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5

Der Rabe und seine Schutzbefohlenen brachen auf, als die Sonne gerade am Tau zu lecken begann, der das Gras auf dem gestrigen Schlachtfeld benetzte. Der Regen der vergangenen Nacht hatte sich nach Westen verzogen, über die zentrale Ebene hinweg in Richtung der Blackthorne-Berge, die als dunkle Linie am Horizont zu erkennen waren.

Ein sanfter Wind wehte an diesem Frühlingsmorgen. Baron Pontois, seine Soldaten, die Söldner und die Magier waren fort, nach Norden durch den Grethern-Wald verschwunden, aus dem sie gekommen waren. Von ihrem Lager waren nur noch niedergetrampeltes Buschwerk und ein einzelner, mit Pfählen abgegrenzter Erdwall zu sehen, in dem sie ihre Toten begraben hatten.

An der Spitze der kleinen Truppe ritten Hirad, Richmond und Ilkar. Baron Gresse hatte sich zum Unbehagen seiner Leibwächter entschlossen, zwischen Talan und dem Unbekannten Krieger zu reiten. Denser und Sirendor Larn folgten hinter diesem zweiten Trio, und Gresses vier Bewaffnete bildeten die Nachhut.

Für den Baron war dieser Ritt gewiss eine willkommene Gelegenheit, seiner übermäßig besorgten Familie zu entfliehen und frei durchs Land zu reisen. Der Unbekannte und Talan dagegen konnten auch hier nicht von ihrer Gewohnheit lassen, so viele Informationen wie möglich aus so vielen Quellen wie möglich zu sammeln.

»Seid Ihr denn noch mit Blackthorne verbündet?«, fragte Talan.

Gresse nickte. »Wir haben uns gegenseitig freies Geleit gewährt, aber ich würde das nicht unbedingt ein Bündnis nennen. Er reist, ohne Zoll zahlen zu müssen, über diesen Pass nach Korina, und ich habe auf seinem Land bis Gyernath ähnliche Rechte.«

Der Unbekannte runzelte die Stirn. »Hat er östlich von Gyernath Land besetzt? Ich habe gehört, er …«

»Vor sechs Monaten schon. Er hat inzwischen fast ganz Gyernath annektiert, auch wenn der Stadtrat erheblichen Druck auf ihn ausübt, damit er die Wegezölle niedrig hält. Bis jetzt waren die Bemühungen erfolgreich.«

»Was ist denn aus Lord Arlen geworden?«, fragte der Unbekannte.

»Er arbeitet für Blackthorne.«

»Ach …« Allmählich entstand ein Bild.

»Bei den Göttern, nein, es gab keine Kämpfe. Ich will keine Kämpfe mehr, das kann ich getrost sagen. Offiziell kontrolliert Arlen immer noch die Ländereien östlich von Gyernath, in Wirklichkeit wird er aber durch Blackthornes Kräfte stark unterstützt. Er bekommt Metall aus den Minen im Süden und einen Anteil von den Zöllen, die dem Handelsverkehr aus dem Südosten einschließlich Korina auferlegt werden.« Gresse kicherte und streckte eine Hand aus, um den Oberschenkel des Unbekannten zu tätscheln. »Ich an Eurer Stelle würde Arlen von der Liste möglicher Auftraggeber streichen. Blackthorne hat jetzt alle Finanzen rings um Gyernath im Griff.«

»Sonst noch jemand, den wir streichen können?«, fragte Talan.

»Mich jedenfalls nicht«, sagte Gresse. »Ich bin sicher, dass Pontois so schnell nicht aufgibt. Entweder er plant schon den nächsten Angriff auf Taranspike oder er hofft, ich werde es dort mit den Befestigungen übertreiben und ihm weiter im Westen eine Blöße zeigen.«

»Tja, wenn Ihr uns braucht, dann solltet Ihr rechtzeitig Bescheid sagen«, warnte der Unbekannte.

»Sehr früh«, stimmte Talan zu.

»Ich habe Gerüchte gehört, dass Ihr Euren Waffenrock an den Nagel hängen wollt«, sagte Gresse, ohne den beiden in die Augen zu sehen.

»Glaubt es besser erst, wenn Ihr es seht«, riet ihm Talan mit hochgezogenen Augenbrauen.

»So viel zu einem fairen Informationsaustausch«, knurrte Gresse, doch in seinen Augen blitzte es amüsiert.

»Ihr sollt der Erste sein, der es erfährt, wenn es so weit ist. Na, wie gefällt Euch das?«, fragte der Unbekannte.

»Damit muss ich mich wohl abfinden.« Gresse schüttelte den Kopf und schwieg.

Der Taranspike-Pass war ganz von grauen Felsen eingerahmt. Die kühlen Schieferplatten boten Vögeln und zähen Pflanzen ein Heim. Zu beiden Seiten der Wände, die den Pass begrenzten, fiel das Land steil ab. Hier gab es schwarze Abgründe, tiefe Schluchten und abweisende, lebensfeindliche Täler, in denen das Wasser unter den Felsen verlief; das unterirdische Gurgeln erinnerte an die Stimmen verlorener Seelen. Im Pass selbst standen nach dem Regen der vergangenen Nacht Pfützen auf der weichen Erde und verwandelten den Weg in eine Schlammwüste. Doch im Laufe des Tages sollte die Sonne zeigen, welche Kraft sie in der heißen Jahreszeit zwischen den Felsen entwickeln konnte. Sie sollte bald den Schlamm erreichen und die Erde austrocknen, bis Risse auf dem Weg entstanden, der manchmal einem Dutzend, an anderen Orten aber nur drei Wagen nebeneinander Platz bot.

Die Rufe der Vögel, das Schlagen der Pferdehufe und die Stimmen der Männer hallten zwischen den Wänden wider und erzeugten eine Atmosphäre, die bei einem einsamen Reiter gewiss großes Unbehagen hervorgerufen hätten. In einer Gesellschaft wie dieser jedoch, in der jeder auf die Gefährten zählen konnte, durfte man die gespenstische Stimmung ignorieren.

Sirendor Larn atmete die frische Luft auf dem Pass tief ein und genoss die Kühle in den Lungen, die die Erinnerung an die Gerüche und den Rauch auf der Burg und in deren Umgebung aus seinem Kopf vertrieb. Auf dem Pass sollte es keine Schwierigkeiten geben, denn Gresses Männer sicherten diese Gegend, und soweit Sirendor wusste, war dies ohnehin keine sonderlich gefährliche Gegend. Korina war kaum mehr als einen Tagesritt entfernt, und die Stimmung des Mannes, der ohnehin nicht zum Trübsinn neigte, war im Augenblick so gut, wie sie nur sein konnte. Das einzige Wölkchen am blauen Himmel war die bevorstehende Sitzung. Er hatte Angst, wenn er daran dachte, wie Hirad reagieren mochte.

Die meiste Zeit hatte er mit Denser geplaudert und Ilkars finsteres Starren mit einem Grinsen quittiert, wenn er dem Blick des Elfen begegnete. Denser schien ganz in Ordnung zu sein. Es war gewiss nicht das erste Mal, dass Sirendor an einem Tag gegen einen Mann kämpfte, um am nächsten mit ihm nach Hause zu reiten. So war es eben, wenn man sich als Söldner verdingte. Denser war offensichtlich ein fähiger Magier, und wie es den Wechselfällen des Kriegshandwerks entsprach, war auch er letzten Endes nur ein Mann, der sich unablässig fragte, wohin ihn der nächste Auftrag wohl führen mochte. Der einzige Unterschied bestand darin, dass der Magier viel selbstsicherer zu sein schien als die meisten anderen Menschen. Sirendor ging davon aus, dass dies auf seine Ausbildung in Xetesk zurückzuführen war, und nahm sich vor, Ilkar demnächst nach Einzelheiten über das Dunkle Kolleg zu fragen.

Als er wieder zu Denser schaute, musste er lächeln. Die Pfeife war zwischen die Zähne geklemmt und stieß gemütliche Rauchwolken aus wie immer, die Katze hockte vor dem Magier auf dem Sattel. Wenn man Genaueres über das Tier erfahren wollte, gab sich der Magier freilich sehr zurückhaltend und murmelte nur, es sei ein idealer Gefährte für jemanden wie ihn, der sein Leben hauptsächlich in Einsamkeit verbrachte. Denser dagegen versuchte nicht zum ersten Mal, den Rücken des Unbekannten mit neugierigen Blicken zu durchbohren.

