Tambour – die Trommel
Der Bauer hatte nicht übertrieben. Die Landstraße befand sich in einem erbarmungswürdigen Zustand und stellte nicht nur die Kutsche auf eine arge Belastungsprobe, sondern auch ihre Insassen und die Pferde. Jana, Gaspard und Tobias wurden im Wagen hin und her geworfen wie drei Kieselsteine in der Blechdose eines Bettlers, der mit dem Scheppern auf sich aufmerksam machen will. Jana holte sich an diesem Tag mehr blaue Flecken, als sie sich im ganzen ersten halben Jahr ihrer Ausbildung zur Akrobatin unter Onkel Rene zugezogen hatte. Die klobigen Räder unzähliger Fuhrwerke, die ihre schweren Frachten aus dem Landesinneren zu den Hafenstädtchen brachten und mit Importwaren zurückkehrten, hatten tiefe Spurrillen in den Boden gegraben. Und die heftigen Regengüsse des Frühjahrs hatten durch Auswaschungen die Rillen vertieft und ihnen noch Querfurchen hinzugefügt. Zu diesem endlosen Gerüttel und Geschüttel kam dann noch die schwüle Hitze des Hochsommers. Trotz heruntergeschobener Fenster war es kaum auszuhalten im Wageninnern, und der Platz auf dem Kutschbock war an diesem Tag sehr begehrt. Da dort jedoch nur zwei Personen bequem sitzen konnten, wechselten sie sich jede Stunde ab.
»Ist mir unbegreiflich, wie man die Wüste lieben kann!«, stöhnte Gaspard, als sie gegen Mittag eine Rast einlegten und in den Schatten alter Eichen flüchteten. Ihm rann der Schweiß in kleinen Bächen über Gesicht sowie Brust und Rücken, sodass seine Kleidung große, dunkle Schwitzflecken aufwies. »Da brennt einem ja die Sonne das Mark aus den Knochen und das Hirn aus dem Schädel!«
»In der Wüste herrscht eine andere, trockene Hitze, die viel verträglicher ist als diese Schwüle«, erwiderte Tobias, der nicht weniger unter den hohen Temperaturen litt. »Und da kann es nachts sogar empfindlich kalt werden.«
Gaspard glaubte ihm nicht, wie sein Blick verriet. »Die Wüste ist was für Kamele und Sandflöhe. Mon dieu, was würde ich darum geben, wenn ich mich jetzt in den kühlen Weinkeller von Monsieur Rochelle schleichen und mich da auf ein paar alte Jutesäcke hinter die Fässer legen könnte!«
»So? Was denn?«, fragte Jana, der das schwüle Wetter erstaunlicherweise nicht ganz so viel zusetzte wie Gaspard und Tobias. Doch auch ihr Gesicht glänzte schwitzig.
Gaspard grinste. »Ich würde unter Umständen noch nicht einmal eine Flasche mitgehen lassen.«
»Unter Umständen, ja?«
»Na ja, vielleicht auch nicht. Und warum auch? Der fette Rochelle würde es vermutlich noch nicht einmal merken, wenn ich zwei Dutzend Flaschen auf einmal aus den Regalen klauen würde! Aber so etwas tue ich nicht. Ich hole mir da nur, was ich brauche«, erklärte er, und das ohne jedes Unrechtsbewusstsein. »Ihr müsstet sein Weinlager mal sehen. Da liegt ein Fass neben dem anderen wie Brote in einer Bäckerei! Und die Flaschenregale reichen bis unter die Decke und füllen zwei große Gewölbe. Halb Paris könnte sich an seinem Wein einen ordentlichen Rausch antrinken.«
»Wenn du das nächste Mal im Keller von Monsieur Rochelle zu Gast bist, trinkst du hoffentlich einen Schluck auf unser Wohl«, scherzte Tobias.
»Worauf du dich verlassen kannst! Ich werde seinen ältesten Burgunder beehren – oder seinen besten Port«, ging Gaspard mit fröhlich blitzenden Augen auf diesen Scherz ein. »Ach was, ich werde eine Flasche Champagner köpfen! Für gute Freunde ist das Beste gerade gut genug, nicht wahr?«
Sie lachten schallend, und obwohl sie wussten, dass sie sich bald trennen und vielleicht nie Wiedersehen würden, spürten sie, dass ihre Freundschaft sie in ihrem Herzen und ihrer Erinnerung unverbrüchlich verbinden würde.
Sadiks Sorge galt zu dieser Stunde mehr den Pferden als seinen Freunden. Und nachdem er sie hatte saufen und ein wenig zu Atem kommen lassen, ging es weiter.
Es stellte sich als weise Voraussicht heraus, dass Sadik an diesem Tag schon in aller Herrgottsfrühe zum Aufbruch gedrängt hatte, weil er die kühlen Morgenstunden hatte nutzen wollen, um schon eine gute Wegstrecke hinter sich zu bringen, bevor ihnen die Hitze zu sehr zusetzte. Wären sie später aufgebrochen, hätten sie die Hafenstadt bei Tage nicht mehr erreicht.
