3
Sie legte sich wieder aufs Bett. Das Pochen im Kopf jagte Wellen der Übelkeit durch ihren Körper. Sie schauderte und betete jedes Mal, dies möge der letzte Anfall von Übelkeit sein, doch sie wagte nicht zu hoffen, dass dem tatsächlich so war.
Jeder Muskel im Körper tat weh und verkrampfte sich vor Schmerz, alle Sehnen waren überdehnt. Die Haut spannte sich so straff auf der Brust, dass sie fürchtete, sie könne aufplatzen, wenn sie tief einatmete. Schon das flache, keuchende Schnaufen, wenn sie mühsam Luft in die gequälten Lungen sog, ließ sie wimmern. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie bewusstlos gewesen war, und sie wusste nicht zu sagen, wie lange die Symptome noch anhalten würden.
Doch die körperlichen Schmerzen waren nichts im Vergleich zu den Qualen im Herzen und in ihrer Seele, weil man ihre Söhne entführt hatte. Ihren Lebensinhalt. Ihretwegen bebte und zitterte sie am ganzen Körper. Sie wollte mit dem Bewusstsein nach ihnen tasten und den Geist ihrer Kinder berühren, doch sie konnte es nicht und fluchte über ihre Entscheidung, die Unterweisung in der Kommunion aufgeschoben zu haben.
Wo waren sie? Waren sie zusammen? Bei den Göttern, sie hoffte es. Waren sie noch am Leben? Die Tränen quollen ihr aus den Augen, als die Droge ein wenig Macht über ihren Körper verlor. Ein gewaltiges Schluchzen erschütterte sie, und ihre Schreie hallten durch ihr Gefängnis. Endlich schlief sie erschöpft wieder ein.
Die Morgendämmerung kam, doch das zweite Erwachen brachte keine Linderung der Qualen. Bleiches Licht fiel durchs einzige Fenster herein, das hoch oben im kreisrunden Raum angebracht war. Sie befand sich in einem Turm, so viel war sicher. Ihre Gefängniszelle enthielt ein kleines Bett mit Strohmatratze, einen Tisch und einen Stuhl, einen gewebten Teppich, in dem das Rot und Gold schon lange verblichen waren, der aber immerhin etwas Schutz vor der Kälte des mit Steinplatten ausgelegten Bodens bot. Bekleidet war sie mit dem Nachthemd, in dem man sie verschleppt hatte. Socken hatte sie nicht getragen, von Schuhen ganz zu schweigen, und es war kalt im Raum. Staub bedeckte alle Oberflächen und wallte in die Luft, sobald sie sich unruhig auf dem Bett regte. Sie zog die Decke bis zu den Schultern hoch.
Die einzige Tür des Raums fesselte ihre Aufmerksamkeit. Sie war verschlossen und verriegelt, das schwere Holz saß beinahe fugenlos im Stein des Turms. Wieder kamen die Tränen, doch dieses Mal war sie stark genug, sie zurückzudrängen. Sie zwang sich, das Mana in sich zu wecken und einen Fluchtweg aus dem Turm zu suchen. Das Mana war da, es pulsierte in ihr und strömte um sie, es war unendlich und veränderte und wandelte sich stets und floss hierhin und dorthin. Die Flucht war nur eine Beschwörung entfernt. Die Tür konnte ihrem Flammenbogen keinen Widerstand entgegensetzen.
Doch als sie bereit war, erinnerte sie sich. Wenn du einen Spruch wirkst, werden deine Jungen sterben. Sie kam zu Sinnen und sah, dass sie unwillkürlich aufgestanden war. Sie ließ sich auf den Stuhl sinken.
»Geduld«, sagte sie sich. »Geduld.« Zorn konnte für einen Magier sehr zerstörerisch sein. Sie wusste zwar nicht, welches Schicksal ihre Jungen erleiden mussten, doch sie konnte es sich nicht erlauben zu tun, wofür ihre Familie, die Malanvai, so bekannt waren, und einfach vor Wut in die Luft gehen.
