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23

Es war, so musste Ilkar einsehen, als der Rabe zur Stadt des Dunklen Kollegs ritt, der einzig gangbare Weg, um eine Lösung zu finden. Wider alle Vernunft hatte er gehofft, die Meister wären imstande, Denser aus der Ferne die notwendigen Anweisungen zu geben.

Denser war verständlicherweise glücklich und zufrieden. Es war immer angenehm, nach Hause zum eigenen Kolleg zu reisen. Es war, als kehre man in die offenen Arme der Familie zurück. Doch als er sah, wie der Dunkle Magier vor ihm ritt und entspannt mit Erienne schwatzte, keimte in Ilkar der Gedanke, dass die Reise zum Kolleg nicht der einzige Grund für Densers gute Laune war.

Es war kein weiter Weg bis nach Xetesk, denn die Kollegien waren nicht weit voneinander entfernt. Als sie aufgebrochen waren, hatten zwei Tagesritte vor ihnen gelegen, jetzt blieb nur noch ein halber Tag, bis sie die befestigte Stadt erreichten, und so viel musste noch geklärt werden.

Die Hetzjagd der Dordovaner war endlich abgeblasen worden. Denser hatte nach einer weiteren Kommunion bestätigt, dass am Triverne-See ein Treffen aller vier Kollegien anberaumt worden war. Das Geheimnis von Dawnthief sollte bald ans Licht kommen.

Doch an den Toren von Xetesk gab es Ärger. Eine Menge Ärger.

Will hatte sich kurzerhand geweigert, die Stadt zu betreten, und er wollte keinesfalls neben Denser und dem Hausgeist reiten. Er zitterte immer noch leicht, und seine Nerven hatten sich nicht erholt. Immer noch suchten ihn Alpträume heim, die ihn freilich nicht ganz so sehr plagten wie die grauen Stellen im Haar.

Und Hirad erst. Hirad wollte nicht, dass die beiden Katalysatoren in die Stadt gelangten, doch er hatte noch nicht mit Denser darüber gesprochen. Seiner Ansicht nach brauchten sie ein Unterpfand für die Verhandlungen, und Ilkar stimmte ihm zu.

Denser selbst war ungewöhnlich kurz angebunden. Er brütete über etwas, das er während der Kommunion erfahren hatte.

Ilkar hatte große Angst. Er hatte Xetesk noch nie besucht  – was für einen Julatsaner nicht weiter verwunderlich war –, doch er wusste, dass er hinein musste. Das Gleiche galt für Erienne. Was Jandyr und Thraun dachten – Letzterer inzwischen wieder in menschlicher Gestalt, aber sehr müde –, konnte er nur raten. Wahrscheinlich waren sie verwirrt. Und gewiss wünschten sie, sie wären dem Raben nie begegnet. Nur Erienne lächelte, und aus irgendeinem Grund – er wusste nicht recht warum – machte ihm dies Sorgen. Die meiste Zeit ritten sie schweigend und hielten sich auf den Hauptstraßen, da sie nicht mehr verfolgt wurden, doch sie blieben vorsichtig.

Hirad, der lange Zeit schweigend geritten war, den Unbekannten angestarrt und Denser böse Blicke zugeworfen hatte, ließ sich schließlich herab, mit dem Dunklen Magier zu reden. Ilkar trieb sein Pferd nach vorn, um das Gespräch zu verfolgen.

»… dich noch nicht ganz abgeschrieben, Denser. Ich will nur wissen, wo du stehst.«

»Ich bin nicht sicher, ob ich dir folgen kann.«

»Ich meine damit, ob du dich auf die Seite des Raben oder auf die deiner Meister stellst.«

Denser dachte eine Weile darüber nach. »Wenn du mich das vor einer Woche gefragt hättest, dann hätte ich mich auf der Stelle für Xetesk entschieden. So habe ich empfunden, als wir uns getroffen haben. Aber jetzt kann ich keine klare Antwort mehr geben. Warte – lass mich erklären, bevor du etwas sagst.

Ich glaube, dass Balaia vor einer Katastrophe steht, wenn wir Dawnthief nicht in die Hände bekommen und benutzen, um die Wytchlords zu vernichten. In dieser Hinsicht stimme ich mit meinem Meister darin überein, dass der beste Weg zum Erfolg über den Raben führte und immer noch führt.

