Die einzige Chance!

 

Mit lautem Knall wurde eine Tür zugeschlagen und ein Riegel von außen vorgeschoben. In Tobias’ Kopf klang es wie der Kanonendonner eines Kriegsschiffes, das aus dutzenden von Stückpforten eine Breitseite abgefeuert hatte. Ohne sich dessen bewusst zu sein, verzog er das Gesicht und stöhnte.

»Tobias! … Tobias! … Bitte, komm doch endlich zu dir!«

Eine vertraute Stimme durchdrang die dröhnende und abgrundlose Schwärze. Sie erreichte ihn nur ganz schwach und war wie ein Flüstern im Wind, aber immerhin nahm er sie wahr.

»Alle Arzneien dieser Welt reichen nicht aus, um ihrer Gifte Herr zu werden. Aber keine Sorge, seine Ohnmacht ist nur von kurzzeitiger Dauer. Das größere Übel harrt unser erst noch – und zwar jenseits der verschlossenen Tür.«

Eine weitere Stimme. Diesmal klarer. Sadik?

Sadik!

Leon! Der Kurswechsel der Alouette! Er hatte sie betrogen! Aber sie mussten doch nach England!

Die Erinnerung setzte wieder ein. Tobias kam zu sich. Und das Erste, was er spürte, war kaltes Wasser, das ihm über das Gesicht lief. Er öffnete die Augen. Benommen blickte er in Janas besorgtes Gesicht, das sofort einen erleichterten Ausdruck annahm. Sie hielt ein feuchtes Tuch in der Hand. War das nicht ihre Bluse, die sie zum Trocknen über die Sitzbank gelegt hatte?

»Endlich!«, rief sie.

Sadik kam in sein Blickfeld. »Allah sei Dank, dass du wieder bei dir bist und einen Schädel hast, der so hart ist wie eine Kokosnuss. Hast du dir beim Sturz irgendetwas gebrochen?«, fragte er mit ernster Sorge, beugte sich über ihn und tastete ihn ab.

Tobias stellte fest, dass er auf dem Boden lag, und setzte sich vorsichtig auf. Jetzt nahm er auch die Bewegungen der Alouette wieder bewusst wahr. Noch immer heulte der Wind im Rigg, wenn auch nicht mehr so laut wie zuvor. Auch das Auf und Ab des Schiffes erschien ihm weniger stürmisch. War er lange bewusstlos gewesen?

»Nein … nein, ich glaube nicht«, erwiderte er benommen und fasste sich an die Brust. Sie schmerzte ein wenig, wo ihn der Tritt des Seemanns getroffen hatte. Doch Rippen waren bei diesem brutalen Zusammenprall zum Glück nicht gebrochen. Sonst hätte er wohl bei jedem Atemzug rasende Schmerzen gehabt. »Mir brummt nur der Schädel.«

»Kein Wunder«, meinte Sadik, der eine kleine Schürfwunde am rechten Kinn davongetragen hatte. Sie rührte von Leons Ring her, als der Kapitän seinen Sturz mit einem Faustschlag buchstäblich nachdrücklich beschleunigt hatte.

Tobias sah sich um. Sie befanden sich noch immer achtern in der Offiziersmesse. »Was ist passiert?«, fragte er. »Ich meine, nach diesem hinterhältigen Überfall an Deck.«

»Sie sind im Dutzend über uns hergefallen. Leon hat sofort unsere Taschen durchwühlt und uns alles Geld abgenommen, das wir bei uns hatten …«

Tobias tastete nach seinem Brustbeutel, in dem er einen Gutteil ihres Geldes sowie Wattendorfs Brief verwahrt hatte. Er war weg. Das machte ihn wütend, obwohl der Verlust keine Katastrophe war. Leon hatte zwar eine erhebliche Summe erbeutet, die gut und gern der Jahresheuer seiner ganzen Mannschaft entsprach. Aber den Hauptteil der Goldmünzen, die Onkel Heller ihnen mitgegeben hatte, trugen Sadik und er unter ihrer Kleidung, versteckt in einem schmalen Leinengürtel. Das war Sadiks Idee gewesen, und er hatte zwei von diesen dünnen Stoffgürteln angefertigt, als sie mit Jana von einem Volksfest zum anderen gezogen waren. Manchmal hatte er diesen Gurt unter seiner Leibwäsche als lästig empfunden. Jetzt jedoch war er froh, dass er sich von Sadik zu dieser Sicherheitsvorkehrung hatte überreden lassen. Und dass Leon diesen schmalen Leibgurt nicht gefunden hatte, verriet ihm das vertraute Gewicht der Goldmünzen auf seiner Haut.

