Nicht jeder ist ein Tarafa!
Tobias begann zu erzählen, was sich in jenen Wochen auf Gut Falkenhof ereignet hatte. Mit zunehmender Verwunderung, aber auch mit großer Spannung hörte Rupert Burlington ihm zu, hielt sich mit Fragen und Kommentaren, die den Erzählfluss des jungen Mannes unterbrochen hätten, jedoch zurück. Immer wieder schüttelte er den Kopf, als könnte er nicht glauben, was er da hörte.
Tobias schilderte ihm ihre Flucht im Ballon und wie sie Jana wiedergefunden hatten, und als er zu ihrer abenteuerlichen Reise nach Paris kam, übergab er Sadik und Jana das Wort. Sie berichteten Rupert Burlington, was sich dort in den Wirren der Revolution zugetragen hatte, wie sie den Koran gefunden und gleich wieder an Zeppenfeld verloren hatten. Wie es diesem gelungen war, Jana aus dem Haus von Jean Roland zu entführen, und wie sie Jana aus seiner Gewalt hatten befreien können, ohne ihm die wichtige Landkarte, die das Lösegeld für Janas Freiheit hatte sein sollen, aushändigen zu müssen.
Den letzten Teil ihrer Reise, der sie unter Lebensgefahr von Frankreichs Küste nach Mulberry Hall geführt hatte, fasste Sadik mit einem Dutzend Sätzen zusammen. Denn er sah Tobias und Jana ihre kaum noch zu zügelnde Ungeduld an, endlich zum Ende zu kommen und von Rupert Burlington etwas über den Verbleib des Gebetsteppichs und des dazugehörigen Gedichtes zu erfahren.
Deshalb schloss er ihren langen Bericht mit den Worten: »Es ist also der Gebetsteppich, Sihdi Rupert, der uns nach Mulberry Hall geführt hat und der auch Zeppenfeld mit seinen Komplizen an diesen Ort führen wird – sofern er nicht schon vor uns hier eingetroffen ist.«
»Unglaublich! Einfach unfassbar! Hätte ich diese Geschichte von einem anderen gehört, ich würde nichts davon glauben!«, murmelte Rupert Burlington fast verstört und schnippte mit den Fingern. »Was Wattendorf damals von sich gegeben hat, war also doch nicht das leere Geschwätz eines geistig Verwirrten. Dieses Verschollene Tal gibt es demnach tatsächlich. Und ausgerechnet dieser Schwächling und Aufschneider Eduard Wattendorf entdeckt es. Welch eine Ironie und Laune des Schicksals!«
Sadik nickte mit grimmiger Miene, denn er konnte gut nachempfinden, was jetzt in Rupert Burlington vor sich ging.
»Ich wollte es erst auch nicht glauben, dass ausgerechnet einem so verachtungswürdigen Mann wie Wattendorf, der seine Kameraden schändlich verraten und in den Tod geschickt hatte, dass Allah solch einer Kreatur das Glück zuteil werden ließ, eine derart bedeutende Entdeckung zu machen. Doch es hat sich nun einmal so zugetragen, daran besteht kein Zweifel.«
Rupert Burlington strich sich nachdenklich über den buschigen Schnurrbart. »Aber einen wirklich handfesten Beweis, dass das alles nicht doch eine geistige Fata Morgana von Wattendorf ist, gibt es nicht, oder?«
»Und ob es den gibt!«, rief Tobias.
