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4

Erienne saß im abgelegenen Turmzimmer auf dem Doppelbett, in jedem Arm einen ihrer Söhne. Ihr Körper war endlich zur Ruhe gekommen, so kurz die Verschnaufpause auch sein mochte, und ihre Kinder weinten nicht mehr.

Doch die Jungen hatten an ihr gezweifelt, und den Moment des Wiedersehens würde sie ihr Lebtag nicht mehr vergessen. Oben auf der Wendeltreppe sich selbst überlassen, hatte sie den Türgriff gepackt und die Tür geöffnet. Halb erwartete sie schon, ihre Kinder tot zu sehen, doch die beiden saßen nebeneinander auf der Bettkante und flüsterten miteinander. Essen und Trinken standen ignoriert und kalt auf dem Tisch, der außer den beiden Stühlen das einzige weitere Möbelstück war. Der kalte Stein des Fußbodens war nicht einmal mit einem Läufer bedeckt.

Sie hatte sie einen Augenblick lang betrachtet, das etwas zerzauste, widerspenstige braune Haar, die runden Gesichter, die hellblauen Augen, die kleinen Nasen, die leicht abstehenden Ohren und die Hände mit den langen Fingern. Ihre Jungen. Ihre wunderschönen Jungen.

Dann hatten die beiden gleichzeitig die Gesichter zu ihr herumgedreht, und sie hatte die Arme ausgestreckt und einen Hass wahrgenommen, wie sie ihn noch nie verspürt hatte. Denn einen kleinen Augenblick lang hatten die Kinder in ihr nicht die Mutter und Beschützerin gesehen, sondern eine Verräterin. Eine Frau, die zugelassen hatte, dass sie verschleppt und eingeschüchtert wurden.

So hatte sie in der Tür gestanden, aufgelöst und barfüßig, das Nachthemd fleckig und zerrissen, im Gesicht noch die Spuren von Brophane, das Haar zerzaust. Die Tränen waren ihr in die Augen geschossen und hatten eine helle Spur auf die vom Staub verschmutzten Wangen gezeichnet.

»Ich bin hier, eure Mutter ist hier.« Sie waren ihr in die ausgebreiteten Arme gestürzt, und alle drei hatten geweint, bis sie nichts mehr wussten, außer einander zu halten und zu hoffen, dass sie nie wieder voneinander getrennt werden würden. Jetzt saßen sie zu dritt auf dem Bett, die Knaben hatten die Köpfe an ihre Brust geschmiegt, und sie hatte die Arme um sie gelegt und streichelte sie sachte.

»Wo sind wir, Mami?«, fragte Thom, der links neben ihr saß. Erienne drückte die Jungen an sich und sah böse zur verschlossenen Tür, vor der, wie sie wusste, Isman stand. »Ich muss ihnen helfen und einige Fragen über die Magie beantworten, und dann lassen sie uns gehen.«

»Wer sind sie?« Verwirrt und verunsichert sah Aron seine Mutter an. Sie spürte, wie sich seine Hand in ihrem Rücken verkrampfte.

»Wenn wir daheim sind, werde ich euch alles über sie erzählen. Es sind Menschen, die die Magie verstehen möchten, und was die Menschen nicht verstehen, das macht ihnen Angst. So war es schon immer.«

»Wann können wir nach Hause gehen?«, fragte Aron.

Erienne seufzte. »Das weiß ich nicht, meine Lieben. Ich weiß auch nicht, was sie mich fragen wollen.« Sie lächelte, um die Spannung zu brechen. »Ich sag euch was. Wenn wir wieder zu Hause sind, dann sollt ihr selbst auswählen, was ihr als Nächstes lernen wollt. Was meint ihr, was soll es sein?«

Die Jungen beugten sich vor, wechselten einen Blick, nickten und sagten gleichzeitig: »Die Kommunion!«

Erienne lachte. »Ich wusste, dass ihr das sagen würdet. Böse Jungs! Ihr wollt das nur lernen, damit ihr euch unterhalten könnt, ohne dass ich es höre.« Sie kitzelte ihnen den Bauch, und sie wanden und wehrten sich. »Böse Jungs!« Sie zauste ihnen das Haar und drückte sie wieder an sich.

»So«, sagte sie schließlich, während sie voller Unbehagen die Teller beäugte. »Ich will jetzt, dass ihr das Brot auf den Tellern esst, aber nichts sonst. Habt ihr verstanden? Ich muss bald gehen und dafür sorgen, dass wir schnell wieder nach Hause kommen. Ich komme später wieder her und unterrichte euch, und ich hoffe, ihr habt nicht schon wieder vergessen, was ich euch letzte Woche beigebracht habe.« Sie wollte aufstehen, doch die Jungen hielten sie fest.

»Musst du wirklich schon gehen, Mami?«, fragte Aron.

»Je eher ich gehe, desto eher sind wir wieder daheim bei eurem Vater.« Wieder umarmte sie die Jungen. »Hört mal, ich werde nicht lange fort sein, ich verspreche es.« Die beiden schauten zu ihr auf. »Ich verspreche es«, wiederholte sie.

Sie befreite sich aus ihren Armen und ging zur Tür, zog sie auf und sah einen überraschten Isman vor sich. Der groß gewachsene Krieger stieß sich eilig von der Wand ab, wo er gelümmelt hatte, und baute sich vor ihr auf. Die Bahnen seines Lederumhangs flappten über dem abgetragenen braunen Hemd.

»So schnell fertig?«, fragte er.

