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6

»Wer war sie?« Sana durchbohrte Hirad förmlich mit Blicken und flehte ihn an, ihr zu helfen, das Geschehene zu verstehen. Sie hatten sich im Schankraum direkt vor dem Hinterzimmer versammelt. Der Bürgermeister und zwei Leibwächter saßen in der Nähe der Tür des Krähenhorsts an einem Tisch.

Sana hatte sich etwas beruhigt, doch die roten Augen und das bleiche Gesicht waren deutliche Spuren ihres Kummers. Die Rabenkrieger hatten Sirendor auf einen Tisch im Hinterzimmer gelegt und mit einem Laken bedeckt. Sana war hineingestürmt, hatte das Tuch weggerissen und ihn angeschrien, er solle wieder aufwachen, zurückkommen, die Augen öffnen und atmen. Sie hatte auf seine Brust getrommelt, das Haar aus seiner Stirn gestrichen, ihm einen langen Kuss auf die Lippen gegeben und seine Hände gehalten.

Die ganze Zeit über hatte Hirad in der Nähe gestanden und nicht gewusst, ob er sie wegziehen oder ihr zu Hilfe eilen sollte. Sirendor schütteln, bis er wieder erwachte und lächelte. Doch er konnte nur herumstehen und zuschauen und die Tränen niederkämpfen, während er am ganzen Körper zitterte.

Endlich hatte Sana sich an ihn gewandt, das Gesicht an seine Schulter geschmiegt und leise geschluchzt. Er hatte ihr Haar gestreichelt und das Schweigen der Rabenkrieger bemerkt, und er wusste, dass nun endgültig vorbei war, was einst existiert hatte.

Er hatte sie nach draußen geführt, und sie hatte sich etwas gefangen, bis sie sich von ihm lösen und Fragen stellen konnte. Hirad hatte sich noch nie so elend und nutzlos gefühlt.

»Eine gedungene Mörderin. Eine Hexenjägerin.«

»Aber warum …« Sie konnte kaum sprechen.

»Sie hatte es nicht auf Sirendor abgesehen. Sirendor ist ihr nur zufällig in den Weg gekommen.« Hirad zuckte mit den Achseln. Eine dumme Geste. »Er ist gestorben, weil er einen anderen Mann gerettet hat.«

»Und? Davon wird er nicht wieder lebendig.«

Hirad fasste sie bei den Händen. »Das war ein Risiko, das er jeden Tag eingehen musste.«

»Heute nicht. Heute ist er in den Ruhestand getreten.«

Hirad schwieg einen Augenblick. Er wischte die frischen Tränen fort, die über ihre Wangen rollten.

»Ja, ja, das hat er getan«, sagte er schließlich. »Ich werde denjenigen erwischen, der dafür verantwortlich ist.«

»Ist das deine Antwort darauf?«

»Es ist die einzige Antwort, die ich geben kann.« Wieder zuckte er mit den Achseln.

»Es wird Nacht, Hirad. Alles ist verloren.« Und als er ihr in die Augen schaute, da wusste er, dass sie die Wahrheit gesagt hatte. Sie drückte seine Hand ganz leicht, drehte sich um und ging zu ihrem Vater. Hirad sah ihr noch einen Augenblick nach, dann stieß er die Tür zum Hinterzimmer auf und ging wieder hinein.

Drinnen herrschte Schweigen. Das Feuer knackte im Kamin, alle saßen herum und hielten ihre Gläser in den Händen, aber niemand sprach. Hirad ging zu Sirendors Leichnam. Das Tuch war durch ein neues ersetzt worden. Er betrachtete den Umriss des Gesichts unter dem Tuch, legte eine Hand auf die Hand des Freundes und betete darum, dass diese Finger noch einmal zupacken könnten, obwohl er wusste, dass sie es nie wieder tun würden. Er drehte sich um.

»Warum wollen sie dich umbringen, Denser?«

»Das habe ich ihn auch schon gefragt«, erwiderte Ilkar.

»Und was hat er gesagt?«

»Dass er warten wollte, damit auch du es hören kannst.«

»Ich bin jetzt da, also kann er reden.«

»Komm und setz dich, Hirad«, sagte der Unbekannte. »Wir haben dir ein Glas eingeschenkt. Es wird nicht helfen, aber wir haben dir trotzdem eines eingeschenkt.«

Hirad nickte, gesellte sich zu seinen Freunden und ließ sich auf seinem Stuhl nieder. Der Unbekannte drückte ihm den Kelch in die linke Hand. Mit der Rechten tastete Hirad unwillkürlich nach Sirendors Stuhl, doch hinschauen konnte er nicht.

»Wir hören, Denser«, sagte er mit mühsam beherrschter Stimme.

»Zuerst möchte ich sagen, dass dies, was ich euch gleich mitteilen werde, in eurem eigenen Interesse bisher nicht gesagt wurde.«

»Du übernimmst dich«, sagte der Unbekannte. »Wir entscheiden selbst, was in unserem Interesse liegt. Die Folge davon, dass wir etwas nicht wussten, liegt dort drüben unter dem Leichentuch. Wir müssen genau erfahren, in was du uns da hineingezogen hast. Ganz genau. Dann wirst du gehen, und wir werden reden.«

Denser holte tief Luft. »Zuerst einmal werde ich mich nicht dafür entschuldigen, dass ich ein Xeteskianer bin. Es ist einfach ein Moralkodex, und vieles von dem, was über uns gesagt wird, ist reine Erfindung. Unsere Vergangenheit ist jedoch nicht frei von dunklen Punkten.«

»Ich muss schon sagen, Denser, du hast eine Gabe zur Untertreibung«, sagte Ilkar.

»Wir könnten faszinierende Diskussionen führen, Ilkar.«

»Das wage ich zu bezweifeln.«

»Na gut«, fuhr Denser nach kurzem Überlegen fort. »Ihr habt gehört, was Gresse gesagt hat, und seine Informationen sind präzise. Die Stämme der Wesmen erheben und vereinen sich. Die Schamanen stehen an der Spitze, die Ältestenräte arbeiten mit ihnen zusammen, und wir müssen zusehen, wie gewissermaßen im Schatten der Blackthorne-Berge die Einheimischen unterworfen werden.«

Der Unbekannte Krieger richtete sich auf. »Wie weit im Osten soll dies sein?«

»Wir haben einen Augenzeugenbericht aus einem Dorf namens Terenetsa, ungefähr drei Tagesritte vom Understone-Pass entfernt«, sagte Denser.