Die Sehnsucht in ihrem Herzen und die Schmerzen in ihrem Leib nahmen mit jeder Sekunde zu, doch endlich klärte sich wenigstens ihr Geist. Die Entführer hatten gewusst, dass sie eine Magierin war, und man hatte sie aus einem ganz bestimmten Grund aus Dordover verschleppt. Man wollte sie unter Kontrolle halten, und es ist schwer, einen Magier, der bei Bewusstsein ist, ohne Gewalt und Fesseln unter Kontrolle zu halten. Deshalb benutzten sie nun ihre Söhne, um sie zu beherrschen. Aus diesem Grund glaubte sie auch, dass ihre Söhne noch am Leben waren. Und nicht nur das, die Kinder mussten sogar in der Nähe sein. Denn wer auch immer sie entführt hatte, musste wissen, dass sie sich nicht fügen würde, solange sie nicht zuerst ihre Söhne gesehen hatte. Neue Hoffnung keimte in ihr, doch die Freude erstarb sofort wieder, als sie noch einmal die verriegelte Tür betrachtete.
Das Herz krampfte sich ihr im Leibe zusammen, als sie an ihre Jungen dachte. So klein waren sie noch, allein und so verängstigt. Mitten in der Nacht entführt und an irgendeinem Ort eingesperrt, den sie nicht kannten. Sie konnten nicht wissen, was all dies zu bedeuten hatte. Wie mochten sie sich fühlen? Verraten. Verlassen von der Mutter, die behauptete, sie mehr als alles auf der Welt zu lieben. Verängstigt, weil sie allein und hilflos waren. Eingeschüchtert durch die Trennung von der Mutter.
Zorn wallte auf und verdrängte die Seelenqualen.
»Geduld«, ermahnte sie sich murmelnd. »Geduld.« Bald musste jemand zu ihr kommen. Auf dem Tisch stand ein Krug mit Wasser, doch keine Nahrung.
Ihr Blick blieb auf die Tür geheftet, während der Hass auf ihre Entführer in den Adern kochte. Das Brophane zehrte an ihren Kräften, doch in ihrem Körper pulsierten das Mana und die Liebe für ihre Kinder.
Als der Schüssel endlich herumgedreht wurde und der Mann, den sie gefürchtet hatte, vor ihr stand, konnte sie allerdings nichts weiter tun, als zu schluchzen und ihm für seine Worte zu danken.
»Willkommen auf meiner Burg, Erienne Malanvai. Wie ich sehe, erholt Ihr Euch bereits. Nun, ich denke, es ist an der Zeit, dass wir Euch mit Euren wundervollen kleinen Jungs zusammenbringen.«
Es war kalt, und er saß in einem riesigen, konturlosen, leeren Raum allein auf der rissigen Erde. Kein Wind wehte, und doch bewegte irgendetwas sein Haar. Als er hinschaute, sah er direkt vor sich den Drachen. Sein Kopf war riesig, den Rest des Körpers konnte er nicht erkennen. Der Drache hauchte ihn an, und er blieb einfach sitzen, als die Haut in seinem Gesicht verbrannte und seine Knochen dunkel anliefen und zersprangen. Er öffnete den Mund zu einem Schrei, doch kein Laut kam über die Lippen. Er flog über das Land, das schwarz und verkohlt unter ihm lag. Der Himmel über ihm war voller Drachen, doch am Boden bewegte sich nichts. Er wollte seine Hände betrachten, doch sie waren nicht da, und er fühlte, dass das Fleisch seines Gesichts verbrannt war. Es war heiß. Er rannte. Seine Arme ruderten aufgeregt, doch die Beine waren unendlich träge. Der Drache holte ihn ein, er konnte nicht mehr weglaufen. Er stürzte, und der Drache war wieder vor ihm. Das Ungeheuer hauchte, und wieder saß er nur da, während die Haut aus seinem Gesicht gebrannt wurde und die Knochen schwarz anliefen und zersprangen. Er konnte nicht fliehen, es gab kein Versteck, die Hitze versengte seine Augen, die er dennoch nicht schließen konnte. Er öffnete den Mund und wollte schreien.