»Ich habe es eilig«, erwiderte Erienne unwirsch. »Ich werde jetzt Eure Fragen beantworten. Meine Jungen brauchen ihren Vater und ihr eigenes Bett.«

»Auch wir sind, genau wie Ihr, sehr daran interessiert, Euren Aufenthalt hier so kurz wie möglich zu halten«, erwiderte Isman elegant. »Der Hauptmann wird Euch bald befragen. Bis dahin aber …«

»Sofort«, antwortete Erienne. Sie schenkte ihren Jungen ein letztes Lächeln, die beiden winkten zum Abschied, und sie schloss hinter sich die Tür.

»Ihr seid nicht in der Position, Forderungen zu stellen«, höhnte Isman.

Erienne lächelte und trat einen Schritt näher an ihn heran. Dabei wurde ihr Gesicht hart, und es schien, als gefröre das Lächeln auf ihren Lippen.

»Und wenn ich nun einfach an Euch vorbeigehe?«, zischte sie. Ihr Gesicht war bleich vor Zorn. »Was wollt Ihr dann machen?« Ihre Gesichter waren nur noch eine Handbreit voneinander entfernt, und sein Blick wurde unstet. »Wie wollt Ihr mich aufhalten? Wollt Ihr mich töten?« Sie lachte. »Ihr habt Angst vor mir, denn Ihr wisst so gut wie ich, dass ich Euch töten könnte, ehe Euer Schwert auch nur die Scheide verlassen hat. Wir sind allein, also führt mich nicht in Versuchung. Bringt mich einfach nur sofort zu Eurem Hauptmann.«

Isman schürzte die Lippen und nickte.

»Er sagte mir schon, dass Ihr Schwierigkeiten machen würdet. Wir haben Euch einige Monate beobachtet, bevor wir Euch geschnappt haben. Er sagte, die von Eurer Art wissen viel, sind aber arrogant.« Er drängte sich an ihr vorbei und führte sie die Wendeltreppe hinab. Unten drehte er sich um. »Er hatte Recht. Er hat immer Recht. Nur zu, dann tötet mich, wenn Ihr glaubt, Ihr könntet es tun. Vor dieser Tür stehen drei Männer. Ihr kommt nicht weit. Und das wiederum wisst Ihr so gut wie ich, nicht wahr?«

»Allerdings hätte ich dann immer noch die Befriedigung, Euch sterben zu sehen«, sagte Erienne. »Und ich könnte die Furcht in Euren Augen sehen. Denkt darüber nach. Wenn Ihr mich nicht die ganze Zeit beobachtet, wisst Ihr nie, ob ich nicht doch noch irgendwann einen Spruch wirke. Ihr könntet jeden Augenblick sterben, aber Ihr wisst es nicht.«

»Wir haben Eure Kinder.« Das höhnische Lächeln war wieder da.

»Tja, dann solltet Ihr Euch besser gut um sie kümmern, nicht wahr? Und kehrt mir nie den Rücken zu, Isman.«

Der Krieger stieß ein verächtliches Lachen hervor, doch als er sich umdrehte, um die Tür zu öffnen, glaubte Erienne, ihn schaudern zu sehen.

 

Denser saß am Ende einer Bank vor einem Tisch, um den die Männer Platz genommen hatten, die ihn nur wenige Stunden zuvor auf der Stelle getötet hätten. Der Barbar, Hirad Coldheart, war nicht dabei. Er kümmerte sich um die Pferde, hatte Sirendor Larn erklärt. Denser lief es kalt den Rücken hinunter. Er legte die Gabel beiseite, ließ das halbgegessene Frühstück aus Fleisch, Soße und Brot stehen und trank einen Schluck Kaffee. Seine Katze lag schnurrend neben ihm auf der Bank und aalte sich in der Wärme, die von den Feuern in der Küche ausging.

Sie hatten sich darauf gefasst gemacht, durch das Schwert des Barbaren zu sterben. Ihre innere Ruhe war vollkommen. Und wären sie in diesem Moment gestorben, er mit splitternden Knochen und seine Katze mit einer geistigen Explosion, dann hätte ganz Balaia mit ihnen sterben können.

Denser schaute zum Unbekannten Krieger auf. Sie alle hatten seinetwegen noch eine Chance. Seinetwegen und wegen des einfachen Kodex, den der Rabe immer befolgt hatte. Dieser Kodex war der Grund dafür, dass der Rabe vor allen anderen Söldnertruppen bevorzugt wurde, dass er so erfolgreich und so stark war. Das Töten war erlaubt, solange es in der Schlacht geschah und wenn man sich selbst und andere verteidigte, doch außerhalb dieser Grenzen war es Mord. Jahrelang hatte der Rabe, womöglich sogar ganz allein, gegen Räuber, Banditen, Kopfgeldjäger und andere Männer, die kaum besser waren als gedungene Mörder, in vorderster Front gekämpft und seine Hände nicht besudelt.

Viele sagten, ihre Feinde fürchteten sie gerade deshalb, weil sie sich eisern an ihren Kodex hielten, und Denser war sicher, dass dieser sagenhafte Ruf ihnen einen großen Vorteil verschaffte. Das Wichtigste aber war, dass sie schon als Einzelne herausragende, wenn nicht gar brillante Kämpfer waren. Als Kampfgemeinschaft waren sie einfach fantastisch.

Doch es war der Kodex, der den Ausschlag gab, wenn die Kosten für ihren Sold in Betracht gezogen wurden. Der Kodex bedeutete, ihre Auftraggeber konnten sich darauf verlassen, dass der Vertrag erfüllt wurde und dass der Rabe den Kampf den Regeln gemäß führte.

So einfach war die Regel: Töten, aber niemals morden.

So einfach, dass viele versuchten, sie für sich zu übernehmen, wenn sie sich als Söldner oder Magier verdingten. Doch den meisten fehlte die Disziplin, die Intelligenz, das Standvermögen oder die Geschicklichkeit, in der Hitze der Schlacht, beim Sieg, beim Rückzug oder beim Nachgeplänkel an den Regeln festzuhalten. Und ganz gewiss hatte es niemand ohne jeden Makel über zehn Jahre hinweg geschafft.