»Bei den Göttern, das ist nahe«, keuchte Talan. »Kein Wunder, dass Gresse Blackthorne warnen wollte.«

»Ich kann aber immer noch nicht verstehen, was dies mit dem Tod meines Freundes zu tun haben soll«, murmelte Hirad.

»Bitte«, sagte Denser. »Glaubt mir, es ist von Bedeutung. Wir setzen schon seit einigen Monaten Magier als Spione im Westen ein, und das Bild, das sich ergibt, ist finster. Wir schätzen, dass die Wesmen bereits sechzigtausend Mann unter Waffen haben und sich in ihrem Kernland versammeln. Eine Invasion des Ostens steht bevor, und wir haben keine Verteidigung. Es gibt kein Bündnis zwischen den vier Kollegien, und die Handelsallianz hat höchstens ein Zehntel der Stärke, die sie vor dreihundert Jahren besaß.«

»Aber welche Chance haben sie eigentlich?«, meinte Ilkar geringschätzig. »Ein paar tausend Magier könnten ihren Vorstoß ganz allein aufhalten. Sie haben doch dieses Mal nicht die Wytchlords, die ihnen magische Unterstützung geben.«

»Ich fürchte, sie haben sie«, erwiderte Denser.

Plötzlich war das Knacken des Feuers im Kamin das einzige Geräusch im Raum. Talans Glas hielt auf halbem Wege zu den Lippen inne, Ilkar öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch es kam nichts heraus.

Richmond schüttelte den Kopf. »Warte mal«, sagte er. »Ich habe gehört, sie seien vernichtet worden.«

»Man kann sie nicht vernichten«, erklärte Ilkar. »Wir haben nie herausgefunden, wie dies möglich wäre. Wir wissen es bis heute nicht. Xetesk konnte nichts weiter tun, als sie so gut festzusetzen, dass sie nicht entkommen konnten.« Er richtete den Blick auf den Xetesk-Magier. »Was ist geschehen?«

Denser atmete schwer und klopfte die Pfeife am Feuerrost aus. Während er sprach, stopfte er sie neu. Seine Katze schlief auf seinem Schoß. »Als wir Parve zerstörten, taten wir es in der Absicht, alles zu vernichten, was den Wytchlords in Balaia als Machtbasis gedient hatte. Wir haben nie geglaubt, wir könnten damit auch die Wytchlords selbst vernichten. Ihre Körper sind zwar verbrannt, doch ihre Seelen waren noch da. Wir haben sie in einen Mana-Käfig gesperrt und in den interdimensionalen Raum versetzt.« Die Katze rührte sich. »Danach haben wir ihn ständig beobachtet.«

»Wen habt ihr beobachtet?«, wollte Richmond wissen.

»Den Käfig. Wir, und zwar wir allein, haben dreihundert Jahre lang nicht in unserer Wachsamkeit nachgelassen. Wir wurden geschmäht, wir wurden diskreditiert, doch wir haben allen gedient, weil wir die Gefahr erkannt haben.« Er zuckte mit den Achseln.

»Damit hattet ihr wohl Recht«, meinte Ilkar.

Denser nickte. »Wir haben eine Zeit lang eine Zunahme von interdimensionalen Durchgängen verzeichnet, wahrscheinlich wegen der Aktivitäten von Drachenleuten. Einer dieser Durchgänge hat den Käfig beschädigt. Wir dachten, es sei reparabel.« Er kratzte sich am Kopf und zündete die Pfeife mit einer Flamme an, die er auf der Spitze seines Daumens entstehen ließ. »Wir haben uns geirrt. Mana muss in den Käfig eingedrungen sein, denn die Wytchlords sind nicht mehr drin. Wir glauben, dass sie wieder in Balaia sind. In Parve.«

Ilkar rieb sich die Nase und zupfte mit den Fingern der rechten Hand an der Unterlippe. Er kniff die Augen zusammen.

»Wie lange sind sie jetzt dort?«, fragte er.

»Wen interessiert das schon?«, warf Hirad ein. »Ich warte immer noch darauf …«

»Warte, Hirad.«

»Nein, Ilkar, ich werde nicht länger warten.« Hirad wandte sich mit erhobener Stimme an Denser. »Was mich angeht, so könntest du bisher auch in einer Wesmen-Stammessprache gesprochen haben. Du hast dir deine dumme Pfeife in den dummen Mund gesteckt und irgendeinen Unfug über Drachenleute und irgendeine alte Bedrohung geredet, die seit hundert Jahren nicht mehr existiert, falls sie überhaupt einmal von Bedeutung war. Ich habe keine Ahnung, wovon du redest, und ich weiß immer noch nicht, warum diese Hexenjägerin meinen Freund umgebracht hat.«

»Ich kann dein Bedürfnis zu verstehen nachvollziehen«, antwortete Denser freundlich.

»Du hast absolut keine Ahnung, was ich für Bedürfnisse habe, Xetesk-Mann«, sagte Hirad grantig. Er trank sein Glas aus und reichte es dem Unbekannten, der es nachfüllen sollte. »Du hast keine Ahnung, welcher Abgrund sich in meinem Leben aufgetan hat, und du drückst dich um die einzige Antwort herum, die mir helfen könnte, mit dem Trauern zu beginnen. Warum wollte dich diese Mörderin unbedingt umbringen?«

Denser zögerte einen Augenblick, ehe er antwortete. »Ich würde gern dafür sorgen, dass alles, was ich sage, richtig aufgefasst wird«, sagte er. »Darf ich zuerst einige andere Dinge erklären?«

»Nein, du sollst mir vor allem eines erklären. Warum wollte die Mörderin dich umbringen?«

Denser seufzte. »Es ging um das, was ich bei mir trage.«

»Und was genau ist das?«, fragte Hirad.

»Das hier.« Er zog das Amulett aus dem Hemd, das er Sha-Kaan gestohlen hatte. Er trug es an einer Kette um den Hals. »Es ist der Schlüssel zu Septerns Werkstatt.«

»Könntest du nicht einfach die Tür eintreten?« Hirads Stimme war voller Verachtung. »Ich meine, ist das wirklich alles? Ist dieses Ding da wirklich der Grund dafür, dass Sirendor sterben musste?« Er bemerkte Ilkars Gesichtsausdruck und schenkte sich die nächsten Worte. »Was ist es, Ilkar?«

Der Elf sah Hirad an, als sei er unendlich weit entfernt.