»Er fasziniert auch mich«, erklärte Sirendor. »So war es schon immer.« Aus seinen Träumen gerissen, fuhr Denser herum.

»Was?«

»Der Unbekannte. Ich kenne ihn seit zehn Jahren, und ich weiß noch nicht einmal, wo er geboren wurde.«

»Auch kein Name?«, fragte Denser.

»Nein. Auch seinen Namen weiß ich nicht«, bestätigte Sirendor.

»Ich habe angenommen, Ihr wärt die Einzigen, denen er es verraten hat.«

»Ich fürchte, das ist nur ein Gerücht. Nicht einmal Tomas weiß es.«

»Wer ist Tomas?«, wollte Denser wissen.

»Der Wirt im Krähenhorst. Nun ja, er ist gemeinsam mit dem Unbekannten der Wirt. Tomas kennt ihn seit mehr als zwanzig Jahren. Er hat sich damals um den Unbekannten gekümmert, als dieser im Alter von dreizehn Jahren in Korina aufgetaucht war.« Sirendor schüttelte den Kopf. »Man lernt schnell, ihm gewisse Fragen besser nicht zu stellen.«

»Warum nennt ihr ihn den Unbekannten Krieger?«

Sirendor lachte. »Das ist die Frage, die am häufigsten gestellt wird. Sage mir, was du bisher gehört hast, und dann verrate ich dir die Wahrheit.«

»Ich habe bisher nur gehört, dass er nicht gefunden werden wollte«, sagte Denser achselzuckend. »Deshalb habe er sich geweigert, seinen Namen zu nennen.«

»Das hört man häufig, aber es ist völlig falsch«, erklärte Sirendor. »Ich meine, wenn er versucht hat, sich vor jemandem zu verstecken, dann war es doch ganz sicher keine gute Idee, sich Unbekannter Krieger zu nennen und mit dem Raben zu reiten, meinst du nicht auch?« Denser nickte. »Nein, als wir vor zehn Jahren im Krähenhorst den Raben gegründet haben, trafen wir uns, weil wir als Einzelkämpfer zuvor einen Kontrakt angenommen hatten, den Gyernath ausgeschrieben hatte. Mit ›wir‹ meine ich ihn, mich, Hirad und Ilkar. Ich erinnere mich noch, dass wir alle nach Korina zurückritten. Er sagte, er besitze dort einen Gasthof, und wir könnten bei ihm übernachten und etwas zu essen bekommen, weil er etwas mit uns besprechen wollte. Wir nannten uns nach dem Raben wegen des Ortes, an dem wir tranken, und dann einigten wir uns auf den Kodex und unterzeichneten das Dokument, das Tomas in seinem Hinterzimmer an die Wand gehängt hat. Als der Unbekannte an der Reihe war, wollte er zuerst nicht unterschreiben und sagte, sein Name sei unwichtig. Erst in diesem Augenblick wurde uns anderen klar, dass er in der ganzen Woche, die wir gemeinsam gekämpft hatten, nicht verraten hatte, wie er hieß.«

»Warum aber der Rabe? Krähen leben im Krähenhorst, aber nicht der Rabe.«

»Es ist die gleiche Familie von Vögeln, doch der Name ist besser. Kannst du dir vorstellen, wie wir dastehen würden, wenn wir uns ›die Krähe‹ genannt hätten?«

Denser kicherte, und der Laut wurde von den Felsen vor ihnen zurückgeworfen, wo sich der Pass ein wenig verbreiterte. Sirendor fuhr mit seiner Erklärung fort.

»Wie auch immer, ich weiß noch, als wäre es gestern gewesen, was Hirad und Ilkar gesagt haben. Das Großmaul meinte: ›Wir wollen keinen geheimnisvollen Mann in der Gruppe, also unterschreibe oder verzieh dich.‹« Sirendor schüttelte den Kopf, als die Erinnerungen in ihm auftauchten. Es war so typisch und unverwechselbar Hirad. »Ilkar meinte: ›Genau, wer bist du überhaupt, irgendein sagenhafter unbekannter Krieger, oder was?‹ So entstand der Name, der dann mit dem Kodex auf Pergament verewigt wurde. Und dieser Name blieb haften.« Sirendor zuckte mit den Achseln. »So einfach war das.«

Denser kicherte noch einmal. »Nun ja, nun ja. Und so entstehen Legenden.«

»Das wollen wir doch hoffen«, sagte Sirendor.

»Aber seid ihr nicht neugierig? Wollt ihr nicht wissen, wie er wirklich heißt und warum er es euch nicht sagen will?«, fragte Denser, wieder ernst werdend. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Mann behauptet, sein Name sei nicht wichtig.«

Sirendor drehte sich im Sattel herum, legte einen Finger auf die Lippen und antwortete mit gesenkter Stimme.

»Ja, wir waren neugierig, und ich glaube, in Augenblicken wie diesem, wenn meine Gedanken frei schweifen, bin ich es immer noch. Glaube nicht, wir hätten es nicht probiert, wir hätten ihn nicht betrunken gemacht und versucht, ihm den Namen zu entlocken, und wir hätten nicht gedroht, nicht mehr mit ihm zu reden. Doch er gab nicht nach, und wenn du ihn bedrängst, dann wird er zornig. Du lernst bald, deine Neugierde zu zügeln. Er ist unser Freund. Wenn er irgendetwas für sich behalten will, und sei es sein Name, dann respektieren wir das. Er ist der Rabe.«

»Aber er verheimlicht euch etwas«, bohrte Denser. »Er verrät euch nicht …«

»Genug«, sagte Sirendor. »Es ist seine Entscheidung. Belassen wir es dabei.« Doch der Blick, den Denser ihm zuwarf, ließ vermuten, dass der Magier ganz anderer Ansicht war.

Ein Schwarm großer weißer Möwen mit grauen Flügeln flog über den Pass in ihre Richtung. Sie drehten ab, der Sonne entgegen, und ihre Rufe hallten zwischen den Klippen. Weitere Vögel, dunkler und kleiner und wendiger, stiegen protestierend auf. Ihre erbosten Rufe zerstreuten den Schwarm, der sich hoch droben wieder formierte, um die Reise nach Westen fortzusetzen. Mit laut flatternden Schwingen kehrten die kleineren Vögel zu den Felsen zurück, wo ihre Nester und Küken vor den räuberischen Möwen geschützt waren.

Gresse hatte die Begegnung beobachtet. Er blickte noch einen Moment zum Himmel hinauf, ehe er sich an den Unbekannten wandte. »Sagt mir, hat Blackthorne sich wegen der Gerüchte über die Wesmen beunruhigt gezeigt?«

»Ich glaube, Ihr macht Euch übertriebene Vorstellungen von unserer Bedeutung«, erwiderte der Unbekannte. »Söldner bekommen keine Gelegenheit, mit Baron Blackthorne zu reden.«

Gresse drehte sich im Sattel um und sah den Unbekannten Krieger mit seinen funkelnden Augen an.

»Unbekannter, ich bin der älteste Baron, und ich bemühe mich sehr, keinen Übertreibungen zum Opfer zu fallen. Der Ruf des Raben und seine Bedeutung zählen gewiss nicht zu den Dingen, die ich übertrieben bewerten könnte. Ich rede gelegentlich auch mit Blackthorne, und ich weiß, dass er Eure Gesellschaft schätzt.«

»Dann redet doch selbst mit ihm.«

»Er ist zweihundertfünfzig Meilen entfernt im Südwesten, und deshalb frage ich Euch«, erwiderte Gresse pikiert. »Und Ihr wollt es mir nicht sagen.«

Der Unbekannte warf einen Blick zu Talan, der mit den Achseln zuckte. Die Gruppe ritt jetzt im gemächlichen Trab, und Denser, der wieder mit Sirendor plauderte, war ein Stück zurückgefallen.

»Vor sechs Monaten, als sich Eurer Darstellung nach Arlen an Blackthorne verkauft hat, waren wir im Osten von Balaia, um die Bedrohung durch die Wesmen einzuschätzen«, erklärte der Unbekannte. Gresse knallte die Faust auf den Sattelknauf.