Es wäre leicht gewesen, sie als Helden zu bezeichnen, doch Denser hatte sie mehr als einmal kämpfen sehen, und für ihn war offensichtlich, was sie waren. Sie waren eine Truppe von unglaublich effizienten Tötungsmaschinen. Sie töteten, aber sie mordeten nicht.

Doch als Denser sich am Tisch umsah und die Männer betrachtete, die schweigend aßen, jeder seinen eigenen Gedanken nachhängend, da kamen sie ihm müde vor, und die Furcht traf seinen Bauch wie ein Faustschlag, als ihm bewusstwurde, dass sie ihn jederzeit abweisen konnten.

Er brauchte sie. Xetesk brauchte sie. Bei den Göttern, ganz Balaia brauchte sie, wenn die Informationen, die von den Spionen kamen, zuverlässig waren und die Wytchlords sich tatsächlich erhoben. Doch wie konnte er den Raben überzeugen, das zu tun, was getan werden musste? Und war Xetesk in der Lage, die Kollegien zu einen?

Obwohl er wusste, was noch alles geschehen konnte, fragte Denser sich, ob er nicht in genau diesem Augenblick vor der größten Herausforderung seines Lebens stand.

Der Rabe.

Er war ziemlich sicher, dass diese Männer auch durch die volle Wahrheit nicht zu beeindrucken wären. Sie übernahmen die Kontrakte nicht, weil sie an irgendeine Sache glaubten. Die tieferen Beweggründe der Auftraggeber waren ihnen sogar relativ gleichgültig. Der Auftrag selbst musste ihnen interessant erscheinen, ihrem Ruf angemessen und ihrer Aufmerksamkeit würdig. Wert, das Risiko einzugehen. Deshalb war die Wahrheit nutzlos, wenigstens bis zu dem Augenblick, in dem er sie nicht mehr verbergen konnte. Ohnehin konnte keine Entlohnung den Risiken gerecht werden, die er ihnen zumuten wollte.

Denser schob sich wieder einen Bissen in den Mund. Es war eine Schande, dass er den Raben nicht wie geplant in Korina getroffen hatte. Dort wäre es ihm möglich gewesen, seine Verbindung zum Kolleg lange genug zu kaschieren. Der Auftrag, die Verteidigung von Burg Taranspike zu verstärken, war in den Plänen von Xetesk nicht berücksichtigt worden. Jetzt waren die Rabenkrieger gegen ihn eingestellt, und er hatte es nicht einmal geschafft, Ilkar zu überreden, dass sie sich bezahlen ließen, mit ihm nach Korina zu reisen, obwohl sie ohnehin in diese Stadt wollten.

Er schaute auf und bemerkte, dass der Blick des Unbekannten auf ihm ruhte. Der Krieger erwiderte gelassen seinen Blick, schluckte einen Bissen herunter und zielte mit dem Messer auf Denser.

»Eines musst du mir verraten«, sagte er. »Hast du schon einmal einen Drachen gesehen?«

»Nein«, erklärte Denser.

»Nein? Und was hättest du getan, wenn Hirad den Drachen nicht so wirkungsvoll abgelenkt hätte, damit du dieses Ding stehlen konntest?«

Denser musste lächeln. »Das ist eine sehr gute Frage. Wir haben nicht damit gerechnet, dass dort ein Drache ist.«

»Offensichtlich. Ich vermute, dass du sonst tot wärst.«

»Kann sein.« Denser zuckte mit den Achseln. In Wahrheit war er sicher, dass er überlebt hätte, doch er konnte sehen, wohin die Unterhaltung führte, und er erkannte seine Chance.

»Ganz sicher sogar.« Der Unbekannte wischte mit einem Stück Brot über seinen Teller und schob es sich in den Mund. »Man könnte also sagen, dass wir dir, wenngleich ohne es zu wissen, geholfen haben, das Amulett zu bekommen.«

Denser nickte und füllte seinen Becher aus der Kupferkanne auf dem Tisch nach.

»An welchen Prozentsatz denkt ihr denn?«

»Fünf Prozent vom Verkaufswert.«

Denser blies die Wangen auf. »Das ist aber eine Menge Geld.«

Jetzt war es am Unbekannten, mit den Achseln zu zucken. »Nenne es eine Entschädigung für den Tod eines Rabenmannes. Oder für die unzähligen Nächte, in denen wir aufwachen und zittern und schwitzen, weil wir uns an das erinnern, was wir dort drinnen gesehen haben. Es macht mir wirklich nichts aus, dir zu verraten, dass ich meine ganze Selbstbeherrschung aufbieten musste, um mich nicht einfach umzudrehen und wegzurennen.«

»Das wäre übrigens eine Premiere gewesen«, warf Ilkar ein, und der Unbekannte nickte bestätigend.

»Er wäre nicht der Einzige gewesen«, sagte Sirendor. Auch die anderen am Tisch nickten beifällig und lächelten.

»Und dabei habt ihr noch nicht einmal die Hälfte gesehen.« Alle Köpfe drehten sich um. Hirad stand in der Tür der Küche. Er kam langsam zu ihnen herüber, sein Gesicht war verkniffen, die Augen waren müde.

»Alles in Ordnung, Hirad?«, fragte Sirendor.

»Nein, eigentlich nicht. Ich war draußen und erinnerte mich an das, was Sha-Kaan gesagt hat. Wenn diese Tür noch da wäre, dann würde ich das Amulett zu ihm zurückbringen.«

»Warum denn das?«, fragte Sirendor. Denser hielt den Atem an.