»Dawnthief«, keuchte er, und sein Gesicht war kreidebleich. »Er hat es auf Dawnthief abgesehen.«

 

Erienne brachte gerade Aron und Thom ins Bett, als Isman unangekündigt das Zimmer betrat. Sie hatte den Nachmittag und den ganzen Abend mit ihren Kindern verbringen dürfen und beschlossen, ihnen Geschichten über die alte Magie zu erzählen. Die ganze Zeit über waren die beiden Kleinen kaum von ihrer Seite gewichen.

Auf ihr Drängen war das Feuer angezündet worden, und das einzelne Fenster war den ganzen Tag offen geblieben. Ihre Bitte, die Jungen im Innenhof spielen zu lassen, wurde allerdings abgelehnt.

Sie hatte einige Zeit gebraucht, um die Ängste der Kinder so weit zu beschwichtigen, dass die beiden ihr zuhören wollten. Wie üblich war dann kein Wort verschwendet, sobald es darum ging, sie in der Dordover-Magie zu unterweisen. Sie erzählte von den alten Zeiten, als die Kollegien noch geeint waren und die erste Stadt der Magie am Triverne-See gebaut wurde, und von den dunkleren Tagen, als es zur Abspaltung kam, als die Kollegien sich aufteilten, weil jedes für sich eine eigene Festung haben wollte. Sie redete über die Überlieferung, die das Leben jedes Magiers bestimmte und durch die sich ein jedes Kolleg von den anderen unterschied, und sie sprach auch über das Mana, mit dem sie ihre Sprüche wirkten.

Die Jungen wurden müde, als es dunkelte, und sie fachte das Feuer wieder an. Zum Abendessen, das sie mehr oder weniger schweigend einnahmen, gab es heiße Suppe, Kartoffeln und grünen Salat. Sie wusch den Kindern das Gesicht und kämmte ihr Haar. Der Hauptmann hatte Waschlappen und eine Bürste ins Zimmer bringen lassen, weil er meinte, jedermann sollte jederzeit sauber und würdevoll aussehen. Erienne wünschte, er hätte seinen eigenen Rat befolgt.

Isman drang nun ins Zimmer ein, als sie gerade ein Lied summte, zu dem ihre Jungen einschlummern konnten. Erschrocken fuhren die Kinder wieder auf und waren sofort wieder ängstlich und hellwach.

»Hättet Ihr nicht anklopfen können?« Erienne drehte sich nicht um, als sie die harten Stiefel auf dem kalten Steinboden hörte.

»Der Hauptmann will Euch sofort sehen«, sagte Isman.

»Wenn meine Jungen schlafen«, erwiderte Erienne. Sie sprach leise und streichelte weiter die Köpfe ihrer Kinder, um sie zu beruhigen. Die Jungen sahen sie ängstlich und verunsichert an, und Eriennes Zorn regte sich wieder.

»Der Hauptmann ist der Ansicht, dass Ihr vorerst genug Zeit mit ihnen verbracht habt.«

»Das zu beurteilen ist doch wohl allein meine Sache«, fauchte Erienne.

»Nein«, erwiderte Isman. »Nein, es ist nicht Eure Sache.«

Schließlich drehte sie sich zur Tür um. Isman stand dort mit drei weiteren Männern. Sie beugte sich über die Jungen und küsste sie auf die Stirn.

»Ich muss jetzt gehen«, flüsterte sie. »Seid brav und schlaft. Ich bin bald wieder da und sehe nach euch.« Sie strich ihnen die Haare aus den Gesichtern.

Als sie aufstand, sah sie Isman und seine Handlanger vor sich, und jede Faser in ihr schrie danach, die Männer in Stücke zu reißen. Sie hätte es gekonnt, keine Frage. Doch die unmittelbare Folge davon wäre der Tod ihrer Jungen gewesen. Sie hatten keine Chance, aus der Burg zu entkommen, denn der Hauptmann hatte zu viele Männer. Sie verkniff sich den Spruch, und der Manafluss ebbte wieder ab.

»Ihr werdet eure Muskeln nicht brauchen«, sagte sie. »Ich werde keine Schwierigkeiten machen.«

»Ihr und Eure Leute habt uns schon genug Schwierigkeiten gemacht«, antwortete Isman. Er führte sie in die Bibliothek.

Trotz der Wärme, die von den Kaminfeuern ausstrahlte, war die Luft kühl. Der Hauptmann saß an einem Lesetisch, zwei kleine Lampen beleuchteten das Buch, das er gerade studierte. Eine halb geleerte Flasche Schnaps stand links von ihm, direkt daneben ein gerade gefülltes Glas. Er schaute nicht auf, als sie über die Teppiche zu ihm hinüberging, nachdem Isman sie in den Raum geschoben, sich zurückgezogen und die Tür hinter sich geschlossen hatte.

»Setzt Euch.« Der Hauptmann wies auf einen Stuhl mit harter Lehne, der vor dem Schreibtisch stand. »Und nun sagt mir«, fuhr er fort, immer noch ohne aufzuschauen, »warum Xetesk hinter Dawnthief her ist?«

»Ich denke, das sollte doch offensichtlich sein«, erklärte Erienne.

Der Hauptmann starrte sie verständnislos an, seine Stimme war kalt. »Nehmt an, dass es nicht offensichtlich ist.«

»Wer Dawnthief besitzt, hat große Macht. Was glaubt Ihr sonst, warum sie ihn haben wollen?« Sie blieb äußerlich ruhig, doch in ihrem Innern tobte ein Sturm, und Ihr Herz pochte heftig in der Brust. Sie hatte alle anderen Gedanken aus ihrem Kopf verbannt, solange sie bei Aron und Thom war, doch jetzt beängstigte sie die Tragweite dessen, was der Hauptmann ihr gerade anvertraut hatte.

»Ihr müsst wissen, dass es nicht viele schriftliche Informationen darüber gibt«, sagte er. »Wie groß sollten die Sorgen sein, die ich mir deshalb mache? Könnte Xetesk ihn finden?«

»Bei den Göttern, ja, wir alle sollten uns deshalb Sorgen machen.«

»Können sie ihn finden?«

»Das weiß ich nicht.« Erienne biss sich auf die Unterlippe.

»Diese Antwort ist nicht sehr hilfreich.« Der Hauptmann erhob ein wenig die Stimme, und sein Gesicht bekam einen rötlichen Schimmer.

»Nun, es kommt vor allem darauf an, den Zugang zu Septerns Werkstatt zu finden. Wenn man diese Informationen hat, dann kann man vermutlich den ganzen Spruch rekonstruieren, würde ich meinen. Aber dies sind nur Spekulationen.«

»Ihr helft mir immer noch nicht«, warnte der Hauptmann.