»Ja, den hat er dir vom Hals gerissen«, bestätigte Sadik. »Dann hat er seinen Männern den Befehl erteilt, uns wieder unter Deck zu bringen und hier einzuschließen.«

»Und was ist mit unseren anderen Sachen?«, wollte Tobias wissen.

»Sie haben sie hastig durchwühlt, aber bis auf die Muskete und Tambours Fresskorb haben sie nichts mitgenommen«, erklärte Jana. »Sie hatten es sehr eilig, wieder an Deck zu kommen. Ich hörte Leon nach ihnen brüllen.«

»Und mein Degen?«, fragte Tobias schnell.

Sie lächelte. »Das Bündel mit dem Degen und auch den Sack mit den Reisetagebüchern habe ich schnell unter die Bank geschoben. Sie sind ihnen nicht aufgefallen. Zu dumm, dass ich nicht auch noch an die Muskete gekommen bin. Aber die lag mit dem Korb gleich neben der Tür, und da habe ich es nicht mehr geschafft.«

»Du hast keinen Grund dir Vorwürfe zu machen. Du hast getan, was du konntest – und zwar gut«, sagte Sadik.

Tobias stimmte ihm zu. »Immerhin sind wir nun nicht ganz unbewaffnet.«

Sadik nickte. »Mein Messer haben sie, Allah sei gepriesen, ebenfalls übersehen. Aber das verbessert unsere Situation nur unwesentlich.«

»Sollen sie nur kommen!«, stieß Tobias wütend und zum Kampf entschlossen hervor, während er sein Bündel unter der Sitzbank hervorzog und die lange Kordel löste, die um die Pferdedecke gewickelt war. Darunter kam sein Degen zum Vorschein, den er sich nun eiligst umgürtete. »Sie werden sich blutige Köpfe und noch einiges andere holen! Wenn dieser stinkende Schweinehund von Kapitän meint, er hätte leichtes Spiel mit uns und wir wären ihm wehrlos ausgeliefert, dann wird er die Überraschung seines Lebens erleben!«

»Mach dir doch nichts vor, Tobias! Wir sind ihm ausgeliefert«, widersprach Sadik ihm mit ernüchternder Härte. »Was können wir denn schon gegen solch eine Übermacht ausrichten? Ja, an Land, irgendwo im freien Gelände, sähe das natürlich anders aus. Aber hier auf der Alouette, eingesperrt in diesen Raum, kommen wir mit einem Degen und einem Messer nicht weit. Nicht mal an Deck! Für einen Messer- und Degenkampf ist es hier unten viel zu eng. Nicht aber für einen Schuss mit der Muskete. Also gib den unsinnigen Gedanken auf, wir könnten das Schiff kapern.«

»Aber irgendetwas müssen wir unternehmen!«, beharrte Tobias mit halb trotziger, halb verzweifelter Miene.

»Richtig«, stimmte Jana ihm bedrückt zu. »Die Frage ist nur, was wir denn noch tun können?«

»Wir müssen sehen, dass wir hier herauskommen!«, meinte Tobias, sich gegen die Erkenntnis zur Wehr setzend, dass sie in einer Falle saßen, aus der es scheinbar kein Entkommen gab. »Und dann …« Er ließ den Satz unbeendet, denn was dann geschehen sollte, wusste er natürlich nicht zu sagen. Wohin sollten sie von der Alouette auch fliehen? Ihnen bliebe doch nur die sturmgepeitschte See.