»Ich wusste doch gleich, dass es noch mehr zu erzählen gibt. Ihr seid ein gerissener Fuchs.«

»Es war sinnvoll, dort nachzusehen«, ergänzte Talan. »Wir wollen ehrlich sein: Wenn die Wesmen über den Understone-Pass eine Invasion beginnen und nach Süden statt nach Norden vorrücken, dann wird Blackthorne noch vor den Kollegien in großer Gefahr schweben. Das Gleiche gilt für den Fall, dass sie eine Invasion über die Bucht von Gyernath beginnen. In diesem Fall wären sie nur fünf Tagesreisen von der Stadt und nur wenige Stunden von Burg Blackthorne entfernt.«

»Und was habt Ihr herausgefunden?«

Hirad, der vor ihnen ritt, gab den Befehl zum Anhalten. Die Reiter zügelten die Pferde und stiegen ab, um zu ruhen und etwas zu essen. Es war kurz nach Mittag, und inzwischen war es auf dem Pass angenehm warm. Sie befanden sich in einer Senke, die zu beiden Seiten von Felsen eingerahmt war, was die Kraft der Sonne noch verstärkte.

»Nichts, das irgendetwas von dem bestätigen könnte, was Ihr gehört habt.« Talan zuckte mit den Achseln und wischte mit der behandschuhten Hand über einen Felsblock, bevor er sich setzte. Links von ihm machten sich Gresses Leibwächter daran, ein Lagerfeuer anzuzünden. Sie sammelten die Zweige der kräftigen trockenen Büsche ein, die am Wegesrand wuchsen. »Wir sind als Begleitschutz für eine von Blackthornes Weinlieferungen nach Leionu durch den Pass geritten. Hinter dem Pass wandten wir uns nach Süden und blieben vier Tage bei Blackthornes Leuten, bis wir schließlich die Bucht von Gyernath durchquerten. Wir haben keine brennenden Dörfer gesehen, keine marschierenden Heere und keinen Hinweis darauf, dass die Wesmen Überfälle verübt hätten. Wenn sie sich wirklich irgendwo zusammenrotten, dann tun sie dies in ihrem eigenen Land auf der südwestlichen Halbinsel. Es tut mir leid, dass ich Euch enttäuschen muss.«

»Aber das war schon vor sechs Monaten.« Gresse zog das weiche Gras und das Heidekraut einem Steinblock vor und setzte sich neben ihn.

»Das mag ja sein, aber Baron Blackthorne macht sich meines Wissens tatsächlich keine Sorgen wegen einer Invasion der Wesmen«, sagte der Unbekannte. Er suchte kurz in seinem Gepäck herum und zog einen kleinen Lederbeutel heraus, der mit einem Korken verschlossen war. »Hier, Sirendor. Hier ist Salz.« Er warf den Beutel zu dem Krieger hinüber, der aufsprang und ihn mit einer Hand fing. »Aber benutze es dieses Mal auch wirklich. Dadurch wird deine Suppe womöglich nahezu genießbar.« Hirad lachte, während Sirendor fluchte.

»Er sollte sich aber Sorgen machen.« Gresse dachte eine Weile nach. »Wie hat der Pass ausgesehen?«

»Er war gut bewacht. Tessaya ist kein Narr. Er verdient eine Menge an den Zolleinnahmen dort, und er wird ihn gewiss nicht der Handelsallianz oder einem rivalisierenden Stamm überlassen.« Der Unbekannte kratzte sich an der Nase.

»Kasernen?«

»Verrammelt und leer.« Der Unbekannte schüttelte leicht den Kopf. »Er hat zu beiden Seiten des Passes größere Wachabteilungen stationiert, aber er hat sich nicht auf eine Belagerung vorbereitet.«

»Danke«, sagte Gresse. »Ich danke euch beiden. Entschuldigt, dass ich Euch bedrängt habe.«

Talan zuckte mit den Achseln. »Schon gut. Ich nehme an, Ihr habt noch andere Quellen?«

»Neuer sind sie in der Tat, und nicht weniger zuverlässig. Der Pass sei nach Osten hin abgeriegelt, er sei von Wesmen besetzt, und aus dem Südwesten kämen Kampfabteilungen. Wenn dies wahr ist, dann stecken wir in Schwierigkeiten. Wir haben keine organisierte Verteidigung, und weder Blackthorne noch die Kollegien sind stark genug, um Gegenwehr zu leisten. Haltet nur die Augen und Ohren offen, um mehr bitte ich Euch gar nicht.« Gresse seufzte. »Ich kann wohl nicht hoffen, die Barone bei dieser Sitzung zu einem Bündnis zu überreden, wenn Blackthorne nicht dabei ist. Ich hoffe nur, es ist nicht schon zu spät.«

Talan zog die Augenbrauen hoch. »Glaubt Ihr denn wirklich, dass es so ernst ist? Ist etwas dran an den Gerüchten über die Wytchlords?«

Gresse schnaubte erbost. »Ja, es ist so ernst. Es ist gut möglich, dass wir bald um unser Land kämpfen müssen. Und was die Wytchlords angeht, so können wir uns für immer von Balaia verabschieden, falls sie durch irgendein garstiges Wunder zurückgekehrt sein sollten.«

Das Feuer erwachte knackend zum Leben, und die Flammen malten bleiche Schatten auf die im Sonnenlicht liegenden Wände des Passes. Die Männer schwiegen, jeder hing seinen Gedanken nach und starrte ins hypnotische Flackern. Es war ein guter Augenblick, um eine Weile still zu sein. Sirendors Fleischbrühe wurde ausgeteilt und schmeckte tatsächlich gut.

 

Der Trupp ritt durch Korinas Osttor in die Stadt, als die Sonne hinter einigen hohen Gebäuden versank. Manch ein Besucher wurde aufgehalten und durchsucht, doch der Rabe wurde wie immer einfach durchgewinkt und durfte sich ungehindert unter das Gedränge auf den gepflasterten Straßen mischen, wo der nachmittägliche Handel Korinas stattfand.

»Manchmal ist es schon ein Vorteil, zum Raben zu gehören«, bemerkte Sirendor. »Es gibt nicht so viele von unserer Sorte, wie du vielleicht glauben möchtest.« Denser schwieg sich aus.

Kurz nachdem sie die Stadt betreten hatten, verabschiedeten sich Gresse und seine Männer und wandten sich nach Süden zu den Büros der Handelsallianz. Dort standen den Baronen stark bewachte Gemächer zur Verfügung.

Korina war die Hauptstadt von Ost-Balaia. Die Bevölkerung lag seit langer Zeit bei etwa zweihundertfünfzigtausend Menschen, und wenn große Feste anstanden oder der Handel besonders lebhaft wurde, konnten es auch bis zu dreihunderttausend sein. Die meisten Kaufleute kamen mit Handelsflotten aus den Ländern im Osten und Süden des nördlichen Kontinents. Korina lag an der Mündung des Flusses Kour, und man hatte sichere Tiefwasserhäfen angelegt, die aus dem Süden Händler anlockten und dazu einluden, auf die kürzere, aber weniger gewinnbringende Reise nach Gyernath zu verzichten.

Das hervorstechendste Merkmal der Stadt waren die stabilen, weitläufigen und niedrigen Gebäude, die wegen der starken Winde und Stürme, die immer wieder durch die Flussmündung fegten, wenn das Klima vom Winter zum wärmeren Wetter des Frühlings wechselte, widerstandsfähig gebaut sein mussten. Auf drei Plätzen fanden an jedem Wochentag stark besuchte Märkte statt; verbunden wurden die Handelsplätze durch Straßen voller Geschäfte und Läden, Gasthöfe und Garküchen, Bordelle und Spielhallen.

Außerhalb dieses Dreiecks und näher zum Hafen hin blühte die Schwerindustrie. Dort klirrte es, dort brannten Schmiedefeuer, dort wurde gesägt und gegossen, dort wurden Waren für das Inland und für Kunden in Übersee produziert. In allen Lücken zwischen den Häusern, die der Unterhaltung, dem Handel, der Verwaltung und der Arbeit dienten, wohnten Menschen. Manche im Elend, manche in einem Luxus, von dem diejenigen, die nichts als den Dreck an ihren Händen sahen, nicht einmal träumen konnten, und die meisten in einem Zustand ewiger Veränderung irgendwo zwischen diesen Extremen.