Doch was Sol angeht, so haben sie mich in die Irre geführt; sie haben auch dein Vertrauen und deine Überzeugungen verletzt und damit die Erfolgsaussichten erheblich beeinträchtigt. Das kann ich ihnen nicht verzeihen, denn es war eine bewusste Entscheidung, ausgerechnet Sol zu schicken, und ich bin nicht sicher, ob ich ihnen abkaufen kann, dass wir tatsächlich nur versehentlich die Opfer eines Experiments geworden sind.«

»Was willst du damit sagen?«

»Ich will damit sagen, dass irgendjemand womöglich sehr daran interessiert ist, dass ich … dass wir scheitern.«

»Aber …« Hirad verstand gar nichts mehr. »Aber wenn wir scheitern …«

»Nicht alle in Xetesk sind davon überzeugt, dass wir der Bedrohung durch die Wytchlords mit einem Spruch begegnen müssen, aber alle wollen, dass Dawnthief gefunden wird. Auf dem Berg ist ein Machtkampf im Gange, und wer Dawnthief besitzt, kann ihn für sich entscheiden. Ilkar wird dir sicher gern erklären, dass die meisten Entscheidungen in Xetesk von politischen Intrigen gefärbt sind.«

»Also gut.« Hirad versuchte, es zu durchdenken. Er rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Nase. »Wer hat dich denn nun geschickt?«

»Mein Meister Nyer.«

»Nun, das wäre doch schon einmal ein Anfang, oder?«

»Allerdings«, stimmte Denser zu. »Ich spreche in der Kommunion mit ihm, und er hat mich auch vor möglichen Gefahren in der Stadt gewarnt.«

»Wo ist dann das Problem? Wird er dich nicht beschützen?«

»Es ist möglich, dass er es versucht. Andererseits war er derjenige, der Sol zu uns geschickt hat. Schau mal, ich glaube, wir sollten lieber anhalten und reden, bevor wir weiterreiten.«

Hirad nickte. Sie ritten ein Stück vom Weg ab, und Will brachte den Ofen in Gang.

»Xetesk ist anders als Dordover«, erklärte Denser, als er einen Becher Kaffee in der Hand hatte.

»Das will ich doch hoffen, verdammt nochmal«, murmelte Thraun.

Denser ignorierte den Zwischenruf. »Meine Gegenwart ist keineswegs eine Garantie für eure Sicherheit. In gewissen Kreisen wird dies sogar Schwierigkeiten auf den Plan rufen. Dawnthief und die Wytchlords haben zu einem tiefen Zerwürfnis geführt. Wir müssen eine starke Position haben, wenn wir erfolgreich verhandeln wollen. Hier ist mein Vorschlag. Ich muss mit Sol zum Berg gehen, und damit wir eine möglichst faire Behandlung bekommen, sollten Ilkar und Erienne mich begleiten. Als Gruppe mit Magiern von drei Kollegien und als Abgesandte, die offiziell in Xetesk vorsprechen, sollten wir unangreifbar sein. Was ist mit euch beiden?«

»Ich möchte an keinem anderen Ort sein«, sagte Erienne lächelnd. Er erwiderte das Lächeln.

»Einverstanden.« Ilkar war nicht begeistert, als er seine Befürchtungen bestätigt sah.

»Und was die anderen angeht, so ist die gute Nachricht, dass ihr euch meiner Ansicht nach von Xetesk fernhalten solltet«, sagte Denser.

»Die schlechte Nachricht ist allerdings, dass wir die Katalysatoren bewachen müssen«, ergänzte Hirad. Denser nickte. »Gut. Ich habe mich schon gefragt, wann du zur Vernunft kommen würdest.«

»Ich auch«, murmelte Ilkar.

»Tja, jeder kann sich mal irren, was, Ilkar?«, meinte Denser nur.

»Wenn du es so ausdrücken möchtest«, gab Ilkar ebenso kühl zurück.

»Weißt du, ich dachte wirklich, wir kämen allmählich zu einem beiderseitigen Verständnis.« Denser seufzte.

»Bei den Gelegenheiten, bei denen wir zusammenarbeiten mussten, waren wir erfolgreich«, gab Ilkar vorsichtig zurück.

