Sturmfahrt

 

Das Beiboot stürzte mit einer gefährlichen Buglastigkeit und einer starken Neigung nach Steuerbord der schäumenden Hecksee der Brigantine entgegen. Geistesgegenwärtig warf sich Jana auf die andere Seite. Mit der linken Hand hielt sie sich am Dollbord fest, während sie mit der rechten den Bambuskäfig unter ihren Leib zog. Den Bruchteil einer Sekunde später klatschte das Boot in die Wellen, und ein Schwall Wasser schlug auf der Steuerbordseite in das winzige Gefährt und durchnässte sie wieder bis auf die Haut.

»Allah jil-anak, Leon! … Allah verfluche dich!«, brüllte Sadik, sicherte schnell das Messer und brachte das Boot mit einem knappen Ausschlag der Ruderpinne mit dem Bug vor den Wind.

Tobias war noch wie benommen, insbesondere von dem Schlag, den Jana ihm mit dem Käfig versetzt hatte, und blickte zur Alouette hinüber, die sich rasch von ihnen entfernte. An ihrer Heckreling drängten sich die Männer. Dann blitzte etwas auf, begleitet von einem scharfen Knall. Man schoss auf sie! Doch sie waren schon zu weit entfernt, als dass die Kugel sie noch hätte erreichen können. Und grimmiger Triumph erfasste ihn. Er drohte ihnen mit der Faust, und obwohl er wusste, dass sie ihn nicht würden hören können, brüllte er ihnen einen lästerlichen Fluch nach, in dem fast alle groben Schmähungen vorkamen, die er in den Stallungen vom Falkenhof und in den Wochen auf den Volksfesten aufgeschnappt hatte.

Jana, die sich zitternd aufgerichtet hatte, schloss sich ihm an, während Unsinn zu ihren Füßen kreischte, was aber mehr dem Umstand zuzuschreiben war, dass er bis zum Bauch im Wasser saß.

»Wir müssen den Mast aufstellen und das Segel setzen!«, schrie Sadik und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass sie ohne Segel ein hilfloser Spielball der Wellen waren. Im Boot lagen zwar auch zwei Riemen, aber gegen die gewaltige Kraft der Wellen, die sich noch immer meterhoch auftürmten, konnten auch zwei geübte Ruderer wenig ausrichten.

»Ich komme!«, rief Tobias.

»Bleib, wo du bist! … Jana, du musst solange die Ruderpinne übernehmen!«

»Ich habe noch nie ein Boot gesteuert, aber ich werde es versuchen, Sadik!«, schrie sie zurück, und es tat ihr gut, so laut in den Wind zu brüllen. Es befreite sie ein wenig von der ungeheuren Spannung und der Angst, die noch immer in ihr saßen.

»Du wirst es nicht versuchen, du wirst es machen – und zwar richtig, weil es sonst das Letzte gewesen ist, was du in deinem jungen Leben getan hast!«

Jana kroch zu Sadik ans Heck. Er übergab ihr das Ruder und zeigte ihr, wie sie das Boot auf Kurs halten musste. Er beschwor sie, so gut es ihr möglich war, darauf zu achten, dass der Bug immer in Windrichtung zeigte. »Stemm dich gut ab und halte dich fest!«

Dann kämpften Tobias und Sadik mit dem Wind und den Wellen um den Mast. Mehr als einmal schien es, als würden die Naturgewalten die Oberhand behalten. Stehen konnten sie nicht. Sie wären unausweichlich über Bord gegangen, denn das Boot tanzte wie ein Korken auf den Wellen, zumal Jana noch kein Gefühl hatte, wie stark die jeweiligen Ausschläge mit der Ruderpinne sein mussten, um den Kurs zu korrigieren.

So mussten sie knien, und das war kaum eine ideale Stellung, um auf einem schwankenden Untergrund mit einem Steckmast zu ringen, dem der Wind und die Gesetze der Schwerkraft einen völlig anderen Weg aufzwingen wollten als sie.