Die Rabenkrieger ließen die Pferde im Schritt laufen und wandten sich zum westlichen Markt und zum nördlich davon gelegenen Krähenhorst. Die Straßen waren voller Menschen und Karren mit Zugtieren, es roch frisch, verfault und übel, und neben den Gerüchen trug der Wind den ewigen Lärm der Stadt heran. An Verkaufsständen, auf Wagen, aus Weidenkörben und von Tabletts, die an Schultergurten hingen, wurden alle nur denkbaren Waren feilgeboten: feines Tuch, das aus dem Elfenland im fernen Süden importiert wurde, Töpferwaren und solche aus Eisen und Stahl, geschmiedet und gegossen in den Werkstätten und Brennöfen von Korina und Jaden; Fleisch, Gemüse und Pasteten, die in den zahllosen Küchen der Stadt zubereitet wurden, manche sauber, viele aber auch minderwertig und schmutzig. Der lebhafte Handel wurde allein durch die Sprache der klingenden Münze kontrolliert, und überall wechselten Silber und Bronze die Hände und schimmerten im roten Licht der untergehenden Sonne.

Glücklicherweise bewegte sich der größte Teil des Verkehrs in die entgegengesetzte Richtung, als der Tag sich dem Ende neigte. Doch immer noch war der gepflasterte Marktplatz voller Stände, durch die sich der Rabe einen Weg bahnen musste. Reden konnten sie nicht mehr, als der Unbekannte sie im Gänsemarsch über den Platz führte, zum Krähenhorst und in das stille Hinterzimmer des Gasthofes, das ihnen nach der Schlacht als Zuflucht diente.

Tomas’ Sohn Rhob, ein Bursche, der aus Ehrfurcht vor den Söldnern fast erstarrte, führte die Pferde in die Ställe, und die müden Reiter gingen steifbeinig nach drinnen.

»Hallo, Junge!« Der Wirt stand hinter der Bar und grüßte den Freund, der ihm trotz des seltsamen Namens längst kein Unbekannter mehr war. Die Plätze im Krähenhorst waren, wie um diese Tageszeit zu erwarten, etwa zu einem Viertel besetzt. Es war eine große Gaststube, dreißig Tische in einem weitläufigen, von Eichenpfosten gestützten niedrigen Raum. Die Theke stand direkt gegenüber der Tür und lief in einem Viertelkreis von rechts nach links bis zur Küchentür, zum Hinterzimmer und der nach oben führenden Treppe. Rechts befand sich der offene Kamin des Krähenhorsts. Bücher standen ringsum an drei Wänden auf Brettern, die Lampen waren mit roten und gelben Schirmen versehen, um eine warme Atmosphäre zu erzeugen.

»Hallo, Tomas.« Die Stimme des Unbekannten klang müde.

»Geht einfach durch«, sagte Tomas. Er war ein großer, glatzköpfiger Mann Ende vierzig. »Ich bringe euch Wein, Ale und Kaffee. Maris ist gerade mit Kochen fertig. Ich …« Er runzelte die Stirn und unterbrach sich, als er die Neuankömmlinge näher ins Auge fasste und Denser bemerkte. Der Unbekannte nickte, ging zur Bar und legte Tomas eine Hand auf den Arm.

»Heute Abend wird es hier ein Fest geben. Wir haben viel zu feiern, vieles zu erinnern und Ras zu betrauern.«

Nichts weiter wurde gesprochen. Der Rabe marschierte an Tomas vorbei ins Hinterzimmer, und die Männer nickten und lächelten zum Gruß.

Drei Dinge stachen im Hinterzimmer sofort ins Auge: das Symbol des Raben mit den gekreuzten Schwertern über dem Kamin, die lange Tafel mit den sieben Plätzen vor der großen Doppeltür an der hinteren Wand und die kostbar gefertigten weichen Stühle und Sofas. Hier ließen sich die Rabenkrieger nieder, seufzten dankbar und schwiegen eine Weile.

Denser zögerte. Insgesamt gab es zehn Sitzplätze. Schließlich entschied er sich für einen schlichten, rot gepolsterten Stuhl in der Nähe des kalten Kamins.

»Nicht dort.« Talans Stimme ließ ihn augenblicklich innehalten. »Dort hat Ras gesessen. Setz dich auf Tomas’ Sofa, wenn du schon musst. Ich denke, es wird ihn nicht stören.«

Denser setzte sich.

»Und nun«, verkündete der Unbekannte, indem er sich an den dunklen Magier wandte, »das Wichtigste zuerst. Wie lange wird es deiner Ansicht nach dauern, bis wir bezahlt werden?«

»Also, wie ich Ilkar schon erklärt habe, ist das Amulett vor allem ein Werkzeug für die Forschung, und wir werden es in den nächsten Monaten noch nicht verkaufen. Wir werden aber einen Mindestpreis festsetzen, und ich kann euch fünf Prozent von diesem Preis als Vorschuss geben. Sagen wir zweihunderttausend Echtsilber?«

Der Unbekannte sah sich rasch zu seinen Gefährten um. Niemand erhob Einwände.

»Das soll uns recht sein. Unser Geld ist bei der Zentralbank deponiert. Deine Zahlung muss binnen einer Woche erfolgen.«

Denser stand auf. »Das Geld wird morgen dort sein. Und wenn ihr mich jetzt entschuldigen wollt, ich brauche ein Bad.« Er wollte gehen, doch der Unbekannte hielt ihn auf.

»Wo übernachtest du?«

»Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.«

»Lass dir von Tomas ein Zimmer herrichten. Er wird dir nichts berechnen.«

»Das ist sehr freundlich von dir, vielen Dank.« Denser schien ein wenig überrascht, doch er lächelte.

»Und wenn du möchtest, kannst du auch zum Fest kommen. Immerhin hast du es finanziert. Bei Anbruch der Dämmerung im vorderen Schankraum.« Denser nickte. »Nur eine Sache wäre da noch zu klären. Ilkar? Eine Voraussage, bitte.«

Ilkar nickte, und er schien beinahe amüsiert, als er aufstand und zu Denser hinüberging.

»Was hast du vor?«, fragte Denser.

»Nichts weiter«, sagte Ilkar. »Es ist ein ganz alltäglicher Spruch, nichts Dauerhaftes. Ich will mich nur vergewissern, ob du aufrichtig bist. Wenn ich dich berühre, beantwortest du die Fragen einfach mit Ja oder Nein.«

Ilkar schloss die Augen und sprach eine kurze Beschwörung. Er zog die rechte Hand vor den Augen, vor dem Mund und vor dem Herzen vorbei, ehe er sie auf Densers Schulter legte.

»Werden die zweihunderttausend Echtsilber von heute an gerechnet binnen einer Woche auf das Konto des Raben bei der Zentralbank überwiesen werden?«

»Ja.«

Ilkar öffnete die Augen und hielt Denser die Tür auf. »Wir sehen uns dann.« Denser ging. Ilkar schloss hinter ihm die Tür und wandte sich erbost an den Unbekannten Krieger. »Sonst noch etwas, das wir ihm geben sollen? Vielleicht die Erlaubnis, Julatsa-Blut zu verwenden, um sein Mana aufzufrischen?«

Der Unbekannte schwieg.

»Ich traue ihm nicht«, sagte Hirad.

»Warum steigt er hier ab, wenn er nicht zahlen will?«, fragte der Unbekannte.

»Nein, ich meinte nicht das Geld«, erklärte Hirad. »Die Voraussage beweist, dass er zahlen wird. Es steckt aber viel mehr dahinter. Warum zum Beispiel war er so schnell bereit, uns so viel Geld zu geben? Wir hätten den Auftrag auch für zweitausend pro Mann übernommen.«

»Warum steigt er hier ab?«, wiederholte der Unbekannte. »Wenn er uns in irgendetwas hineingezogen hat, dann will ich wissen, wo er steckt. Deshalb, Ilkar, will ich ihn heute Abend hier unten haben.«

»Rechnest du mit Ärger?«, fragte Talan.

»Nein.« Der Unbekannte lehnte sich zurück und streckte die Beine aus. »Aber trotzdem solltet ihr die Kurzschwerter anlegen, und zwar nicht nur aus Respekt vor Ras.«

»Das wird aber auch Zeit.« Ilkar hatte den Korken aus einer Weinflasche gezogen und schenkte sich einen Kelch ein.

»Was meinst du?« Sirendor winkte ihm, weil er ebenfalls ein Glas haben wollte. Der Magier gab ihm das erste und füllte ein weiteres Glas.