Hände tasteten über sein Gesicht. Er setzte sich auf, doch da war kein Drache und kein verkohltes Land. Unter dem Feuerrost brannte ein Feuer. Ilkar legte das Schüreisen weg, mit dem er die Flammen geweckt hatte. Hirad dachte, es müsse kalt sein, doch ihm war heiß. Sehr heiß. Talan und der Unbekannte saßen aufrecht in ihren Betten, und Sirendor hatte die Hände um Hirads Gesicht gelegt.
»Beruhige dich, Hirad. Es ist vorbei. Es war nur ein Traum.«
Hirad sah sich noch einmal im Raum um. Er schnaufte schwer, und sein Herzschlag wurde langsamer.
»Es tut mir leid«, sagte er.
Sirendor tätschelte seine Wangen und richtete sich wieder auf. »Du hast mir eine Heidenangst eingejagt«, sagte er. »Ich dachte schon, du liegst im Sterben.«
»Ich bin tatsächlich gestorben«, gab Hirad zurück.
»Du und alle anderen auf der Burg«, meinte Ilkar. Der Magier streckte sich und gähnte.
»Dann war ich wohl laut, was?« Hirad lächelte angestrengt.
Ilkar nickte. »Sehr laut. Weißt du noch, was du geträumt hast?«
»Das werde ich nie mehr vergessen. Ich habe von Drachen geträumt. Ich sah Tausende von Drachen. Und Sha-Kaan. Aber es war nicht hier. Wo auch immer, es war ein toter Ort. Ihre eigene Welt, glaube ich. Sha-Kaan sagte mir, sie zerstörten ihre Welt. Sie war schwarz und verbrannt. Und Sha-Kaan hat auch mich verbrannt, aber ich bin nicht gestorben. Ich habe nur dagesessen und geschrien, aber es kam kein Laut aus meinem Mund. Ich verstehe das nicht. Wie kann es noch eine andere Welt geben? Wo ist sie?« Er schauderte.
»Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ich noch nie so große Angst hatte. Solche Dinge existieren einfach nicht.«
»Und ob sie existieren.«
»Du weißt schon, was ich meine«, sagte Sirendor. »Du musst mit Ilkar reden, aber das kann warten. Vielleicht sollten wir alle mit ihm reden. All dieses Zeugs über Dimensionen und Drachen. Ich weiß auch nicht.« Er hielt inne. Hirad hörte schon nicht mehr zu.
»Wie spät ist es denn?«
»Die Morgendämmerung kommt in einer Stunde«, erklärte der Unbekannte, nachdem er einen Vorhang zur Seite gezogen hatte.
»Ich glaube, ich versuche gar nicht erst, noch einmal einzuschlafen«, sagte Hirad. Er stand auf und zog sich Kniehosen und Hemd an. »Ich gehe in die Küche und hole mir etwas Kaffee.« Sirendor und die anderen drei wechselten einen Blick, den Hirad nicht zu deuten wusste. »Das ist doch kein Problem, oder?«
»Nein«, sagte Sirendor. »Das ist kein Problem. Ich begleite dich.«
»Danke.« Hirad lächelte. Auch Sirendor lächelte, doch es wirkte ein wenig gezwungen. Sie verließen den Raum.
Die Küche der Burg wurde nie geschlossen, und sechs offene Feuer wärmten die großen Räume. Tische zum Arbeiten und Essen nahmen den größten Teil der freien Fläche ein, an Haken ringsum hingen Töpfe, Pfannen und Kochutensilien, deren Zweck nicht immer gleich zu erkennen war. Rauch zog durch Schornsteine ab, und Dampf entwich aus hoch angebrachten offenen Fenstern. Die Hitze der Kochstellen erzeugte in der Küche eine behagliche Wärme, und in die gerufenen Anweisungen an die Küchenhilfen mischte sich das Gelächter der Speisenden. Gerüche von bratendem Fleisch und der süße Duft von frisch gebackenem Brot weckten Erinnerungen an die lange vergessene Kindheit.