»So? Und was ist das für ein Beweis?«
»Zeppenfeld ist der Beweis, dass Wattendorf sich das mit dem Tal der Königsgräber nicht einfach so aus den Fingern gesogen hat. Einen besseren Beweis kann es doch gar nicht geben!«
Sadik pflichtete ihm bei. »Sie kennen Zeppenfeld zur Genüge, Sidhi Rupert …«
»In der Tat!«
»Er ist kein Mann, der Zeit und Geld in eine vage Idee investieren würde, schon gar nicht in eine, die einem Irren im Fieber über die Lippen kommt. Er ist berechnend und skrupellos.«
»Sie vermuten also, dass Zeppenfeld mehr über dieses Verschollene Tal weiß als jeder andere von uns?«
Sadik nickte. »Das ergibt sich schon aus der Tatsache, dass er wusste, was Wattendorf zu Sihdi Siegbert nach Gut Falkenhof, zu Jean Roland nach Paris und zu Ihnen nach Mulberry Hall geschickt hat. Das kann er nur von Wattendorf selbst erfahren haben, was wiederum die Vermutung nahe legt, dass er Wattendorf noch einmal in Cairo aufgesucht haben musste – und zwar wenige Monate vor seinem Eintreffen auf Gut Falkenhof. Es fiel uns erst viel später auf, aber für Februar hatte er eine sehr gesunde, sogar noch ein wenig gebräunte Gesichtsfarbe. Ja, er ist vorher ganz sicher bei Wattendorf in Cairo gewesen. Anders ist sein Wissen über den Falkenstock, den Koran und den Gebetsteppich nicht zu erklären.«
»Mhm, das klingt logisch«, stimmte Rupert Burlington ihm zu. »Nur, warum sollte er Zeppenfeld in sein Geheimnis einweihen, wenn für diesen in seinem großen Rätsel kein Platz vorgesehen war?«
»Wer sagt denn, dass Wattendorf ihm aus freien Stücken davon erzählt hat?«, fragte Sadik zurück und in seiner Frage schwang ein böser Verdacht mit.
Wieder einmal machte sich das Monokel selbstständig und flog haarscharf am Weinglas vorbei, das Rupert Burlington gerade an die Lippen heben wollte. »Sie meinen, Zeppenfeld hat diese Information unter Anwendung von Gewalt von ihm erpresst?«
Sadik zuckte mit den Schultern. »Gewohnheiten ändert nur das Leichentuch und Zeppenfeld hat nie Skrupel gekannt.«
»Zuzutrauen ist es ihm allemal!«, sagte auch Jana voller Abscheu.
Rupert Burlington nahm einen Schluck, kaute nachdenklich auf dem Wein herum wie auf einer harten Nuss und sagte dann: »Gut. Einmal angenommen, er war in Cairo, hat aus irgendeinem Grund Verdacht geschöpft, dass an der Geschichte mit dem Tal der Königsgräber etwas dran ist, und Wattendorf daraufhin befragt …« Er zögerte. »Unter der Folter, sprechen wir es ruhig aus.«
Jana fuhr ein Schauer durch den Körper. Sie war sicher, dass Zeppenfeld genau das getan hatte.
Sadik nickte knapp. »So kann es gewesen sein – in etwa.«
»Aber wozu brauchte Zeppenfeld dann noch die Karte aus dem Spazierstock und die anderen Informationen, die im Koran und im Gebetsteppich versteckt sind?«, wandte Rupert Burlington ein. »Einem Mann wie Wattendorf braucht man keine großen Schmerzen zuzufügen, um ihn zum Reden zu bringen. Er ist, vielleicht müssen wir mittlerweile sagen, er war in jeder Hinsicht ein Schwächling. Zeppenfeld wird leichtes Spiel mit ihm gehabt haben, auch noch die kleinste Einzelheit aus ihm herauszuholen. Also, warum ist er dann nach Europa zurückgekehrt, um uns diese verrückten Dinge wie den Koran und den Gebetsteppich abzujagen, statt von Cairo aus direkt zum Verschollenen Tal aufzubrechen? Das macht doch keinen Sinn!«
Jana nagte an ihrer Unterlippe und musste ihm insgeheim Recht geben. So gesehen machte es tatsächlich keinen Sinn und ließ sogar den Verdacht zu, dass sie möglicherweise doch allesamt – Zeppenfeld eingeschlossen – einer Fata Morgana nachjagten.
Einen Augenblick herrschte Schweigen.
Dann fragte Tobias: »Wattendorf war körperlich ein Wrack, nicht wahr?«
Sadik nickte und der Lord sagte: »Odomir Hagedorn, ein guter Freund von mir, der seit Jahren in Cairo lebt, schrieb einmal, er wäre Wattendorf im Basar begegnet und hätte ihn kaum erkannt, weil er kaum mehr als ein wandelndes Skelett sei. Und das war in einer Zeit, als wir alle schon seit Monaten wieder in Europa waren. Doch erstaunlicherweise ging es ihm finanziell sehr gut …«
»Vielleicht hat Zeppenfeld ihm zu viel … zugemutet«, führte Tobias seinen Gedanken zu Ende, der Zeppenfeld des Mordes verdächtigte. »Ich meine, wenn er Wattendorf tatsächlich Gewalt angetan und ihn dabei umgebracht hat, bevor dieser ihm alles erzählen und beschreiben konnte, dann macht sein Verhalten sehr wohl Sinn.«
»Sie haben Recht, Tobias, auch wenn mir diese Vorstellung wenig gefällt«, sagte Rupert Burlington.
