Fünf Schwerter und eine Lerche

 

Der Kapitän der Colette gab Sadik noch nicht einmal Gelegenheit, ihm zu sagen, was er für die Passage zu bezahlen gedachte. »Kein Interesse, Monsieur. Ich halte mich an Fische. Die kann ich wieder über Bord schmeißen, wenn sie nicht in meinen Fang passen«, fiel er ihm schon nach den ersten vorsichtigen Sätzen barsch ins Wort. Und der unfreundliche, argwöhnische Blick, mit dem er Sadik und Tobias schon im ersten Moment an Bord seines Schiffes empfangen hatte, folgte ihnen nun auch, als sie es wieder über die wippende Laufplanke verließen.

»Uns über Bord zu schmeißen hätte ihm zweifellos Freude bereitet! Ein schöner Reinfall«, brummte Tobias missmutig und verschwitzt. »Das ist jetzt schon die siebte Absage in vier Tagen. Und ich sage dir, diese misstrauischen Fischer wissen spätestens seit gestern Bescheid. Dieser polternde, grobe Klotz von der Marie-Claire, der uns als Antwort einen Eimer Fischinnereien vor die Füße gekippt hat, hatte gestern doch bestimmt nichts Eiligeres zu tun, als sich mit seiner Heldentat vor seinen Kollegen zu brüsten. Die haben sich längst abgesprochen, dass keiner von ihnen uns mitnimmt.«

Sadik nickte. »Er hat gewusst, was wir wollten, bevor wir noch einen Fuß an Deck seines Fischerbootes gesetzt hatten«, stimmte er ihm zu.

»Diesen Hafen können wir vergessen. Hier finden wir nicht einmal jemanden, der uns in seinem Ruderboot auch nur zum Leuchtturm und zurück bringt«, sagte Tobias mit bitterer Enttäuschung und suchte den Schatten der Lagerschuppen.

Die Hitze lastete seit ihrer Ankunft ungebrochen über der Küste und die verwesenden Fischreste auf den Kais verpesteten die schwüle Luft auch noch mit einen Ekel erregenden Gestank. Er drang auch aus den Ritzen der Schuppen und den langen Netzen, die zum Trocknen und Ausbessern an Land ausgelegt waren. Tobias war in seiner Wut versucht, einem Weidenkorb, der ihm im Weg war, einen heftigen Fußtritt zu versetzen, auf dass er quer über den Kai und zwischen die Boote der Fischer ins Hafenbecken segelte. Er konnte das Verlangen gerade noch unterdrücken. Aber in ihm brodelte es. Tinville hing ihm endgültig zum Hals heraus, trotz Tambours großzügiger Gastfreundschaft. Er hatte das bedrückende Gefühl in einer Sackgasse festzustecken. Vier kostbare Tage hatten sie hier schon vertrödelt.

»Wir hätten erst gar nicht nach Tinville kommen, sondern unser Glück gleich in Le Havre versuchen sollen!«, grollte Tobias. »Wer weiß, wo Zeppenfeld jetzt schon ist!«

»Wer einen Tag älter ist, ist auch ein Jahr klüger«, erwiderte Sadik leicht gekränkt auf den kaum verhohlenen Vorwurf. »Würde Tambours Schwager noch leben, wären wir schon längst auf Mulberry Hall und du würdest voller Lob über Tinville und seine freundlichen Fischer sein.«

Tobias erkannte die Ungerechtigkeit seines Vorwurfes, doch in seinem Groll bedurfte es schon einiger Überwindung, um sie auch vor dem Beduinen einzugestehen. »Na ja, vermutlich hast du Recht«, murmelte er widerstrebend. Dann gab er sich innerlich einen Ruck. Was nutzte es, dem Schicksal zu zürnen, geschweige denn Sadik Vorhaltungen für etwas zu machen, was er beim besten Willen nicht einmal hatte vermuten können. Plötzlich tat es ihm aufrichtig Leid, dass er sich von seiner Enttäuschung und der Hitze dazu hatte hinreißen lassen, seinem Freund die Schuld an dieser misslichen Situation zu geben. Es war nicht nur ungerecht gewesen, sondern auch ihrer Freundschaft nicht würdig.