»Jetzt hast du innegehalten und mit Nachdenken begonnen, nachdem der erste Glanz des Echtsilbers verblasst ist, und auf einmal wirst du nervös, nicht wahr?« Er setzte sich auf seinen Stuhl. »Xetesk ist gefährlich. Nichts ist mehr so, wie es vorher war. Es gibt Zusammenhänge hinter dem, was wir an der Oberfläche sehen, und ich persönlich glaube kein Wort von dem, was er über das Amulett gesagt hast.«

»Warum hast du geschwiegen?«

»Hättet ihr denn auf mich gehört, Hirad?«, knurrte Ilkar. »Zweihundertfünfzigtausend für einen Tagesritt, und auf der anderen Seite meine Bedenken. Wie sollte ich dagegen ankommen?«

»Ich kann immer noch nicht erkennen, wo das Problem liegen soll«, sagte Richmond. »Wir sind hier, wir sind in Sicherheit, das Geld wird überwiesen. Wir haben uns die Möglichkeit erkauft, uns freier zu bewegen.«

»Falls wir überleben und das Geld ausgeben können«, murmelte Ilkar.

»Jetzt übertreibst du aber«, meinte Sirendor.

»Du kennst sie nicht«, gab Ilkar nachdenklich zurück. »Ich kenne sie. Wenn er uns in etwas hineingezogen hat, dann sind wir austauschbar. Xetesk hat keinen Kodex, und sie folgen keinen festen Regeln.« Er hielt inne. »Hört mal, ich sage doch nur, dass ihr bei Denser vorsichtig sein sollt. Vielleicht haben wir heute noch einmal Glück gehabt, aber wir müssen erst einmal abwarten und sehen, wie der Hase läuft.«

»Niemand kann uns zwingen, noch einmal für Xetesk zu arbeiten«, stellte Hirad gelassen fest.

»Das ist richtig, niemand kann uns zwingen«, antwortete Ilkar.

»Wir müssen überhaupt für niemanden mehr arbeiten.« Talans Worte wurden mit Schweigen quittiert. Hirad stand steifbeinig auf und ging zum Tisch, auf dem die Getränke standen. Er schenkte sich Wein ein und brachte die Flasche und noch einige weitere Gläser zum Kamin mit. Wer noch nicht versorgt war, bediente sich jetzt.

»Wir müssen schon lange für niemanden mehr arbeiten, aber ich weiß, was Talan damit meinte«, sagte der Unbekannte. »Die zweihundertfünfzigtausend bedeuten, dass wir alles tun können, was wir uns ganz zu Anfang überlegt haben, und alles, was wir nie zu träumen wagten. Stellt euch nur vor, welche Möglichkeiten wir jetzt haben.«

»Ich glaube, du solltest besser damit beginnen, dass du mir erzählst, was gestern Abend vor sich gegangen ist und was du da gesagt hast.« Hirad leerte seinen Becher und schenkte sich nach.

»Wir haben versucht, dich zu wecken. Wir hatten nicht die Absicht, dich auszuschließen«, sagte Sirendor. »Wir haben die Burg verlassen, um uns zu Richmond zu gesellen. Ich weiß nicht, wie es den anderen ging, aber als ich Ras’ Grab vor mir sah, bekam ich zum ersten Mal Angst, eines Tages könnte es auch mich erwischen. Oder Ilkar …« Er machte eine ausholende Geste und nickte Hirad zu. »Oder dich. Das will ich nicht. Ich will eine Zukunft haben, solange ich noch jung bin und sie genießen kann.«

»Dann ist die Entscheidung gefallen?«, erwiderte Hirad schroff.

Sirendor holte tief Luft. »Als wir geredet haben, wurde deutlich, dass wir alle das Gleiche gedacht haben. Bei den Göttern, Hirad, selbst du hast in den letzten zwei Jahren schon davon gesprochen, einfach aufzuhören. Wir wollen alle überleben. Talan will reisen, Ilkar will unbedingt nach Julatsa zurück. Ich … ach, du weißt ja, was ich will.«

»Ehemann und Vater sein, was?« Hirad lächelte, obwohl ihm das Herz bis zum Hals schlug und ein Knoten seine Kehle zuschnürte.

»Ich muss nur aufhören zu kämpfen, dann kann der Bürgermeister mir die Heirat nicht mehr verwehren. Du weißt doch selbst, wie das ist.« Sirendor zuckte mit den Achseln.

»Allerdings. Sirendor Larn wurde von der Tochter des Bürgermeisters gezähmt. Früher oder später musste das ja passieren.« Hirad wischte sich den linken Augenwinkel trocken. Auf einmal herrschte im Hinterzimmer eine gespannte Atmosphäre, und die Aufmerksamkeit der Kameraden war ganz und gar auf ihn gerichtet. »Du weißt, dass ich dir nicht im Weg stehen will.«

»Ich weiß«, sagte Sirendor, aber der Blick, den sie wechselten, sprach Bände.

»Du kannst doch sicher erkennen, wie vernünftig es ist«, sagte der Unbekannte. Hirad starrte ihn nur an. »Bei den Göttern, Hirad, ich bin seit einem Dutzend Jahren Mitbesitzer dieses Gasthofs, und in dieser langen Zeit habe ich höchstens ein Dutzend Mal hinter der Theke gestanden.«

»Was ist mir dir?« Der Barbar wandte sich an Richmond.

»Vor dem gestrigen Tag war ich noch nicht sicher«, erklärte der blonde Krieger. »Aber ich bin müde, Hirad. Sogar herumzustehen und darauf zu warten, dass etwas passiert, ermüdet mich schon. Ich …« Er hielt inne und rieb sich mit drei Fingern über die Stirn. »Gestern habe ich einen Fehler gemacht, den ich mir vorwerfen werde, bis ich ins Grab sinke. Im Augenblick traue ich es mir nicht einmal mehr zu, ordentlich in der Schlachtreihe zu kämpfen, und ich wäre überrascht, wenn du es könntest. Das gilt auch für die anderen.«

Wieder gab es ein gedehntes, unbehagliches Schweigen. Hirad sah von einem Gefährten zum anderen, doch keiner wusste etwas zu sagen.

»Es ist unglaublich«, erklärte Hirad schließlich. »Zehn Jahre. Zehn Jahre sind wir zusammen, und ihr trefft die wichtigste Entscheidung eures Lebens – meines Lebens –, während ich geschlafen habe.« Er war zu empört, um die Stimme zu erheben, und sprach scheinbar völlig ruhig. Doch er wusste auch, dass es im Grunde nicht der Zorn war, der ihn bewegte. Es war eine tiefe, bittere Enttäuschung. Die Konsequenz, die sich unausweichlich aus der Gründung des Raben ergab. Die Auflösung. Seltsamerweise hatte Hirad zu Anfang nie geglaubt, dass es überhaupt so lange halten würde. Die Zukunft war bedeutungslos gewesen. Bis heute. Jetzt brach seine Welt rings um ihn zusammen, und das machte ihm Angst. Große Angst.

»Es tut mir leid, Hirad.«

»Ich wollte eigentlich nicht mehr, als dass man mich nach meiner Meinung fragt, Sirendor.«

»Ich weiß. Aber die Entscheidung wurde nicht gestern Abend gefällt. Da wurde sie nur bestätigt.«

»Ihr habt mich nicht gefragt.« Hirad stand auf und ging zur Tür. Er wollte jetzt trinken und lachen. »Ich sag euch was«, erklärte er. »Ihr Frührentner bezahlt das Fest, und ich versuche, euch zu verzeihen.«

 

Stylianns Augen funkelten, und sein Gesicht lief rot an. In der Gefängniszelle unter seinem Turm sanken drei Magier auf ihren Stühlen in sich zusammen. Sie waren zu erschöpft, um respektvoll vor ihrem Meister aufrecht zu stehen.

»Sagt es mir noch einmal.« Stylianns Stimme war leise und ruhig, doch sie erfüllte mit ihrer Kraft die kleine Kammer.

»Wir sind erst seit drei Stunden wirklich sicher, und auch da mussten wir noch ein letztes Mal alles überprüfen. Wir wollten keinen Anlass zur Beunruhigung geben, solange wir nicht absolut sicher waren«, berichtete einer von ihnen, ein alter Magier, der sein ganzes Leben dieser einzigen Aufgabe gewidmet hatte.