Beinahe wäre er ihren Händen entglitten. Er knallte auf das Dollbord und tauchte mit dem oberen Drittel in die See. Tobias und Sadik hatten das entsetzliche Gefühl, als hätten plötzlich ein dutzend unsichtbare Hände unter Wasser nach ihrem Mast gegriffen, die ihnen das segelumwickelte Rundholz nun entreißen wollten.

Tobias’ Finger krallten sich um die Leine, mit der das Segel am Mast festgezurrt war, während er sich mit den Knien gegen die Planken stützte. Halb hing er über den Bootsrand hinaus. Sadik schrie ihm eine Warnung zu. Wenn eine Welle sie jetzt auf der anderen Seite querab erwischte, würde er über Bord gehen.

Sein Gedanke galt jedoch allein dem elenden, störrischen Mast. Wenn er ihnen von der See entrissen wurde, waren sie so gut wie verloren. Denn ständig schwappte Wasser über das Heck ins Boot. Nur wenn es ihnen gelang, den Mast aufzurichten und mit dem Segel Fahrt vor dem Wind zu machen, konnten sie sozusagen auf oder doch zumindest mit den Wellen reiten.

Mit aller Kraft zerrte Tobias an der Leine, und eher unbewusst drückte Jana die Ruderpinne in diesem Moment nach Backbord, sodass das Boot ein wenig nach Steuerbord herumschwang. Damit verringerte sich der Winkel zwischen Boot und Mast, der an Steuerbord in einem Winkel von fast neunzig Grad über das Dollbord ins

Wasser hinausragte, dramatisch.

Auch Sadik erkannte das Glück des Augenblicks. »Pack die Spitze!«, schrie er. »Jetzt!«

Tobias beugte sich noch einmal weit über das Dollbord, schlang seinen rechten Arm um das vordere Ende des Mastes, der ihm entgegenkam, und riss ihn mit aller Kraft aus dem Wasser.

Sadik lachte kehlig. »Sich schinden bringt Segen! … Und nun noch einmal, Leichtmatrose Tobias!«, rief er, total durchnässt und einen blutigen Kratzer auf der Stirn, doch in den Augen einen Blick des Stolzes.

»Das nächste Mal ziehst du den verdammten Mast wieder aus dem Wasser!«, erwiderte Tobias, spürte jedoch, dass Selbstvertrauen und die Hoffnung stärker wurden als die Angst.

»Hoch mit dem Zahnstocher!«

Das war noch immer leichter gesagt als getan. Diesmal gingen sie jedoch vorsichtiger zu Werke. Ein zweites Mal würde es ihnen vielleicht nicht gelingen, den Mast noch einmal in letzter Sekunde zu bergen.

Als das Boot ein tiefes Wellental hinabschoss, waren sie in dieser erschreckend tiefen Wasserschlucht für einige Sekunden dem Wind entzogen. In diesem Moment schafften sie es, den Mast in seine Halterung zu rammen.

»Leinen los!«, brüllte Sadik.

»Was meinst du, was ich tue!«, schrie Tobias zurück. »Bestimmt nicht Seemannsknoten üben!«

Sadik lachte. »Kümmere du dich um das Segel, ich übernehme wieder das Ruder … Wir werden es schaffen, Freunde!«

Das Segel schlug wie wild hin und her. Es knatterte wie Musketenschüsse, und Tobias hatte bis dahin nicht gewusst, wie weh es tat, von einem Ende wassergetränkten Segeltuchs am Arm getroffen zu werden. Doch dann fuhr der Wind hinein und blähte es.

Augenblicklich spürte Sadik die Kraft, die auf das Ruder einwirkte. Endlich ließ sich das Boot richtig steuern. Nun hatten sie eine gute Chance, die Küste von England zu erreichen.

Es blieb jedoch eine nervzehrende, gefährliche Sturmfahrt. Für ein Schiff von der Größe der Alouette hatte sich die See vergleichsweise beruhigt. Die Wogen türmten sich nicht mehr haushoch auf. Doch für ein Beiboot bargen auch Wellen von immerhin noch gut drei, vier Metern Höhe tödliche Gefahren.