»Es war etwas, das er gesagt hat. Es ging darum, dass zwischen seiner und unserer Welt ein Portal offen bleibt, und darum, etwas zu behüten, das wir nicht hätten herstellen dürfen. Was es auch war, er ist jetzt wütend. Was, wenn er sich entscheidet, das Portal nicht mehr zu erhalten?«

»Ich habe keine Ahnung, was du da redest, Hirad.« Wieder hatte Sirendor das Wort ergriffen.

»Ich eigentlich auch nicht«, gab Hirad zu. »Aber ich fürchte, wenn wir jemals einen Drachen am Himmel von Balaia sehen, dann wird es um uns alle geschehen sein.«

»Was meinst du damit?«, fragte Denser.

»Was glaubst du denn, was ich meine?«, knurrte der Barbar. »Wir werden alle sterben. Sie sind zu mächtig, und es gibt zu viele von ihnen. Glaube mir.« Er ging zu den Kochtöpfen hinüber und schöpfte sich etwas Fleisch in eine Schale.

»Hör mal, um noch einmal darauf zurückzukommen«, wandte Denser sich wieder an den Unbekannten Krieger. »Ich bin mit den fünf Prozent einverstanden, wenn ihr mich wohlbehalten bis Korina bringt.«

Ilkar, der Hirad beobachtet hatte, fuhr herum, als hätte er eine Ohrfeige bekommen. »Ich habe dir schon gesagt, dass wir nicht für Xetesk arbeiten.« Seine Stimme war tief, ruhig und fest.

»Wie viel genau ist das Ding deiner Ansicht nach überhaupt wert, Mann aus Xetesk?«, wollte Hirad wissen.

Denser zog die Augenbrauen hoch. »Nun, ich kann es nicht beschwören, aber meiner Ansicht nach reden wir hier über eine Größenordnung von fünf Millionen Echtsilber.« Ungläubiges Schweigen herrschte am Tisch.

»Wir übernehmen den Auftrag.«

»Hirad!«, fauchte Ilkar. »Du verstehst das nicht.«

»Es ist ein Haufen Geld, Ilkar.«

»Es ist ein unglaublicher Haufen Geld, sollte man wohl eher sagen«, meinte Talan. »Eine Viertelmillion Echtsilber dafür, dass wir einen Passagier auf einer Reise mitnehmen, die wir sowieso unternehmen wollten.« Hirad konnte nur fassungslos die Zahl hauchen.

»Weißt du was, Hirad? Ich kann einfach nicht glauben, dass ausgerechnet du dich auf so etwas einlässt. Er hätte dich beinahe umgebracht.« Ilkars Tonfall klang beinahe verächtlich.

»Ja, und deshalb ist er mir etwas schuldig.« Hirad sah den Xeteskianer nicht an, während er sprach. »Ich muss ihn ja nicht mögen. Ich muss ihn nicht einmal anschauen. Ich kann ihn sogar weiter hassen. Ich muss es einfach nur ertragen, auf dem Rückweg nach Korina in seiner Nähe zu reiten. Dann zahlt er uns einen Haufen Geld, und wir sehen ihn nie wieder. Ich glaube, das schaffe ich.«

»Aber ganz so einfach ist es doch nicht«, erwiderte Ilkar.

»Doch, das ist es.«

»Nein, so einfach ist es nicht, und ich habe ein Problem damit«, beharrte Ilkar, doch der Barbar baute sich vor ihm auf.

»Ich weiß, dass du mit der Ethik von Xetesk nicht übereinstimmst …«

»Das ist eine Spur untertrieben …«

»… aber wenn man sich überlegt, was ihr hinter meinem Rücken ausgeheckt habt, dann ist dies meiner Ansicht nach eine Summe Geldes, die wir nicht einfach ausschlagen sollten, meinst du nicht? Es könnte der letzte Sold sein, den wir jemals einnehmen.« Er richtete sich auf, und Ilkar starrte ihn finster an. »Finde dich damit ab, Ilkar, du wirst überstimmt. Mache es uns nicht schwerer als nötig.« Ilkar kniff die Augen zusammen, bis sie nur noch schmale Schlitze waren.

Der Unbekannte gab Denser die Hand. »Wir sind im Geschäft. Talan wird den Vertrag aufsetzen, und ich werde unterzeichnen. Wir werden keinen festen Sold einsetzen, sondern den Prozentsatz und deine Absicht zu zahlen.«

»Ausgezeichnet«, stimmte Denser zu. Die Männer schüttelten sich die Hände.

»In der Tat.« Der Unbekannte trank seinen Becher aus. »Und jetzt habe ich das Gefühl, dass es im Krähenhorst bald ein Fest gibt.«

Die Küchentür wurde abermals geöffnet.

»Wie ich hörte, konntet ihr meinen Magier nicht retten. Eine Schande. Seran war ein guter Mann.«

Die Rabenmänner drehten sich zu ihrem Auftraggeber um. Denser sah seinen einstigen Gegner jetzt zum ersten Mal. Baron Gresse war in mittleren Jahren, er hatte einen wachen Verstand und vier Söhne, die seine eigenen erlahmenden Kräfte mehr als wettmachten. Er verschmähte die Kleidung der vornehmen Leute, obwohl er zu den fünf reichsten Baronen zählte, und kam in praktischer Reiterkluft herein, die aus ledernem Wams, einem Wollhemd und mit Leder verstärkten Hosen bestand. Den Mantel hatte er über einen Arm gelegt.

Vor der Tür entließ er seine Bewaffneten, dann verscheuchte er das schwatzende Küchenvolk, während er zum Tisch des Raben schritt. Er betrachtete die Männer mit großen braunen Augen, und sein Kopf mit dem schütteren grauen Haar nickte leicht. Dann streckte er eine Hand aus.