Die Sonne stand schon tief über der See, als sie eine bewaldete Hügelkette überquerten und Tinville auf einmal vor ihnen lag. Schon von weitem sah man, dass der Küstenort in zwei unterschiedliche Stadtviertel aufgeteilt war. Das eine gruppierte sich mit schmalen Gassen, dicht stehenden Wohnhäusern und Lagerhallen in einem unregelmäßigen U um den Hafen, während sich der andere Teil der Stadt über den dahinter ansteigenden Hang erstreckte, der nach Norden und Süden hin in ein Steilufer überging. Tinville lag sozusagen in einer weitläufigen Mulde, mit der die Laune der Natur das hoch aufragende Ufer an diesem Küstenabschnitt unterbrochen hatte.
Einen halben Kilometer vor der Stadt brachte Sadik die Kutsche bei einer Mühle zum Stehen, deren Flügel sich reglos und wie von der Hitze gelähmt vor dem Abendhimmel abhoben.
»Warum fahren wir nicht weiter?«, wollte Gaspard wissen. »Es wird bald dunkel.« Zudem war er durstig und gegen ein anständiges Abendessen hatte er auch nichts einzuwenden.
Sadik nickte. »Die Dunkelheit ist nicht nur der Komplize des Diebes, sondern auch der Freund des Fremden, der gute Gründe hat, vor der Neugier seiner Mitmenschen auf der Hut zu sein. Und diese Gründe haben wir fürwahr!«
Tobias nickte, als er in die Runde blickte. Ein bildhübsches Mädchen in Pumphosen und bunt kariertem Hemd, ein dunkelhäutiger, doch recht fremdländisch anmutender Mann in einer Lammfelljacke, ein Junge mit einer Prothese und einer Augenklappe und ein junger Mann mit einem kostbaren Degen an seiner Hüfte – das war eine Gruppe, die zweifellos Aufmerksamkeit erregen und unerwünschte Mutmaßungen über ihre Herkunft und Absichten auf sich ziehen würde. »Gut, warten wir hier, bis es dunkel ist.«
»Komisch«, murmelte Gaspard, während er seine malträtierten Knochen streckte und reckte.
Jana sah ihn an. »Was ist komisch?«
»Na, wenn man bedenkt, dass da drüben irgendwo England im Wasser schwimmt«, meinte er und blickte über die glitzernde See, die sich bis zum Horizont erstreckte, ohne dass dort jedoch Land zu sehen gewesen wäre. Der Glutball berührte dort schon fast die Oberfläche. »So weit ist es ja gar nicht …«
»Gerade mal hundertfünfzig Kilometer«, warf Tobias ein.
»… und doch ist dieses England bestimmt eine ganz andere Welt als Frankreich. Die Leute haben eine eigene Sprache und alles andere ist auch nicht so wie hier.«
Ein feines Lächeln umspielte Sadiks Mundwinkel. »Der Regen fällt auf die Hütten wie auf die Paläste und in allen wohnen nur Menschen. Es gibt viele Vögel am Himmel, und wenn auch jede Art ein anderes Lied pfeift, so hat Allah sie doch als gleiche geschaffen. Statt das Trennende herauszustreichen, sollte man immer erst das Verbindende suchen. Dann verliert auch das Fremdartige viel von seiner scheinbaren Unverständlichkeit.«
»Das Gepfeife der Engländer würde mir jedenfalls so viel sagen wie das Gekläffe eines Köters«, antwortete Gaspard mit einem un-überhörbaren Anklang von Geringschätzung. Die Feindschaft zwischen England und Frankreich hatte auch vor ihm, einem mittellosen Pariser Gassenjungen, der noch nie einem englischen Jungen begegnet war, nicht Halt gemacht. Die böse Saat der Mächtigen, die Feindschaften zwischen Völkern schürten. Dass abertausende Gleichaltrige in den Elendsvierteln von London und anderen Städten das gleiche Schicksal trugen wie er, kam ihm nicht in den Sinn.
Der Beduine musterte ihn halb mitleidig, halb verärgert. »Es gibt da ein Sprichwort bei den Sudani, das dir bei dieser Einstellung sicher gefallen wird.«
»Und wie heißt es?«, fragte Gaspard misstrauisch.
»Schlage den Fremden und triff ihn ins Herz, denn wäre etwas Gutes an ihm, so wäre er zu Hause geblieben«, zitierte Sadik.
Flammende Röte überzog Gaspards Gesicht, als er begriff, was Sadik ihm damit zu verstehen geben wollte, denn dumm war er nicht.
Tobias fand zwar, dass Sadik Recht hatte, wünschte jedoch, er hätte Gaspard dieses dumme Vorurteil fremden Völkern und Sitten gegenüber durchgehen lassen. Aber was diese Dinge betraf, vergaß Sadik gewöhnlich seine Großzügigkeit.
Um den Moment der Betroffenheit zu überbrücken, fragte er schnell: »Sag mal, Sadik, warum wolltest du eigentlich unbedingt hierher nach Tinville? Ich meine, einen allzu großen Hafen scheint es ja nicht zu haben. Wir hätten doch auch ein Stück weiter nach Dieppe hoch oder hinunter nach Le Havre fahren können. In den Häfen herrscht bestimmt ein viel stärkeres Kommen und Gehen.«
»Du meinst, in einem Korb voller Äpfel lassen sich ein paar faule Früchte leichter verstecken als auf einem Teller«, sagte Sadik mit einem Schmunzeln, als hätte es diesen unangenehmen Wortwechsel mit Gaspard vor wenigen Augenblicken nicht gegeben.