»Ich hätte gewarnt sein müssen«, haderte Sadik mit sich selbst, während er zur Tür ging und prüfte, ob er sie aufbrechen konnte. Aber so heruntergekommen die Brigantine auch war, ihr Erbauer hatte einst große Sorgfalt aufgewandt, und das Holz unter Deck zeigte noch keine Anzeichen von Morschheit, sondern widersetzte sich kraftvoll der stochernden Klinge seines Messers.

»Ach, wer hätte denn so etwas auch nur ahnen können«, sagte Jana beklommen, selbst nicht frei von Gewissensbissen. Denn hätte sie Moustique nicht die Karten gelegt oder doch wenigstens den Mund darüber gehalten, dass sie und ihre Freunde ein Schiff suchten, das sie heimlich über den Kanal brachte, dann wäre das alles nicht passiert. »Ich bin ein Unglücksrabe …«

Sadik ließ ihren Einwand nicht gelten. »Unglücksrabe? Dummes Zeug. Dich trifft nun wahrlich keine Schuld! Wenn der Schatten krumm ist, kann der Stock nicht gerade sein. Leons Verhalten im Hof des Coq D’ore hätte mir eine Warnung sein sollen. Ich hätte an Deck bleiben müssen!« Er seufzte und schüttelte den Kopf. »Der gewöhnliche Mensch bereut seine Sünden, der Auserwählte seine Unachtsamkeit.«

Trotz ihrer bedrückenden, ja geradezu beängstigenden Lage konnte sich Jana einer gewissen Belustigung, die jedoch mehr Galgenhumor als natürliche Fröhlichkeit war, nicht erwehren. »Wie tröstlich, dass du dich für einen Auserwählten hältst«, bemerkte sie. »Das lässt uns hoffen, dass dir doch noch die rettende Idee kommt, wie wir aus dem Schlamassel mit heiler Haut herauskommen können.«

»Jeder, den keine Grenzen einengen und der unter Allahs Himmel seinen Weg frei wählen kann, ist ein Auserwählter«, gab Sadik ernst zur Antwort. »Somit ist ein bàdawi schon durch Geburt auserwählt.«

»Die Beduinen – der Hochadel der Wüste, ja?«

Tobias hatte eine gereizte Bemerkung auf der Zunge, kam jedoch nicht mehr dazu, sie auszusprechen. Denn in dem Moment wurden draußen die beiden Riegel zurückgeschoben und die Tür zur Messe ging auf.

Sadik wich zur Seite, sein Messer in der Hand.

Es war Moustique, der in der Tür erschien. »Nicht!«, stieß er mit angstgeweiteten Augen hervor, als Sadik blitzschnell bei ihm war, ihn packte und ihm die Klinge an die Kehle setzte. »Ich komme, um euch zu helfen!«

»Dann beeil dich uns davon zu überzeugen, solange du dazu noch in der Lage bist!«, zischte Sadik drohend. »Unsere Geduld mit Seeleuten, die uns einen Gefallen tun wollen, ist im Augenblick nämlich arg strapaziert. Was habt ihr mit uns vor?«

Tobias hatte augenblicklich blankgezogen, war hinter Moustique vorbei zur Tür gesprungen und spähte nun in den Gang hinaus. »Niemand zu sehen!«, raunte er.

»Los, sprich!«, forderte Sadik den Seemann noch einmal auf.

»Ich weiß es nicht. Es steht noch nicht fest. Sie sind sich noch nicht einig. Leon ist dafür, euch einfach über Bord zu werfen. ›Ein verdammter Heide, eine diebische Zigeunerin und ein junger Bursche, der bestimmt seine Gründe hat, warum er sich mit solchem Pack abgibt. Niemand wird nach ihnen fragen!‹ Das waren seine Worte, und die meisten sind seiner Meinung«, stieß Moustique fast ohne Atem zu holen hervor, die Augen grotesk zur Klinge hin verdreht.

»Und wer ist dagegen?«, fragte Sadik.

»Ein paar von der Freiwache«, redete Moustique hastig weiter. »Aber er wird sie auch noch auf seine Seite bekommen. Er redet gerade in der Back mit ihnen.«

»Wo?«, fragte Sadik knapp.