»Aiwa, so kann es gewesen sein!« Sadik warf Tobias einen anerkennenden Blick zu.
Tobias lächelte. »Können wir jetzt den Teppich und den Brief mit dem Gedicht sehen, Rupert?«
»Auf das Gedicht bin ich ganz besonders gespannt«, sagte Jana mit vor Aufregung geröteten Wangen.
Rupert Burlington hüstelte ein wenig verlegen, während er zur Serviette griff und sein Monokel putzte. »Ich bedaure, Ihnen im Augenblick mit keinem von beidem dienen zu können, meine Freunde …«
Jana, Sadik und Tobias fuhr der Schreck in die Glieder. Stand ihnen wieder so eine Suche wie in Paris nach dem Koran bevor?
»Nur im Augenblick?«, stieß Tobias hoffnungsvoll hervor. »Das heißt, er befindet sich zwar nicht hier auf Mulberry Hall, aber Sie können ihn rasch beschaffen?«
»Nun ja, so ähnlich«, sagte er und druckste etwas herum.
»Was den Gebetsteppich betrifft, so brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, denn der ist in der Tat rasch zu beschaffen.«
Tobias atmete erleichtert auf. »Gott sei Dank!«
»Er liegt keine zehn Meilen von hier auf Royal Oak im Schachzimmer von Lord Desmond Pembroke. Ich verlor ihn letztes Jahr nach der Fuchsjagd an ihn, als ich mich nach einem halben Dutzend Brandys noch zu einer Partie Schach überreden ließ. Es gehört zu unserem Spiel, dass wir stets etwas Kurioses einsetzen«, fügte er hinzu, als müsste er erklären, wieso er mit seinem Nachbarn um einen arabischen Gebetsteppich gespielt hatte. »Ich muss zugeben, dass ich froh war, diesen Teppich auf diese Weise aus dem Haus zu bekommen. Ich hatte keine Verwendung für ihn, wollte es auch nicht, eben weil es ein Geschenk von Wattendorf war. Ich empfand es sowieso schon als eine dreiste Unverschämtheit, dass er mir überhaupt geschrieben und ein Geschenk gemacht hat … ganz davon abgesehen, dass es sich dabei um einen ordinären Gebetsteppich von sehr einfacher Güte handelte, wie man ihn in den Basars von Cairo zu hunderten angeboten bekommt.«
»Tobias’ Vater und Monsieur Roland haben nicht anders auf Wattendorfs Geschenke reagiert«, sagte Jana verständnisvoll.
Tobias nickte. »Ja, aber das ist jetzt nicht weiter von Bedeutung. Hauptsache, der Teppich ist in Sicherheit und Sie können ihn schnell wieder in Ihren Besitz bringen. Oder werden Sie da Schwierigkeiten mit Lord Pembroke bekommen?«
»Ganz und gar nicht!«, versicherte Rupert Burlington. »Wir sind eng befreundet. Und wenn ich Desmond die Kette mit den Krokodilzähnen zum Tausch anbiete, auf die er schon seit Jahren ganz versessen ist, wird der Teppich so schnell wieder auf Mulberry Hall sein, als könnte er fliegen. Wir müssen nur warten, bis er aus Irland zurück ist. Aber in spätestens zwei Wochen wird er wieder auf Royal Oak sein.«
Sadik runzelte die Stirn und Tobias fiel fast die Kinnlade herunter. »Lord Pembroke ist in Irland und kommt erst in zwei Wochen zurück?«
»So ist es«, bestätigte Rupert Burlington. »Er ist zu Gast bei Freunden, die da drüben ein kleines Poloturnier veranstalten. Nichts Großes, denn die Stallungen des Grafen, der sich ein paar Freunde eingeladen hat, bieten gerade mal fünfzig Pferden Unterkunft und Versorgung«, sagte er leichthin. »Aber vermutlich trifft der gute Desmond schon in neun, zehn Tagen wieder auf Royal Oalcein. Seine Frau, Lady Bridget, wird darauf bestehen, schon wegen der Anproben bei ihrer Schneiderin. Sie wird zum Kostümfest bestimmt wieder in einer atemberaubenden Aufmachung erscheinen. Zudem kann sie Pferde nicht ausstehen und findet Polo für einen Lord viel zu vulgär …«
»Kostümfest?«, fragte Sadik irritiert.
