Im Dschungel von Mulberry Hall
Gleich teergetränkten Palisaden umschlossen die Wälder das Herrenhaus von Mulberry Hall. Doch während die Schwärze der Nacht noch zwischen den Bäumen hing, dämmerte über ihren Spitzen schon der neue Tag herauf. Ein fast wolkenloser Himmel deutete schon zu dieser frühen Morgenstunde darauf hin, dass der Bauernkalender einen weiteren heißen Sommertag im August des Jahres 1830 verzeichnen würde.
Tobias erwachte, und obwohl er versuchte, diesen wunderschönen Traum aus dem Schlaf ins Erwachen hinüberzuretten, entglitt er ihm, je mehr er sich an die verblassenden Bilder zu klammern versuchte. Er löste sich auf wie Nebelschleier im warmen Licht der Sonne. Als er die Augen aufschlug, war der Traum entschwunden. Nur eine vage Ahnung und ein Gefühl des Bedauerns blieben zurück.
Sadik schlief noch tief und fest, wie sein gleichmäßiges Schnarchen verriet. Sollte er sich auch noch einmal auf die Seite drehen und versuchen wieder einzuschlafen?
Tobias entschied sich dagegen, denn er fühlte sich ausgeschlafen und unternehmungslustig. Er schlug die Decke zurück, schwang sich aus dem Bett und raffte seine Kleider zusammen, die über einem Stuhl lagen. Auf Zehenspitzen schlich er ins angrenzende Waschkabinett, das so komfortabel eingerichtet war wie alle anderen Räumlichkeiten ihrer Gästezimmer. Über dem langen Waschtisch mit der goldbraun gemaserten Marmorplatte, in die ein Waschbecken eingelassen war, hing ein Wasserspeicher. Er brauchte nur den Hahn zu öffnen, und kühles Wasser floss ihm entgegen.
Er schlüpfte aus seinem knöchellangen Nachthemd, wusch sich und zog sich dann leise an, um Sadik nicht zu wecken. Dann kehrte er ins Schlafgemach zurück, um seine Schuhe zu holen.
Auf Zehenspitzen ging er zu Jana hinüber. Auch sie lag noch in tiefem Schlaf. Die Flut ihrer schwarzen Haare umfloss ihr Gesicht und bot einen schönen Kontrast zur fliederfarbenen Bettwäsche. Ihre rechte Hand ruhte offen auf der Decke, die ihr gerade bis zur Schulter reichte. Unsinn hatte es sich ihr gegenüber auf dem anderen Kopfkissen bequem gemacht. Er öffnete zwar die Augen und riskierte einen schläfrigen Blick, machte jedoch keine Anstalten sich von seinem weichen Lager zu erheben.
Tobias schaute einen Augenblick auf Jana hinab, überwältigt von dem Gefühl der Zärtlichkeit, das in ihm aufwallte. Er hätte es nie für möglich gehalten, dass ein Mensch ihm so sehr ans Herz wachsen, ihm so wichtig sein würde, wie es ihm mit Jana geschehen war. Gewiss, Onkel Heinrich liebte er wie seinen leiblichen Vater, und Sadik war für ihn wie ein teurer Bruder, unzertrennlicher Freund und noch viel mehr.
Doch Jana … Jana war noch mehr als all das, ohne dass dies seine Gefühle für Onkel Heinrich und Sadik gemindert hätte. Es waren einfach Gefühle ganz anderer Art. Ganz sicher weckten sie in ihm nicht das Verlangen, das er jetzt empfand, nämlich Jana zu berühren, sie zu streicheln und in seine Arme zu nehmen.
Schon streckte er die Hand nach ihr aus, beherrschte sich jedoch im letzten Moment und zog die Hand rasch zurück. Es war nicht richtig und nicht gut, etwas zu übereilen. Schon gar nicht dies, was zwischen ihm und Jana wuchs. Ihre Situation war so schon kompliziert genug. Da war es wenig ratsam, noch eine weitere Komplikation hinzuzufügen.
Die Dielen knarrten unter seinen Füßen, als er sich aus dem Zimmer schlich, doch weder Jana noch Sadik erwachten. Behutsam schloss er die Tür. Dann fuhr er in seine Schuhe und ging im Herrenhaus auf Entdeckungsreise.
Er versuchte sich an den Weg zu erinnern, den der Diener genommen hatte, als er sie letzte Nacht vom »kleinen Esszimmer« in das Obergeschoss zu ihren Unterkünften geführt hatte. Doch er hatte sich mit Sadik und Jana unterhalten und wenig Acht gegeben, wo der Diener abgebogen und welche der vielen Gänge er mit ihnen in welche Richtung gegangen war.