»Ja, im Prinzip schon.«
»Der Überzeugungskraft manch fabelhafter Theorien liegt oftmals ein mangelnder Kontakt mit der Unberechenbarkeit der Wirklichkeit zu Grunde«, spottete Sadik und fügte ernsthaft erklärend hinzu: »Dieppe und vor allem Le Havre sind große, wichtige Häfen, die auch von der Flotte der Kriegsmarine angelaufen werden. Dementsprechend gut organisiert und zahlreich sind auch die Sicherheitskräfte, von den Zollkuttern einmal abgesehen. Sich dort um eine illegale Passage nach England zu bemühen ist daher viel zu riskant. Wir sind Ausländer und haben bis auf Jana keine korrekten Einreisepapiere. Und in Zeiten nationaler Unruhen ist man Fremden gegenüber noch mehr voreingenommen, als das sonst schon der Fall ist.«
Gaspard räusperte sich. »So, wie es jetzt bei dir klingt, habe ich es nicht gemeint«, murmelte er betreten.
Sadik berührte ihn versöhnlich an der Schulter. »Ich weiß, du hast einfach nicht nachgedacht … und genau das ist die Wurzel allen Übels. Der Mensch stolpert häufiger über seine Zunge als über seine Füße. Aber es ist vergessen, Gaspard«, sagte er und fuhr dann fort: »In Le Havre nimmt uns nicht einmal der Kapitän eines Schmugglerbootes an Bord, nicht in diesen Wochen.«
»Und was ist in Tinville anders, Sadik?«, fragte Jana gespannt, weshalb er ausgerechnet diese kleine Hafenstadt an der Küste der Normandie für ihre Zwecke am besten geeignet hielt.
»Erstens ist dort kein Militär stationiert, zweitens ist Tinville kein bedeutender Überseehafen und findet bei den lokalen Behörden entsprechend geringe Beachtung – und drittens kenne ich dort jemanden, der uns schnell und diskret zu unserer Passage über den Kanal verhelfen kann«, eröffnete er ihnen nun und lächelte über ihre Verblüffung.
»Du warst schon mal in Tinville?«, stieß Tobias überrascht hervor.
»Allah und die ehrgeizigen Pläne deines Vaters haben mich schon an die unterschiedlichsten Orte der Welt geführt, zu denen auch Tinville gehört«, bestätigte Sadik, während die Sonne mittlerweile wie ein roter Ball auf dem Wasser schwamm und an den Himmel verschieden dicke Schichten von Rottönen zauberte. »Aber das ist eine Geschichte für sich. Jedenfalls war uns der Besitzer des Coq D’ore sehr zugetan und sein Schwager besitzt ein eigenes Fischerboot. Er wird uns nach England bringen.«
»Was ist das, Coq D’ore?«, wollte Tobias wissen.
»Der Goldene Hahn ist ein Gasthof nicht weit vom Hafen«, erklärte Sadik. Die Sonne tauchte nun rasch ins Meer und die Dunkelheit strömte aus den Wäldern und Tälern. Auch aus den Häuserzeilen wich das letzte Licht des Tages. »Tambour wird sich meiner zweifellos erinnern und uns nach besten Kräften helfen, rasch außer Landes zu kommen.«
»Der Gastwirt heißt Tambour?«, fragte Tobias ein wenig irritiert. »Trommel?«
»Ja, unter anderem«, antwortete Sadik lakonisch. »So, und jetzt fahren wir in die Stadt.«
»Ist mir recht. Ich hab nämlich Hunger«, meinte Gaspard trocken.
Sadik schwang sich auf den Kutschbock und wickelte die Zügel vom Bremsstock. »Ich kutschiere, ihr bleibt im Wagen.«
Tobias salutierte. »Aye, aye, capitaine.«
Sadik wollte bei Dunkelheit in der Stadt eintreffen und ließ deshalb die Grauschimmel den Rest des Weges in einer sehr gemütlichen Gangart gehen. Der Himmel glühte noch eine Weile nach. Ein letztes Farbenspiel zeigte sich auf den Wolken. Dann fiel schlagartig das schwarze Tuch der Nacht über die Küste. Der einzige Lichtschein kam nun von Laternen und einem Leuchtfeuer, das in der Spitze eines kleinen Leuchtturms brannte. Er erhob sich am Ende einer L-förmigen Mole, die ein gutes Stück ins Meer reichte und den Hafen bei stürmischem Wetter vor den heranrollenden Brechern schützen sollte. Die Positionslampen der Schiffe sahen von weitem wie Glühwürmchen aus.
Am Rande von Tinville drängten sich die schäbigen und übervölkerten Behausungen der Armen und in der Hitze hing der Gestank der Fäkalien und Abfälle in unsichtbaren, atemnehmenden Schwaden zwischen den Gassen.