Denser schüttelte den Kopf und schürzte die Lippen. »Was mich verletzt, ist, dass wir wirklich zusammen gelitten haben. Bedeuten diese vielen Stunden bei den Schwarzen Schwingen denn überhaupt nichts? Oder unsere Kämpfe, um Hirad am Leben zu erhalten? Was sonst hätte ich tun können, um zu beweisen, dass ich anders bin als dein Bild von mir?«

»Hole den Unbekannten lebendig da heraus. Wirklich lebendig. Dann glaube ich dir. Bis dahin kann ich nicht vergessen, wo du ausgebildet wurdest und was das über unzählige Jahrhunderte bedeutet hat.«

»Julatsa!« Denser hob hilflos beide Arme, stand auf und entfernte sich. Er kippte den Rest seines Kaffees weg. »Ihr wollt vorankommen, indem ihr mit beiden Füßen in der Vergangenheit bleibt. Weißt du was? Hier bist du derjenige, der einen starren Geist und ein kaltes Herz hat. Ich habe nichts zu verbergen, Ilkar, und ich achte dich und mag dich trotz deiner Zugehörigkeit zu deinem Kolleg. Ich glaube, ich habe es verdient, von dir genauso behandelt zu werden. Sollen wir fragen, was die anderen denken?«

Ilkar schwieg und starrte nur mit unbewegtem Gesicht zurück.

»Das ist ja wirklich eine faszinierende Debatte«, sagte Thraun. »Aber nun sagt mir, wird die Konferenz am Triverne-See ähnlich verlaufen? Wenn sie genauso verläuft, dann sollten wir besser sofort die Schwerter ziehen, denn dann werdet ihr noch miteinander zanken, wenn die Wytchlords schon herankommen und eure kostbaren Städte einnehmen.«

Denser und Ilkar schauten ihn an, als hätte er ihnen ins Essen gespuckt.

»Sie wird nicht sehr anders verlaufen, das kann ich dir garantieren«, sagte Erienne, bevor einer der anderen reagieren konnte. »Es wird nichts dabei herauskommen, und überhaupt, ich wüsste gern, was man eigentlich mit diesem Treffen erreichen wollte.«

»Liegt das nicht auf der Hand?« Denser runzelte die Stirn.

»Nein, ich verstehe es nicht«, erwiderte Erienne. »Wenn Xetesk wirklich innerlich so gespalten ist, wie du es sagst, dann wird die Botschaft, die aus Xetesk überbracht wird, verworren klingen und für noch mehr Verwirrung sorgen.«

»Nein.« Denser schüttelte den Kopf. »Die Botschaft wird nicht verworren sein. Der Herr vom Berge überbringt sie persönlich. Die Gesandten der anderen Kollegien haben bereits eingeräumt, dass eine Bedrohung existiert, und Dawnthief ist die einzige Lösung.«

»Ich hoffe, du hast Recht«, sagte sie.

»Ich auch. Die vier Kollegien müssen unbedingt weiter zusammenarbeiten, denn sonst ist unsere Streitmacht zu schwach, und die Wesmen werden uns an der Ostküste des Kontinents ins Meer treiben.«

»Ist er nicht hinreißend?«, sagte Hirad.

»Um nun auf den Grund dafür, dass wir angehalten haben, zu sprechen zu kommen«, warf Jandyr ein. »Welches Risiko besteht denn außerhalb von Xetesk?«

»Um ehrlich zu sein, ich bin nicht sicher«, sagte Denser. »Ich war eine Weile fort, und ich weiß nicht, wie stark jetzt diejenigen sind, die Dawnthief für sich selbst haben wollen. Wie viele es auch sind, sie können euch auf jeden Fall gefährlich werden, wenn sie herausfinden, wo ihr seid.«

»Und ihr lasst uns ohne jeden magischen Schutz zurück«, sagte Hirad.

»Aber nicht ohne Kontaktmöglichkeit«, erwiderte Denser. »Der Hausgeist wird die meiste Zeit bei euch sein.«

»Du machst Witze«, sagte Jandyr. Er saß neben Will, der Denser stumm und fassungslos anstarrte.

»Ich …«, wollte Denser sagen, dann bemerkte er Wills Gesichtsausdruck. Er seufzte. »Es ist die einzige Möglichkeit, auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein.«

»Wie kannst du nach dem, was er mir angetan hat, so etwas vorschlagen?« Es war das erste Mal, dass Will an diesem Tag überhaupt das Wort ergriff.