Es machte Tobias jedoch nichts aus, sich wie in einem Labyrinth auf die Suche nach dem Ausgang machen zu müssen. Er hatte viel Zeit, der Morgen war noch jung und es gab in den Räumen, in die er gelangte, überall viel zu sehen und zu bestaunen. Eine gute halbe Stunde hielt er sich in der Bibliothek auf, in die ihn der Zufall führte. Sechs hohe Fenster gingen zur Allee hinaus und ließen das erste Licht in den großen, hohen Raum, dessen deckenhohe Bücherwände aus dunklem Holz mit tausenden von ledergebundenen Bänden voll gestellt waren. Fast so viel Interesse schenkte er auch der Sammlung von alten Schilden, Ritterrüstungen und den dazugehörigen Waffen, die die Wände eines Saales bedeckten, in den er kurz darauf gelangte. Und einem Stammbaum entnahm er, dass Rupert Burlington seine Ahnen bis in das fünfzehnte Jahrhundert zurückverfolgen konnte.
Tobias lachte leise auf. »So gesehen ist die Allee der Maulbeerbäume tatsächlich erst jüngeren Datums«, murmelte er in Erinnerung an Borstenkopfs scheinbar blasierte, tiefstapelnde Bemerkung, sie sei doch erst 1702 angelegt worden.
Jetzt, wo es heller geworden war und er spürte und hörte, dass Mulberry Hall zum Leben erwachte, gab er sein eigentlich zielloses Herumstreunen auf. Er fand bald den Gang, der die Längsachse des Herrenhauses bildete, und traf dann am Fuß der Treppe, die in die weitläufige Eingangshalle hinunterführte, auf Parcival Talbot.
Der Butler schien wie aus dem Nichts aufzutauchen. »Schon die Beute taxiert?«, fragte er mit scheinbar höflichem Interesse.
»Wie bitte?«, fragte Tobias entgeistert zurück.
»Derbe Jutesäcke finden sich drüben im Schuppen bei den Stallungen. Damit lässt sich eine Menge wegschaffen, zumal wenn man zu dritt ist und ein wenig Anstrengung nicht scheut«, näselte Parcival.
Tobias hatte noch nie in seinem Leben einen so dreisten, ja, unverschämten Bediensteten erlebt wie diesen Butler. Ihm fehlten fast die Worte. Parcival hielt sie offenbar für Gesindel der Straße und ließ ihnen die Verachtung zuteil werden, die er in anderer Form auch für Lord Burlington empfand. »Werden Sie nicht beleidigend, Mister Talbot!«, fuhr er ihn erbost an.
»Parcival, wenn ich bitten darf, ganz einfach Parcival. Und ich bin nur bemüht, den individuellen Ansprüchen der Gäste gerecht zu werden, ganz wie es mir Seine Lordschaft aufgetragen hat«, antwortete er mit triefendem Hohn. »Wenn ich also behilflich sein kann …«
»Ja, das können Sie!«, fiel Tobias ihm scharf ins Wort.
Der Butler hob eine Augenbraue, während er die zerschlissene Kleidung seines Gegenübers musterte. »Lassen Sie mich raten. Steht Ihnen der Sinn vielleicht nach ein wenig körperlicher Morgenertüchtigung? In dem Fall wird Ihnen Jonas, der Stallknecht, gern eine Striegelbürste überlassen oder eine Pferdebox zum Ausmisten zuweisen, falls Ihnen diese Tätigkeit mehr liegt. Oder möchten Exzellenz, dass ich Ihnen die Adresse von Hegartys Schneider nenne? Der beliefert seine Kunden von der Stange. Sie werden von der Qualität seiner derben Wolle begeistert sein. So etwas haben Sie gewiss noch nie getragen.«
Tobias unterdrückte seinen Zorn. »Parcival, Parcival«, sagte er tadelnd und schüttelte dabei mitleidig den Kopf. »Wissen Sie, was mein Freund Sadik jetzt zu Ihren ungehörigen Bemerkungen sagen würde?«
»Ich nehme an, Sie sprechen von Scheich Talib, dem König der Sandflöhe?«
»Sie haben einen interessant ausgeprägten Sinn für nicht ganz alltäglichen Humor, Parcival«, erwiderte Tobias sarkastisch. »Doch was ich sagen wollte: Sadik hätte für Sie eine passende arabische Spruchweisheit parat, etwa diese: ›Ein Dummkopf bleibt ein Dummkopf, auch wenn er seinen Schnurrbart nach hinten dreht!‹ sowie ›Das Gekläffe der Hunde macht auf die Wolken keinen Eindruck‹. Ich denke, das trifft die Sachlage recht gut.«
Parcival hatte sich gut unter Kontrolle, vermochte eine gewisse Verblüffung jedoch nicht zu verbergen.