Glücklicherweise hatten sie diesen äußeren Saum des Elends rasch passiert. Nun dominierten die vielfältigen Gerüche aus den Küchen der Bürgerhäuser. Dann und wann zog auch ein Schwall Blumenduft an den offenen Fenstern der Kutsche vorbei. Die Straße führte abwärts ins Hafenviertel mit seinen zahllosen Tavernen, billigen Absteigen, Freudenhäusern, Kontoren, Lagerhallen sowie Werkstätten und kleinen Betrieben aller Art, die von der Fischerei und der Seefahrt ebenso lebten wie Segelmacher, Seiler und Schiffsausrüster. Hier lag über allem der Geruch, der allen Seehäfen auf der Welt eigen ist und sich aus salziger Seeluft, modrigem Seetang, altem Fisch, beißendem Pech und nassem Holz zusammensetzt.
Tobias erhaschte einen Blick auf Masten und Takelage, die sich wie filigrane Scherenschnitte vor dem Nachthimmel abzeichneten, als Sadik einen Häuserblock vor dem Hafenkai nach links in eine Gasse einbog. Sie kamen an dem Geschäft eines Schneiders und eines Händlers für nautische Instrumente vorbei, ließen den schmalbrüstigen Laden eines Flickschusters und die Werkstatt eines Schildermalers hinter sich und entdeckten in der Fensterauslage des nächsten Geschäftes das reichhaltige Angebot eines Hutmachers.
Nach mehreren Mietshäusern mit recht ordentlichen Fassaden und einigen weiteren Geschäften mündete die Gasse auf einen kleinen Platz, dessen Mitte ein kleiner Brunnen und ein halbes Dutzend Platanen schmückten. Linkerhand lag das Coq D’ore, ein massives graubraunes Gebäude. Schwere Balken durchzogen das Mauerwerk. Über dem Eingang hing ein Schild, das einen goldenen Hahn in stolzer Pose zeigte. Rechts und links davon drang Licht durch halb runde Fenster, die mit braunen Butzenscheiben versehen waren und an Schießscharten erinnerten und den kleinen, baumbestandenen Platz nur mäßig erleuchteten.
Sadik hielt jedoch nicht vor dem Eingang, sondern er lenkte das Gespann um den Gasthof herum in den geräumigen Hof, wo sich auch die Stallungen für die Pferde der Reisenden befanden, die hier abstiegen. Denn der Coq D’ore gehörte zu den guten Häusern im Hafenviertel von Tinville.
Ein schlaksiger, struppelhaariger Stalljunge kam aus dem Anbau und griff einem der Grauschimmel ins Zaumzeug.
»Ich mache das schon, mein Junge!«, rief Sadik ihm zu. Für einen Beduinen kam die Pflege seiner Tiere nach einem langen Reisetag an erster Stelle, und er versorgte sie selbst, weil nur so sichergestellt war, dass sie alles in dem Maße erhielten, was vonnöten war, um ihre Kraft und Ausdauer zu erhalten. Wer seine Reit- und Lasttiere in der Wüste vernachlässigte, brachte sich selbst in Lebensgefahr. Und solche Gewohnheiten ließen sich nicht so leicht abschütteln wie der Staub der Straße aus seiner Lammfelljacke. »Aber du kannst in den Schankraum laufen und Tambour sagen, dass Monsieur Babeurre gekommen ist und ihn zu sprechen wünscht.«
»Babeurre?«, echote der Junge, als meinte er sich verhört zu haben, denn das bedeutete ›Buttermilch‹.
Sadik lächelte. »Ja, du hast schon richtig verstanden.«
»Wie Sie sagen, Monsieur!« Der Junge eilte durch den Hintereingang ins Haus.
Tobias stieß den Kutschenschlag auf und sprang hinaus. »Seit wann heißt du Herr Buttermilch?«, erkundigte er sich mit fröhlicher Verwunderung.
»Seit Tambour begriffen hat, dass ein gläubiger Moslem keinen Alkohol anrührt und Buttermilch für einen Beduinen immer noch der köstlichen Stutenmilch am nächsten kommt«, erklärte Sadik. »Buttermilch macht keinen zum Schwächling – und Alkohol erst recht keinen zum Mann.«
Jana und Gaspard stiegen mit müden Knochen aus der Kutsche und sahen sich im Hof um. Eine Laterne brannte über dem hohen Torbogen der Hofeinfahrt, eine zweite neben dem Hintereingang des Gasthauses.
Die Tür flog auf und schlug krachend gegen die Wand, während ein kahlköpfiger Mann zu ihnen in den Hof stürzte.