»Nun, ich gebe jedes Jahr in der ersten Septemberwoche ein Kostümfest auf Mulberry Hall, und diese Feste, für die ich einen gewissen Aufwand nicht scheue, wie ich freimütig zugebe, stehen mittlerweile in dem Ruf, zu den gesellschaftlichen Höhepunkten der Saison zu gehören. Bei solchen Festen fehlt Lady Bridget nie und zu meinen Kostümfesten lässt sie sich stets etwas Aufsehenerregendes einfallen.«
»Das heißt also, wir müssen warten, bis Lord Pembroke aus Irland zurück ist?«, vergewisserte sich Jana und aus ihrer Stimme klang unüberhörbar Enttäuschung.
»Ich bedaure, aber diese Geduld werden wir wohl alle aufbringen, Miss Jana. Denn es ist undenkbar, dass ich mich nach Royal Oak begebe und den Teppich ohne seine Zustimmung hole, auch wenn ich diese schon jetzt als gegeben voraussetzen kann. Es ist ein Gebot der Höflichkeit, das ich auch beim besten Willen nicht verletzen kann und will«, erklärte er. »Aber ich versichere, dass Ihnen Ihr Aufenthalt auf Mulberry Hall nicht langweilig wird.«
Tobias verzog das Gesicht. »So lange Zeppenfeld nicht weiß, wo er den Teppich suchen muss …«
»Diese Gefahr sehe ich nicht«, versuchte Rupert Burlington sie zu beruhigen. »Weder hier noch auf Royal Oak weiß jemand etwas von einem arabischen Gebetsteppich. Ich hatte ihn damals eigenhändig in meine Satteltasche gesteckt, um ihn einem der Stallburschen zu schenken, vergaß es dann aber. Erst als ich nach der Jagd noch spät in der Nacht mit Desmond zusammensaß, uns der Brandy ausging und ich mich meines gefüllten Flakons in meiner Satteltasche erinnerte, brachte ich auch den Teppich wieder zum Vorschein. Keiner von meinen Bediensteten hat diesen Teppich je zu Gesicht bekommen oder könnte gar darüber Auskunft geben, wo er geblieben ist. Ihre Sorge ist also völlig unbegründet.«
Sadik vertraute seinem Wort. »Gut, dann haben wir ja Zeit, uns zu erholen und mit dem Gedicht zu beschäftigen, das Wattendorf Ihnen mit dem Teppich zugeschickt hat.«
Rupert Burlington seufzte. »Es fällt mir schwer, es auszusprechen, aber … Brief und Gedicht existieren nicht mehr. Sie haben den Tag ihrer Ankunft auf Mulberry Hall nicht überlebt, wenn ich das so sagen darf, denn ich warf beides sofort ins Feuer.«
Ein unterdrücktes Aufstöhnen ging durch den Raum.
Tobias fühlte sich plötzlich todmüde. Der Brief! Das Rätsel, das ihnen den Weg zur Lösung des Geheimnisses wies, das Wattendorf im Teppich verborgen hatte, war zu Asche verbrannt. Unwiderruflich vernichtet! Hatten sie damit einen der beiden ›Schlüssel zu den Pforten im Innern‹, wie Wattendorf sie in seinem Brief genannt hatte, verloren und somit auch den Zugang ins Tal des Falken eingebüßt?
Jana machte ein nicht weniger bitter enttäuschtes Gesicht. »O Gott!«, murmelte sie niedergeschlagen.
Sadik gab einen schweren Stoßseufzer von sich. »Dann war es Allahs Wille«, versuchte er sich zu trösten.
Rupert Burlington machte eine zerknirschte, schuldbewusste Miene. »Ja, jetzt weiß ich, welche Dummheit ich damit begangen habe. Natürlich hätte ich sein Schreiben aufbewahren und mich mit Siegbert und Jean in Verbindung setzen sollen, um zu erfahren, was sie davon hielten. Aber nicht jeder ist dazu geboren, ein Tarafa zu sein.«
Sadik nickte wissend.