»Tja, Parcival«, sagte Tobias von oben herab. »Wer einen Esel treibt, bekommt auch dessen Winde zu riechen. Und nun sagen Sie mir, wo ich Lord Burlington finde!«
Der Butler zog ein Gesicht, als hätte er in eine sehr bittere Zitrone gebissen. »Zu dieser Stunde im Wintergarten.«
»Und wo befindet sich dieser Wintergarten?«
»Er zweigt vom Südtrakt ab. Wenn Sie dem Gang bis zum Ende folgen und von den Silberleuchtern im Salon zu Ihrer Rechten nicht in Versuchung geführt werden, werden Sie zwangsläufig auf ihn stoßen.«
»Verbindlichsten Dank für Ihre überaus freundlichen Auskünfte, Parcival«, bedankte sich Tobias spöttisch.
»Es war mir geradezu ein Bedürfnis, Exzellenz!«
»Das nehme ich Ihnen glatt ab.« Tobias strahlte ihn an. »Wenn der Schnee schmilzt, kommt der Mist zum Vorschein, heißt es, und da ist eine Menge Wahres dran. Ich denke, Ihre Jahreszeit ist zweifellos der Winter mit viel Schnee, nicht wahr, Parcival?« Diesmal behielt er das letzte Wort und ließ einen sprachlosen Butler stehen.
Beschwingt über den kleinen Sieg, den er im Wortgefecht mit Lord Burlingtons renitentem Butler errungen hatte, ging er den langen Gang hinunter. Der Tag hatte nicht schlecht begonnen. Jetzt war er auf den Wintergarten gespannt.
Tobias gelangte zum Ende des Ganges, wandte sich dort nach links, weil das die einzige Möglichkeit war, und kam nach ein paar Schritten zu einer Tür, die ein Messingschild mit der Inschrift Wintergarten trug.
Es überraschte ihn, dass er erhebliche Kraft aufwenden musste, um die Tür zu öffnen. Dann sah er, dass es sich um eine Doppeltür handelte. Ein Schwall warmer Luft schlug ihm entgegen. Er machte einen Schritt hinein in einen hellen, gläsernen Raum – und stieß einen Schrei aus. Denn er war überrascht und erschreckt zugleich. Die Tür entglitt seiner Hand und fiel hinter ihm zu.
Tobias konnte nicht glauben, was er sah.
Wintergarten hatte Parcival gesagt. Aber das war nie und nimmer ein Wintergarten. Vor seinen Augen erstreckte sich ein wahrer Dschungel!
Er brauchte einen Augenblick, um seine fassungslose Überraschung zu überwinden. Das, was er hier sah, nannte man eine Orangerie. Es war ein Gewächshaus, jedoch von unglaublicher Größe, in dem sich die pflanzliche Vielfalt tropischer Zonen in einem scheinbar wild urwüchsigen Zustand widerspiegelte.
Jenseits des kleinen verglasten Vorraumes von etwa fünf Schritten im Quadrat wuchsen exotische Blumen, Sträucher, Farne und Bäume einem Dach aus Glas entgegen, das sich in mehr als fünfzehn Metern Höhe sanft wölbte. Es wurde durch eine scheinbar filigrane Eisenkonstruktion in zahllose Glasfelder unterteilt. Ein Gewirr von Stützpfeilern sowie Quer- und Längsstreben zog sich unter dem Dach entlang. Da sie jedoch einen grünen Anstrich trugen, fielen sie nicht störend ins Auge, sondern schienen sich zwischen den Palmen und anderen hohen Gewächsen harmonisch einzufügen. Ein Teil der Eisenträger war zudem von Kletterpflanzen bedeckt, die wie grüngraue Schleier herabhingen.
Tobias öffnete nun die zweite Tür, die bis auf den Metallrahmen aus Glas bestand und in Rupert Burlingtons privaten Urwald führte. War es im Vorraum schon sehr warm gewesen, umhüllte ihn nun eine feuchte Hitze, wie sie in den Tropen herrschte.
Es gab keine breiten, geraden und kiesbestreuten Wege, die zu den bepflanzten Teilen der Orangerie hin akkurat abgegrenzt waren. Es schien eher so, als wäre dieser Dschungel zuerst hier gewesen und jemand hätte nachträglich mehr oder weniger schmale Pfade durch diese tropische Wildnis angelegt.