»Mon dieu! Der arabische Derwisch! … Salem-Ei- oder Talum-Ohrum!«, rief er überschwänglich und versuchte sich an den arabischen Gruß zu erinnern. »Irgendwas in der Art sagt man doch bei euch im Land der Wasserpfeifen und Kamelhöcker, nicht wahr?«
Sadik lachte. »Es-salamu ’alekum! … Der Friede sei mit Euch, Tambour!«
»Ja, leikum, leikum, Monsieur Babeurre!«, rief dieser mit fröhlicher Ignoranz der rechten Aussprache, und dann glaubte er sich der entsprechenden Antwort auf den Gruß zu erinnern. »Möge deine Nacht gut beleuchtet sein!«
»Ich glaube, du meinst sabah en-nurl … Dein Tag möge erleuchtet sein!«, frischte Sadik die lückenhafte Erinnerung des Gastwirtes belustigt auf. »Aber auch gegen eine gut beleuchtete Nacht habe ich nichts einzuwenden.«
Tobias verstand sofort, weshalb der Besitzer vom Coq D’ore Tambour, also Trommel genannt wurde. Tambour war nicht viel größer als Jana, brachte aber ein Körpergewicht auf die kurzen, säulendicken Beine, das einem Hundert-Liter-Branntweinfass alle Ehre gemacht hätte. Er trug einen wahrlich fast kugelrunden Bauch wie eine Trommel vor sich her. Darüber wölbte sich ein weites, faltenreiches Hemd mit gleichfalls weiten, gebauschten Ärmeln. Um den Hals trug er eine schwere Kette, die fast die Stärke einer Ankertrosse hatte, an der ein Kreuz hing, das zu tragen kräftige Nackenmuskeln voraussetzte. In seinem Gesicht, das Tobias unwillkürlich an einen Vollmond denken ließ, blitzten überraschend große und helle Augen unter dicken, pechschwarzen Brauen. Die Nase, die einer gespaltenen Zwiebelknolle glich, gab diesem Gesicht eine zusätzlich heitere Note.
Tambour eilte mit ausgestreckten Armen auf Sadik zu, der neben ihm auf einmal so schmächtig und zerbrechlich wirkte wie ein Gazellenjunges neben einem ausgewachsenen Flusspferd, und wollte ihn an seine Brust drücken. Es lief jedoch darauf hinaus, dass er Sadik über die Wölbung seines mächtigen Bauches zog und es den Anschein hatte, als beugte sich Sadik vor, um das Kreuz des Gastwirtes zu küssen.
»Was für eine Überraschung, Monsieur Sodick-Babeurre!«, dröhnte Tambours Bassstimme über den Hof.
»Sadik«, verbesserte ihn der Beduine vergnügt, entzog sich Tambours Armen, die ihn wie die Zangen eines Hummers gepackt hatten, und stellte ihm seine Begleitung vor.
Tobias musste eine ähnlich heftige Umarmung über sich ergehen lassen, als der Dicke erfuhr, dass er in ihm den Sohn des von ihm so geschätzten Weltreisenden Siegbert Heller vor sich hatte.
Bei Janas Anblick nahm Tambours Gesicht einen beinahe verklärten Ausdruck an, und er ließ es sich nicht nehmen, sie an sich zu drücken und mit einem Kuss auf jede Wange zu begrüßen. Tobias wusste nicht so recht, ob er sich darüber freuen oder ungehalten sein sollte. »Ich bin entzückt, Mademoiselle, überaus entzückt.«
»Danke, Monsieur …« Sie zögerte, ihn mit Tambour anzusprechen.
Der Dicke lächelte liebenswürdig. »Camille Denton steht zu meiner Person im Taufregister. Aber für meine Freunde und die Freunde meines Freundes Sadik-Babeurre bin ich Tambour«, sagte er mit einem Charme, den Tobias ihm überhaupt nicht zugetraut hätte. Der Gastwirt führte sich ein wenig so auf wie der stolze Hahn auf dem Schild. Er zwang sich, dem nicht zu viel Wert beizumessen.
»Wenn Sie es so möchten, gerne, Monsieur Tambour«, erwiderte Jana lächelnd und genauso amüsiert über das Entzücken des Gastwirtes wie über Tobias’ ernste Miene und seine gerunzelten Augenbrauen.
»Tambour, meine Liebe, nur Tambour!« Er tätschelte noch einmal ihre Hand, bevor er sie mit sichtlichem Widerstreben losließ.
›Na, endlich‹, seufzte Tobias in Gedanken.
Gaspard mit seiner Augenklappe und der primitiven Prothese dagegen beäugte Tambour voller Argwohn. Erst als Sadik mit Nachdruck darauf hinwies, dass Gaspard ihr Freund sei und sie ihm viel zu verdanken hätten, rang sich Tambour dazu durch, ihm gnädig zuzunicken. Die Hand gab er ihm jedoch nicht.
Er fand jedoch schnell wieder zu seiner überschäumenden Freude zurück. Als Sadik erst die Grauschimmel ausspannen und versorgen wollte, meldete er lautstarken Protest an und versicherte, dass sein Stalljunge Louis sich bestens um die Pferde kümmern würde. »Er sieht aus wie eine schwindsüchtige Bohnenstange, aber er hat die Ausdauer einer Stahlfeder und ein großes Herz für Pferde!«, lobte er ihn. »Deine Grauschimmel werden es bestens bei ihm haben, Sadik-Babeurre! Er wird sie trocken reiben und striegeln, bis ihm die Hände abfallen, und sie werden so reichhaltig zu saufen und zu fressen bekommen, wie es sich für vierbeinige Gäste des Coq D’ore geziemt. Ich will bis an mein Lebensende nur noch Wasser und Brot zu mir nehmen, wenn das nicht die Wahrheit ist!«
Sadik warf einen viel sagenden Blick auf Tambours vorgewölbten Bauch. »Wasser und Brot?« Er lachte und ließ es zu, dass Louis sich der Pferde annahm. Vorsichtshalber steckte er dem Stalljungen eine Silbermünze zu, die ein strahlendes Lächeln auf dessen hageres Gesicht zauberte.