»Was geschehen ist, tut mir leid, Will«, sagte Denser. »Aber eigentlich hat er dir ja gar nichts getan.«

»Nennst du das hier gar nichts?«, rief Will. Er deutete auf sein ergrauendes Haar. »Und das hier?« Er hob mit gespreizten Fingern die Hand. Sie zitterte. »Das ist nicht gar nichts. Wenn ich so zittrig bin, dann bin ich zu nichts mehr nütze. Dein verdammtes Geschöpf hat mich ruiniert.«

Denser betrachtete Will einige Augenblicke lang.

»Ich verstehe deine Ängste, aber das wird vorübergehen. Rede mit Erienne, begreife seine Natur. Er wird dir nichts tun.«

»Wenn du hier bist, dann ist er vermutlich unter Kontrolle. Aber wenn du weg bist – ich habe ja gesehen, was dann passiert.« Will zog die Beine an und schlang die Arme um die Knie.

»Er wird dir nichts tun«, wiederholte Denser.

»Wenn wir mal annehmen, dass das stimmt«, sagte Jandyr, nachdem alle eine Weile geschwiegen hatten, »dann stellt sich eine neue Frage. Ich weiß, dass er sich mit dir austauschen kann, aber wie soll er das mit uns machen?«

»Jemand muss bereit sein, ihn zu sehen, wie er ist«, sagte Denser. »Aus welchem Grund auch immer, er scheint Hirad als akzeptable Gesellschaft zu betrachten.«

Ilkar kicherte.

»Das beruht nicht unbedingt auf Gegenseitigkeit«, knurrte Hirad.

»Bist du einverstanden?«, fragte Denser.

Hirad zuckte mit den Achseln.

»Lass lieber die Finger davon«, warnte Will.

»Da bleibt mir ja wohl kaum etwas anderes übrig, oder?«

»Gut«, sagte Denser. »Komm mit. Ich muss euch vorstellen.«

»Noch etwas.« Thraun hielt sie auf. »Wo sollen wir uns verstecken?«

»Ich kenne einen Ort«, sagte Denser.

 

Die Dunkelheit schützte sie, und mit ihren scharfen Augen konnte sie die Fallen rechtzeitig erkennen. So schlich Selyn zur einst toten Stadt, die anscheinend als Sitz der Wytchlords zu neuem Leben erblüht war.

Als die Nacht sich über die Torn-Wüste senkte, war die wahre Stärke der lagernden Truppen nicht mehr zu ermessen, doch die Feuer der Wesmen, das Lachen, Reden, Rufen und die Raufereien, die bellenden Hunde und das flappende Segeltuch, all das erinnerte sie ständig an ihre prekäre Situation.

Die Wesmen machten sich offenbar marschbereit. Bevor das Tageslicht endgültig verblasste, hatte sie die Zahlen geschätzt, so gut sie konnte. Sie nahm an, dass die Zelte in dieser Dichte rund um ganz Parve standen, multiplizierte sie mit der Zahl von Kriegern, die höchstwahrscheinlich in jedem Zelt saßen, und addierte die Wesmen, die sie zwei Tage zuvor aus der Torn-Wüste hatte abmarschieren sehen. Zwanzigtausend. Und das war vermutlich noch zurückhaltend geschätzt. Es konnten auch fünfundzwanzigtausend sein. Sie schauderte. Sie nahm an, dass die Wesmen insgesamt mehr als achtzigtausend Mann zählten, und es war klar, dass sie sich in den Dienst der Wytchlords gestellt hatten.

Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die Wytchlords sich aktiv in die bevorstehende Invasion einschalteten. Bald würden die Kollegien die ersten Ausläufer der Woge zu spüren bekommen, die schließlich ganz Balaia dem Erdboden gleichmachen sollte. Die Frage nach dem Zeitpunkt war ein Aspekt, der unbedingt und möglichst schnell geklärt werden musste.

Selyn hockte sich hinter einen großen, mit Flechten überzogenen Felsblock. Sie hatte etwas mehr als die halbe Distanz bis zu den ersten Gebäuden von Parve hinter sich gebracht, doch ihr stieg jetzt schon der Geruch der Furcht in die Nase.

Niedrige, dunkle Wolken zogen über ihr dahin. Die Umgebung wurde von unzähligen Feuern erhellt, aber keines brannte so hell wie die sechs Leuchtfeuer rings um die Spitze der Pyramide, in der die Überreste der sechs Wytchlords aufgebahrt waren.