»Es tut mir Leid, Sadik. Bitte entschuldige, dass ich dir in meiner stinkigen Laune einen Vorwurf gemacht habe«, bat er zerknirscht und blieb dabei stehen. »Natürlich hast du nicht ahnen können, dass Tambours Schwager auf See umgekommen ist. Und du hast Recht: Wenn alles geklappt hätte, säße ich jetzt auf Mulberry Hall und würde Rupert Burlington in den höchsten Tönen vorschwärmen, wie umsichtig du unsere Passage hier im reizenden Tinville eingefädelt hast.«

Einen Augenblick sah Sadik ihn ernst und mit unbewegtem Gesicht an, dass Tobias schon bestürzt glaubte, ihn ernstlich verstimmt zu haben. Doch dann trat ein warmherziges Lächeln auf das Gesicht seines beduinischen Freundes.

»Unbeherrscht sein, Fehler machen und unrecht urteilen – das kann jeder und ist menschlich. Doch einen Fehler bei sich selbst zu erkennen und sich dafür zu entschuldigen – das kann nicht jeder, denn dafür braucht man Mut und Charakter. Wie schön, dass du mich nicht enttäuschst.«

Tobias machte eine verlegene Miene. »Und was tun wir jetzt?«, fragte er, daran interessiert, das Thema zu wechseln.

»Wenn die Tiere nichts mehr zu grasen finden, ziehen sie weiter«,

antwortete Sadik. »Und da Tinville für uns so graslos ist wie die Sanddünen bei Abu Simbel, bleibt uns nichts anderes übrig, als unsere Zelte abzubrechen und unser Glück schnellstens in einem anderen Hafen zu versuchen.«

»Le Havre?«, fragte Tobias nur, während sie weitergingen und ihre Schritte in Richtung Coq D’ore lenkten, wo Gaspard und Jana bestimmt schon ungeduldig auf sie warteten. Sadik hatte es für ratsamer gehalten, Jana nicht mitzunehmen. Zuerst hatte sie sich dagegen gewehrt, dann aber eingesehen, dass die zumeist sehr abergläubischen Fischer sich wohl noch abwehrender verhalten würden, wenn sie sofort wussten, dass sie auch eine junge Frau an Bord ihres Bootes nehmen sollten. Er hatte deshalb auch immer nur von drei Personen gesprochen, die es über den Kanal zu bringen galt.

»Aiwa, Le Havre«, bestätigte Sadik. Ein Blick auf den Sonnenstand verriet ihm die Tageszeit fast so genau, als hätte er eine Taschenuhr hervorgezogen. »Wir haben noch gute vier Stunden Tageslicht. Wenn wir sofort aufbrechen und die Nacht durchfahren, können wir morgen schon dort sein.«

»Dann sollten wir uns beeilen, dass wir von hier wegkommen«, meinte Tobias, der sich schon gleich viel besser fühlte, da nun endlich eine Entscheidung gefallen war. »Ich kann es gar nicht erwarten, Tinville den Rücken zu kehren!«

Wenig später betraten sie den Gasthof, der sie mit vergleichsweise kühlen Räumen begrüßte. Jana saß ganz hinten am Ecktisch, der zu ihrem Stammplatz geworden war. Tobias war erstaunt, als er sah, dass ihr ein junger Mann um die zwanzig Gesellschaft leistete. Er war von schmaler, sehniger Gestalt, besaß ein ansprechendes Gesicht und trug die derbe, aber saubere Kleidung eines Seemanns. Als er die beiden Männer eintreten sah, erhob er sich, sagte etwas zu Jana, was diese mit einem Lächeln und einem Kopfnicken beantwortete, und verließ den Schankraum mit dem wiegenden Gang eines Mannes, dessen Welt das schwankende Deck eines Schiffes ist. Er nickte ihnen kurz zu, als er an ihnen vorbeikam.

»Wer war das?«, fragte Tobias, noch bevor er Platz genommen hatte.

»Du meinst den Seemann?«, fragte Jana beiläufig zurück.

»Ja, wen denn sonst?«, brummte Tobias ein wenig ungeduldig.