»Ich helfe Euch am besten, indem ich Eure Befürchtungen und Informationen nach Dordover übermittle. Das wäre der schnellste Weg, diese Entwicklung aufzuhalten oder wenigstens unter Kontrolle zu bekommen.«

Der Hauptmann nahm einen großen Schluck und füllte sein Glas auf. Er lächelte. »Das habt Ihr Euch nett ausgedacht, aber ich werde Euch sicher nicht bei Euren Vorgesetzten Bericht erstatten lassen, nur damit dann zwei Kollegien die gleiche Beute jagen, nicht wahr? Vielleicht sollte ich Euch auch noch erklären, dass ein Versuch der Kommunion höchst unklug wäre. Ich besitze die Fähigkeit, einen solchen Spruch zu spüren, und dies wäre für Eure Jungen leider tödlich.«

Erienne riss erschrocken den Mund auf. Es gab nur eine Möglichkeit, wie er so etwas vollbringen konnte.

»Demnach arbeiten Magier für Euch?« Ihre Stimme verriet ihren Zweifel.

»Nicht alle Magier betrachten mich als Bedrohung für die Magie«, erklärte der Hauptmann selbstgefällig. »Für viele bin ich der Einzige, der die Kontrolle ausüben kann.« Er lächelte. »Und jetzt arbeitet auch Ihr in gewisser Weise für mich.«

»Als Sklavin«, fauchte Erienne. Sie war erschüttert, doch jetzt verstand sie alles. Wie sonst hätte er die Informationen so schnell bekommen können? Sie mussten von einem Magier aus Lystern oder vielleicht auch aus Julatsa stammen. Ein Magier aus Xetesk oder Dordover hätte sich auf keinen Fall herabgelassen, für ihn zu arbeiten. Sie versuchte es noch einmal. »Ihr versteht es nicht. Dawnthief ist zu groß, um damit herumzuspielen. Wenn Xetesk ihn beherrscht, dann beherrschen sie alles, Euch selbst eingeschlossen. Wenn Ihr öffentlich bekanntgebt, was Ihr wisst, dann werden die drei Kollegien sie aufhalten. Das müssten Eure Magier Euch doch eigentlich erklärt haben.«

»Nein, das haben sie mir nicht erklärt«, gab der Hauptmann zurück, und die Belustigung wich schlagartig aus dem harten geröteten Gesicht. »Sie haben mir vielmehr gesagt, dass diese absolute Macht auf keinen Fall in den Händen eines Magiers oder Kollegs ruhen darf, und dass die Mittel, um den Spruch zu wirken, zerstört oder von einem Mann gehütet werden müssen, der genau weiß, was er besitzt, ohne jedoch die Macht zu besitzen, den Spruch anzuwenden. Sollte der Spruch vollständig wiedergefunden werden, dann werde ich sein Hüter sein.«

Zum zweiten Mal in ebenso vielen Minuten verschlug es Erienne die Sprache. Dieses Mal mischte sich allerdings echte Furcht in ihre Überraschung. Wenn der Hauptmann tatsächlich glaubte, er könne als Hüter von Dawnthief fungieren, dann unterlag er in noch viel größerem Maße, als sie gedacht hatte, der Selbsttäuschung, und er war gefährlicher, als sie je angenommen hätte. Offenbar hatte er keine Vorstellung von der Macht des Spruchs oder davon, wie weit manche Magier gehen würden, um ihn in ihren Besitz zu bringen.

»Glaubt Ihr wirklich, Xetesk, Dordover oder sonst jemand wird sich damit abfinden, dass Ihr solche Macht in Händen haltet?«, fragte Erienne. Sie versuchte, die Frage so unbeteiligt wie möglich klingen zu lassen.

»Ihnen wird nichts anderes übrigbleiben, sobald ich die Figuren auf dem Spielbrett kontrolliere«, erwiderte der Hauptmann.

Erienne runzelte die Stirn und rutschte unwillkürlich auf dem Stuhl hin und her, während ein kalter Schauder über ihren Rücken lief. Die Frage war, wie viel der Mann tatsächlich wusste. »Es tut mir leid, da kann ich Euch nicht folgen.«

»Ach, nun hört schon auf, Erienne. Glaubt Ihr wirklich, ich hätte Euch willkürlich ausgesucht? Glaubt Ihr tatsächlich, mein Wissen sei derart begrenzt? Ihr seid Dordovers klügste Hüterin der Magie und bekanntermaßen eine Expertin für den auf mehreren Überlieferungen beruhenden Dawnthief. Ich kontrolliere Euch doch schon.« Er zuckte mit den Achseln. »Ich muss jetzt nur noch den Menschen finden, der am ehesten fähig ist, den Spruch zu wirken.«

»Den werdet Ihr niemals erwischen. Er ist viel zu gut geschützt«, erwiderte Erienne.

»Da irrt Ihr Euch. Und nicht zum ersten Mal. Vor gar nicht so langer Zeit wäre es mir sogar beinahe gelungen, ihn zu töten. Im Rückblick war dies ein sehr glücklicher Fehlschlag, besonders für Euch.«

»Warum?« Doch sie kannte die Antwort bereits.

»Weil ich gestern auf die Idee kam, das Mittel zu zerstören, mit dem der Spruch gewirkt werden kann. Und Ihr wisst ohnehin schon viel mehr, als gut für Euch ist. Sobald ich Euch beide habe, werde ich auch den Respekt bekommen, den ich verdient habe, wenn ich mein Werk vollbringe.«

»Ihr wisst so wenig«, knirschte Erienne. »Wir werden Euch nicht helfen, und Ihr werdet den Xeteskianer nicht erwischen.«

»Wirklich? Ich wäre vorsichtig, ehe ich solche Erklärungen abgebe.«

»Er und ich würden lieber sterben, als Euch bei Eurem lächerlichen Plan zu helfen. Falls Euer Plan je funktionieren sollte, würden die Wände dieser Burg nach so viel zerstörerischer Magie derart hell glühen, dass man es bis Korina sehen kann. Ihr seid nicht stark genug, um eine solche Macht zu bändigen.«

Der Hauptmann schwieg eine Weile. Er ließ den Rest im Glas kreisen, dann kippte er den Branntwein hinunter und nahm sofort die Flasche, um sich wieder einzuschenken.