Auf einem Feuer siedete Wasser in einem großen Topf. Becher und Kaffeemehl standen daneben auf Tabletts bereit. Ein Stück von den schwatzenden und klappernden Köchen und Dienern entfernt ließen sich die beiden Männer mit ihren Getränken an einem Tisch nieder.
»Du scheinst so bedrückt, Sirendor.« Die Freunde sahen einander in die Augen. Sirendor machte in der Tat ein bekümmertes Gesicht. Seine Stirn war von tiefen Falten durchzogen, und das ganze Gesicht sprach von Sorgen. Hirad war nicht daran gewöhnt, seinen Freund so betrübt zu sehen.
»Wir haben geredet.«
»Wer?«
»Was glaubst du denn? Wir anderen, während du geschlafen hast.«
»Wenn du das so sagst, dann wird mir ganz seltsam zumute.« Was es auch war, es musste ernst sein. So hatte er Sirendor schon seit Jahren nicht mehr gesehen.
»Wir werden leider nicht jünger.«
»Was?«
»Du hast es gehört.«
»Larn, ich bin einunddreißig. Du bist dreißig, der große Mann ist gerade mal dreiunddreißig und der Älteste von uns. Was redest du da?«
»Wie viele Söldner kennst du denn, die über dreißig sind und immer noch in der ersten Reihe kämpfen?«
Hirad holte tief Luft. »Nun ja, nicht sehr viele, aber ich meine … wir sind doch etwas Besonderes. Wir sind der Rabe.«
»Ja, wir sind der Rabe. Und wir werden zu alt, um zu kämpfen.«
»Du machst Witze! Wir haben die Bande gestern windelweich geprügelt.«
»Ja, so möchtest du das sehen, nicht wahr?« Hirad nickte, und Sirendor lächelte. »Ich dachte mir schon, dass du das sagen würdest. Meiner Ansicht nach waren wir aber lange nicht so gut wie sonst.«
»Das liegt daran, dass wir zu viel Zeit mit Herumstehen und Wacheschieben verbracht haben. Wie ich schon sagte, wenn wir nicht kämpfen, dann verlieren wir unsere Kraft.«
»Bei den Göttern, Hirad, du bist störrisch, obwohl dir die Fakten ins Auge springen. Hältst du es wirklich für einen Zufall, dass wir in den letzten Jahren immer weniger Kampfeinsätze und mehr Aufträge für Beratungen und Rückendeckung im Hintergrund übernommen haben?« Hirad sagte nichts dazu. »Unsere alte Kampfkraft ist dahin. Als wir gestern eingesetzt wurden, hätten wir es beinahe nicht geschafft.«
»Ach, hör doch auf, Larn …«
»Ras ist gefallen!« Sirendor sah sich um, dann senkte er die Stimme. »Auch du hättest sterben können. Richmond hat einen unglaublichen Fehler gemacht, und Ilkar hat den Schild fallen lassen. Wenn der Unbekannte nicht gewesen wäre, dann hätte man uns ausgelöscht. Uns, den Raben!«
»Ja, aber die Explosion …«
»Du weißt so gut wie ich, dass wir vor zwei Jahren durch sie hindurchgestürmt wären, bevor der Magier überhaupt Zeit gehabt hätte, den Spruch zu wirken. Wir müssen uns an die Gegebenheiten …« Sirendor ließ den Satz unvollendet und trank einen Schluck Kaffee. Hirad starrte ihn nur fassungslos an.
»Hirad, ich möchte, dass wir in zehn Jahren auf die guten alten Zeiten zurückblicken können. Wenn wir aber versuchen, den Raben in der gegenwärtigen Form weiterzuführen, dann werden uns keine zehn Jahre mehr bleiben.«
»Ein einziger schwieriger Kampf, und du willst aufgeben.«
»Es ist nicht nur dieser eine Kampf. Der gestrige Tag war eine Warnung vor dem, was jederzeit passieren könnte. In den letzten zwei Jahren hat es schon mehrmals Warnsignale gegeben. Jeder von uns hat sie gesehen. Du hast allerdings beschlossen, sie zu ignorieren.«
»Wollt ihr anderen dann den Raben auflösen?«, fragte Hirad. Seine Augen wurden feucht. Seine Welt ging in die Brüche, und er sah keinen Ausweg. Noch nicht.