»Der Unbekannte Krieger.«

»Baron Gresse.« Die Männer schüttelten sich die Hände.

»Es ist mir eine Freude, Eure Bekanntschaft zu machen.«

»Ganz meinerseits.« Der Unbekannte drehte sich um. »Hole doch dem Baron einen Kaffee, Talan.«

»Nun gut, nun gut, der Rabe. Keine große Überraschung, dass wir den Kampf gewonnen haben. Seran hat stets kluge Entscheidungen getroffen.« Gresse nagte an der Unterlippe. »Aber wo soll ich einen Zweiten wie ihn finden?«

»In Julatsa«, schlug Ilkar vor. »Auf uns ist Verlass.«

Gresse kicherte. »Darf ich mich zu Euch setzen?« Er deutete zur Bank. Ilkar rückte ein Stück, und der Baron ließ sich nieder. Talan stellte ihm einen Becher Kaffee hin. Der Adlige bedankte sich nickend.

Ein unbehagliches Schweigen senkte sich über den Tisch. Denser kratzte sich nervös am Bart. Der Unbekannte musterte den Baron, wie immer mit unbewegter Miene. Ilkar sah gespannt zu.

»Ich will Euch nicht lange im Ungewissen lassen«, erklärte Gresse. Er trank einen Schluck Kaffee, ein Lächeln spielte um seine Lippen. »Aber ich hatte gehofft, Ihr könntet etwas bestätigen, das ich gehört habe.«

»Wenn wir können«, sagte der Unbekannte, »dann werden wir es gern tun.«

»Gut. Ich will mich kurzfassen. Man hat mich zu einer Sitzung der Handelsallianz von Korina eingeladen, auf der es um die sich verschlechternden Bedingungen westlich der Blackthorne-Berge gehen soll. Es gibt Gerüchte, dass die Wesmen seit einiger Zeit besonders aktiv seien. Sie hätten das Abkommen über das Wegerecht am Understone-Pass gebrochen, und man befürchtet, sie könnten in den Osten des Landes einfallen, obwohl ich betonen möchte, dass die Garnison in Understone selbst bisher nichts Außergewöhnliches gemeldet hat. Ich möchte nur wissen, ob Ihr ähnliche Gerüchte gehört habt. Mir ist bekannt, dass Ihr vor nicht allzu langer Zeit an der Seite von Baron Blackthorne gekämpft habt. Leider kann er aber nicht an der Sitzung der Handelsallianz teilnehmen.« Gresses Augen blitzten.

»Wir haben nur für ihn gekämpft, weil der Unbekannte bessere Konditionen für seinen Wein aushandeln wollte«, erklärte Sirendor lächelnd.

»Das ist Euch wohl nicht gelungen.«

»Es war ein Teil der Übereinkunft«, erklärte der Unbekannte. »Und was die Gerüchte angeht, so haben wir viele gehört, als wir dort waren, doch wir reden über einen Zeitpunkt, der mittlerweile sechs Monate zurückliegt.«

»Alles, was ihr gehört habt, und sei es noch so unsicher, könnte wichtig genug sein, dass es in der Sitzung vorgetragen wird.«

»Wenn man es so weit fasst«, sagte Ilkar. »Wenn Ihr also alles glauben wollt, was Ihr hört, dann sind die Wytchlords wieder da, Parve ist wieder eine blühende Stadt, und die Wesmen brennen alles nieder, was sich westlich der Blackthorne-Berge befindet.«

»Ihr aber schenkt diesen Gerüchten keinen Glauben«, sagte Gresse.

»Mich würde rein gar nichts überraschen, sobald eine Kriegertruppe der Wesmen im Spiel ist«, erklärte Ilkar. »Aber davon mal abgesehen – nein.«

»Hmm«, machte Gresse nachdenklich. »Interessant. Übrigens, vielen Dank für Eure Hilfe gestern. Wie ich hörte, habt Ihr einen Mann verloren. Das tut mir leid.«

»Wenn wir ehrlich sind, dann ist dies ein Risiko, das wir immer und jederzeit eingehen«, sagte Hirad. Besonders überzeugt klang es freilich nicht.

»Dennoch, es schmerzt sicherlich, einen Freund zu verlieren. Es tut mir leid, und ich bin Euch dankbar. Die gestrige Schlacht war eine, die zu verlieren ich mir auf keinen Fall leisten konnte. Ich meine dies ganz wörtlich.«

»Das klingt fast wie eine Durchhalteparole.«

Gresse zuckte mit den Achseln. »Burg Taranspike ist von großer taktischer Bedeutung. Wer sie hält, beherrscht das Wegerecht für eine der Hauptrouten nach Korina. Hätte ich die Festung an Baron Pontois verloren, dann könnte er jetzt meine beiden wichtigsten Transportwege in die Hauptstadt kontrollieren und besäße Ländereien zu beiden Seiten meines Besitzes. Er könnte mir den Zugang verweigern oder unmöglich hohe Zölle verlangen. Beides hätte mich mit der Zeit in den Ruin getrieben. Die beste Ausweichroute ist nicht nur einige Stunden, sondern mehrere Tage länger.«

»Es sei denn, Ihr hättet Euch entschlossen, die Festung zurückzuerobern«, sagte Hirad.

»Diese Möglichkeit besteht immer. Es ist teuer, aber diese Möglichkeit besteht.« Gresses Gesicht wurde hart.

»Und dennoch setzt Ihr Euch mit Pontois in der Handelsallianz von Korina an einen Tisch.«

»Ja. Ich weiß schon, es klingt seltsam, aber so ist die Realität. Und da liegt auch das Elend der Allianz. Dieses Wort hat heutzutage einen seltsamen Beiklang«, sagte er mit einem traurigen Unterton.