»Natürlich ist der Tod ein Ausweg, den Ihr wählen könntet«, räumte er ein, während er sich am Ohr zupfte. »Aber dies ist keine Entscheidung, die Ihr für Eure Kinder treffen könnt, nicht wahr?« Er lächelte. »Ihr solltet besser noch einmal gründlich über diese Angelegenheit nachdenken. Das Wohl Eurer ganzen Familie hängt davon ab, dass Ihr die richtigen Antworten gebt. Isman wird Euch in Euer Zimmer bringen. Isman!« Die Tür wurde geöffnet.

»Ich will zu meinen Kindern zurück«, forderte Erienne.

Mit verblüffender Geschwindigkeit langte der Hauptmann über den Tisch, packte Eriennes Kinn und zog sie zu sich herüber.

»Ihr seid hier in meiner Gewalt. Vielleicht müsst Ihr eine Weile allein verbringen, um Euch daran zu erinnern, was?« Er ließ sie los. »Wenn Ihr zu der richtigen Entscheidung gelangt seid, dann gebt mir Bescheid und kommt her. Bis dahin sollt Ihr Frieden und Stille genießen. Isman, die Audienz ist beendet.«

»Bastard«, flüsterte Erienne. »Bastard.«

»Ich muss die Unschuldigen in Balaia vor dem Ansturm der dunklen Magie schützen. Ich erwarte, dass Ihr mir dabei helft.«

»Ich will meine Söhne sehen!«, rief sie.

»Dann macht Euch nützlich und hört auf, mich mit Dingen abzuspeisen, die jedes Kind erraten könnte!« Der Gesichtsausdruck des Hauptmanns wurde wieder freundlicher. »Bis dahin kann ich Euren Wunsch leider nicht erfüllen.« Er öffnete sein Buch und entließ sie mit einem Wink.

 

Alle redeten durcheinander. Ilkar brüllte Denser an, der die Hände erhoben hatte, um den anderen Magier zu besänftigen. Der Unbekannte versuchte, die Aufmerksamkeit des Xetesk-Magiers zu gewinnen, während Richmond und Talan fassungslose Blicke wechselten und verwirrte Fragen stellten.

Hirad allein schien von allem losgelöst. Sein Blick ruhte auf dem zugedeckten Leichnam von Sirendor Larn, und der Lärm kam ihm vor wie das ferne Rauschen der Brandung am Meer. Zehn Jahre. Zehn Jahre hatten sie nach der Gründung in der erfolgreichsten Söldnertruppe, die es je gegeben hatte, als Gefährten gekämpft. Unbeschadet hatten sie das Schlachtfeld verlassen, wenn überall Blut geflossen war. Sie hatten einander so oft das Leben gerettet, dass sie kaum mehr als ein Kopfnicken als Dank für nötig hielten.

Und jetzt war Sirendor tot. Kurz zuvor hatte er sein Schwert der Liebe wegen für immer in die Scheide gesteckt und war von einer Meuchelmörderin umgebracht worden, die nicht ihn, sondern einen anderen hatte töten wollen. Und warum? Weil der Mann, der den Raben in solche Gefahr brachte, den Schlüssel zur Werkstatt eines toten Magiers gestohlen hatte, und weil die Hexenjäger nicht wollten, dass er ihn behielt.

Er kochte vor Wut, und seine Stimme brachte den Lärm zum Verstummen, als hätte sich eine Wolke vor die Sonne geschoben.

»Er ist für den Schlüssel gestorben, den du gestohlen hast.« Es wurde still im Raum. »So war es doch, oder? Bist du mit deinem Tagewerk zufrieden?« Seine Stimme brach. »Nachdem wir alle überlebt hatten, musste er wegen einer drei Zoll großen Scheibe sterben. Um deiner selbst willen solltest du hoffen, dass sie tatsächlich so ungeheuer wichtig ist, wie du sagst.« Er setzte sich wieder auf seinen Stuhl. Alles Aufbegehren und Anklagen verebbte, er presste sich die Faust an die Lippen, und die Tränen schossen ihm in die Augen.

»Oh, das Ding ist wirklich sehr wichtig, Hirad«, erklärte Ilkar, dessen Wangen gerade wieder Farbe bekamen. Seine Augen waren schmale Schlitze. »Wenn es ihm gelingt, Dawnthief zu bekommen, dann könnte sich Sirendors Tod, verglichen mit dem, was wir noch erleben müssen, als Gnade erweisen.«

»Was, zum Teufel, ist dieses Ding überhaupt?«, verlangte Talan zu wissen.

»Dawnthief ist ein Spruch. Ich glaube sogar, der Spruch schlechthin, und Septern ist angeblich der Magier, der ihn geschaffen hat«, erklärte der Unbekannte. Er sah sich fragend zu Denser um.

»Völlig richtig, Unbekannter. Der Spruch selbst ist allen magischen Kollegien gut bekannt«, erklärte Denser. »Jeder, der die Magie benutzt, weiß um seine Macht … um seine katastrophalen Kräfte. Glücklicherweise sind zwar die Worte allgemein bekannt, aber Dawnthief wirkt nur, wenn drei bestimmte Katalysatoren vorhanden sind, und bisher hat niemand entdeckt, worum es sich dabei handelt oder wie man diese Informationen bekommen könnte. Dies hat sich jetzt möglicherweise geändert. Das Amulett wird uns zu Septerns Werkstatt führen, und wir rechnen damit, die nötigen Informationen dort zu finden.«

»Du hast schon gewusst, was du suchst, als wir dir begegnet sind, oder?«, fragte Talan.

»Ja«, bestätigte Denser. »Hör mal, ich kann keine Details über Xetesks jüngste Forschungen preisgeben, aber wir sind jedenfalls zu der Ansicht gekommen, dass Septern ein Drachenmagier war …«

»Was ist ein …«

»Später, Talan«, sagte der Unbekannte. »Fahre fort, Denser.«

»Es gab viele Hinweise, die uns zu dieser Schlussfolgerung geführt haben, aber wichtig war dabei vor allem, dass unsere Suche nach Dawnthief in eine neue Richtung gelenkt wurde – in andere Dimensionen, um es genau zu sagen. Wie ich Ilkar schon erklärt habe, haben wir einen Spruch entwickelt, der die Mana-Bewegungen und die Mana-Formen aufspürt, mit denen man ein Dimensionstor öffnen kann. Wir sind auf der Suche nach Dawnthief durch viele solcher Tore gegangen, die ausnahmslos von Drachenmagiern geöffnet worden waren. Dieses Mal haben wir gefunden, was wir gesucht haben.«

»Und meine Freunde starben dafür«, sagte Hirad.

»Du weißt nicht, wie leid mir das in diesem Fall tut«, erwiderte Denser leise.