»Nicht unbedingt. Vielleicht sollten wir aber eine Pause einlegen und eine Bestandsaufnahme machen.« Sirendor lehnte sich zurück und hob hilflos beide Hände. »Gott weiß, dass wir ganz sicher kein Geld mehr brauchen, um uns ein bequemes Leben zu gönnen. Manchmal denke ich, dass wir inzwischen halb Korina besitzen.« Er lächelte einen Moment. »Hör mal, ich habe dieses Thema zur Sprache gebracht, weil ich eine Sitzung anberaumen will, sobald wir wieder in der Stadt sind. Wir müssen darüber reden, wir alle, wenn wir etwas Zeit hatten, darüber nachzudenken.«
Hirad starrte seinen Kaffee an und ließ sich vom Dampf das Gesicht wärmen. Die beiden Männer schwiegen eine Weile.
»Wenn wir weiter tun, als sei alles noch so, wie es vor ein paar Jahren mal war, dann werden wir eines Tages nicht mehr schnell genug sein. Hirad?« Der Barbar schaute auf. »Hirad, ich will dich nicht auf die gleiche Weise verlieren, wie wir Ras verloren haben.« Sirendor nagte an der Unterlippe, dann seufzte er. »Ich will nicht zusehen müssen, wie du stirbst.«
»Wirst du auch nicht.« Hirads Antwort fiel recht grantig aus. Er kippte den Rest Kaffee in sich hinein und stand auf. Er musste die Lippen fest zusammenpressen, damit sie nicht zitterten. »Ich sehe mal nach den Pferden«, sagte er schließlich. »Wir sollten wohl lieber früh aufbrechen.« Er verließ die Küche und marschierte zum Innenhof, wo er stehen blieb und den Ort anstarrte, der möglicherweise der letzte sein sollte, an dem der Rabe gekämpft hatte. Zornig wischte er sich die Tränen aus den Augen und ging zu den Stallungen.
Auch Ilkar sprach sich dagegen aus, noch länger zu rasten, und begab sich sofort in Serans Gemächer. Der tote Magier aus Lystern, der kleinsten der vier Kolleg-Städte, lag inzwischen auf einem niedrigen Tisch seines Arbeitszimmers. Ein Tuch bedeckte den Leichnam. Ilkar zog das Tuch von Serans Gesicht zurück und runzelte die Stirn.
Die Haut des toten Magiers war auf dem Schädel straff gespannt, und das Haar war rein weiß. So hatte er am vergangenen Abend noch nicht ausgesehen. Der Schnitt auf der Stirn, der inzwischen gesäubert worden war, erweckte jetzt den Eindruck, als stammte er lediglich von einer kleinen Kralle.
Er hörte eine Bewegung hinter sich. Denser, der Magier aus Xetesk, hielt in der Tür der Schlafkammer inne. Die Pfeife qualmte gemächlich in seinem Mund, die Katze war in seinem Mantel verborgen. Ilkar fand, dass die Pfeife nicht zu ihm passte. Denser war ganz gewiss kein alter Mann, auch wenn die Anstrengungen ihm das Aussehen eines Mannes gaben, der die Mitte der Dreißig deutlich überschritten hatte.
»Ein unglückliches Ergebnis, aber leider unvermeidlich«, erklärte Denser. Er wirkte schrecklich müde. Sein Gesicht war grau, die Augen dunkel und eingesunken. Er lehnte sich an den Türrahmen.
»Was ist mit ihm geschehen?«
Denser zuckte mit den Achseln. »Er war kein junger Mann mehr. Wir wussten, dass er sterben könnte.« Er zuckte noch einmal mit den Achseln. »Es gab keine andere Möglichkeit. Er wollte uns aufhalten.«
»Uns?« Endlich fiel der Groschen. »Die Katze«, sagte Ilkar.