Die Männer am Tisch schwiegen eine Weile. Der Unbekannte Krieger musterte den Baron und trank Kaffee. Schließlich lächelte der große Kämpfer. Gresse bemerkte es und runzelte die Stirn.

»Es scheint mir, als hättet Ihr vergessen, uns zu erzählen, welche Gerüchte Ihr selbst gehört habt«, sagte der Unbekannte.

»In der Tat, und es kann sogar sein, dass ich mehr habe als bloße Gerüchte. Ich habe leider Beweise dafür, dass die Wesmen die Ortschaften nicht etwa niederbrennen, sondern sie vielmehr erneut unterwerfen, ausbauen und vereinen.«

»Was meint Ihr mit ›erneut‹?«, fragte Hirad.

»Ich kann dir später noch Nachhilfe in Geschichte geben«, warf Ilkar kopfschüttelnd ein.

»Wie könnt Ihr nur …« Denser biss sich auf die Unterlippe und ließ den Satz unvollendet.

»Wolltest du etwas sagen, Xetesk-Mann?«, grollte Hirad.

»Ich habe mich nur gewundert, wie er an diese Informationen kommen konnte.« Densers Ausrede wurde von einem Gesicht, das seine Überraschung zeigte, Lügen gestraft.

»Alles hat seinen Preis«, erwiderte Gresse gelassen. »Darf ich heute Morgen mit Euch nach Korina reiten?«

»Seid unser Gast«, erklärte Hirad. »Denser zahlt genug.«

»Gut.« Gresse stand auf und warf Hirad einen fragenden Blick zu. »Mein Gefolge wird in etwa einer Stunde marschbereit sein, wenn es Euch recht ist.«

»Das passt uns sehr gut«, antwortete der Unbekannte. »Meine Herren, der Krähenhorst wartet.«

 

Erienne und der Hauptmann trafen sich in der Bibliothek. Der von zwei Kaminfeuern und einem Dutzend Lampen erhellte Raum, diese makellos gepflegte Heimstatt der Bücher, war ein beredtes Zeugnis seiner Bildung, wenngleich nicht unbedingt seiner Moral.

Fünf Fächer hoch und an drei Seiten des Raumes etwa fünfzehn mal fünfundzwanzig Fuß groß ragten ringsum volle Bücherregale auf. Links und rechts neben der einzigen Tür brannten Feuer in Kaminen. Teppiche bedeckten den Boden, und ein Lesepult nahm das hintere Ende der Bibliothek ein. Man hatte Erienne angewiesen, in einem großen grünen Ledersessel vor einem der Kaminfeuer Platz zu nehmen. Der Hauptmann kam in Begleitung eines Bewaffneten, der ein Tablett mit Wein und Essen trug. Er hüllte sich in Schweigen, bis er sich auf einem ähnlichen Sessel niedergelassen hatte, der im rechten Winkel zu ihrem aufgestellt war.

Sie hatte den Blick aufs Feuer gerichtet, um nicht ihn ansehen zu müssen. Sie blieb ins Spiel der Flammen vertieft und hörte kaum das Klirren der Gläser, das Gluckern des Weins, als er eingeschenkt wurde, und das Kratzen des Messers auf der Aufschnittplatte.

»Ich heiße Euch noch einmal willkommen, Erienne Malanvai«, sagte der Hauptmann. »Ihr müsst hungrig sein.«

Eriennes Blick wanderte über das Tablett, das zwischen ihnen auf einem niedrigen Tisch stand. Sie war überrascht über die Qualität der Speisen.

»Wie könnt Ihr es wagen, mir dies anzubieten, wenn der Unrat, den Ihr meinen Jungen vorsetzt, kaum für einen Hund geeignet ist, von verängstigten kleinen Kindern ganz zu schweigen?«, sagte sie. »Jeder soll sofort einen Teller hiervon bekommen.«

Sie spürte, wie der Hauptmann lächelte. »Du hast es gehört. Frisches Lamm und Gemüse für die Jungen.«

»Ja, Herr.« Die Tür wurde geschlossen.

»Ich bin ja nicht unvernünftig«, erklärte der Hauptmann.

Eriennes Gesicht verriet ihre Abscheu. »Ihr habt mitten in der Nacht zwei unschuldige Kinder aus ihrem Heim entführt und in einen kalten Turm eingesperrt, verstört, wie sie waren. Ihr habt mich von ihnen ferngehalten und ihnen Dreck zu essen vorgesetzt, den ich nicht einmal meinen Schweinen geben würde. Kommt mir nicht mit Vernunft.« Ohne ihn anzusehen, suchte sie sich etwas Fleisch und Gemüse aus und aß schweigend. Sie schenkte sich ein Glas Wein ein und trank es, während sie wieder das Feuer anstarrte. Die ganze Zeit über sah der Hauptmann ihr zu und wartete.

»Nun fragt«, sagte sie und stellte das leere Glas auf den Tisch. »Ich glaube nicht, dass ich irgendwelche Geheimnisse vor Euch habe.«

»Das würde die Sache sicherlich einfacher machen«, erklärte der Hauptmann. »Ich bin froh, dass Ihr zur Zusammenarbeit bereit seid.«

»Glaubt nicht, es geschehe aus Furcht vor Euch oder Eurer Truppe lahmer Affen«, erwiderte Erienne überheblich. »Meine Kinder sind mir wichtig, und ich bin bereit, ihnen in jeder erdenklichen Weise zu helfen, solange nicht das Kolleg von Dordover kompromittiert wird.«

»Sehr gut.« Der Hauptmann füllte sein Glas nach. »Ich wünschte allerdings, Ihr würdet mich anschauen.«

»Dabei würde mir übel. Euren Namen auszusprechen, ist eine Beleidigung für mein Kolleg, und mit Euch zu reden, kommt einer Ketzerei gleich. Nun stellt Eure Fragen. In einer Stunde will ich meine Söhne wieder besuchen.« Erienne blickte weiter ins Feuer und zog Trost aus dessen Wärme und Farbe.