Noch ehe Tobias und Jana fragen konnten, was es denn mit diesem Tarafa auf sich hatte, fuhr Rupert Burlington schon fort:
»Ich habe mich von meinen Gefühlen zu einem vorschnellen Urteil und damit zu einer ausgemachten Torheit hinreißen lassen. Aber als ich Wattendorfs Schreiben und sein scheinbar dümmliches Gedicht in den Händen hielt, überkam mich der Zorn. Erstens glaubte ich nicht an seine Geschichte von dem Verschollenen Tal, das er entdeckt haben wollte, und zweitens wollte ich mit ihm nichts zu tun haben. Deshalb war ich sogar versucht gewesen auch den Teppich zu verbrennen.«
»Seien wir dankbar, dass wenigstens das nicht geschehen ist«, tröstete sich Sadik.
»Aber Sie haben das Gedicht gelesen, nicht wahr?«, fragte Tobias, der noch nicht alle Hoffnungen, den Inhalt zu erfahren, aufgegeben hatte.
»Gewiss …«
»Es bestand aus drei Strophen?«
»Ja, richtig.«
»Und die erste lautete: ›Die Buße für die Nacht / Die Schande und Verrat gebar / Der Teppich hier darüber wacht / Was des Verräters Auge wurd gewahr‹?«
»In der Tat!«, rief Rupert Burlington verblüfft. »Woher wissen Sie das?«
»Es lag auf der Hand. Die erste Strophe des Gedichtes zum Falkenstock lautet genauso wie die zum Koran – bis auf ein einziges Wort. Das Gedicht, das mein Vater erhalten hat, hat in der ersten Strophe als dritte Zeile ›Der Falke hier darüber wacht‹, während es in Monsieur Rolands Gedicht an derselben Stelle ›Der Koran hier darüber wacht‹ heißt«, erklärte Tobias. »Somit brauchte man kein Hellseher zu sein, um zu wissen, dass in dem für Sie bestimmten Gedicht an derselben Stelle ›Der Teppich hier darüber wacht‹ stehen musste.«
»Das Rätsel selbst steckt stets in der zweiten und dritten Strophe«, sagte Jana. »Können Sie sich noch erinnern, wie die lauteten?«
Rupert Burlington teilte mit dem Monokel seinen Schnurrbart unter der Nase, während er sich zu erinnern versuchte. Eine geraume Weile verstrich. Dann schüttelte er den Kopf.
»Im Augenblick kann ich mich nur an Bruchstücke erinnern. Da war von Kartusche und Mäander die Rede … und von irgendetwas Heiligem … und einem See. Das ist alles, was mein Gedächtnis behalten hat. Zumindest kann ich mich im Moment an mehr nicht erinnern.«
»Kartusche, Mäander, etwas Heiliges und ein See«, wiederholte Tobias enttäuscht. »Damit werden wir leider wenig anfangen können.«
»Es tut mir Leid, aber ich habe das Gedicht nur einmal gelesen. Es klang mir sehr wirr und ohne jeden Sinn, was für das Erinnerungsvermögen natürlich wenig zuträglich ist. Ich wünschte, ich hätte ein solch phänomenales Gedächtnis wie Sie, Tobias. Siegbert hat mir davon berichtet. Aber bedauerlicherweise gehört es nicht zu meinen Stärken, etwas wortwörtlich zu behalten, was ich nur einmal kurz überflogen habe.«
»Die Erinnerung ist zeitweilig wie eine verborgene Quelle im Wüstensand. Manchmal muss man tief graben und viel Sand wegschaufeln, bis es einem plötzlich klar und frisch entgegensprudelt«, sagte Sadik. »Und jetzt, da Sie wissen, wie wichtig jede Zeile, ja sogar jedes Wort ist, an das Sie sich erinnern können, lohnt es sich, in der scheinbaren Wüste des Vergessens nach dem verborgenen Quell Ihres unterbewussten Wissens zu suchen.«
»Sie können sicher sein, dass ich genau das tun werde.«
Noch lange saßen sie am Tisch und redeten über jene unglückliche Expedition, die den wahren Charakter von Zeppenfeld und Wattendorf zum Vorschein gebracht und offenbar zur Entdeckung des Verschollenen Tals geführt hatte, von dem in so vielen Geschichten der Beduinen die Rede war.