»Im Vorschiff, wo wir, die einfache Mannschaft, unser Quartier und unsere Messe haben. Deshalb konnte ich mich ja auch zu euch schleichen. Der Sturm hat endlich nachgelassen, sodass die Freiwache wieder unter Deck gehen konnte. Deshalb müsst ihr die Gelegenheit nützen. Viel Zeit habt ihr nicht. Wenn Leon sie erst einmal auf seine Seite gebracht hat, was ihm mit ein paar Silbermünzen letztlich genauso gelingen wird wie bei den anderen, die ihm geholfen haben euch zu überwältigen, dann ist es zu spät.«

»Zu spät wofür?«

»Um das Beiboot zu Wasser zu lassen und zu fliehen!«, erklärte Moustique.

Jana sah ihn ungläubig an. »Fliehen? Mit dieser Nussschale? Das ist doch Selbstmord!«

»Nein, es ist eure einzige Chance, euer Leben zu retten!«, beschwor Moustique sie. »Das Beiboot ist solide, hochbordig und nicht so leicht zum Kentern zu bringen. Und es hat ein Segel! Ihr könnt vor dem Wind segeln. Dann erreicht ihr in ein paar Stunden die Küste. Wenn ihr es nicht tut, werden sie euch holen. Und mit Messer und Degen werdet ihr sie nicht davon abhalten können, euch zu den Fischen zu schicken. Dafür sind sie schon zu weit gegangen.«

Sadik lockerte seinen Griff. »Aiwa, er hat Recht«, stellte er lapidar fest.

Tobias erbleichte und das Entsetzen stand in seinen Augen – wie er es auch in denen von Jana las. »Wir sollen mit dem Beiboot da hinaus? Aber das ist doch … Wahnsinn!«

Sadik nickte. »Mag sein. Aber es ist zweifellos unsere einzige Chance, dem Biss der Schlange zu entkommen, die uns schon so gut wie in ihrem Maul hat. Bleiben wir, ist unser Schicksal besiegelt. Können wir uns jedoch des Beibootes bemächtigen, können wir unser Leben vielleicht retten.« Er machte eine kurze Pause und fügte dann entschlossen hinzu: »Lieber soll mich der Löwe fressen, als dass mich die Hyäne auseinander reißt!«

Jana schluckte schwer. »Es macht mir Angst, aber wir haben tatsächlich keine andere Wahl. Ich … ich will nicht sterben, nicht ohne alles versucht zu haben.«

Tobias spürte, wie eine Gänsehaut seinen Körper überzog. Ihm wurde fast übel bei der Vorstellung, sich mit so einem winzigen Boot auf die See hinauswagen zu müssen. Doch auch er vermochte sich der Einsicht nicht zu verschließen, dass ihnen nur noch die Wahl zwischen dem sicheren Tod von Leons Hand und der Flucht mit dem Beiboot geblieben war. Unter diesen Umständen konnte einem die Entscheidung nicht mehr schwer fallen. Sie ergab sich quasi von selbst.

»Also gut, wagen wir es«, sagte er mit krächzender Stimme. »Es ist ja nur ein Katzensprung nach England, nicht wahr?« Er versuchte dabei zu grinsen. Doch was er zu Stande brachte, war eine Grimasse der Angst. Doch sie machte ihn nicht kopflos, auch wenn sein Herz jagte.

»Gut, wir sind uns also einig«, sagte Sadik rasch und konzentrierte sich auf die praktische Ausführung dieses lebensgefährlichen Vorhabens. »Wie kommen wir jetzt an das Boot?«

»Ihr müsst schnell sein«, sagte Moustique mit gepresster Stimme.

»Wer hätte das vermutet«, murmelte Jana sarkastisch.

»Kein Derwisch wird schneller sein als wir!«, versicherte Sadik, der wusste, zu welchen Leistungen der Mensch im Angesicht des drohenden Todes fähig war – sofern die Angst ihn nicht lahmte, was das andere Extrem war.

