu ihm auf und lächelte.
Und dann, als die Burg in Flammen und Rauch unterging, klopfte Hirad Will auf die Schulter und scheuchte die anderen unter Densers besorgten Blicken zu den Pferden zurück.
Understone.
Einst an einer wichtigen Handelsroute zwischen dem Osten und Westen gelegen, war die Stadt in Vergessenheit geraten und verfallen, als der Warenumschlag abebbte, nachdem die Wesmen den Pass in ihre Gewalt gebracht hatten. Jetzt gab es nur noch eine schlecht ausgerüstete Garnison unerfahrener Soldaten. Besoldet wurden sie von der Handelsallianz von Korina, deren hochtrabender Name dem desolaten Zustand dieser Organisation zu viel der Ehre antat.
Fünfundsiebzig Mann, dies war die ganze Verteidigung gegen eine Invasion von Westen. Eine Invasion, zu der es nach Ansicht der HAK ohnehin nicht mehr kommen würde, nachdem es fünf Jahre lang ruhig geblieben war.
Wie sich die Zeiten änderten. Nach Travers’ außergewöhnlich tapferer, aber letzten Endes doch zum Scheitern verurteilter Verteidigung des Passes war Understone befestigt und mit einer dreitausend Mann starken Schutztruppe ausgestattet worden. Da der ganze Osten Balaias bedroht schien, waren keine Kosten zu hoch gewesen, wenn man dafür sorgen wollte, dass die Wesmen nicht auf die andere Seite des Passes vordringen konnten. Provisorische Behausungen wurden gebaut, und Händler, Prostituierte, Gaukler und Wirte machten glänzende Geschäfte. Doch der Aufschwung war nicht von Dauer.
Die Wesmen griffen nicht wieder an. Nach fünf Jahren schien es so, als sei ihr Ehrgeiz erschöpft, nachdem Tessaya den Pass eingenommen hatte und Wegzölle erheben konnte.
Die Frage, warum sie den Pass überhaupt erobert hatten, musste vorerst unbeantwortet bleiben. In den Jahren vor den Schlachten, die mit Travers’ Niederlage endeten, hatte ein instabiler Frieden geherrscht. Vom reicheren Osten aus hatte man Handelsrouten in den Westen eröffnet, neue Märkte erschlossen und neue Gewerbe entwickelt. Doch jetzt, neun Jahre nach dem Fall des Passes, war die Situation unglücklicherweise völlig klar. Die Wesmen hatten den Pass eingenommen, um die Rückkehr der Wytchlords vorzubereiten.
Die Stadt Understone war nicht mehr als vierhundert Schritt von dem dreißig Fuß breiten und fünfundzwanzig Fuß hohen Torbogen entfernt, der den Eingang zum Understone-Pass bildete. Zu beiden Seiten ragten Berge auf, davor erstreckten sich nach Norden, Osten und Süden Hügel und Buschwerk, so weit das Auge reichte. Es war ein eintöniger und doch wundervoller Anblick. Die schäbigen Häuser waren auf den benachbarten Anhöhen verstreut oder drängten sich in den besseren Lagen der wenigen ebenen Bereiche abseits der Hauptstraße.
Noch trostloser war es hier, wenn es regnete, was recht häufig geschah. Dann trieb der Wind Wolken über die Berge, die ihre Last auf die armen Bewohner drunten entluden.
Überschwemmungen, Schlammlawinen und Verfall – all dies hatte Narben in der Stadt hinterlassen. Die Abwehrmaßnahmen gegen den Regen bestanden aus einem Netz von Abflussgräben. Sie hatten bislang recht gut funktioniert, doch da sie zusehends verschlammten, gab es wieder Überschwemmungen. Die Hauptstraße war knöcheltief mit einem zähen, klebrigen Morast bedeckt, dessen Gestank in Schwaden aufstieg, sobald die Sonne ihn berührte.
Die unangekündigte Ankunft von mehr als fünfhundert Männern und Elfen von den vier Kollegien versetzte die kleine Garnison in Panik. Einige wollten sich den berittenen Streitkräften entgegenstellen, doch die meisten verschwanden einfach in den Häusern oder rannten weg und riefen nach dem befehlshabenden Offizier. Bis dieser sich in einem alten Gasthof vom Tisch erhoben hatte und durch den Matsch stapfte, während er sich noch die Tunika über dem aufgedunsenen Bauch zuknöpfte, waren nur noch zwölf Soldaten anwesend. Es war erbärmlich.
Der Garnisonskommandant schaute an General Ry Darrick vorbei auf die lange Reihe Berittener, die fast bis zum Stadtrand die Hauptstraße in Anspruch nahmen. Dann wanderte sein Blick zu den Männern, die standhaft geblieben waren. Er nickte dankbar und wandte sich an Darrick, der sich im Sattel vorgebeugt hatte und dem Kommandanten nicht einmal die Ehre erwies, aus dem Sattel zu steigen.
»Auf diese Weise würdest du dich also denen stellen, die unser Land erobern wollen«, sagte Darrick.
Der Kommandant lächelte. »Nein«, gab er zurück. »Denn diejenigen, die unser Land erobern wollen, müssten nicht einmal ihren Schritt verzögern, um eine so kleine Garnison niederzumachen. Mit wem habe ich die Ehre?«
»Ich bin Darrick, General in der Kavallerie von Lystern. Und du bist vermutlich Kerus, der Kommandant der Garnison, die an den Toren der Hölle Wache hält.«
Kerus runzelte die Stirn, da er nicht wusste, wie er Darricks Worte und die Truppen, die hinter ihm Aufstellung genommen hatten, zu deuten hatte. Er beschloss, dass der Rest der Unterhaltung besser vertraulich stattfinden sollte, und lief durch den Schlamm zu Darricks walnussbraunem Pferd.
»General Darrick, ich habe hier fünfundsiebzig Mann, von denen keiner älter ist als neunzehn Jahre. Sie wurden hergeschickt, um in der Gegend vor dem Pass zu patrouillieren und alle Räuber abzufangen, die einen Überfall versuchen sollten. Man erwartet nicht von uns, dass wir eine Invasionsarmee abwehren, weil eine solche Armee niemals durch den Pass kommen wird. Und jetzt muss ich Euch fragen, was Ihr hier in Understone zu suchen habt.«
»Vorbereitungen treffen, um die Invasionsarmee abzuwehren, die deiner Ansicht nach nicht kommen wird. Zwei Tagesmärsche hinter mir folgen weitere fünftausend Mann.«
»Vielleicht sollten wir uns besser in meinen Gemächern unterhalten«, schlug Kerus vor.
»Das sollten wir vielleicht tun.«