Sie lächelte. »Ach, das war Moustique.«

»Moustique?«, echote Tobias. »Ein Kerl, der ›Mücke‹ heißt?«

Jana nickte. »Ja, das ist wohl sein Spitzname. Wie er richtig heißt,

konnte mir auch Tambour nicht sagen, aber das ist ja auch nicht weiter wichtig. Auf jeden Fall habe ich mich gefreut, dass er mich mal wieder besucht hat.«

Tobias runzelte die Stirn. Jana war in den vier Tagen oft allein gewesen. Hatte der Kerl vielleicht ständig bei ihr gehockt, während sie sich im Hafen herumgetrieben hatten?

»Was soll das heißen, er hat dich mal wieder besucht? Wer ist dieser Bursche überhaupt?«, wollte er wissen, plötzlich ärgerlich vor Eifersucht. »Und was wollte er von dir?«

Sadik räusperte sich vernehmlich, als wollte er ihn warnen, dass er im Begriffe stand, sich ihr gegenüber genauso ungehörig zu verhalten, wie er es gerade auch ihm gegenüber getan hatte.

Doch Jana fand seine Eifersucht nur belustigend. »Ach, der Arme dachte schon an Heirat und Kinder«, antwortete sie mit einem fast mitleidigen Tonfall.

Tobias starrte sie einen Augenblick sprachlos an, und er musste erst einmal schwer schlucken, bevor er die Frage herausbrachte: »Dieser Kerl hat es gewagt, dich zu belästigen und dir einen Heiratsantrag zu machen?« Seine Stimme schwang sich in die Höhen zorniger Empörung. »Für wen hält sich dieser Heringsheini? So eine Unverschämtheit! Wieso hast du denn Tambour oder Gaspard nicht gerufen, damit er dir diese … lästige Mücke vom Hals schafft?!«

Jana lächelte. »Aber das wollte ich doch gar nicht, Tobias. Ich war doch ganz froh, dass ich etwas für ihn tun konnte«, sagte sie und in ihren Augen stand ein Ausdruck höchster Belustigung.

Tobias bemerkte es in seiner Gefühlsaufwallung nicht. »Und ich … ich habe gedacht …« Er brach ab.

Ihre Augenbrauen hoben sich, und ihre Stimme hatte einen leicht spöttischen Klang, als sie fragte: »Ja, was hast du denn gedacht?«

Sein Gesicht verschloss sich, während Sadik neben ihm einen schweren Seufzer von sich gab. »Ich habe gedacht, du und ich … also wir … wir würden ein besseres Verhältnis haben, als dass du so etwas nötig hättest!«, stieß er dann bitter hervor.

Jana sah ihn scheinbar völlig überrascht an. »Aber du hast mir nie gesagt, dass du es nicht magst, wenn ich anderen Leuten die Karten lege!«

Tobias war irritiert. »Was hat dieser Heiratsantrag jetzt mit deinem Kartenlegen zu tun?«

»Eine ganze Menge! Immerhin wollte Moustique doch wissen, ob er diese Claudette nun heiraten sollte oder nicht.«

»Er hat gar nicht dir einen Heiratsantrag gemacht, sondern dieser …?«

»So ist es. Wie kommst du denn bloß darauf, er könnte mir einen Antrag gemacht haben?« In ihren Augen blitzte es dabei vergnügt.

Tobias kam sich plötzlich wie der größte Trottel vor und wäre am liebsten im Boden versunken. Erst jetzt bemerkte er die handgemalten Tarot-Karten, die vor ihr auf dem Tisch lagen. Der Seemann hatte sich von ihr nur die Karten legen lassen! Und er hatte sich wie ein Narr aufgeführt. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Flammende Röte überzog sein Gesicht, und er fragte sich, was an diesem Tag bloß in ihn gefahren war, dass er gleich zweimal hintereinander und in kürzester Zeit so in die Fettnäpfe trat. Wie peinlich ihm das war.

»Der übereifrige Schüler hat seine Augen schon auf die Sterne gerichtet, während er mit den Füßen noch fest im Schlamm steckt«, bemerkte Sadik nicht ohne Süffisanz, milderte diesen Rüffel jedoch, indem er keine neuerliche Pause verlegenen Schweigens aufkommen ließ, sondern sogleich fortfuhr und Jana fragte, auf welchem Schiff dieser Moustique denn fuhr.