»Auf dem Achterdeck ist jetzt niemand, ausgenommen Antonie, der am Ruder steht. Aber er wird euch nicht aufhalten, denn ich weiß, dass ihm die Sache auch nicht recht gefallen hat, obwohl er später gewiss seinen Anteil einstreichen und den Mund halten wird. Bei so einem Wetter lässt er das Ruder zudem nicht aus der Hand, auch wenn wir das Schlimmste überstanden haben, so wie es aussieht. Von ihm habt ihr also nichts zu befürchten. Aber er wird natürlich laut schreien und die anderen alarmieren – unter anderem auch mich. Es bleibt euch also nicht viel Zeit, um zum Heck zu kommen und ins Boot zu springen.«

»Aber es dauert doch ganz schön lange, das Boot zu Wasser zu lassen«, wandte Tobias ein.

Moustique schüttelte den Kopf. »Das Boot zu Wasser lassen? Unmöglich. Die Zeit habt ihr nicht! Das würdet ihr niemals schaffen.«

»Und wie kriegen wir das Boot dann …«

Moustique fiel Jana ins Wort. »Ihr müsst die Haltetaue kappen! Ich werde euch dabei helfen und das Bugtau übernehmen, während ich so tue, als wollte ich eure Flucht verhindern. Das Tau am Heck muss einer von euch kappen – und zwar gleichzeitig mit mir, sonst kentert das Boot noch in der Luft und ihr nehmt Leon die dreckige Arbeit ab.«

Jana erschauderte.

»Das mit dem Hecktau übernehme ich!«, sagte Sadik mit einer Stimme, die jede Diskussion darüber ausschloss.

»Wenn ich schreie ›Verfluchter Heide!‹, ziehe ich das Messer durch!«

Sadik nickte. »Verstanden.«

»Ihr dürft jetzt aber keine Sekunde länger warten!«, drängte Moustique. »Leon kann jeden Augenblick mit Beignet und Debuse, das ist unser Erster, zurückkommen, und dann ist es zu spät.«

»Wir sind bereit!«, sagte Sadik und nahm seinen Kleidersack auf, der seine wenigen Habseligkeiten enthielt. Schnell stopfte er noch die nassen Sachen von Jana und Tobias hinein. »Wie gut, dass wir mit leichtem Gepäck reisen.«

Tobias klemmte sich das Paket mit den Reisetagebüchern unter den Arm, während Jana nach dem Bambuskäfig griff, in dem Unsinn hockte, offensichtlich todelend und mit einem herzerweichenden Ausdruck in den kleinen Augen, der Jana für einen Moment ihre Angst vergessen und sie wünschen ließ, sie könnte etwas für ihn tun.

»Fertig?«, fragte Sadik knapp.

Jana und Tobias nickten.

»Dann wollen wir unser Leben in Allahs Hand legen«, murmelte er, während Moustique schon die Tür zum Gang öffnete.

Als sie den Niedergang erreicht hatten, drehte sich Moustique noch einmal zu ihnen um. »Gebt mir eine Minute Vorsprung! Und nehmt dann den Weg an der Steuerbordseite entlang, am besten geduckt, dann bemerkt man euch nicht sofort. Ich werde dort stehen, mit dem Rücken zu euch. Rennt mich über den Haufen.«

Sie nickten, stumm und mit angespannten Gesichtern.

»Es tut mir Leid … und viel Glück«, murmelte Moustique, schlich den Niedergang hoch und entschwand ihren Blicken.

Die Minute, die sie da am Fuß der steilen Treppe verharrten, erschien Tobias endlos. Angestrengt lauschten sie auf die Geräusche, die von Deck zu ihnen drangen: auf das Knarren und Ächzen von Sparren und Spanten, das Singen des Windes im Rigg, das Rauschen der See und das harte Klatschen, wenn die Alouette in eine hohe Welle eintauchte. Stimmen waren keine zu hören.

»Mein Gott, bringen wir es hinter uns!«, keuchte Tobias, als er meinte, die Spannung nicht länger ertragen zu können.