Jetzt trat die Narrheit der früheren Herren von Xetesk ganz und gar zutage. Die Pyramide war von Xetesk errichtet und mit xeteskianischer Magie versiegelt worden. Sie war als Warnung an jeden gedacht, der es wagte, die Macht des Dunklen Kollegs herauszufordern. Jetzt aber, da der Mana-Käfig leer war, diente das Bauwerk als Kristallisationspunkt für die wachsende Macht der Wytchlords und als Sammelpunkt für deren Anhänger und Krieger. Selyn schüttelte den Kopf. Überzogenes Selbstvertrauen und maßlose Arroganz. Der jetzige Herr vom Berge besaß diese Charakterzüge gewiss nicht, doch er musste nun darunter leiden, dass seine Vorgänger sie im Übermaß besessen hatten.

Sie sah sich links und rechts neben dem Felsblock um. Eine Gruppe von sieben Zelten, innen und außen beleuchtet, stand direkt vor ihr, kaum dreihundert Schritt entfernt und rings um ein großes Lagerfeuer errichtet. Wesmen standen, saßen, hockten oder lagen im Licht der Flammen, und die Schatten von breiten Schultern, mächtigen Körpern und bulligen Köpfen zeichneten sich im Feuerschein ab.

Links von ihr war ein ähnliches Lager, in dem allerdings ein Schamane saß. Sie konnte es nicht riskieren, sich dort in der Nähe blickenzulassen. Rechts verloren sich die Zelte in der Dunkelheit. Es waren Tausende, und die Aktivitäten erzeugten eine ruhelose Spannung.

Sie blickte nach Parve hinüber, schätzte ihre Möglichkeiten ein und stellte fest, dass sie keine hatte. Ihr größtes Problem war die Tatsache, dass der Tarnzauber über eine so große Distanz ihre Mana-Reserven viel zu stark beanspruchen würde. Wahrscheinlich hatte sie danach nicht einmal mehr genug Kraft für eine Kommunion. Da aber die Feinde auf dem Weg, den sie gehen wollte, derart weit verstreut lagerten, war dies ein Risiko, das sie einfach eingehen musste.

Sie sammelte sich, formte die einfache Mana-Gestalt, sprach das Befehlswort und lief los.

 

Hirad betrachtete die Katze, die zusammengerollt in seinem Schoß schlief. Ihr Atem ging flach und schnell. Augen und Mund waren geschlossen, und das schwarze Fell ließ die Konturen ihres Körpers verschwimmen. Hirad schauderte. Wie anders war das Wesen, das Denser ihm gezeigt hatte. Obwohl er darauf vorbereitet gewesen war, hatte er Mühe gehabt, den Blick nicht abzuwenden, als sich die Augen des Dämons aus dem pulsierenden Schädel heraus auf ihn richteten. Und so sehr er sich auch beherrschte, er war zusammengezuckt, als das Wesen eine Krallenhand auf seinen Arm gelegt und seinen Namen ausgesprochen hatte.

Wills Entsetzen war also gut zu verstehen. Nach der Wanderung durch die dordovanische Gruft ohnehin schon halb von Sinnen vor Angst, hatte er dieses Biest in all seiner schrecklichen Pracht gesehen. So ein Anblick wäre für die meisten Menschen zu viel gewesen.

Es war nicht nur der Anblick allein. An den Anblick hätte man sich noch gewöhnen können, so schrecklich er auch war. Da war noch etwas anderes. In seiner Dämonenform besaß der Hausgeist eine Aura von Verachtung, als halte er nur aus einer Laune heraus still und könne jederzeit ausbrechen und alle möglichen entsetzlichen Dinge tun.

Eine Tür wurde geöffnet, und Hirad wurde aus seinen Gedanken gerissen. Jandyr kam herein.

»Was sagst du dazu?«, fragte Hirad.

»Zu diesem Haus?«

»Ja.« Denser hatte sie etwa drei Wegstunden außerhalb von Xetesk auf einem Bauernhof untergebracht, dann war er mit Ilkar, Erienne und Sol direkt in die Kolleg-Stadt geritten. Der Hof bewirtschaftete einige Hektar Land und lieferte Fleisch und Getreide in die benachbarten Dörfer.