»Beunruhigung?«, wiederholte Styliann. Seine Stimme schnappte beinahe über. »Das größte Übel in Balaias Geschichte ist verschwunden. Mich zu beunruhigen, sollte die geringste Eurer Sorgen sein.«

Die drei Magier wechselten nervöse Blicke.

»Leider nicht nur verschwunden, mein Lord. Sie sind nicht mehr im Käfig, und wir glauben, dass sie sich auch nicht mehr im interdimensionalen Raum befinden.« Der alte Magier schluckte schwer. »Wir glauben, dass sie mit Wesen und Geist nach Balaia zurückgekehrt sind.«

Das Schweigen, das darauf folgte, schmerzte in den Ohren. Stylianns Atem zischte zwischen den halbgeöffneten Zähnen. Er sah sich noch einmal in der kleinen Kammer um, wo Zeichnungen und Darstellungen des Dimensionsraums, des Spruchs und der zugehörigen Gleichungen jeden freien Fleck an den Wänden bedeckten. Auf dem abgewetzten Holztisch lagen Notizbücher herum. Die drei in einem losen Halbkreis aufgestellten Stühle boten jeweils einem schockierten Magier Platz, und alle drei schauten zu ihm auf, wie er an der Türe stand, Nyer auf einer Seite neben sich, und Laryon auf der anderen. Er musste den Kopf nicht nach links oder rechts wenden, das war überflüssig. Die Tragweite dessen, was sie gerade gehört hatten, jagte Schauer durch die Manakanäle.

»Wie lange sind sie schon verschwunden?«, fragte er. Dies war die Frage, die sie am meisten gefürchtet hatten.

»Wir können … das können wir nicht mit Gewissheit sagen«, brachte der älteste Magier heraus.

Styliann nagelte ihn mit Blicken fest. »Wie bitte?« Wieder wechselten die drei unbehagliche Blicke. Endlich ergriff die jüngere Frau das Wort.

»So war es eben mit den Wächtern, mein Lord«, sagte sie. »Alle drei Monate werden die Sprüche gewirkt und die Berechnungen durchgeführt, wenn gewisse Konstellationen uns die größtmögliche Gewissheit versprechen.«

Styliann ließ den alten Mann nicht aus den Augen. »Wollt Ihr mir damit sagen, dass die Wytchlords womöglich schon vor drei Monaten in Balaia angekommen sein könnten?«

»Sie waren im Käfig, als wir das letzte Mal die Sprüche gewirkt haben«, erklärte die Frau. »Jetzt sind sie nicht mehr da.«

»Ja oder nein.« Styliann glaubte fast, er könne ihre Herzen pochen hören. Dann wurde ihm bewusst, dass er seinen eigenen Herzschlag wahrnahm.

»Ja.« Der alte Mann wandte den Blick ab. Er hatte Tränen in den Augen. Styliann nickte.

»Nun gut«, sagte er. »Säubert den Raum, eure Arbeit hier ist beendet.« Er wandte sich an Nyer. »Uns bleibt keine andere Wahl. Nehmt Verbindung mit den anderen Kollegien auf, aber sagt nichts über die Ereignisse hier oder auf Burg Taranspike. Wir müssen am Triverne-See ein Treffen anberaumen. Umgehend.«

 

»Ich hätte es nicht geglaubt, wenn ich es nicht mit eigener Nase riechen könnte«, erklärte Sirendor. Er stand neben Hirad an der Theke des Krähenhorsts und betrachtete die Kleidung des Barbaren – Lederhosen, ein eng sitzendes schwarzes Hemd, das den Oberkörper betonte, ein beschlagener Gürtel, an dem das Kurzschwert in der Scheide hing. Ilkar war bei ihnen, er trug ein schwarz gesäumtes gelbes Hemd und Lederhosen. Hinter der Theke stand der Unbekannte, mit einfachem weißem Hemd und ähnlichen Kniebundhosen bekleidet wie seine Freunde.

»Wovon redest du?«, wollte Hirad wissen.

»Tja, mein guter Freund, in den Stunden, die wir getrennt waren, hast du nicht nur dieses widerliche verschwitzte Lederzeug abgelegt, das du trägst, wenn du mit Drachen plauderst, sondern du hast offensichtlich auch ein Duftbad genommen. Das ist ein wahrhaft denkwürdiges Ereignis.« Sirendor sprang auf den nächsten Tisch und wandte sich an die Gäste. »Meine Damen und Herren – der übelriechende Barbar hat ein Bad genommen!« Es gab Gelächter, und hier und da wurden Hochrufe laut. Hirad konnte sogar sehen, dass Denser lächelte, bevor der Magier, der ein weites schwarzes Hemd und ebensolche Hosen trug, sich wieder daran machte, seine Katze zu kraulen, mit der er dicht vor dem Kaminfeuer in einem Lehnstuhl saß.

»Schwinge du nur vorlaute Reden, Großmaul«, sagte Hirad. Er zielte mit dem Finger auf Sirendor. »Aber nun schau dich selbst an. Deine Kleidung wirft die Frage auf, ob du lieber Männlein oder Weiblein an deinem Gemächt herumspielen lässt. Es wird deiner zukünftigen Braut das Herz brechen.«

»Nennst du mich etwa eine Schwuchtel?«, fragte Sirendor.

»Allerdings.«

Sirendor schmollte und blickte an sich hinab: bestickte, kniehohe weiche Stiefel, vorne verschnürt, darüber eine mit Gold bestickte braune Pluderhose, in die ein wallendes purpurnes Seidenhemd mit offenem Kragen gesteckt war. Am Gürtel hing das Kurzschwert, und die behaarte Brust zierte ein Anhänger mit einem Edelstein.

»Vielleicht hast du ja Recht.« Sirendor sprang leichtfüßig auf den Boden der Gaststube, die sich rasch gefüllt hatte, sobald bekanntgeworden war, dass der Rabe ein Fest ausrichtete, und schwenkte den Bierkrug in seinen Händen.

Denser erhob sich von seinem Platz am Feuer und ließ die Katze dort in der Wärme zurück. Er drängte sich durch die Gäste zu den vier Kampfgefährten. Ilkar nahm seinen Krug, drehte sich um und entfernte sich.

»Es sieht nicht so aus, als könnten die zwei bald Freunde werden«, bemerkte Sirendor.

»Dir entgeht aber auch rein gar nichts, was?«, gab Hirad zurück. Er grinste breit, als er den sich nähernden Xeteskianer sah.

»Denser.« Der Unbekannte begrüßte den Dunklen Magier mit einem Nicken.

»Es wird voll«, meinte Denser. Er zündete seine Pfeife an.

»Möchtest du Rotwein?« Sirendor hielt eine Flasche hoch.

»Gern.« Denser sah zu, wie Sirendor ihm einschenkte. »Danke.« Er trank einen Schluck und zog die Augenbrauen hoch. »Nicht schlecht.«

»Nicht schlecht?«, wiederholte der Unbekannte. »Das ist ein Roter von Blackthorne, mein Freund. Eine kostspielige Spezialität des Krähenhorsts.«

»Ich bin in dieser Hinsicht kein Experte.« Denser zuckte mit den Achseln.

»Offensichtlich. Du trinkst wohl lieber billigen Fusel.« Der Unbekannte drehte sich postwendend um, suchte in den Regalen zur Linken und wählte eine Flasche aus. Er stellte sie auf die Theke und fischte einen Korkenzieher aus seiner Hosentasche.

Dann hielt er inne und blickte an seinen Freunden vorbei auf die überfüllte Gaststube. Er war, wo er sein wollte, hinter der Theke, und er fühlte sich ausnehmend wohl. Es war eine ganz einfache Tätigkeit, doch er fühlte sich dabei wohl. Sehr wohl. Hinter seiner Zufriedenheit lauerte jedoch ein Abgrund, den er sich lieber nicht genauer ansehen wollte.

»Na, ist das ein Leben?«, sagte er, während er den Korken aus der Flasche zog und das Meer aus Gläsern, Gesichtern, Farben und Rauchwolken überblickte. Er nahm ein frisches Glas. »Dieses Spülwasser, Denser, geliefert vom Weinberg Baron Corins, ist wohl eher nach deinem Geschmack. Versuche, nicht daran zu ersticken.«

»Ich habe einen Vorschlag für euch«, verkündete Denser auf einmal.