»Auf einer Brigantine, die im Küstenhandel Häfen zwischen Calais und Bordeaux anläuft«, erklärte Jana und berührte Tobias unter dem Tisch sanft mit ihrer Schuhspitze, um ihm zu verstehen zu geben, dass sie ihm nicht böse war. »Der Name des Schiffes ist Alouette.«

»Das bedeutet ›Lerche‹«, warf Sadik ein und witterte eine letzte Möglichkeit, vielleicht doch noch von Tinville aus über den Kanal zu kommen. »Ein Schiff, das so schnell segelt, wie eine Lerche fliegen kann, wäre genau das, was wir jetzt dringend gebrauchen könnten.«

Auch Tobias hörte mit wachsendem Interesse zu.

»Die Alouette lief am selben Tag hier im Hafen ein, an dem auch wir nach Tinville kamen«, berichtete Jana. »Als sie am nächsten Morgen schon wieder die Anker lichtete, um ihre Fahrt nach Cherbourg fortzusetzen, erhielt Moustique bis zur Rückkehr der Brigantine Landurlaub, weil er wegen dieser Claudette zu einer Entscheidung gelangen musste. Er kam schließlich zu mir und wollte von den Karten wissen, ob er sie nun heiraten sollte oder nicht. Er war sich sehr unschlüssig.«

»Woher hat er denn von dir und deinen Tarot-Karten gewusst?«, stellte Sadik die Frage, die auch Tobias auf der Zunge lag.

»Von Louis, dem Stalljungen. Aber fragt mich nicht, woher die beiden sich kennen, denn Moustique kommt nicht von hier, sondern aus Cherbourg. Das ist auch der Heimathafen der Alouette«, erklärte Jana. »Auf jeden Fall wollte er von den Karten wissen, ob Claudette auch die Wahrheit sagte.«

»Die Wahrheit? Worüber?«, entfuhr es Tobias verwundert.

Jana lachte trocken auf. »Na, ob das Kind auch wirklich von ihm ist!«

Tobias machte ein schockiertes Gesicht. »Er … er hat ihr ein Kind gemacht?«

»Das war ja gerade die Frage, die ihn beschäftigte. Er hat vor ein paar Monaten, als die Alouette mit einem Ruderschaden einmal länger im Hafen von Tinville lag, mit ihr angebändelt und wohl auch seinen Spaß mit ihr gehabt«, berichtete Jana ohne jede Scheu. Das Leben auf der Landstraße hatte sie früh gelehrt, der Wirklichkeit ohne falsches Schamgefühl ins Auge zu sehen und die Dinge bei ihrem richtigen Namen zu nennen. »Nur hat Moustique wohl den Eindruck gehabt, dass er nicht der Einzige gewesen ist, mit dem sie sich verlustiert hat.«

Tobias räusperte sich. »Also eine Käufliche!«, sagte er in einem Tonfall, als verstünde er was davon. Dabei hatte er von diesen Dingen des Lebens so viel Ahnung wie ein Küken vom Eierlegen.

»Nein, sie ist die Tochter eines rechtschaffenen Mannes und geht einer einfachen, aber ehrbaren Arbeit nach«, widersprach sie ihm. »So ein Verhalten beschränkt sich eben nicht allein auf die käuflichen Frauen.«

Sadik schmunzelte verhalten. »Was haben denn die Karten zu diesem Thema an den Tag gebracht?«

Jana sah ihm fest ins Auge. »Wer von den Karten erwartet, dass sie ihm auf alle Fragen eine klare Antwort geben und ihm einen Blick in die Zukunft ermöglichen, der erwartet zu viel. Wenn ich die Tarot-Karten schlage, dann erhalte ich im besten Fall eine Ahnung von der möglichen Zukunft.«

»Eine mögliche Zukunft deshalb, weil man etwas dagegen tun kann, dass die Vorhersage eintrifft. Denn wenn man einen Hinweis bekommen hat, in welche Richtung das eigene Leben zu treiben droht, kann man sich ja darauf einstellen und notfalls gegensteuern«, warf Tobias erklärend ein.