Das Wohnhaus stand ein Stück abseits der Scheunen und Nebengebäude, doch das ganze Anwesen befand sich im Zentrum des urbaren Landes. Ringsum gab es sanfte Hügel, über die man gut sechshundert Schritt weit blicken konnte, bis eine Baumgruppe oder ein etwas höherer Hügel die Sicht versperrte.

Denser und Evanson, der Bauer, waren offensichtlich befreundet. Hirad hätte sich lieber für eine Scheune entschieden, doch der Bauer bestand darauf, dass sie im Haus wohnen sollten.

»Es ist ganz einfach bequemer, aber noch wichtiger ist, dass ihr dort nicht von meinen Arbeitern gesehen werdet. Sie sind alle aus dem nächsten Dorf, und sie würden ganz sicher nicht den Mund halten, wenn sie euch sehen.« Evanson war ein Mann in mittleren Jahren, sein Gesicht war rotbraun und runzlig nach vielen Jahren Arbeit in Wind und Wetter. Er hatte riesige Hände und breite Schultern, die das locker sitzende Hemd gut füllten. Unter der Stirn funkelten wache Augen, und der Mund lächelte oft. Er hatte vieles an sich, das Hirad an den Wirt Tomas im Krähenhorst erinnerte.

So hatten sie zugestimmt, im Haus zu wohnen, und es war gewiss eine Wahl, die ihrer Bequemlichkeit entgegenkam. In dem zwei Stockwerke hohen Gebäude gab es genügend Betten, damit jeder ein wenig Abgeschiedenheit genießen konnte. Auf dem Herd in der Küche standen stets Töpfe mit heißem Wasser und Essen bereit, und nachdem sie ausgeruht und sich entspannt hatten, entdeckten sie, wie müde sie eigentlich waren. So spielte sich nicht viel ab außer leichtem Schnarchen und hin und wieder einer Runde Kartenspiel.

»Mir fallen mehrere Dinge ein«, sagte Jandyr. »Das Haus ist leicht zu verteidigen. Wir haben gute Sicht und eine lange Vorwarnzeit, und die Betten wurden direkt vom Himmel geschickt.«

Hirad lehnte sich lächelnd zurück und legte die Arme hinter den Kopf. »So sehe ich das auch. Was machen die anderen?«

»Will schläft, Thraun liest eins von Evansons Büchern. Der Mann hat eine ganz ordentliche Bibliothek.«

»Erzähle mir etwas über Thraun«, sagte Hirad.

Gestaltwandler waren für ihn bisher nur Sagengestalten gewesen. Bis jetzt. Nun hatte er mit eigenen Augen einen gesehen, und er wusste nicht recht, ob er Angst haben, Abscheu empfinden oder staunen sollte.

Jandyr nickte. »Er gibt sich große Mühe, es zu verbergen.«

»Wie ist es denn dazu gekommen?«, wollte Hirad wissen.

»Es ist ein Überbleibsel der alten dordovanischen Magieforschung. Thraun stammt von Magiern ab, die versucht haben, ihre Kraft, Beweglichkeit, ihr Auge, ihr Ohr und was auch immer zu verbessern, indem sie sich mit verschiedenen Tieren verbanden. Thrauns Vorfahren ging es um Stärke und Schnelligkeit, daher die Wolfsgestalt.«

»Aber …«

»Ich weiß schon, was du sagen willst«, fuhr Jandyr fort. »Das Problem war, dass sie nicht recht verstanden haben, was sie taten. Statt zu verstärken, was sie bereits besaßen, ersetzten sie es durch etwas anderes. Manche lebten fortan nur noch in der Gestalt der Tiere, mit denen sie sich verbunden hatten. Andere stellten fest, dass sie es steuern konnten, und gaben das Wissen über Generationen weiter.«

»Warum redet er nicht darüber?« Hirad hatte die Vorzüge der Wolfsgestalt, die Kraft und die Schnelligkeit, durchaus erkannt.

»Es hat mit den Vorurteilen der Leute zu tun«, erklärte Jandyr. »Viele Menschen glauben, alle Gestaltwandler seien entsetzliche Geschöpfe, die getötet werden müssen. Deshalb hat er Angst zuzugeben, was er ist.« Jandyr stand auf. »Hör mal, du musst begreifen, dass Thraun ein Mann wie jeder andere ist. Doch er hat noch eine andere Seite, die er lieber nicht hätte. Du musst ihn nicht fürchten, du solltest ihn eher bedauern. Behandle ihn einfach wie einen Mann. Mehr will er nicht.«

»Ich verstehe«, sagte Hirad.