Dann gingen sie ins Gasthaus. Ihr weniges Gepäck ließ Tambour sofort auf ihre Zimmer bringen. »Ich lasse euch ein Bad richten und alles, was ihr braucht. Aber jetzt müssen wir das Wiedersehen erst einmal gebührend feiern! Mit Buttermilch für dich und Branntwein für mich! Und Mademoiselle Jana bekommt ein Glas von meinem besten Orangenlikör! Und natürlich werdet ihr Hunger haben. Ich habe heute Kaninchen auf der Karte. Ein besseres gibt es in ganz Frankreich nicht!«, versicherte er und führte sie in den gut besuchten und daher auch mit Tabaksqualm eingenebelten Schankraum. Er war in drei ineinander übergehende Räume unterteilt. In ihnen standen schwere Tische mit gut drei Finger dicken Platten und nicht minder schweren Sitzbänken. Der Schankraum war groß, die Decken wirkten wegen ihrer wuchtigen Balkenkonstruktion jedoch niedrig. Hinter der Theke ragten dem Wirt und seinen Schankmädchen aus sechs gemauerten Rundungen ebenso viele Fässer entgegen, deren Fassungsvermögen bei fünfzig Litern liegen mochte. Es gab einen großen, rauchgeschwärzten Kamin, in dem zu dieser Jahreszeit natürlich kein Feuer brannte. An den weiß gekalkten Wänden hingen Kerzenhalter mit reflektierenden Spiegeln aus poliertem Kupferblech sowie hier und da alte Waffen aus dem Mittelalter. Unter ihnen befanden sich auch eine Armbrust, eine rostige Streitaxt und ein Morgenstern, dessen hölzerne Griffstange gesplittert war.
Sie nahmen im hintersten, ruhigsten Raum an einem freien Ecktisch Platz. Ein nicht eben mageres, blond gelocktes Mädchen in Janas Alter namens Letizia, das eine hübsche Rüschenschürze über ihrem schlichten Kleid trug und unschwer als Tochter des Wirtes zu erkennen war, brachte schnell die bestellten Getränke und versicherte, dass das Essen auch nicht lange auf sich warten lassen würde, wobei sie ihrem Vater einen schnellen Seitenblick zuwarf. Sadik erhielt einen Krug Buttermilch, der kühl aus dem Keller kam, und Jana ihren Orangenlikör. Tobias hatte sich für ein Glas kühlen Weißweins entschieden, während Gaspard ganz unverfroren den Wunsch nach Branntwein geäußert hatte. Weder schien es Tambour zu überraschen, noch versuchte er ihm den Branntwein mit Hinweis auf sein jugendliches Alter auszureden. Er hatte auf den ersten Blick gesehen, dass er einen Jungen der Straße vor sich hatte, und da hatte das Alter nichts zu bedeuten.
»Auf unser Wiedersehen, Sadik-Babeurre!«, rief Tambour mit seiner vollen Bassstimme und hob sein Glas. »Auf alte Zeiten! … Und auf nicht weniger fröhliche neue Zeiten!«
Darauf tranken sie.
»Und nun erzähl, was dich Wüstenfuchs mit deinen Freunden nach Tinville geführt hat!«, forderte Tambour Sadik auf, voller Spannung, was dieser zu berichten habe. »Und warum Monsieur Siegbert nicht bei euch ist.«
»Das ist eine lange Geschichte.«
Tambour machte eine wegwischende Geste. »Ich mag Geschichten«, sagte er, und als er sah, dass seine Tochter mit einem Tablett aus der Küche geeilt kam, das mit Tellern und Schüsseln beladen war, fügte er rasch hinzu: »Und bei mir darf man auch mit vollem Mund erzählen!«
Sadik wusste, dass Tambour ihm keine Ruhe lassen würde, bis seine Neugierde gestillt war. Deshalb begann er in groben Zügen von den Ereignissen zu berichten, die zu ihrer Flucht vom Falkenhof und der abenteuerlichen Reise der letzten Monate geführt hatten, während sich Tobias, Jana und Gaspard mit großem Appetit über das schmackhafte Essen hermachten. Dabei ließ Sadik das Wattendorfsche Vermächtnis mit dem Spazierstock, Koran und Gebetsteppich unerwähnt, deutete jedoch an, dass Zeppenfeld ihnen wichtige Informationen abjagen wollte, die für einen Forscher und Entdeckungsreisenden einen großen Wert darstellten. Das Verschollene Tal kam ihm genauso wenig über die Lippen. Er beschränkte sich darauf, Tambour klarzumachen, dass sie sich vor einem gefährlichen Widersacher auf der Flucht befanden, der wegen gewisser Vorfälle bei Sihdi Hellers letzter Nilquellen-Expedition zudem noch Rache geschworen hatte.
»Heilige Entenbrust, warum spickst du diesen Hundesohn nicht mit deinen Messern und schaffst ihn dir damit ein für alle Mal vom Hals, anstatt vor ihm davonzulaufen wie ein tollpatschiger Decksjunge vor der Peitsche des Bootsmannes?«, polterte Tambour verwundert los, griff zur Kanne mit dem Branntwein und war so abgelenkt, dass er nicht nur seinen Becher auffüllte, sondern gleich auch den von Gaspard, dessen Augenbrauen sich dabei kaum merklich hoben. Doch er war so klug, sich nicht zu rühren und auch nichts zu sagen, noch nicht einmal »Danke«.