»Ich will dein Mitgefühl nicht, Denser. Ich will nur wissen, warum die Hexenjäger dich töten wollen.«

»Liegt das nicht auf der Hand?«

»Nein, ganz und gar nicht«, sagte Hirad. »Ich frage dich, warum mein Freund an deiner Stelle gestorben ist, und du hast es mir immer noch nicht gesagt.«

»Nun gut. Um es ganz klar zu formulieren: Sie wollen mich umbringen, weil ich bin, was ich bin, und weil ich von dem Ort komme, von dem ich komme.«

»Warum spielt es eine so große Rolle, wer du bist?«, fragte Ilkar.

»Ich bin der führende Dawnthief-Magier von Xetesk«, erklärte Denser einfach.

Ilkar riss die Augen auf. »Das wird ja immer verrückter«, murmelte er.

»Was …«, wollte Talan fragen.

»Warte«, unterbrach Ilkar ihn. »Willst du mir jetzt etwa auch noch erklären, dass du die Absicht hast, den Spruch tatsächlich zu wirken?«

»Es ist die einzige Möglichkeit, die Wytchlords zu vernichten, Ilkar. Das weißt du so gut wie ich.«

»Ja, aber …«

»Sie kehren zurück, und wenn wir Dawnthief nicht finden und so bald wie möglich gegen sie einsetzen, dann wird er womöglich eines Tages gegen uns selbst eingesetzt. Ihn zu finden und ihnen nur damit zu drohen, das wird nicht ausreichen. Sie müssen vernichtet werden, weil sonst ganz Balaia verloren ist. Es wird eine Invasion geben, und dieses Mal haben wir nicht genug Kraft, um den Wesmen beliebig lange Widerstand zu leisten. Nicht wenn die Wytchlords sie unterstützen.«

»Der Spruch, der das Licht stiehlt, soll also die Lösung sein.« Ilkars Worte hingen schwer in der Luft, seine Befürchtungen kamen auch in seiner Körperhaltung zum Ausdruck. Er saß gespannt auf seinem Stuhl, als wollte er jeden Augenblick aufspringen.

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Talan.

»Du weißt nicht, worüber er redet, du kannst es nicht wissen. Ich weiß es«, erklärte Ilkar. »Ich habe Dawnthief studiert – es ist ein Pflichttext. Einfach ausgedrückt, oder rein technisch gesehen, kann dieser Spruch alles zerstören, je nach Qualität und Dauer der Vorbereitungen – und wenn ich ›alles‹ sage, dann schließt das die ganze Welt mit ein.« Er zuckte mit den Achseln. »Deshalb wird der Spruch auch Dawnthief genannt. Es bedeutet ›Dieb des Lichts‹, weil er die Sonne aus dem Himmel fegen kann.«

»Wenn es so wichtig ist, dass du den Spruch findest und wirkst, dann müssten die Hexenjäger doch Verständnis dafür haben.«

»Warum sollten sie uns glauben?« Denser hob hilflos die Hände. »Sei nicht so naiv, Richmond. Sie wissen nur, dass ich auf Reisen bin, sie wollen nicht, dass Dawnthief gefunden wird, und die einfachste Lösung scheint darin zu bestehen, mich zu töten.«

»Nun gut«, sagte der Unbekannte. Er trank sein Glas aus, füllte es erneut und reichte die Flasche im Kreis weiter. »Wir wissen jetzt also, dass du auf der Abschussliste stehst und gefährlich bist, und dass wir eigentlich nicht einmal mit dir reden sollten. Es wäre jetzt wohl an der Zeit, dass du erschöpfend erklärst, wozu du uns anheuern willst.«

Die Atmosphäre im Raum kühlte merklich ab. Denser sah von einem verärgerten Gesicht zum anderen.

»Wir müssen die Katalysatoren bergen, und dabei sollt ihr mir helfen.«

»Warum gerade wir?«

»Warum heuert irgendjemand den Raben an?«

»Ein paar mehr Details könnten nicht schaden.«

Denser holte tief Luft. Die bohrenden Fragen des Raben setzten ihm zu. Er zog wieder das Amulett hervor.

»Nehmen wir an, es geht wie geplant, und wir finden Informationen über die Katalysatoren von Dawnthief. Wir müssten dann die Katalysatoren selbst bergen. Ich brauche Schutz, ich brauche Kämpfer und magische Verteidigung. Ich brauche auch Leute, denen man völlig vertrauen kann. Aus der Sicht von Xetesk kommt nur der Rabe infrage.«

Es gab ein kurzes Schweigen.

»Ich bin nicht sicher, ob ich es verstehe«, sagte Hirad. »Warum zieht ihr nicht einfach mit einem Haufen Protektoren und Xetesk-Magiern los? Denen könnt ihr doch vertrauen.«

»Ganz so einfach ist es leider nicht«, erklärte Denser. »Es gilt, politische Aspekte zu berücksichtigen, und wenn herauskommt, dass Xetesk eine solche Aktion durchführt, dann haben wir sofort die Agenten der Wytchlords auf den Fersen. Wir müssen so lange wie möglich verdeckt vorgehen.«

»Ganz zu schweigen von dem Aufruhr, der in den Kolleg-Städten entstehen würde«, meinte Ilkar.

»Und die Hexenjäger«, fügte der Unbekannte hinzu.

»Die sollen bloß aufpassen«, knurrte Hirad.

»Oh, keine Sorge, mit denen werden wir noch genug zu tun bekommen«, sagte Denser.

»Je früher desto besser.«

»Im Ernst«, fuhr Denser fort, »sie müssen zum Schweigen gebracht werden. Was sie wissen oder zu wissen glauben, könnte für ganz Balaia verhängnisvoll werden, wenn es den Falschen zu Ohren kommt.«

»Ist es dumm, wenn ich ein Bündnis aller vier Kollegien ins Gespräch bringe, da die Angelegenheit doch so wichtig ist?«, fragte Richmond.

»Überhaupt nicht«, stimmte Denser zu. »Ein Treffen aller vier Kollegien wurde bereits anberaumt, auch wenn es dort vor allem um die Bedrohung durch die Wesmen und nicht um die Suche nach Dawnthief gehen wird. Wir können es uns nicht erlauben, die anderen Kollegien über unsere Suche zu informieren. Noch nicht. Ilkar kann es euch bestätigen. Sie würden die Suche nur stören und die Anwendung des Spruchs mit unmöglichen Bedingungen belegen. Es muss so lange wie möglich geheim bleiben.« Er hielt inne. »Glaubst du mir, Ilkar?«

Der Elf erwiderte gelassen seinen Blick. »Das ist keine Frage, die ich so ohne weiteres beantworten könnte. Es hat weitreichende Folgen für meine Beziehung zu Julatsa. Ich bin durch meine Ehre gebunden, den Meistern alles zu berichten. Das weißt du so gut wie ich.«

Wieder trat Schweigen ein. Richmond legte ein Scheit ins Feuer.