Sadik enthielt sich dazu jeden Kommentars. Ob jemand das zweite Gesicht haben konnte oder nicht, war eine Frage, die er nicht zu beurteilen vermochte. Er wusste jedoch, dass Jana den Leuten, die sich von ihr die Karten legen ließen, nicht irgendwelche haarsträubenden Dinge vorschwindelte, sondern dass sie dann in einer Art Trance die fremdartigen Bilder des Tarots deutete.

»Da es Moustique nur um die einfache Frage ging, ob er sich an diese Frau binden soll oder nicht, habe ich nur ein Legebild mit sieben Karten gemacht«, fuhr Jana fort. »Die erste Karte, die ich aufschlug, war das umgekehrte Bild Vier der Kelche. Es deutete sofort auf Schwierigkeiten hin, auf eine Bedrohung des Gleichgewichtes. Ich war auf einiges gefasst, nicht jedoch darauf, dass mit der nächsten Karte Fünf der Kelche vor mir liegen würde. Diese Karte allein ist ein Hinweis auf eine große Enttäuschung. Da jedoch das Wasser auf der Karte aus den oberen vier Kelchen nach unten in den fünften fließt, hält die Karte auch Hoffnung für ein zukünftiges Glückserlebnis bereit. Um es kurz zu machen: Mit der letzten Karte deckte ich Fünf der Schwerter auf …«

»Hast du mir auf Falkenhof nicht mal gesagt, dass diese zu den am schwierigsten zu deutenden Karten im Tarot gehört?«, erinnerte sich Tobias.

Jana nickte mit ernstem Gesicht. »Richtig, weil diese Karte mit den zerbrochenen Schwertern das klassische Symbol der Niederlage ist. Es bedeutet das Scheitern von Hoffnungen, den Zusammenbruch, eine Niederlage ohne Sieger. Doch im Fall von Moustique stand die Karte auf dem Kopf- und das gibt der Karte eine andere Bedeutung, nämlich der Niederlage etwas Beschämendes, gleichzeitig aber wird dadurch angedeutet, dass das Schlimmste schon überstanden und die Wende zum Guten bereits eingetreten ist.«

»Lernen und Kraft schöpfen aus der Niederlage«, sinnierte Sadik mit leichtem Nicken.

»Ja, das ist damit gemeint«, bestätigte Jana. »Aber ihr wisst ja, dass die Bedeutung einer Karte davon abhängt, welche Karte vor ihr kam und welche ihr folgt. Es war schwer, Moustique einen konkreten Rat zu geben. Die Karten schienen mir so widersprüchlich. Nach langem Abwägen riet ich ihm, für das Kind zu sorgen, wenn es sich als seines herausstellen sollte, eine Heirat aus diesem Grund jedoch nicht ins Auge zu fassen, denn es war offensichtlich, dass er wohl seinen Spaß mit ihr gehabt hatte, sie aber nicht liebte. Auf jeden Fall sollte er sich mit seiner endgültigen Entscheidung Zeit lassen und es sich gründlich überlegen. Das war vor drei Tagen, als er kurz davor stand, zu ihrem Vater zu gehen und das Aufgebot zu bestellen.«

»Und was geschah dann?«, fragte Tobias gespannt.

Jana legte beide Hände über ihre abgegriffenen Tarot-Karten und lächelte. »Nun, ich hörte und sah die nächsten Tage nicht die Spur von ihm und hatte ihn fast schon vergessen – bis er vor einer Stunde unendlich erleichtert ins Coq D’ore kam.«

»Das Kind war gar nicht von ihm, sondern von einem anderen Liebhaber!«, folgerte Tobias. »Diese Person hat es zugegeben!«

Sadik verzog spöttisch das Gesicht. »Wenn sie dazu in der Lage wäre, dann wäre sie hundertmal besser als Jana mit ihren Tarot-Karten!«