»Ich glaube, keiner von uns kann es wirklich verstehen«, sagte Jandyr.

 

Denser öffnete die Tür, als er das leise Klopfen hörte. Ihm drohte keine Gefahr. Da Sol den Gang bewachte, der zu ihren Gemächern führte, waren sie in Sicherheit. Er wusste ohnehin, wer es war.

So stand sie nun vor ihm, und der erste Gedanke, der ihm kam, da sie all den Schmutz von der Reise abgewaschen hatte und ein weiches, locker fallendes Kleid trug, war der Gleiche wie bei ihrer ersten Begegnung. Sie war eine sehr attraktive Frau.

Seine Lenden regten sich plötzlich, und er unterdrückte ein Lächeln. Er fragte sich, ob sie es in seinem Gesicht lesen konnte. Ja, er wollte es genießen. Er zog die Tür weit auf.

Erienne schwebte lächelnd herein. »Heute Abend werde ich ein Kind empfangen.« Ihr Gesicht war von ihm abgewandt, ihre Stimme verriet keine Regung.

Er kicherte. »Ist das wirklich alles, was du willst?«

»Wir haben einen Handel abgeschlossen. Dies ist die Gegenleistung, die ich verlange. Was sonst könnte es noch geben?« Doch ihr Lächeln verriet ihm ihre wahren Gedanken.

Denser schloss die Tür und trat zu ihr, sein Blick wanderte im flackernden Feuerschein über den Schatten ihres Körpers unter dem weißen Kleid.

»Es könnte doch sein, dass dir die Gegenleistung eine gewisse Freude bereitet«, sagte er. Seine Augen funkelten, die Pupillen waren geweitet.

»Deshalb habe ich den Handel nicht abgeschlossen«, gab sie rasch zurück. »Aber die Dinge, nun ja, sie haben sich eben entwickelt.« Denser bemerkte, dass ihre Wangen ein wenig Farbe bekamen.

Er stand jetzt dicht vor ihr. Sie wich ihm nicht aus.

»Ich habe mich dazu entschieden, weil ich deine Fähigkeiten als Magier schätze.«

»Und meine Macht«, fügte Denser hinzu.

Endlich sah sie ihn voll an. »Das ist der wichtigste Grund dafür, dass ich dich und nicht Ilkar gewählt habe.«

»Ilkar? Er ist …«

»Er sieht auf jeden Fall besser aus als du.« Sie lächelte wieder.

Denser baute sich vor ihr auf. »Aber Ilkar ist ein Elf!«

»Ja, und Julatsaner ist er auch. Zwei weitere Gründe dafür, dass ich deinen Samen bevorzuge.« Das Lächeln wurde breiter, und ihr Gesicht wurde weicher und schöner.

»Nun ja, ich fühle mich geschmeichelt, dass mein Kolleg für dich so attraktiv ist«, sagte Denser.

»Man könnte wohl eher sagen, dass du Glück gehabt hast, sonst stünde ich jetzt vor Ilkar.«

»An mangelndem Selbstbewusstsein leidest du garantiert nicht, was?« Er legte ihr eine Hand auf die Wange und streichelte sie, als sie sich hineinschmiegte.

»Es überdeckt die Leere«, flüsterte sie. Sie fuhr mit einer Hand durch sein Haar und kraulte ihn im Nacken.

»Tut es immer noch weh?«, fragte Denser.

»Wie ein Messer, das mir im Herzen umgedreht wird.«

»Ich will das heute Nacht ändern.« Seine Stimme war kaum noch vernehmbar, als er ganz dicht vor ihrem Ohr die Worte hauchte. »Heute können wir dich heilen.«

Sie nahm sein Gesicht in beide Hände, sah ihm tief in die Augen und suchte nach Lügen. Sie fand keine und spürte, wie die Tränen in ihr emporstiegen.

»Was ist denn los?«, fragte Denser.

»Nichts.« Sie küsste ihn zärtlich, und er spielte mit der Zunge an ihren Lippen. Ihre Hände wanderten hinter seinen Kopf, er umarmte sie, und sie schmiegten sich aneinander.