»Heben wir uns einige Mutmaßungen und Fragen für morgen und übermorgen auf«, machte Sadik dem nächtlichen Gespräch schließlich ein Ende, als Tobias und Jana immer öfter ein Gähnen unterdrücken mussten. »Uns bleibt bis zur Rückkehr von Lord Pembroke Zeit genug, um uns über einiges Klarheit zu verschaffen, was für uns jetzt noch im Dunkeln liegt. Diese Tage der Rast und Ruhe werden uns bestimmt gut tun.«
»Wann immer Desmond zurückkommt, ich bestehe darauf, dass Sie erst nach dem Kostümfest abreisen!«, verlangte Rupert Burlington. »Ich wäre untröstlich, wenn Sie mir nicht die Ehre und Freude
Ihrer Gesellschaft gäben!«
»Was ist die Mühle wert, wenn das Mühlrad fort ist? Und wer schreitet schon über eine Brücke, von der er nicht weiß, über welchen Fluss sie führen soll?«, fragte Sadik spöttisch. »Suchen Sie den Quell Ihres verschütteten Wissens und wir bleiben bis zum Kostümfest gern Ihre Gäste, Sihdi Rupert.«
»So soll es sein!«
Ein Diener brachte sie zu ihren geräumigen, luxuriös ausgestatteten Quartieren. Sadik und Tobias teilten sich ein Zimmer, das durch eine Verbindungstür mit dem von Jana verbunden war.
»Ganz wie es einer Prinzessin zusteht«, meinte Tobias mit einem zärtlichen Lächeln, als er in ihrem Zimmer das Himmelbett mit den vier geschnitzten Pfosten und dem Baldachin sah, der mit fliederfarbener Seide bespannt war. Auch die Gemälde, Teppiche, Vorhänge und Sesselbezüge in ihrem Zimmer hatten eine geschmackvolle weibliche Note. Unwillkürlich stellte er sich Jana in einem schönen Kleid vor, das ihrer Figur besser gerecht wurde als diese weiten Flickenhosen. Hübsch würde sie darin aussehen, wie eine junge Frau, die sie ja auch war …
Leichte Röte legte sich über ihre Wangen, als sie seinem Blick begegnete. »Ich brauche nicht Samt und Seide, um glücklich zu sein. Und ich schlafe auch genauso gut in der harten Koje eines Gauklerwagens«, antwortete sie und beugte sich schnell zum Affenkäfig hinunter, um Unsinn herauszulassen.
»Ja, das weiß ich«, sagte Tobias. »Aber in einem Himmelbett ist man dem Himmel viel näher, wie ja das Wort schon sagt.«
Jana gab ihm keine Antwort, sondern tat so, als gelte ihre ganze Aufmerksamkeit Unsinn.
»Von welchem Himmel sprichst du?«, fragte Sadik, der auf einmal hinter ihm in der Tür stand, mit belustigtem Unterton.
Spontan kam Tobias das Wort ›Liebe‹ in den Sinn. Und obwohl er nicht einmal seine Lippen bewegt hatte, hatte er das Gefühl, dass Sadik genau wusste, was ihm durch den Kopf gegangen war. Nun schoss ihm das Blut heiß ins Gesicht.
»Ach, es war nur ein Scherz«, wehrte er hastig ab und wechselte geschickt das Thema, indem er fragte: »Aber sag mal, was hat Lord Burlington gemeint, als er vorhin äußerte, es sei eben nicht jeder dazu geboren, ein Tarafa zu sein?«
»Ja, was ist ein Tarafa?«, schloss sich Jana seiner Frage an, blickte dabei jedoch nicht auf, und Tobias empfand eine liebevolle Dankbarkeit, dass sie das Ihre dazu beitrug, Sadik von diesem Wortspiel mit dem Himmelbett abzulenken.
Ein amüsiertes Lächeln umspielte die Mundwinkel des Beduinen, als wollte er Tobias ohne viele Worte zu verstehen geben, dass er sehr wohl wusste, wie er ihr Interesse nach Tarafa in diesem Moment einzuschätzen hatte.