Ihre Aufmerksamkeit durfte nicht einen Augenblick nachlassen und ständig mussten sie Wasser aus dem Boot schöpfen. Es war zermürbend, denn die Zeit wurde in solch einer Situation, wo eine starke Bö das Segel zerfetzen und den Mast splittern oder ein besonders schwerer Brecher das Boot unter sich begraben konnte, zu etwas sehr Relativem. Sie bestand eigentlich nur aus einer endlosen Kette kritischer Augenblicke.

Und je länger die Sturmfahrt dauerte, desto stärker wurde die körperliche und seelische Erschöpfung. In der ersten Stunde, nachdem es ihnen gelungen war, den Mast aufzustellen, hatten sie sich trotz der allgegenwärtigen Gefahr in einer fast euphorischen Stimmung befunden. Sie hatten sich sogar scherzhafte Bemerkungen zugerufen, denn sie sahen, wie gut das Boot unter Segel mit der aufgewühlten See fertig wurde.

Doch die Nacht war lang und forderte ihren Tribut. Sie froren in den nassen Sachen, dass ihnen die Zähne klapperten, ihre Finger wurden steif, und ihr erschöpfter Körper rebellierte gegen den permanenten Druck, sich nicht einmal für wenige Minuten entspannen und gehen lassen zu dürfen, sodass sich nach der euphorischen Phase eine Zeit der Verzweiflung anschloss.

Hatte es überhaupt Sinn, dass sie so verbissen um ihr Leben kämpften? Würde es sie früher oder später nicht doch erwischen? Was war, wenn sich der Wind mittlerweile gedreht hatte und sie der Küste überhaupt nicht näher kamen? Trieb sie der Wind vielleicht aufs offene Meer hinaus?

Die merkwürdigsten Gedanken gingen ihnen durch den Sinn, vermischten sich mit Erinnerungen an vergangene schöne Erlebnisse und weckten Bedauern über verpasste Gelegenheiten, dies nicht gesagt und jenes nicht getan zu haben.

Als der Tag heraufdämmerte, war die See noch immer aufgewühlt, ja, der Wind nahm nun sogar wieder an Stärke zu, und da sie nicht einen trockenen Faden mehr am Leib trugen, war ihnen so kalt, als wären sie eisigem Winterwetter ausgesetzt. Auch Unsinn litt, obwohl Jana die alte Pferdedecke um den Käfig gewickelt hatte.

Grau und bewölkt zog der neue Tag herauf und nirgends zeigte sich ein Schiff, das sie aus Seenot hätte erretten können. An so einem Tag blieben auch die mutigsten Fischer im Hafen.

»Es kann nicht mehr weit sein!«, versicherte Sadik, während sich das Boot wieder einen Wellenberg hochkämpfte.

Tobias umklammerte die Schot des Segels mit Händen, die fast völlig taub waren. »Das hast du nun schon so oft gesagt, dass …«

»Tobias! … Sadik! Da vorn!«, schrie Jana, als sie den Kamm erreichten. Und dann kippte ihre Stimme förmlich über: »Land! … Da drüben ist Land! … Die Küste!«

Fast wäre Tobias aufgesprungen. Doch er unterdrückte diesen ersten gedankenlosen Impuls. Zudem hätte er auch gar nichts gesehen, denn nun tauchte das Boot wieder hinab. Doch auf dem Kamm der nächsten Welle reckte er den Kopf, spähte aufgeregt in die Richtung, in die Jana wie wild deutete, und fand ihre Entdeckung bestätigt. »Mein Gott, es stimmt! … Da liegt Land voraus, Sadik! … Die Küste! … England! … Wir haben es geschafft!«, stieß er ebenso glücklich wie fassungslos hervor, dass ihre stürmische nächtliche Odyssee mit dem Beiboot endlich ein Ende hatte. Ein Schauer ging durch seinen Körper, diesmal jedoch nicht, weil ihm kalt war.