»Oh, wirklich? Noch mehr Gelegenheiten, bei lebendigem Leibe verbrannt zu werden, was?«

Denser starrte Hirad an. »Eigentlich nicht. Wollt ihr mich anhören?«

»Wenn du willst, na gut, aber du verschwendest deine Zeit«, sagte der Unbekannte.

»Warum?«

»Weil wir vor ein paar Stunden in den Ruhestand getreten sind. Ich habe schon meinen neuen Job als Barkeeper angetreten.« Hirad und Sirendor lachten. Denser wirkte einen Moment lang entsetzt, während er zu entscheiden versuchte, ob sie es ernst meinten oder nicht.

»Trotzdem …«, sagte er.

»Na gut, dann sag es uns.« Sirendor lehnte sich an die Theke und stemmte die Ellenbogen darauf. Hirad folgte seinem Beispiel, während der Unbekannte, ebenfalls auf die Theke gestützt, mit dem Korkenzieher spielte.

»Das Amulett, das wir geborgen haben, ist nicht das einzige«, sagte Denser.

»Was für eine Überraschung.« Sirendor drehte den Kopf zu den Freunden herum.

»Hört mal, ich will ehrlich mit euch sein. Wir entwickeln einen neuen Angriffszauber, der bereit sein soll, falls es tatsächlich eine Invasion der Wesmen gibt. Wir brauchen drei weitere Stücke, um unsere Forschungen abzuschließen, und ich – oder vielmehr Xetesk – will, dass der Rabe mir hilft, sie zu finden.«

Keiner der Rabenkrieger sagte etwas, und Denser betrachtete der Reihe nach ihre Gesichter. Schließlich richtete sich der Unbekannte auf.

»Wir haben uns schon gefragt, warum du uns so viel gezahlt hast, nur um hierherzukommen«, erklärte er. »Wir waren uns außerdem einig, dass wir nicht mehr für Xetesk arbeiten wollten. Nimm dir ein paar Protektoren.«

Denser schüttelte den Kopf. »Nein. Protektoren sind reine Muskelmänner. Für diese Art von Bergung brauche ich Leute mit Hirn.«

»Und der Rabe ist – war – eine Kampftruppe. Wir haben noch nie solche Bergungsaufträge übernommen, und wir werden jetzt nicht damit anfangen«, klärte Sirendor ihn auf.

»Aber es ist nicht einmal ein langfristiger Auftrag. Und die Bezahlung würde so ähnlich aussehen wie heute.«

Der Unbekannte stützte sich auf die Theke. »Also wie gehabt: jeweils fünf Prozent?«

»Ich kann nur nicht versprechen, dass es so leicht wird wie beim letzten Mal.« Denser lächelte Hirad an.

»Ja, nerv mich nur. Aber ich würde wirklich gern mal einen Auftrag sehen, den du als schwierig bezeichnest.«

»Entschuldigung, das ist etwas schräg herausgekommen. Ich meinte eure Arbeit als Leibwächter auf dem Rückweg.«

Sirendor musste breit grinsen. Er richtete sich auf und klopfte seine Kleidung ab.

»Denser, vor ein paar Jahren hätten wir dir vermutlich die Hand abgebissen, wenn du uns so viel Geld geboten hättest. Aber heute – nun, was mich angeht, so bin ich einfach nicht interessiert. Ich meine, wir hätten wirklich Mühe, so viel Geld auszugeben. Es tut mir leid, alter Junge, aber der Ruhestand hat durchaus seine Vorzüge.« Er wandte sich ab und knuffte Hirads Arm. »Wir sehen uns später.« Er schlenderte zum Vordereingang, wo gerade eine atemberaubend schöne Frau mit zwei Männern eingetreten war. Sie trug einen strahlend blauen Mantel und schob gerade ihre Kapuze zurück. Darunter kam eine Flut von lockigem rotem Haar zum Vorschein.

Sie sah Hirad, bevor er sie bemerkte, und winkte. Er und der Unbekannte drehten sich ganz zu ihr um und erwiderten den Gruß. Dann wandte sie sich zu Sirendor um. Die beiden gingen aufeinander zu und umarmten und küssten sich. Der Krieger bugsierte die Frau zu einem Tisch rechts neben der Bar, in der Nähe des Eingangs zum Hinterzimmer.

Der Unbekannte stellte eine Flasche Wein und zwei Kristallgläser auf ein Tablett.

»Arbeit für den Barkeeper, würde ich sagen.«

»Und ob.« Hirad wandte sich wieder an Denser. Das Gesicht des Dunklen Magiers war unbeteiligt, doch seine Augen verrieten, wie enttäuscht und besorgt er war. »Hätte es nur an mir gelegen, dann hätte ich deinen Vorschlag angenommen. Bastarden wie dir sollten wir jeden Penny abknöpfen, den wir nur bekommen können.«

»Ich fühle mich geschmeichelt. Glaubst du, das war das letzte Wort zu diesem Thema?«

Hirad schnaufte schwer. »Tja, der Unbekannte war zweifellos interessiert, und ich bin ziemlich sicher, dass die langweiligen Brüder sich mitschleppen ließen. Deine Probleme sind Sirendor, der verliebt ist, aber erst heiraten kann, wenn er zu kämpfen aufhört, und Ilkar, der alles hasst, was du vertrittst.«

»Abgesehen davon gibt es also keine Probleme?« Denser zündete seine Pfeife an.

»Ich sag dir was: Du bearbeitest Sirendor und betonst, dass der Auftrag nur kurze Zeit in Anspruch nehmen wird und dass er für seine Braut einen Haufen Geld verdienen kann und so weiter. Ich versuche mein Glück bei Ilkar. Ich nehme an, er würde mitkommen, wenn er wüsste, dass es dir um die Entwicklung eines Spruchs geht. Aber einfach wird es nicht.«

»Und wenn du ihn nicht überreden kannst?«

»Dann läuft es nicht. Der Rabe arbeitet nie getrennt.«

»Ich verstehe.«

»Gut. Wo ist er denn nun?«

Denser deutete zur Mitte des Schankraums, wo Ilkar mit dem Tuchhändler Brack und zwei recht gut aussehenden Frauen redete. »Ich könnte mich da wenigstens mal ins Gedränge mischen, wenn sonst schon nichts herauskommt«, meinte Hirad. Dann rief er: »He, Ilks! Brauchst du noch was zu trinken?« Ilkar nickte. Der Barbar nahm einen Krug und drängte sich durch die Gäste.

»Hirad, wie schön, dich zu sehen.«

»Du warst noch nie ein guter Lügner, Brack. Etwas zu trinken?« Der Händler hob seinen Kelch. Hirad schenkte ihm und Ilkar ein. »Ich muss Ilkar mal einen Augenblick entführen, meine Damen, aber ich verspreche, dass wir bald wieder hier sein werden.« Ilkar schaute den Barbaren schräg von der Seite an, doch er ließ sich zur Theke führen. Hirad sah Denser an Sirendors Tisch stehen und konnte überrascht beobachten, wie Larn aufstand und dem Dunklen Magier zum Kamin folgte. Der Mann musste über eine außergewöhnliche Überzeugungskraft verfügen. Er war nicht sicher, ob es ihm selbst gelungen wäre, die Verliebten so schnell wieder voneinander zu trennen.

»Nun, was hatte Denser zu sagen?«

»Siebenhundertfünfzigtausend, Ilkar. Drei Aufträge, keine lange Dauer.«

Ilkar schüttelte den Kopf. »Weißt du was, Hirad, ich wundere mich über dich. Und ich bin enttäuscht, dass du mich nach zehn Jahren immer noch nicht gut genug kennst, um dir so einen Vorschlag zu verkneifen.«

»Aber …«

»Ich habe alles gesagt, was ich zu sagen habe. Ich werde nicht für oder mit Xetesk arbeiten. Man kann ihnen nicht trauen. Es ist mir egal, wie viel er anbietet, weil es nie genug sein wird.«

Hirad nagte an der Unterlippe. »Hör mal, Ilkar, warum siehst du es nicht einfach so, dass du ihnen einen Haufen Geld abnimmst? Gib es an Julatsa weiter, wenn du es selbst nicht haben willst, aber ich dachte, du willst vielleicht so oder so auf jeden Fall im Auge behalten, was Xetesk im Schilde führt.«

Ilkar runzelte die Stirn. »Was genau sollen wir eigentlich für Denser tun?«

Hirad winkte ihn näher heran.