»Du übernimmst die Spitze, Tobias, und du bleibst ihm dicht auf den Fersen. Ich halte euch den Rücken frei«, bestimmte Sadik die Reihenfolge. »Und lasst euch von nichts und niemandem aufhalten! Seht zu, dass ihr so schnell wie möglich ins Boot kommt. Sowie ihr im Boot seid, klammert ihr euch an eine feste Strebe, am besten legt ihr euch flach auf den Boden und haltet euch an den Duchten fest. Wer aus dem Boot geschleudert wird, ist verloren! Habt ihr verstanden?«

»Ja«, hauchte Jana.

Auch Tobias brachte einen ähnlichen Laut heraus. Er sah Jana an, wollte ihr noch etwas sagen, was sie unbedingt wissen musste, wie er in diesem Moment meinte. Es durfte nicht ungesagt bleiben, da doch die Möglichkeit bestand, dass sie vielleicht gleich getrennt wurden und den Tod in der nachtkalten See fanden. Aber er bekam kein Wort heraus und es blieb auch keine Zeit mehr.

»Dann los!« Sadik schlug Tobias auf den Rücken und dieser stürmte den Niedergang hoch, gefolgt von Jana.

Im Rückblick erschien es Tobias so, als hätte sich sein Blickfeld in diesem Moment so stark verengt, dass alles, was sich rechts und links von ihm befand, zu einem schwarzen Nebelschleier verschwamm. Ihm war, als rannte er durch eine schmale Röhre, die nicht viel breiter war als er selbst. Und die Bilder, die von diesem Wettlauf mit der Zeit in seinem Gedächtnis haften blieben, waren bruchstückhaft. Er erinnerte sich später jedoch ganz deutlich daran, dass er plötzlich nicht mehr die Geräusche der See und des Schiffes vernahm, sondern nur noch das Hämmern seines rasenden Herzens. Wie eine gigantische Trommel schien dieses Wum-wum … Wumwum … Wum-wum alles andere zu übertönen.

Er rannte um sein Leben über ein schräg geneigtes Deck. Rutschte, fing sich, rannte weiter. Das Schanzkleid zu seiner Linken und die lang gestreckten Deckaufbauten zu seiner Rechten waren wie die Wände eines Tunnels – in dem plötzlich eine Gestalt vor ihm aufragte. Moustique! Er stieß ihm aus dem Lauf heraus seinen Ellenbogen in den Rücken, sah ihn nach vorne stürzen, hörte jedoch keinen Schrei, wie er auch nicht den Schrei des hageren Rudergängers hörte, obwohl er sah, wie dieser ihn fassungslos anstarrte und dann den Mund aufriss. Er flog förmlich an dem Mann vorbei. Sein Blick suchte das Beiboot, das am Heck der Alouette in den Davits hing, fand es und blieb starr daraufgerichtet. Er sprang auf das Schanzkleid und hechtete ins Boot. Ein stechender Schmerz jagte vom Knöchel aus durch sein linkes Bein, als er am Bug zwischen zwei Duchten stürzte, und der Schmerz ließ diese unsichtbare Glocke, die ihn von allen anderen Wahrnehmungen abgeschirmt zu haben schien, jäh zerplatzen. Nun hörte er wieder das Rauschen der See, den Wind und wütendes Geschrei. Er wollte den Kopf heben, doch in dem Moment landete Jana neben ihm im Boot, und der Affenkäfig traf ihn wie der Huf eines ausschlagenden Esels am Hinterkopf.

Tobias schrie auf und sackte in sich zusammen. Sein Gesicht tauchte in das Wasser, das sich auf dem Boden gesammelt hatte.

»Festhalten!«, gellte Sadik.

Tobias hob den Kopf. Vor seinen Augen drehte sich alles und er glaubte sich übergeben zu müssen. Er sah auf einmal das Gesicht von Moustique und ein Messer mit langer Klinge. Instinktiv umklammerte er die vordere Ducht.

»Verfluchter Heide!«, schrie Moustique und kappte das Bugtau.

Im selben Augenblick durchschnitt Sadik das Tau am Heck. Blitzschnell rammte er danach das Messer in die Bordwand, da nicht mehr die Zeit war, es in die Scheide zurückzustecken, und umklammerte die Ruderpinne.

Und das Beiboot stürzte in die Tiefe.