Tobias hatte die Wahl zwischen fünf Wegen. Je einer bog hinter der Tür nach rechts und links ab. Sie führten wohl zu den äußeren Glaswänden der Orangerie, ohne dass Tobias diese jedoch sehen konnte. Zwei weitere Wege gingen in einem spitzen Winkel von seiner Position ab und verloren sich nach ein paar Schritten im tropischen Dickicht. Ein fünfter Pfad, dem er mit seinem Blick auch nicht mehr als ein knappes dutzend Schritte zu folgen vermochte, führte geradewegs in die Mitte von Lord Burlingtons tropischem Regenwald. Zumindest nahm er das an.
Er entschied sich für diesen Weg der Mitte und ging los. Büsche mit intensiven roten, blauen und gelben Blüten, die er noch nie zuvor gesehen hatte, säumten den Pfad. Sie verströmten einen intensiven Duft. Doch schon nach zehn, zwanzig Metern tauchte er in ein Meer mannshoher Farne ein, die den sich windenden Pfad fast verschwinden ließen. Er kam an hohen, stacheligen Gewächsen vorbei. Dann stand er im Schatten hoher Bäume, von denen merkwürdige Früchte wie armdicke Leberwürste sowie ein Gewirr von Lianen herabhingen. Hier und da entdeckte er auf Ästen Orchideen. Andere schmale Wege kreuzten den seinen, und ihm wurde klar, dass dieser, dem er folgte, nicht unbedingt ins Zentrum der Orangerie führen musste.
Feine Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, und es war nicht allein die feuchte Hitze, die dem Boden zu entströmen schien, die ihm zusetzte. Er wurde sich nämlich bewusst, dass es in diesem Dschungel Leben gab, das nicht pflanzlicher Natur war! Denn er hörte nicht nur Vogelstimmen und Flügelschlag hoch oben im Gewirr der Verstrebungen, sondern in dem teilweise verfilzten Dickicht bewegte sich auch etwas!
Tobias ging langsam weiter, mit einem flauen Gefühl im Magen, das mit jedem Schritt stärker wurde. Was war, wenn Rupert Burlington in diesem Dschungel auch gefährliche Tiere hielt? Wozu sonst die schwere Doppeltür, die das Gewächshaus zum Herrenhaus hin sicherte? Er musste ja nicht gerade Raubkatzen halten, aber vielleicht doch Schlangen. Verrückt genug war er, daran bestand kein Zweifel. Und Parcival war auf seine Art verrückt genug, um ihn nicht davor zu warnen, falls in dieser künstlich angelegten Wildnis ganz reale Gefahren lauerten.
Das Zwielicht, das im unteren Teil des Gewächshauses noch immer herrschte, trug zusätzlich zu seiner wachsenden Verunsicherung bei. Wenn das Sonnenlicht, das sich im Glas des Daches fing und gerade die buschigen Kronen der höchsten Palmen aufleuchten ließ, doch schon bis in die unteren Regionen dringen würde, wäre alles halb so schlimm. Aber in diesem Dämmerlicht wurde ihm der Dschungel von Mulberry Hall mit jedem Schritt unheimlicher – und bedrohlicher.
Wieder hörte er etwas rascheln und sofort blieb er stehen. Sein Herz schlug schneller. Von oben kam die Stimme eines Vogels, die dem höhnischen Gelächter eines Menschen sehr ähnlich klang.
Tobias drehte sich langsam um, sah nichts als dichtes Grün und wünschte plötzlich, er wäre im Bett geblieben und hätte sich noch einmal auf die Seite gedreht. Was, zum Teufel, machte er allein in dieser verrückten Wildnis, von der er nicht wusste, was sie an Gefahren barg?
Mein Gott, es ist nur ein Gewächshaus, wenn auch ein riesiges!, versuchte er sich selbst zu beruhigen. Und vermutlich ist irgendeine blöde Maus oder ein Vogel für das Rascheln verantwortlich. Also reiß dich zusammen. Das hier ist Mulberry Hall in England und nicht Amazonien in Südamerika!
Aber viel half es nicht. Der beschleunigte Herzschlag, die leichte Gänsehaut und das üble Gefühl in der Magengegend blieben. Doch er zwang sich seinen Weg fortzusetzen.
»Lord Burlington?«, rief Tobias. »Lord Burlington? … Sind Sie da irgendwo?«
Keine Antwort.
Sollte er nicht besser wieder umkehren? Wo befand er sich jetzt überhaupt? War er bei der vorletzten Weggabelung dem rechten oder dem linken Weg gefolgt?