»Das sollt Ihr tun, Erienne, das sollt Ihr tun.« Der Hauptmann streckte seine Beine zum Feuer hin aus, und zwei abgestoßene, vor Alter rissige braune Reitstiefel tauchten in Eriennes Gesichtsfeld auf. »Nun gut, ich bin sehr beunruhigt, weil die sogenannten dimensionalen Forschungen und Untersuchungen die Grundfesten Balaias stark erschüttern.«

»Nun, Ihr wart hier sicher sehr fleißig, nicht wahr?«, erwiderte Erienne nach kurzem Nachdenken.

»Freche Bemerkungen werden Euch wehtun«, sagte der Hauptmann. Es bestand nicht der geringste Zweifel, was er damit meinte.

»Ich wollte damit sagen, dass nur wenige Menschen überhaupt etwas über die Existenz der Dimensionsmagie wissen, ganz zu schweigen von den möglichen Gefahren, die sie mit sich bringt.«

»In der Tat.« Der Hauptmann beugte sich vor und kratzte sich am linken Bein. Erienne sah kurz sein ergrauendes Haar, das auf dem Schädel bereits schütter wurde. »Im Gegensatz zur landläufigen Ansicht glaube ich durchaus an den Wert der Magie, wenn sie richtig eingesetzt wird. Mir sind allerdings auch ihre Gefahren bewusst, weil ich mir Zeit genommen habe, es selbst herauszufinden. Wenn man in den Dimensionen herumpfuscht, könnte meiner Ansicht nach das Gleichgewicht der heute existierenden Welt beeinträchtigt werden.«

»Ihr redet mit dem falschen Kolleg«, sagte Erienne.

»Nun ja, es ist erheblich schwieriger, einen Xetesk-Magier in die Hände zu bekommen«, gab der Hauptmann giftig zurück.

»Ich würde gern einräumen, dass es mir aufrichtig leidtut«, gab Erienne zurück. Jetzt endlich schaute sie ihn an. Sein graues Haar war kurzgeschnitten, und auch sein Bart, in dem es noch einige braune Strähnen gab, war sauber gestutzt. Er hatte Ringe unter den Augen, und die roten Flecken auf den Wangen und der Nase verrieten, dass er gern zur Flasche griff. Er wurde offenbar auch fett, da er die mittleren Jahre hinter sich hatte, was Ledermantel und Hemd nicht verbergen konnten. Er reagierte nicht auf ihr plötzlich erwachtes Interesse.

»Aber Septern war ein Dordover-Magier.«

»Wir haben bereits festgestellt, dass Ihr Eure Hausaufgaben gemacht habt.« Erienne füllte ihr Glas nach. »So ist Euch sicher auch bekannt, dass er seit mehr als dreihundert Jahren für tot gehalten wird.«

»Und das ist alles, was wir wissen?«, erwiderte der Hauptmann. »Ich hatte gehofft, eine Hüterin der Dordover-Magie wie Ihr könnte meine Bildungslücken füllen.«

»Das ist einer Eurer Trugschlüsse«, sagte Erienne. »Ihr nehmt an, wir hätten geheime Texte.«

»Aber Septern war ein Dordover-Magier«, wiederholte der Hauptmann.

»Ja, das war er. Und er war ein Genie, seiner Zeit so weit voraus, dass es uns bis heute nicht gelungen ist, seine Arbeit vollständig nachzuvollziehen.« Erienne pflückte einige Weintrauben aus der Obstschale und aß sie. Die Kerne spuckte sie in die Hand und warf sie anschließend ins Feuer.

Der Hauptmann beugte sich stirnrunzelnd vor. »Aber er muss doch über seine Erkenntnisse berichtet haben. Ich weiß, dass dies von jedem Magier verlangt wird.«

»Septern hat sich nicht an die Regeln gehalten.« Erienne seufzte, als das Stirnrunzeln des Hauptmanns sich vertiefte. »Hört mir zu, Ihr müsst eines verstehen. Septern war ein Rückfall in jene Zeiten, bevor die Kollegien sich voneinander getrennt haben.«

»Dann war er also nicht nur seiner Zeit voraus, sondern auch seiner Zeit hinterher.« Der Hauptmann lächelte selbstzufrieden über seinen Scherz und entblößte braune, faulende Zähne in entzündetem rotem Zahnfleisch.

»Ja, ich denke schon. Offenbar war er fähig, die Lehren auf einer sehr grundlegenden Ebene zu verstehen, und deshalb konnte er die Überlieferungen von Dordover, Xetesk und Julatsa mit unterschiedlichem Erfolg lesen und begreifen. Er war brillant, aber er war auch überheblich. Er lebte außerhalb des Kollegs, berichtete nur selten über seine Arbeit und führte kaum verständliche Tagebücher über seine Forschungen, und diese Tagebücher sind nicht einmal vollständig in unserer Bibliothek vorhanden. Xetesk besitzt einige davon, andere gingen in seinem Haus verloren – vorausgesetzt, er hat überhaupt all das aufgeschrieben, was er unserer Ansicht nach zu tun imstande war.« Erienne trank einen Schluck Wein. »Kann ich bitte etwas Wasser haben?«