»Ich weiß. Ich bitte dich nur um etwas Zeit, damit ich dir meine ehrlichen Absichten beweisen kann. Aber ich brauche eine Antwort«, sagte Denser schließlich.

»Auf welche Frage?«, murmelte Hirad.

»Werdet ihr uns helfen?«

»Wie viel?«, fragte Talan.

»Fünf Prozent vom Wert jedes Artefakts, die gleichen Bedingungen wie gehabt.«

»Ich kann nicht glauben, dass du gerade diese Frage gestellt hast«, fauchte Hirad. »Was für eine Rolle spielt es, wie viel sie zahlen? Wir haben hier genug zu tun.« Er deutete auf Sirendors verhüllten Leichnam.

»Es spielt immer eine Rolle«, erwiderte Talan. »Es wird keine Entscheidung fallen, solange nicht alle Bedingungen bekannt sind. So war es schon immer.«

»Wir sind im Ruhestand, Talan. Schon vergessen?«

»Balaia kann es sich nicht erlauben, euch im Ruhestand zu belassen«, sagte Denser.

»Halt den Mund, Xetesk-Mann. Das geht dich nichts an.« Hirad sah sich nicht einmal zu ihm um.

»Hirad, so beruhige dich doch«, sagte der Unbekannte. »Es ist auch so schon schwer genug.«

»Wirklich? Wir suchen die Hexenjäger und töten sie. Was soll daran schwierig sein?«

Der Unbekannte überging die Bemerkung. »Noch eine Frage, Denser. Angenommen, wir bergen die Katalysatoren. Was wird dann geschehen?«

»Ihr helft mir, sie in die Torn-Wüste zu bringen und Dawnthief gegen die Wytchlords in Parve einzusetzen. Das heißt, falls ihr das wollt.«

»Also, wir sind sicher nicht bereit, die Katalysatoren so ohne weiteres an Xetesk abzuliefern«, sagte Ilkar.

»Das habe ich auch nicht erwartet«, erwiderte Denser.

»Nun? Habt ihr alle genug gehört?«, fragte der Unbekannte.

»Mehr als genug.«

»Also gut.« Der Unbekannte stand auf und öffnete die Tür. »Denser, es ist Zeit, dass du uns verlässt. Wir müssen reden, und wir müssen Totenwache halten.«

»Ich brauche eine Antwort«, wiederholte Denser.

»Morgen bei der ersten Dämmerung«, versprach der Unbekannte. »Bitte …« Er deutete zur Tür.

Denser hielt noch einmal inne, ehe er ging. »Ihr könnt euch nicht weigern«, sagte er. »Für uns alle hängt viel zu viel davon ab.«

Der Unbekannte schloss die Tür hinter Denser und füllte alle Gläser nach, bevor er sich wieder an seinen Platz setzte.

»Nun, wer macht den Anfang«

»Es ist ein Alptraum«, sagte Ilkar. »Ich weiß nicht recht, was ich sagen soll.«

»Sirendor Larn ist seinetwegen gestorben, es ist offensichtlich, dass Ras’ Tod nichts mit unserem letzten Auftrag zu tun hatte, und wir sitzen hier herum und plaudern darüber, ob wir für ihn arbeiten.« Hirad schrie beinahe. »Warum müssen wir überhaupt noch diskutieren?« Er stand auf und ging zum Kamin. »Es ist doch ganz einfach. Wir ziehen los und töten die Hexenjäger. Denser kann sich seinen Spruch in den Hintern schieben, und das hier …« Er zerrte den Kodex aus dem Rahmen über dem Kamin und riss ihn in Stücke. »Das hier ist Geschichte.«

Entgeistert starrten sie Hirad und das zerfetzte Stück Pergament an. Jetzt erst hielt er inne und bemerkte, wie erregt er war. Sein Atem ging schnell, sein Herz pochte heftig in der Brust, hinter sich hörte er das Feuer knacken. Er sah seine Freunde herausfordernd an, ob sie es wagten, ihn zu kritisieren oder ihm zu widersprechen.

»Setz dich, Hirad«, sagte der Unbekannte leise.

»Warum denn? Damit du …«

»Ich sagte, setz dich!«, donnerte der große Mann.

Hirad, der immer noch die zwei Stücke des Kodex in den Händen hielt, gehorchte.

»Wir wissen alle, wie bekümmert du bist.« Der Unbekannte sprach jetzt wieder ruhiger. »Und wir werden uns mit Sirendors Mördern befassen, glaube mir. Aber was wir gerade gehört haben, hat alles verändert, auch wenn du es noch nicht begriffen hast.«

»Wirklich?« Hirad seufzte.

»Wirklich«, bestätigte der Unbekannte. »Ich denke aber, Ilkar kann das besser erklären als ich.«

Der Julatsan-Magier zog die Augenbrauen hoch. »Um es ganz simpel auszudrücken, sind die beiden schlimmsten Dinge, die ich mir überhaupt vorstellen konnte, gleichzeitig passiert. Jedenfalls behauptet Denser genau dies. Die Wytchlords sind ausgebrochen, und Xetesk hat einen Zugang zum Dawnthief gefunden.«

»Und?«

»Bei den Göttern, Hirad, ich habe vorhin nicht gescherzt. Dawnthief kann alles zerstören. Ganz wörtlich. Wenigstens theoretisch. Wenn Denser Erfolg hat und die Wytchlords vernichtet – und wir müssen beten, dass es ihm gelingt –, dann befindet sich die gefährlichste Waffe überhaupt in den Händen des Dunklen Kollegs. Was, glaubst du, bedeutet dies für uns, für die anderen?«

»Dann töten wir Denser und nehmen den Spruch an uns, sobald er ihn gewirkt hat.«

»Ja, aber um das zu tun, müssten wir direkt neben ihm stehen.«

»Wir könnten ihn jetzt töten und das Amulett in unseren Besitz bringen«, sagte Hirad ruhig.

Schweigen. Richmond nickte.

»Das würde auf jeden Fall Zeit sparen.«

»Und wenn er in Bezug auf die Wytchlords Recht hat?«, fragte Ilkar.