Tobias kam durch einen kleinen Wald aus Bambus, der weit über seinen Kopf reichte. Ein Vogel mit bunt schillerndem Gefieder, der ihm wie eine Art Kakadu vorkam, flatterte über ihn hinweg und ließ ihn zusammenzucken.
Er beschloss, diesen unheimlichen Erkundungsgang durch Burlingtons Privatdschungel abzubrechen und ins Herrenhaus zurückzukehren. Und was den Rückweg betraf, so würde er sich an der Dachkonstruktion orientieren. Er musste sich nur unter dem höchsten Punkt des Daches halten und dann die Längsstreben als Richtungsweiser nehmen.
Jetzt, als er Dach und Eisenkonstruktion häufiger und eingehender ins Auge fasste, bemerkte er auch weitere technische Details, die sein Interesse weckten und ihn von seinem Gefühl der Beklemmung ablenkten. Er entdeckte Ventilatoren mit großen Rotoren unter der Decke, verbunden mit Wellen- und Riementransmissionen, sowie Seilzüge, die zu beweglichen Glaselementen im Dach und zu langen Rollen mit aufgewickeltem weißem Segeltuch führten. Tobias konnte sich denken, wozu sie dienten: Mit Hilfe der Lüftungsklappen und der ausziehbaren Planen, die in Schienen unter dem Dach entlanggeführt und so zu Schatten spendenden Sonnenblenden wurden, regulierte Burlington die Temperatur, sollte sich das Gewächshaus unter der Sommersonne zu sehr aufheizen. Doch wie sorgte er in den langen, eisigen Wintermonaten bloß für die tropische Hitze, die diese Gewächse ganzjährig benötigten, um zu gedeihen? Ein paar Kohleöfen aufzustellen würde dazu kaum ausreichen …
Tobias schob Farne zur Seite, die ihm den Blick und den Weg versperrten – und stieß in der nächsten Sekunde vor Erschrecken und Entsetzen einen gellenden Schrei aus.
Wie jäh aus dem Boden gewachsen stand vor ihm ein schwarzer Riese. Er war bis auf eine kurze Hose nackt. Seine Haut glänzte wie eingeöltes Ebenholz. Vor seiner muskulösen Brust hing ein Amulett. Sie zeigte die hässliche Fratze eines heidnisches Gottes. Und in der Hand hielt der Mann eine Machete, lang wie ein Ruder, wie ihm schien. Die breite Klinge wies braune Flecken auf – wie getrocknetes Blut!
Zeppenfeld! … Es ist ihm gelungen, einen seiner gedungenen Männer nach Mulberry Hall einzuschmuggeln!, schoss es ihm mit panischem Erschrecken durch den Kopf, als der schwarze Riese ein tiefes Lachen von sich gab, das wie das Rumpeln von Felsbrocken in einem Steinbruch klang, und dann mit seiner mächtigen Pranke nach ihm griff.
Tobias schlug die Hand zur Seite und ergriff die Flucht. Wenn er doch nur seinen Degen umgeschnallt hätte! Dann hätte er eine Chance gegen diesen schwarzen Koloss mit seiner Machete!
Der Schwarze rief ihm etwas in einer Sprache zu, die er nicht verstand. Doch er hörte nicht, sondern rannte, so schnell er konnte. Farne peitschten durch sein Gesicht. Vor ihm tauchte eine Weggabelung auf. Er lief nach links und verließ dann den Weg. Die einzige Möglichkeit, seinem Verfolger zu entkommen, bestand darin, sich irgendwo im dichten Gestrüpp zu verstecken und dann langsam wegzuschleichen, wenn der schwarze Riese seine Spur verloren hatte.
Er sprang zwischen zwei herrlich duftende Büsche und lief in geduckter Haltung weiter. Doch er vermochte den Schwarzen nicht abzuschütteln. Er war schnell, holte auf- und bekam ihn zu fassen.
Noch einmal riss Tobias sich los. Dabei stolperte er, verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Etwas traf ihn an die Stirn. Der Schmerz schien ihn zu blenden und gleichzeitig jeglicher Kraft zu berauben.
»Nein!«, schrie es in ihm verzweifelt. Er durfte Zeppenfeld nicht in die Hände fallen. Dann war alles verloren. Er musste wieder auf die Beine kommen! Er musste! Jana, der Gebetsteppich, das Verschollene Tal …
Tobias kämpfte gegen die aufsteigende Dunkelheit an. Doch vergeblich. Es war nur ein Kampf von ein, zwei Sekunden. Dann sackte er bewusstlos auf der feuchten, moosigen Erde in sich zusammen.