Jana pflichtete ihm durch ihr Lachen bei. »Nein, zugegeben hat sie es nicht, aber Moustique hat erfahren, dass der Sohn eines Fischers bekannt gegeben hat, dass er Claudette nächste Woche heiraten wird. Wie ihm zu Ohren gekommen ist, hatte sie mit diesem Mann gleichfalls angebändelt und wohl auch ihn unter Druck gesetzt. Und während Moustique sie hingehalten hat und nicht zu ihr stehen wollte, hat der andere wohl nicht so viel Widerstand aufgebracht und ihr vor Zeugen die Ehe versprochen.«

»Sehr beschämend, in der Tat, einmal ganz abgesehen davon, dass er nie wissen wird, ob das Kind nicht vielleicht doch von ihm ist«, meinte Sadik. »Aber er hat seinen Hals aus der Schlinge gezogen und die Welt ist von einer unglücklichen Mussehe mehr verschont geblieben.«

Tobias grinste voller Anerkennung für Janas Tarot-Künste. »Stand ja alles in den Karten.«

Jana zuckte mit den Achseln. »Es ist auch viel Gefühl, viel Eingebung mit im Spiel.«

»Na, wenigstens hast dann du eine gute Erinnerung an Tinville«, sagte Sadik trocken. »Wie du unseren Gesichtern vorhin bestimmt schon angesehen hast, haben wir wieder mal kein Glück gehabt.«

Die Fröhlichkeit verschwand aus dem Gesicht von Tobias, als Sadik ihn nun wieder an ihre deprimierende Erfolglosigkeit erinnerte. »Und deshalb haben wir beschlossen, sofort zu packen und nach Le Havre aufzubrechen, um dort unser Glück zu versuchen.«

»Ich glaube nicht, dass das nötig sein wird«, erwiderte Jana ruhig. »Moustique hat mir nämlich versprochen, ein gutes Wort bei seinem Kapitän Jean-Baptiste Leon einzulegen.«

»Ist das dein Ernst?«, rief Tobias aufgeregt.

»Ja«, versicherte Jana. »Moustique meint, dass uns sein Kapitän ganz gewiss über den Kanal bringt, wenn wir nur einen guten Preis zu zahlen bereit sind.«

»Mein Gott, wenn es sein muss, wiegen wir ihn in Gold auf!«, übertrieb Tobias überschwänglich.

Sadik war von der Nachricht nicht weniger angetan, blieb jedoch erst einmal skeptisch. An die Passage glaubte er erst, wenn er an Deck des Schiffes stand und die französische Küste außer Sicht war.

»Wie glaubwürdig ist dieser Moustique?«, wollte er von Jana wissen. »Hat er einen Preis genannt? Wann wird die Alouette in Tinville einlaufen? Und wann und wo werden wir mit seinem Kapitän Leon zusammenkommen, um die Einzelheiten zu besprechen?«

»Einen Preis hat er nicht genannt, aber was die Alouette betrifft, so liegt diese schon im Hafen vor Anker. Sie ist am späten Mittag eingelaufen und wird mit der Flut heute Nacht wieder in See stechen«, teilte Jana ihnen mit. »Moustique hat mir versprochen, gegen halb zehn mit seinem Kapitän zu uns zu kommen, und ich habe nicht das Gefühl, dass er etwas versprochen hat, was er nicht halten kann. Das Treffen soll aber nicht in der Öffentlichkeit des Schankraumes stattfinden, sondern auf dem dunklen Hinterhof.«

Tobias zuckte grinsend mit den Achseln. »Hauptsache, er kommt und bringt uns endlich nach England.«

»Und wenn der Kapitän andere Pläne hat und nicht daran denkt, eine nächtliche Fahrt über den Kanal zu machen?«, gab Sadik zu bedenken.

Tobias nagte an seiner Unterlippe. »Tja, das Risiko werden wir wohl eingehen müssen. Was machen die paar Stunden mehr nach vier Tagen jetzt schon noch aus? Ich bin dafür, dass wir bis halb zehn warten.«

Jana nickte. »Die Alouette könnte unser Schiff sein. Ich habe ein gutes Gefühl, Sadik.«

Dieser lächelte. »Gut, dann wollen wir es so machen und darauf hoffen, dass die Lerche uns unter ihre Fittiche nimmt und hinüber an Englands Küste trägt«, sagte er, und das von Hoffnung wie Zweifeln erfüllte Warten auf den Abend und die hereinbrechende Dunkelheit begann.