»Es geht um das geschriebene Wort«, antwortete er dann, »das bei uns Arabern schon immer in höchstem Ansehen stand und überall seinen Niederschlag findet. In der 96. Sure beispielsweise steht geschrieben: ›Lies, bei deinem Herrn, dem Glorreichsten, der den Gebrauch der Feder lehrte.‹ Und in einer alten hadith …«
»Sind das nicht die Aufzeichnungen von Mohammeds Zeitgenossen, die Begebenheiten um ihn und Äußerungen von ihm enthalten?«, fragte Tobias.
»Aiwa, und in solch einer alten hadith findet sich die viel sagende Eröffnung: ›Das Erste, was Gott schuf, war die Feder; und Gott sprach zur Feder: Schreibe! Und in jener Stunde eilte sie dahin und schrieb nieder, was geschehen wird.‹«
Jana hatte sich mit Unsinn, der auf ihre Schulter geklettert war, auf die Bettkante gesetzt. Sie kraulte ihm den Bauch mit den Fingerspitzen. »Das ist wirklich interessant, dass der Gott der Muslime zuerst die Feder schuf, während es in der Schöpfungsgeschichte der Christen heißt, dass er zuerst Himmel und Erde schuf und es Licht werden ließ.«
»Ich will dem Propheten ja nicht zu nahe treten, aber ohne Licht lässt sich ja auch wirklich schlecht schreiben«, warf Tobias ein wenig flapsig ein.
»Gottes Feder wird kaum darauf angewiesen sein, Tobias«, erwiderte Sadik gelassen. »Und nun zu Tarafa, nach dem ihr gefragt habt. Er war ein Beduinenpoet, des Schreibens und Lesens nicht mächtig, und lebte am Hofe des Königs der Ghassaniden, der über ein großes Reich am Euphrat herrschte. Tarafa gelangte ganz besonders wegen seiner bissigen Spottverse zu Ruhm und Ehren. Sie gefielen auch seinem König. Eines Tages jedoch machte Tarafa auch ein Spottgedicht über den Ghassanidenherrscher, was dieser nun gar nicht mehr lustig fand. Ganz im Gegenteil. Tarafas Verse erzürnten ihn dermaßen, dass er beschloss, den berühmten Dichter töten zu lassen, jedoch nicht an seinem Hofe, wo es zu viel Aufsehen erregt hätte. Der in Ungnade gefallene Beduinenpoet sollte in der fernen Provinz al-Bahrain von dem dortigen Statthalter hingerichtet werden.«
Tobias musste sofort an seinen Onkel denken.
»Der König schickte ihn mit der Lüge auf die Reise«, fuhr Sadik fort, »dass ihn in al-Bahrain große Ehrungen erwarteten. Doch der Brief, den er ihm für den Statthalter mitgab, enthielt in Wahrheit den Befehl ihn töten zu lassen. Da Tarafa ja nicht lesen konnte, wusste er nicht, dass er sein eigenes Todesurteil mit sich trug. In der Wüste begegnete er jedoch einem weisen Mann, der des Lesens kundig war und ihm verriet, welches Schicksal ihm drohte. Er riet Tarafa, den Brief des Königs zu zerreißen, in den Euphrat zu werfen und nach Norden zu fliehen, wo die Macht des Königs ihn nicht erreichen konnte.«
»Ein sehr vernünftiger Rat«, meinte Jana trocken, ahnte jedoch schon, dass dieser Beduinenpoet seine ganz eigenen Vorstellungen von Vernunft gehabt hatte.
»Nicht für Tarafa«, bestätigte Sadik ihren Verdacht. »Er wies das Ansinnen des weisen Mannes von sich und antwortete ihm: ›Lesen ist eine große Kunst wie auch das Schreiben. Nie soll ein geschriebenes Wort auf den Wogen eines Stromes hinabtreiben und auf ewig in seinen Fluten versinken. Denn eines Tages wird man auch die Lieder und Gedichte des Tarafa niederschreiben und lesen. Deshalb kann ich nicht zulassen, dass etwas Geschriebenes durch meine Schuld zerstört wird.