»Gewiss.« Der Hauptmann stand auf und öffnete die Tür; draußen im hallenden Flur war zu hören, wie ein Mann Haltung annahm. »Wasser und ein Glas. Sofort.« Er kehrte zu seinem Sessel zurück. »Eine interessante Geschichte. Ich weiß natürlich von seinem Haus. Ich habe mehrmals Männer in die Ruinen geschickt. Nun sagt mir, wie ist der Stand Eurer Dimensionsforschung, und was wollt Ihr damit erreichen?«

Erienne öffnete den Mund und wollte etwas sagen, dann besann sie sich und dachte über ihre Antwort nach. Es war viel zu leicht. Der Hauptmann war überhaupt nicht das, was sie geglaubt hatte. Sie war sicher, dass sie ihn ewig hassen würde, weil er ihre Kinder entführt hatte, doch sein Verhalten war verwirrend. Da saß sie nun in einem warmen Zimmer, sie hatte gutes Essen bekommen und höfliche Fragen nach ihrer Arbeit für das Kolleg beantwortet. Bisher hatte er nichts gefragt, was er nicht auch ganz offen beim Kolleg hätte in Erfahrung bringen können. Es musste mehr dahinterstecken, die Frage war nur, wann er damit herausrücken würde. Sie hatte das unbehagliche Gefühl, er suchte sie in Sicherheit zu wiegen, damit der unausweichliche Schlag umso härter traf. Sie nahm sich vor, wachsam und aufmerksam zu bleiben.

»Nach allem, was wir bisher über Septern wissen, hat er in der Dimensionsmagie große Fortschritte gemacht. Er hat ein stabiles, sich selbst erhaltendes Portal geschaffen, mit dessen Hilfe man zwischen bestimmten Dimensionen wechseln konnte, und wir glauben, dass er weite Reisen unternommen hat. Einige seiner schwer verständlichen Schriften legen diese Vermutung jedenfalls nahe. Dordover ist weit davon entfernt, sein Wissen über Dimensionstore nachvollziehen zu können. Wir können nicht reisen, wir können nicht hinüberblicken. Bisher können wir nur andere Dimensionen erkunden und Eigenheiten von Land und Meer aufzeichnen. Um schnellere Fortschritte zu machen, würden wir Septerns verlorene Texte brauchen. Wir glauben, in seiner Magie sind die Überlieferungen mehrerer Kollegien vermischt.«

»Und wohin soll diese Forschung Eurer Ansicht nach führen?«

»In andere Dimensionen. Wir wollen forschen und Karten zeichnen und anderen Lebensformen begegnen. Es gibt unendliche Möglichkeiten.« Entgegen ihrem Willen brach Eriennes Begeisterung über diese Aussichten durch.

»Ihr wollt erobern, unterwerfen, beherrschen und stehlen.« Die Stimme des Hauptmanns war hart, aber nicht schroff.

»Gibt Euch dies Anlass zur Sorge?«

Er nickte. »Ich denke, es steht uns nicht zu, in andere Dimensionen einzudringen. Wir haben unsere eigene, und die ist schon schwer genug zu kontrollieren, auch ohne Verbindungen zu anderen Orten und anderen Zeiten. Ich sehe grässliche Szenarien vor mir, in denen andere hier bei uns eindringen, um sich für das zu rächen, was wir ihnen angetan haben. Niemand wird mehr sicher sein, weil jederzeit irgendwo und irgendwann eine Tür geöffnet werden kann.«

»Das ist erst recht ein Grund, die Forschungen voranzutreiben und unser Verständnis zu vertiefen«, sagte Erienne.

»Wir sind doch nicht so naiv anzunehmen, dass die Magier von Dordover oder Xetesk diese Magie erforschen, weil sie dem Volk von Balaia etwas Gutes tun wollen, oder? Die Vorstellung, Ihr könntet Türen öffnen, die zu schließen Ihr nicht imstande seid, bereitet mir allerdings großes Unbehagen.« Der Hauptmann kratzte sich am Ohr. »Nun sagt mir: Ist Xetesk weiter fortgeschritten als Dordover?«

Erienne starrte ihn fassungslos an. »Wenn und falls die fehlenden Abschnitte von Septerns Dimensionstexten gefunden werden, dann könnten wir uns gezwungen sehen, eine gemeinsame Forschungsgruppe zu bilden«, sagte sie langsam. »Bis dahin bleibt die Kommunikation allerdings auf ein Minimum beschränkt.«

»Ich verstehe.«

»Es ist dumm, so etwas einen Magier aus Dordover zu fragen.«

»Manchmal fördert die größte Dummheit die schönsten Edelsteine zutage.«

Die Tür wurde geöffnet, und ein Mann brachte einen Krug Wasser und zwei Gläser herein. Er stellte beides auf dem Tisch ab und zog sich zurück. Erienne schenkte sich ein und trank das Glas in einem Zug aus.

»Gibt es sonst noch etwas?«

»Oh, eine Menge sogar«, erwiderte der Hauptmann. Er leerte sein Weinglas und füllte es gleich wieder auf. »Ich habe gerade erst begonnen, auch wenn ich dankbar annehme, was Ihr mir bisher gesagt habt. Ich sollte Euch vielleicht zu Euren Kindern gehen lassen, aber denkt über eines nach. Wenn man annimmt, dass Ihr bereits alles wisst, was man über die Dimensionsmagie in Erfahrung bringen kann, dann finde ich das neuerdings aufkommende Interesse an Septerns Forschungen mehr als beunruhigend. Andererseits war die Dimensionsmagie nicht der einzige Bereich, in dem er seine Forschungen betrieben hat. Es gibt einen Punkt, der sogar noch wichtiger ist. Er hat einen ganz bestimmten Spruch erschaffen, nicht wahr? Ich möchte gern wissen, warum Xetesk plötzlich alles daran setzt, diesen Spruch zu finden.«

Eriennes Gesicht wurde leichenblass.