 

Der Unbekannte Krieger lehnte sich an die Bar und war es zufrieden, einfach den Abend verstreichen zu sehen, während er den exzellenten Roten von Blackthorne nippte. Er rückte ein Stückchen weiter und zog den Ellenbogen seines weißen Hemds aus einer Pfütze auf der Theke.

Wenn er die Gaststube überblickte, fühlte er sich beinahe um zehn Jahre in der Zeit zurückversetzt. Talan und Richmond – die langweiligen Brüder, wie Hirad sie immer nannte – saßen schweigend beisammen und fuhren mit den Fingern auf den Rändern ihrer Weinkelche hin und her. Hirad und Ilkar standen ein paar Schritt abseits und waren in ein angeregtes Gespräch vertieft. Er lächelte und schüttelte den Kopf, trank noch einen Schluck aus seinem Glas und schenkte sich aus der Flasche hinter der Theke nach.

Schließlich wanderte sein Blick zum Kamin und den beiden Männern, die in Lehnstühlen links und rechts davor saßen und miteinander redeten. Sein Lächeln verschwand. Denser. Der Kopf des Magiers war größtenteils von der Rückenlehne seines Stuhls verborgen, doch er konnte die Katze und die unvermeidliche Hand sehen, die ihren Rücken kraulte. Je eher der Magier verschwand, desto besser. Der Unbekannte hasste das Gefühl, belogen zu werden.

Sirendor war anscheinend gut in Form. Seine Augen funkelten hell im Feuerschein, und seine Kleider trugen ihm heute Abend die Aufmerksamkeit vieler Frauen ein. Auch in diesem Moment konnte der Unbekannte eine sehen, die ihn beobachtete. Sie stand dicht neben der Tür. Der glückliche Kerl. Er brauchte sich niemals große Mühe zu geben. Sie schmolzen zu seinen Füßen dahin und fielen ihm förmlich ins Bett. Er fragte sich, ob Sana wusste, wie sehr man sie beneidete. Im Augenblick wirkte sie allerdings etwas gereizt, wie sie da mit ihren Leibwächtern am Tisch saß. Sirendor hatte sie kurz zuvor allein gelassen.

Die Frau an der Tür näherte sich dem Kamin. Sie hatte langes braunes Haar, das mit Haarnadeln nach hinten gesteckt war, jedoch frei um ihren Hals spielen konnte. An einer Seite des Halses hatte sie ein schwarzes Mal. Die große, schlanke Gestalt war mit Hosen aus weichem Tuch, einem dunklen Hemd und einem knappen Lederwams bekleidet. Einen dunkelroten Umhang hatte sie sich um die Schultern gelegt. Der Unbekannte schüttelte den Kopf. Sirendors Anziehungskraft war anscheinend unwiderstehlich, ob seine Verlobte nun anwesend war oder nicht. Er wurde ein wenig neidisch. Nein. Sehr neidisch sogar.

Der Blick der Frau wanderte zu einer Gruppe von Markthändlern, die gerade mit ihren Krügen anstießen und einen Trinkspruch brüllten, und dann weiter, bis sie dem Blick des Unbekannten begegnete. Dem Krieger gefror das Blut in den Adern. Die Augen in diesem hellen Gesicht mit den vollen Lippen und der entzückenden Nase waren kalt, dunkel und voller Bosheit. Sein Blick wanderte automatisch zu ihren Händen, und dort sah er Stahl blitzen. Zwei Männer saßen am Kamin, und der Unbekannte war absolut sicher, dass die Frau sich nicht für Sirendor Larn interessierte.

»Bei den Göttern«, murmelte er. Er lockerte das Kurzschwert im Gürtel, tauchte unter der Theke durch und bahnte sich einen Weg durch die Gäste.

»Sirendor! Sirendor! Pass auf!«, rief er. Er warf einen Blick zu der Frau, die sich rasch zum Kamin vorarbeitete. »Sirendor. Links von dir, verdammt, links von dir.« Sirendor sah ihn stirnrunzelnd an, als jemand sich zwischen sie schob. »Geh mir aus dem Weg, verdammt! Sirendor, die Frau, roter Mantel, rotbraunes langes Haar, links von dir.«

Das Herz des Unbekannten raste. Er spürte, wie sich die Atmosphäre im Schankraum veränderte, er sah die Frau, die den Dolch jetzt gezückt hatte, rasch zu ihrem Ziel vordringen. Sie war nahe. Sie war viel zu nahe, und Sirendor, der sich umsah, während er sich, die Hand auf den Schwertknauf gelegt, vom Sessel erhob, hatte sie noch nicht bemerkt.

Der Unbekannte würde zu spät kommen. Die Mörderin hatte Sirendor schon fast erreicht. »Halte sie auf, Sirendor. Um Himmels willen, lasst mich vorbei!«

Endlich sah Sirendor, der sich vor Denser aufgebaut hatte, die Angreiferin. Als sie zuschlug, blockte er den Hieb mit dem Arm ab. Ihr Dolch schlitzte seinen Ärmel auf und riss eine Wunde in sein Fleisch. Im nächsten Augenblick fuhr die Klinge des Unbekannten tief in die Schulter der Frau. Sie starb auf der Stelle und ging ohne einen Laut zu Boden. Ihr Blut spritzte ins Feuer und verdampfte zischend.

Es wurde totenstill im Schankraum. Die Gäste machten Platz, als Hirad, Ilkar, Talan und Richmond zum Kamin stürzten. Sirendor hatte sich wieder gesetzt, er hob die Hand und rollte den Ärmel hoch, um die Schnittwunde freizulegen. Sie war tief und blutete stark.

»Danke, Unbekannter, ich habe sie nicht gesehen. Ich … was ist denn überhaupt los?«

Der Unbekannte kniete vor dem Leichnam der Frau und hatte schon ihren Dolch hochgehoben, um die Klinge zu untersuchen.

»Nein, nein, nein, nein, verdammt!«, sagte er und kratzte sich mit der freien Hand am Kopf.

»Unbekannter?«, fragte Hirad.

Der Unbekannte warf einen kurzen Blick zum Barbaren. Ihm standen die Tränen in den Augen. Er schüttelte den Kopf und wandte sich wieder an Sirendor.

»Es tut mir leid, Sirendor. Ich war zu langsam. Es tut mir so leid.«

»Kannst du mir nicht verraten, worüber du da redest, Unbekannter?« Sirendor lächelte, dann musste er plötzlich würgen. »Bei den Göttern, ich …« Er wandte sich ab und übergab sich ins Feuer. »Mir ist kalt«, sagte er. Seine Stimme war kraftlos und leise. Die Augen, auf einmal blutunterlaufen, richteten sich ängstlich auf Hirad, der den Unbekannten zur Seite stieß und sich vor Sirendors Sessel kauerte. »Hilf mir.«

»Was ist los?« Hirads Herz schien in seiner Brust zerspringen zu wollen. »Was hat das zu bedeuten?« Eine Hand wurde auf seine Schulter gelegt.

»Er wurde vergiftet, Hirad. Es ist ein Nervengift«, sagte der Unbekannte.

»Dann holt einen Heiler!«, rief Hirad. »Holt sofort einen Heiler!« Die Hand auf seiner Schulter drückte ein wenig stärker.

»Es ist zu spät. Er stirbt.«

»Nein, er stirbt nicht«, knurrte Hirad.

Sirendor drehte das schweißüberströmte Gesicht zu seinem Freund herum und lächelte, obwohl Schauer durch seinen ganzen Körper liefen und Tränen über seine Wangen rollten.

»Lass mich nicht sterben, Hirad. Wir müssen alle überleben.«

»Ruhig, Sirendor. Atme ruhig. Es wird schon wieder.«

Sirendor nickte. »Mir ist so kalt. Ich will nur …« Seine Stimme brach, und er schloss die Augen.

Hirad legte beide Hände um Sirendors Gesicht, das heiß und verschmiert von seinem Schweiß war.

»Bleib bei mir, Larn. Du darfst mich nicht alleinlassen.«

Sirendor öffnete noch einmal für einen Moment die Augen und fasste Hirads Hände. Die Berührung war so kalt, dass der Barbar zusammenzuckte.

»Es tut mir leid, Hirad. Ich kann nicht. Es tut mir leid, Hirad.« Die Hände fielen herunter, er schloss ein letztes Mal die Augen und starb.