Der Kuss wurde leidenschaftlicher, die Zungen trafen sich, erforschten die Münder, ihre Köpfe bewegten sich, ihr Atem wurde schneller. Hände suchten. Er spürte ihre Fingerspitzen im Nacken, wo sie die Haut massierten und drückten, bevor sie nach vorn zur Brust wanderten, um die Hemdknöpfe zu öffnen.

Sie trug ein einfaches weißes Kleid, das an der Schulter von einer Spange gehalten wurde. Er fand den Verschluss und mühte sich einen Moment damit ab, ehe er sich öffnete. Sie keuchte unwillkürlich, als ihr Kleid geräuschlos zu Boden fiel. Darunter war sie nackt. Denser war erregt. Er führte sie zum Bett und legte sie darauf, er hockte sich, auf Hände und Knie gestützt, über sie und betrachtete ihr Gesicht und die Brüste, die sich rasch hoben und senkten.

Er legte eine Hand auf eine Brust und spürte, wie die Brustwarze hart wurde.

»Du wolltest wohl keine Zeit verschwenden«, meinte er.

»Nein, das war und ist nicht meine Absicht.« Sie langte nach seinem Gürtel, und während sie ihm die Hosen über die Hüften streifte, zog Denser sich das Hemd aus. Zusammen warfen sie die Hosen auf den Stapel der abgelegten Kleidung.

Sie nahm sein Glied in eine Hand. Denser blickte nach unten zum Haar zwischen ihren Beinen, das so dunkel war, wie ihre Haut bleich war. Sie spreizte die Beine, und er reagierte, indem er seine Knie zwischen die Beine setzte und sich über sie beugte. Sein Mund liebkoste eine Brust, als er in sie eindrang, und dann bewegte er sich in ihr, und das Tosen des Mana trug ihn fort.

Blaue Lichtbalken zersprangen vor seinen Augen, als er tief in sie eindrang. Die Lichtsplitter verstreuten sich flackernd und erstarben, absorbiert vom warmen, orangefarbenen Pulsieren, das Erienne umgab. Sie fühlte sich weich an, doch er bemerkte es kaum, als mit jedem sanften Stoß das Mana immer dunklere Fäden um ihn spann und sich mit den dordovanischen Fäden verband und vermischte. Der Anblick war so schön, dass es ihm den Atem verschlug, und als Erienne sich zu bewegen begann, passte er sich ihrem Rhythmus an.

»Hör nicht auf«, flüsterte sie, und er bewegte sich schneller.

Für Erienne war das Verschmelzen des Mana ein Wunder. Sie spürte seine Hand auf ihrer Brust, seine Lippen auf ihrem Hals und seine Bewegungen in ihrem Leib, selbstbewusst und sinnlich. Sie hielt sich zurück und schob ihren Orgasmus hinaus, während sie beobachtete, wie sich ihre Mana-Ströme vereinigten, bis die Farben nicht mehr voneinander zu trennen waren, und eine sanft pulsierende, violette Hülle entstand.

Jetzt waren die Bedingungen ideal. Densers Stöße wurden drängender, die Geschwindigkeit nahm zu, sie spürte ihn tief in sich, ihre Beine und ihr Rücken kribbelten und zuckten vor Lust.

Sie fasste seine Hoden mit einer Hand, und sein Atem zischte plötzlich an ihrer Schulter. Sie bewegte sich im Takt mit ihm, schnell, aber kontrolliert, und näherte sich dem Orgasmus.

Denser stöhnte, als der Höhepunkt nahte. Sein Penis wurde noch härter, sie genoss entzückt die Berührung, und in einer Explosion von Mana-Licht kamen sie gemeinsam zum Höhepunkt. Die Hülle zerplatzte und ließ einen Schauer von Tropfen in allen Farben des Regenbogens über sie niedergehen. Erienne stieß einen verzückten und triumphierenden Schrei aus. Denser stieß noch einmal hart zu, dann hörten seine Bewegungen auf, und er blieb liegen, immer noch tief in ihr.

Sie legte eine Hand auf ihren Unterbauch und forschte mit ihrem Mana, um den Samen lebendig und warm zu halten und ihm die Keimzellen der Macht einzugeben, die ihr Kind besitzen sollte.

Denser hob den Kopf und schaute sie an. Erienne lächelte, nahm sein Gesicht in beide Hände und küsste ihn.

»Jetzt sollten wir schlafen«, sagte sie. »Und beim nächsten Mal können wir uns aufs reine Vergnügen konzentrieren.«