Lieber nehme ich den Tod auf mich, als dass ich ein geschriebenes Wort vernichte‹. Und genau das tat er auch. Er setzte seine Reise fort, übergab dem Statthalter den Brief mit seinem Todesurteil und starb einen qualvollen Tod, denn man begrub ihn bei lebendigem Leib.«
Tobias wiegte den Kopf, als hätte er eine Menge an Tarafas Verhalten auszusetzen. »Na ja«, sagte er zögernd. »Prinzipien sind ja schön und gut, aber er hätte auch sein Leben und den Brief retten können.«
Sadik schmunzelte. »Es geht hier nicht um Tarafa, Tobias. Es erübrigt sich auch zu fragen, ob er überhaupt wirklich gelebt oder ob er eine andere Wahl gehabt hat. Es gibt viele derartige arabische Geschichten, die alle dieselbe Moral verkünden: Geschriebenes darf unter keinen Umständen vernichtet werden!«
»Eine Moral, die viel Toleranz voraussetzt«, meinte Jana. »Denn das geschriebene Wort entspricht ja nicht immer dem, was einem selbst als Wahrheit, als richtig und wichtig erscheint … wie das Beispiel mit dem König der Ghassaniden gezeigt hat.«
Sadik nickte. »Wer das Wort eines Andersdenkenden so fürchtet, dass er es verbrennen und seinen Autor töten lässt, ist ein Tyrann, der um seine Macht fürchtet. Manchmal kann ein Tarafa mehr ausrichten als ein waffenklirrendes Heer. Denn kein Schwert ist schärfer als das Wort.«
»Ein bisschen etwas von Tarafas Einstellung wäre bei Lord Burlington schon sehr wünschenswert gewesen«, seufzte Tobias. »Dann hätten wir den Teppich und das Gedicht. So jedoch werden wir vielleicht nie dahinter kommen, welches Geheimnis Wattendorf im Gebetsteppich versteckt hat.«
»Man soll ein Kamel nicht störrisch nennen, bevor man es geritten hat«, meinte Sadik. »Und wer weiß, was aus den Tiefen des Gedächtnisses noch ans Licht bewusster Erinnerung steigt.«
»Dein Wort in Allahs und des Propheten Ohr!«, sagte Tobias.
»Wer zu hoffen und zu träumen aufhört, hört auf zu leben«, erwiderte Sadik und ging ins Nebenzimmer, um seinen Gebetsteppich auszurollen und das Nachtgebet zu verrichten.
Tobias blieb derweil bei Jana. Gemeinsam spielten sie mit Unsinn, der an diesem strapaziösen und ereignisreichen Tag zu kurz gekommen war.
»Was hältst du von Rupert Burlington?«, fragte er, als sie auf Mulberry Hall und seinen Besitzer zu sprechen kamen.
»Ich mag ihn, aber er ist schon ganz schön verrückt, wenn ich ehrlich sein soll«, sagte sie offen.
»Sind wir das denn nicht auch?« Er sah sie mit tiefem Ernst an. »Ich meine, immerhin sind wir quer durch Europa gezogen, haben uns schon mehrfach in höchste Lebensgefahr begeben und können noch nicht einmal erahnen, was uns noch alles erwartet, hier und in der Wüste. Und dabei wissen wir so gut wie nichts über dieses legendäre Verschollene Tal, das wir zu finden wild entschlossen sind.«
»Du hast Recht, wir sind auf unsere Art nicht weniger verrückt«, gab sie zu. »Aber ich mag es so, und wenn ich mit dir und Sadik zusammen bin, erscheint es mir wie das Selbstverständlichste der Welt.«
»Ja, mir auch«, sagte er leise.
»Ist das nicht merkwürdig, Tobias?«
»Nein, Jana, es ist etwas ganz anderes …«
Sie blickten sich an.
»Auf welcher Seite möchte der junge Herr schlafen?«, drang Sadiks Stimme aus dem Nebenzimmer zu ihnen.
Tobias unterdrückte einen Seufzer. »Ganz wie du willst, Sadik. Du darfst in Richtung Mekka schlafen.«
»Ich bin gläubig, nicht fanatisch, mein Junge.«
Tobias rutschte von der Bettkante. »Also, dann bis morgen, Jana. Schlaf gut.«
Sie lächelte. »Ja, du auch.« Sie beugte sich vor und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
Im Traum küsste sie ihn noch einmal, doch anders, nicht auf die Wange, sondern auf den Mund, und dabei legte sie ihm ihre Arme um den Nacken, und er spürte ihren Körper, der sich an ihn schmiegte. Dass sie dabei von stummen Indianern, halb nackten Kopfjägern mit Blasrohren und reglosen Bisonbüffeln umgeben waren, störte weder Jana noch ihn. Der Kuss war wie ein großer Zauber, der sie unverletzlich machte.