»Ja. Sie ist ein Hausgeist.«
Ilkar zog Seran das Tuch wieder über den Kopf und ging zu Denser hinüber. »Komm schon, setz dich lieber, ehe du umfällst. Ich habe einige Fragen, die beantwortet werden müssen.«
»Ich dachte mir schon, dass es kein reiner Höflichkeitsbesuch wird.« Denser lächelte.
»Nein.« Ilkar lächelte nicht.
Als er saß, blickte Ilkar zu Denser, der sich auf Serans Bett gelegt hatte. Damit war seine erste Frage schon beantwortet. Der Xeteskianer hätte nicht genug Kraft gehabt, um am vergangenen Abend die Burg zu verlassen.
»Du hast dich gestern überanstrengt, nicht wahr?«, fragte der Julatsaner.
»Ich hatte zu arbeiten, nachdem ich dies hier an mich gebracht hatte«, bestätigte Denser. Er zog das Amulett unter dem Mantel hervor. Es hing an einer Kette um seinen Hals. »Ich nehme an, du willst über das hier reden.«
Ilkar nickte. »Was für eine Art von Arbeit hattest du zu tun?«
»Ich musste herausfinden, ob dies das Stück ist, das wir finden wollten.«
»Und? Ist es das richtige?«
»Ja.«
»Dann hat Xetesk dich geschickt?«
»Natürlich.«
»Und die Schlacht hier?« Ilkar machte eine vage Geste in die Runde.
»Tja, sagen wir mal, es war recht einfach, mich in eine angreifende Truppe einzuschleusen, doch es ging nicht unbedingt günstig für mich aus, wie du ja weißt.«
»Warum hast du dich nicht einfach der Garnison angeschlossen?«
»Während ein Drachenmagier hier weilt? Schwerlich.« Denser kicherte. »Ich fürchte, Seran und Xetesk waren nicht sehr gut aufeinander zu sprechen.«
»Was für eine Überraschung«, murmelte Ilkar.
»Komm schon, Ilkar, so sehr unterscheiden wir uns doch gar nicht.«
»Zum Teufel auch! Ist die Selbsttäuschung in Xetesk so gewaltig, dass deine Herren wirklich glauben, alle Magier seien im Grunde gleich? Das ist eine Beleidigung für die ganze Magie und ein Makel in deiner Ausbildung.« Ilkar wurde allmählich wütend, seine Wangen brannten, und die Augen waren schmale Schlitze. Es war erstaunlich, wie blind man manchmal in Xetesk war. »Du weißt, woher die Kraft gekommen ist, mit der du gestern das Mana geformt und deine Sprüche gewirkt hast. An meinen Händen klebt jedoch kein Blut, Denser.«
Denser schwieg eine Weile. Er steckte sich die Pfeife wieder an, holte die Katze aus dem Mantel und setzte sie auf dem Bett ab.
Das Tier starrte Ilkar an, während der Dunkle Magier ihm den Hals kraulte. Ilkars Empörung nahm sogar noch zu, doch er hütete seine Zunge.
»Ich glaube, Ilkar«, sagte Denser schließlich, während er eine Serie von Rauchringen produzierte, »dass du meinen Meistern keine Mängel in ihrer Lehre vorwerfen solltest, solange du nicht die Mängel deiner eigenen erkannt hast.«
»Was meinst du damit?«
Denser spreizte die Finger. »Siehst du Blut an meinen Händen?«
»Du weißt genau, was ich meine«, fauchte Ilkar.
»Ja, ich weiß es. Und du solltest wissen, dass ein Xetesk-Magier mehr als nur eine einzige Quelle für sein Mana hat. Das Gleiche gilt zweifellos auch für dich.«
Schweigen senkte sich zwischen ihnen, während draußen in den Gängen der Burg schon die ersten Geräusche des neuen Tages zu hören waren.