Sadik schob sich ein Stück Kaninchenfleisch in den Mund und ließ sich mit der Antwort Zeit. Dann sagte er auf seine bedächtige Art: »Der Fuchs ist bei seiner Höhle ein Löwe, und Zeppenfeld ist ein gerissener Fuchs, der sich einem direkten Kampf niemals stellen wird.«
Tambour zuckte mit den massigen Schultern. »Dann mache es doch so wie er. Lauere ihm auf, und dann …« Er hielt sich die flache Hand vor die Kehle und vollführte eine unmissverständliche Bewegung.
»Wenn du in ein Dorf mit lauter Einäugigen kommst, blendest du dir dann ein Auge, damit du so bist wie sie?«, fragte Sadik an Stelle einer Antwort.
Tambour legte die Stirn in Falten. »Was haben Einäugige mit der Sache zu tun?«
Tobias verkniff sich ein Grinsen. »Sadik meint wohl, dass es sich nicht mit seiner Ehre vereinbaren lässt, sich auf das gewissenlose Niveau eines Zeppenfeld zu begeben und Gleiches mit Gleichem zu vergelten.«
»Aber dieser Hur …« Tambour legte seiner Zunge gerade noch rechtzeitig Zügel an, als sein Blick auf Jana fiel, und korrigierte sich schnell: »… dieser Hundesohn hat doch gar nichts anderes verdient!«
Sadik zuckte unbeeindruckt mit den Achseln. »Ein Beduine pflegt die Rache, mein lieber Tambour, und er hat Geduld. Es heißt bei uns: Der Beduine nimmt nach vierzig Jahren Rache und glaubt, er habe sich damit beeilt. Aber ein heimtückischer Mord ist keine Rache, sondern die verabscheuungswürdige Tat eines Feiglings.«
Der dicke Gastwirt seufzte resigniert. »Deine Ruhe möchte ich haben!«
»Die Welt besteht aus zwei Tagen: Ein Tag ist für dich und ein Tag ist gegen dich«, erwiderte Sadik mit typisch arabischem Fatalismus. »Im Augenblick haben wir wohl den Tag erwischt, der unsere Feinde begünstigt. Deshalb bin ich mit meinen Freunden zu dir nach Tinville gekommen. Wir brauchen deine Hilfe.«
»Sag mir, was ich für euch tun kann!«, forderte Tambour ihn sofort auf.
Der Beduine nahm einen kräftigen Schluck Buttermilch, die eine sichelförmige weiße Linie auf seiner Oberlippe hinterließ. »Wir müssen schnellstens über den Kanal und zu Rupert Burlington nach Mulberry Hall«, erklärte er dann. »Es ist von entscheidender Bedeutung, dass Zeppenfeld und seine Komplizen uns nicht zuvorkommen. Wir müssen vor ihnen in England eintreffen. Dann können wir das größte Unheil noch abwenden.«
Tambour rieb sich das fleischige Doppelkinn. »Du wärest nicht hier, wenn ihr ordnungsgemäße Papiere hättet, nicht wahr?«
»La!«, bestätigte Sadik. »Wir sind Hals über Kopf vom Falkenhof geflohen. Und die Grenze nach Frankreich haben wir versteckt in Janas Wohnwagen überquert.« Er machte eine kurze Pause und setzte dann mit einem verschwörerischen Lächeln hinzu: »Aber die Erfahrung hat mich gelehrt, dass manchmal Goldstücke genauso gern entgegengenommen werden wie Papiere, besonders wenn man sowieso nicht viel von diesen Formalitäten hält und an Bord seines Schiffes sein eigener Herr ist, der sich keine Vorschriften machen lässt, was und wen er von wo nach wo bringt.«
»Du denkst dabei an meinen Schwager Denis, nicht wahr?«
Sadik nickte. »Wie ich damals hörte, fuhr er nicht immer nur zum Fischfang hinaus«, sagte er leise und spielte auf die Schmuggelfahrten des Schwagers über den Kanal an.
Tambour machte ein betrübtes Gesicht und sagte bedrückt: »Sicher, Denis hätte keine Sekunde gezögert, euch über den Kanal zu bringen. Aber er hat seine letzte Fahrt schon hinter sich.«
»Er ist tot?«, stieß Sadik ungläubig hervor.