»Allah sei gepriesen!«, rief Sadik, dessen Gesicht von der Anstrengung der letzten Stunden stark gezeichnet war.

Die Küste lag im Dunst des Morgennebels und sie flogen nun nahezu auf diesen dunklen Streifen zu, der schnell an Größe und Konturen gewann.

»Brandung!«, rief Tobias warnend, als er den weißen Riegel schäumender Brandungswogen entdeckte.

»Dann haltet euch bereit und gut fest! Nach dem, was wir die letzten Stunden hinter uns gebracht haben, werden wir uns doch jetzt nicht von dieser Brandung zum Beidrehen zwingen lassen! Wer weiß, wie lange wir noch segeln müssten, um eine ruhigere Bucht zu finden!«, rief Sadik ihnen mit wilder Entschlossenheit zu, die zermürbende Segelpartie hier und jetzt zu einem Ende zu bringen.

Jana und Tobias suchten einen festen Halt und starrten mit angstgezeichneten Gesichtern auf die hoch steigende Brandung, deren Donnern zu einem erschreckenden Getöse anschwoll, je näher sie kamen.

Wie ein Pfeil schoss das Beiboot mit prall gefülltem Segel auf diese Barriere schäumender Wogen zu.

»Kopf runter und festhalten!«, brüllte Sadik, um den Brandungslärm zu übertönen. »Allah kherim!« Und mit lauter Stimme begann er die erste Sure zu beten.

Der Bug bohrte sich in die weiße, wirbelnde Wand. Tobias hörte, wie Holz barst. Es musste der Mast sein. Doch er konnte nichts mehr sehen, ja nicht einmal mehr atmen. Denn überall war Wasser, tonnenschwer. Erst presste es ihn nieder, dann zerrte es an ihm und schien ihn aus dem Boot saugen zu wollen.

Wo war Jana? … Sadik? … Er hörte seine Stimme nicht mehr. Hatte ihn der Mast getroffen und aus dem Boot geschleudert? Das durfte nicht sein! Ihm wurde die Luft knapp. Seine Lungen schmerzten immer stärker. Als würde jemand Nadeln hineinstechen. Er brauchte Luft! O Gott, er erstickte! War das ihr Boot, das sich drehte?

Er glaubte, jeden Augenblick ersticken zu müssen.

Und dann gab die See das Boot frei.

Mastlos trieb es im flachen Wasser auf den Strand zu.

Verstört richtete sich Tobias auf. Ihm war, als hätte er ein Wunder erlebt. Merkwürdigerweise hatte er den Eindruck von friedlicher Stille. Das Donnern der Brandung hinter ihnen kam ihm wie ein Flüstern vor.

Vor ihm rappelte sich Jana auf, hustete, versicherte sich, dass Unsinn noch lebte und sagte mit verwunderter Stimme: »Das Paradies kann es schlecht sein, so dreckig, wie der Strand aussieht. Und für die Hölle hätte sich der Teufel bestimmt auch mehr einfallen lassen. Also müssen wir es tatsächlich geschafft haben.«

Sadik lag quer und reichlich verrenkt im Heck des Bootes. Er zog sich schwerfällig und mit schmerzenden Gliedern hoch, grinste breit und sagte mit dem ihm eigenen trockenen Humor: »Von wegen Pechvogel! Du siehst, Jana, Unglücksrabe darf man sich erst dann nennen, wenn man von Beruf Sargmacher ist und die Menschen aufhören zu sterben.«

»Du hast Recht, Jana«, sagte Tobias und spürte das Verlangen, lauthals zu lachen und Jana und Sadik in seine Arme zu schließen. Er war völlig erledigt, fühlte sich jedoch gleichzeitig wie neugeboren. »Wir befinden uns weder im Himmel noch in der Hölle, sondern an einem wunderbaren englischen Morgen in der erlesenen Gesellschaft unseres auserwählten Beduinen!«