»Ich werde nicht über die Ethik der Kollegien mit dir diskutieren, Denser.«
»Das ist aber schade.«
»Es ist sinnlos.«
»Ein Mangel in deiner Ausbildung, Ilkar?«
Er ignorierte den Seitenhieb. »Ich muss zwei Dinge wissen. Wie hast du von Seran und dem Amulett erfahren, und was genau ist es eigentlich?«
Denser überlegte eine Weile. »Also, ich bin nicht berechtigt, Geheimnisse des Kollegs auszuplaudern, aber im Gegensatz zu dir hat Xetesk die Geschichten über die Drachenmagier immer ernst genommen, so lückenhaft sie auch sein mögen. Unsere Dimensionsforschung hat es uns erlaubt, einen Spruch zu entwickeln, mit dem man genau die Art von Störungen entdecken kann, die durch die Öffnung eines interdimensionalen Portals entstehen. Damit meine ich Portale wie jenes, durch das wir gestern gegangen sind. Wir hatten Seran in Verdacht, auch wenn ich dir den Grund dafür nicht nennen kann. Wir nahmen seine Gemächer aufs Korn und konnten das gewünschte Resultat erzielen. Ich wurde geschickt, um Drachen-Artefakte zu bergen, und habe dies hier gefunden.« Er nahm das Amulett von der Kette und warf es zu Ilkar hinüber, der es einige Male in den Händen herumdrehte, bevor er mit den Achseln zuckte und es wieder zurückwarf.
»Es ist mit Überlieferungen der Drachen beschriftet. Sie sind in allen vier Schriftsprachen der Kollegien geschrieben«, sagte Denser, während er das Amulett wieder an die Kette hängte. Er lächelte leicht. »Es wird für unsere Forschungen ungeheuer nützlich sein, und wenn wir damit fertig sind, dann können wir jeden beliebigen Preis dafür verlangen. Du würdest nicht glauben, was ein Sammler für so ein Stück bezahlen würde.«
»Und das ist alles?«, fragte Ilkar tonlos.
Denser nickte. »Jeder braucht Geld. Gerade du solltest doch wissen, dass die Forschung nicht eben billig ist.«
Ilkar nickte. »Und was nun?«
»Ich muss dieses Stück hier möglichst schnell in die richtigen Hände geben«, sagte Denser.
»Xetesk?«
Denser schüttelte den Kopf. »Zu weit entfernt und zu gefährlich. Korina. Wir können es dort sicher aufbewahren. Ich nehme an, ihr wollt in diese Richtung reisen?«
»Ja.«
»Ich möchte den Raben als Leibwache haben. Ihr werdet gut bezahlt.«
Ilkar sah ihn mit großen Augen an und fragte sich, ob er recht gehört hatte. »Du machst Witze, Denser. Nach allem, was gestern Abend passiert ist? Du hast vielleicht Nerven, das muss ich dir lassen. Soweit ich weiß, brennt Hirad immer noch darauf, dich umzubringen. Und selbst wenn es die anderen nicht stört, glaubst du wirklich, ich könnte jemals so tief sinken, dass ich für Xetesk arbeite?«
»Es tut mir leid, dass du es so siehst.«
»Aber überraschen dürfte es dich doch eigentlich nicht.« Ilkar stand auf und klopfte den Staub aus seinen Kleidern. »Du musst dir schon jemand anders suchen. Es gibt genug Leute hier, die nur auf eine bezahlte Rückreise in die Stadt warten.«
»Mir wäre der Rabe am liebsten, nicht zuletzt weil ich auch eine Entschädigung leisten möchte.«
»Wir wollen dein Geld nicht«, sagte Ilkar. »Ich werde Julatsa Bericht erstatten, wenn ich wieder in Korina bin. Dir muss bewusst sein, dass es wegen dieses Vorfalls ein Protestschreiben der drei anderen Kollegien an Xetesk geben wird.«
»Wir freuen uns schon darauf.«
»Da gehe ich jede Wette ein.« An der Tür drehte Ilkar sich noch einmal um. »Bist du hungrig? Ich kann dir den Weg zur Küche zeigen.«
»Danke, Bruder.«
Ilkars winziges Lächeln verschwand sofort wieder. »Ich bin nicht dein Bruder.«