»Dann soll jemand anders den Spruch wirken.«

»Aber klar«, schnaubte Ilkar. »Ich kann ja mal Tomas fragen, ob er Zeit für uns hat.«

»Du weißt, was ich meine.«

»Ganz so einfach ist es nicht, Hirad. Denser wurde vermutlich sein Leben lang in der Theorie des Dawnthief-Spruchs ausgebildet. Wenn er der wichtigste Dawnthief-Magier von Xetesk ist – und ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln, dass dies zutrifft –, dann ist er der Mann, der die besten Chancen hat, den Spruch zu wirken. Vielleicht sogar der Einzige überhaupt.«

»Also glaubst du ihm, Ilkar?« Talan beugte sich vor, leerte sein Glas und streckte die Hand nach der Flasche aus, die der Unbekannte ihm anbot.

»Warum sollte er in dieser Hinsicht lügen? Er riskiert, dass ich über Dawnthief einen Bericht nach Julatsa schicke, und er hat völlig Recht mit seiner Einschätzung, wie mein Bericht aufgenommen würde, wenn ich es tue. Bei den Göttern, was für ein Durcheinander.« Ilkar nagte an der Unterlippe und sank auf seinem Stuhl zusammen.

»Welche Möglichkeiten haben wir denn nun?«, wollte Talan wissen.

»Wir haben überhaupt keine«, sagte Ilkar. »Eigentlich haben wir überhaupt keine Wahl. Ich meine, wir könnten beschließen, seine Bitte abzulehnen und selbst gegen die Hexenjäger vorzugehen, aber was, wenn er die Wahrheit sagt? Wir hätten dann Balaia im Stich gelassen, und was noch schlimmer ist, wir hätten es Xetesk und den Wytchlords überlassen, unter sich zu entscheiden, wer Dawnthief besitzen soll. Dawnthief bedeutet unumschränkte Macht, er ist wirklich so mächtig, so viel könnt ihr mir glauben. Macht euch keine Illusionen. Wenn die Wytchlords zurückkehren, dann kommen sie, um uns alle zu vernichten.«

»Sind sie denn wirklich so übel?«, fragte Richmond.

»Ja. Bei den Göttern, ja«, antwortete Ilkar. »Du musst dazu wissen, woher sie gekommen sind. Sie gehörten ursprünglich zum einzigen existierenden Kolleg, doch sie wurden aufgrund ihrer Ansichten hinter die Blackthornes verbannt. Sie haben Jahrhunderte damit verbracht, ihren Hass zu kultivieren und sich selbst unsterblich zu machen. Als sie damit Erfolg gehabt hatten, kamen sie, um sich zu nehmen, was ihnen ihrer Ansicht nach zustand. Beim ersten Mal haben wir gesiegt. Dieses Mal werden wir nicht mehr siegen, wenn wir Dawnthief nicht haben.« Er hielt inne, weil ihm bewusstwurde, dass die anderen ihm nicht folgen konnten. »Hört zu, die Wytchlords wollen nicht erobern, sie wollen vernichten und östlich der Berge alles Leben auslöschen. Das haben sie versprochen, als sie ins Mana-Gefängnis gesteckt wurden. Meiner Ansicht nach sollten wir Denser unterstützen … lasst es mich so sagen. Ich werde ihm helfen, ob der Rabe es insgesamt tut oder nicht, und ich will, dass ihr meinem Beispiel folgt. Wir werden dabei wahrscheinlich alle sterben, aber dann haben wir es wenigstens versucht.«

»Ich hatte noch nie große Lust, als Märtyrer für mein Land zu fallen«, erklärte Talan.

»Aber so eine Aufgabe wäre sicher etwas Neues für den Raben«, warf Richmond ein. »Ich meine, wenn wir mal nicht nur des Geldes wegen kämpfen.«

»Der Ruhestand ändert die Ansichten zu gewissen Dingen.« Ilkar zuckte mit den Achseln, doch sein Lächeln war etwas verkrampft.

»Für Sirendor hat sich gewiss eine Menge verändert.« Hirads Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

»Allerdings. Und wir dürfen nicht vergessen, was wir uns aufbürden, wenn wir diesen Auftrag annehmen. Vorausgesetzt natürlich, wir akzeptieren ihn überhaupt.« Der Unbekannte sah sich in der Runde um.

»Ich will es Schwarz auf Weiß im Vertrag geschrieben sehen, dass Dawnthief wie besprochen ausschließlich gegen die Wytchlords eingesetzt wird. Ich arbeite für Balaia, nicht für Xetesk«, sagte Ilkar, und seine Stimme verriet kompromisslose Härte.

»Und ich will eine Zusage von Denser, dass wir die Hexenjäger bei der ersten Gelegenheit angreifen, die wir bekommen.« Hirad blickte zu Sirendor hinüber.

»Hast du das, Talan?«, fragte der Unbekannte, als niemand mehr etwas zu ergänzen hatte. Talan nickte. »Denser muss den Vertrag beim ersten Morgengrauen unterschreiben, deshalb solltest du ihn besser jetzt gleich aufsetzen. Gibt es sonst noch etwas?«

»Nur eine Sache wäre da noch«, erklärte Richmond. »Sollten wir nicht Denser bewachen? Oder, um es genauer zu sagen, das Amulett, das er besitzt?«

»Keine Sorge, seine Katze wird schon dafür sorgen, dass ihm nichts passiert«, sagte Ilkar.

Hirad sah den Elf von der Seite an. Er konnte sich nicht vorstellen, wie das Tier mehrere Bewaffnete in Schach hielt. »Dann ist die Katze eine gute Schwertkämpferin, was?«

Trotz der gedrückten Stimmung musste Ilkar lachen. »Die Katze ist ein Hausgeist, Hirad. Sie hat einen Teil seines Bewusstseins in sich, besser kann ich es nicht ausdrücken. Ich wage allerdings zu behaupten, dass sie in mehr als einer Gestalt auftreten kann.«

»Ich verstehe«, sagte Hirad, der überhaupt nichts verstand.

»Ich erkläre es ein andermal. Vertrau mir einfach für den Augenblick, ja?«

»Also gut, meine Herren«, sagte der Unbekannte, indem er aufstand. »In einer Stunde sind wir zur Totenwache wieder hier. Bis dahin sollten wir Hirad allein lassen, damit er in seinem Kummer ungestört ist.«

Hirad lächelte dankbar, denn die ersten Tränen standen ihm schon in den Augen. Als die anderen gegangen waren, erlaubte er es sich zu weinen.