Tambour nickte schwer. »Es war im Frühjahr, als plötzlich Nebel aufzog und so dick über der See lag, dass man meinte, man könnte dicke Stücke aus der Decke schneiden. Ein Dampfschiff rammte sein Fischerboot querab an Steuerbord und durchschnitt es, wie eine scharfe Axt einen kleinen Holzscheit spaltet. Nur zwei von seiner Mannschaft haben es überlebt. Und der Dampfer hat noch nicht einmal die Maschinen gestoppt. Es passierte so schnell, dass Joseph und Eugene hinterher noch nicht einmal zu sagen wussten, wie der Dampfer hieß und unter welcher Flagge er fuhr.«
Sadik murmelte ein kurzes Gebet, sprach Tambour sein Beileid aus, denn er wusste, wie gut er sich mit seinem Schwager verstanden hatte, und fragte nach einem Moment des Schweigens: »War er der einzige Seemann in Tinville, der sich mit Schmuggelfahrten zur englischen Küste etwas dazuverdient hat?«
»Natürlich nicht. Aber es wird nicht leicht sein, Ersatz für Denis zu finden. Ich habe eine Menge Freunde, aber ich kann nicht behaupten, dass die Fischer und einfachen Seeleute zu ihnen gehören«, gab er offen zu und machte eine vage Geste, die seinem Gasthof galt. »Wer aus armen Verhältnissen kommt und nach Jahren harter, ehrgeiziger Arbeit ein Haus wie das Coq D’ore sein eigen nennt, ein Haus, in dem einzig der Geruch von totem Fisch aus der Küche dringen darf, von Gewürzen und Beilagen veredelt, der ist nun mal nicht bei den einfachen Tavernengängern sonderlich beliebt. Ich halte mich nicht für etwas Besseres, aber die anderen sind überzeugt, dass ich es tue – weil ich nämlich Pech und Tran und Fischschuppen und was Seeleute sonst noch so alles an ihrer Kleidung kleben haben, in meinem Schankraum nicht haben will. Wer sauber und ordentlich gekleidet ist und nicht gerade stinkt, als hätte man ihn aus einer Tonne mit Fischeingeweiden gezogen, ist mir willkommen. Doch es verirren sich nur wenige Seeleute zu mir, und dass Denis ein Fischer war, hat eher ihm geschadet als mir geholfen. Es tut mir Leid, mein Freund, aber so stehen die Dinge nun mal. Dennoch werde ich tun, was in meiner Macht steht.«
Sadik gab sich Mühe, sich seine Besorgnis nicht anmerken zu lassen. »Wir werden schon jemanden finden«, sagte er zuversichtlich. »Und wir haben ein paar Tage Vorsprung.«
»Wenn diese Revolution in Paris nicht gewesen wäre, sähe die Sache schon anders aus«, meinte Tambour. »Karl X. hat zwar am 2. August zu Gunsten seines Neffen abgedankt, was den Herzog von Orleans nun zu unserem neuen König Louis Philippe gemacht hat …«
»Die Bourbonen haben abgewirtschaftet und ausgespielt!«, warf Tobias hitzig ein. »Wir haben die Barrikadenkämpfe in Paris erlebt. Karl X. wird das Land verlassen müssen.«
Tambour warf ihm einen skeptischen Blick zu. »Ja, so steht es in den Zeitungen. Aber er hockt noch immer hartnäckig in seinem Schloss Rambouillet, umgeben von 12.000 Mann Elitetruppen, junger Freund! Da kann also noch viel passieren. Die Lage im Land ist alles andere als stabil. Dementsprechend nervös sind die Leute. Die Truppen entlang der Küste, einschließlich der Hafengendarmen und Zöllner, sind alarmiert, und keiner lässt sich so genau in die Karten schauen, für welche Partei sein Herz schlägt. Und ganz besonders Fremden gegenüber sind die Leute misstrauisch.«
Sie saßen noch lange dort am Tisch, nachdem Letizia schon längst die leeren Teller und Schüsseln vom Tisch geräumt hatte, und redeten. Wenn sie auch immer wieder auf die Notwendigkeit rasch den Kanal zu überqueren, zu sprechen kamen, so drehte sich ihre Unterhaltung doch nicht allein darum.
»Wo es eine Tür und ein Schloss gibt, da gibt es auch einen Schlüssel«, sagte Sadik abschließend, als sie sich vom Tisch erhoben, um sich zu Bett zu begeben. »Morgen werden wir damit beginnen, ihn zu suchen!«
»Und wenn wir ihn nicht finden?«, fragte Tobias leise, als sie die Treppe hochstiegen.
Sadik legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. »Schreite nicht über eine Brücke, bevor du zu ihr kommst.«
Tobias verzog das Gesicht, unzufrieden mit dieser Antwort, die ihm ohne praktischen Wert erschien. Deshalb sagte er ironisch: »Ich weiß: Wer der Geduld folgt, dem folgt der Sieg. Aber Zeppenfeld …«
Sadik unterbrach ihn mit einem leichten Lächeln. »Das hast du gut behalten. Aber lernen heißt nicht nur behalten, sondern Einsichten leben, Tobias.«
»Und deine Antwort ist wie Wasser im Sieb!«, konterte Tobias grimmig.
Sadik lachte, doch mit seinen eigenen Waffen war er nicht zu schlagen, wie seine unverzügliche Erwiderung bewies. »Was der Esel sagt, das glaubt er, und nur der Dumme streitet sich mit der Matte, auf der er schlafen will«, wies er ihn mit sanftem Spott zurecht. »Und noch etwas: Ein freundliches Gesicht ist kostbarer als Kisten voller Gold.«
Ein wenig resigniert, aber auch mit stiller Bewunderung ließ Tobias ihm das letzte Wort. Dass er damit am besten beraten war, gehörte zu den Einsichten, die er nicht nur behalten hatte, sondern lebte. Sollte Sadik noch einmal sagen, er lernte nicht richtig!