Die Macht des Goldes

 

Um Unsinn für die so sehnlichst herbeigewünschte Überfahrt müde zu machen, spielte Jana eine ganze Stunde mit ihrem Äffchen im Hof und ließ ihn sich nach Herzenslust austoben. Danach stürzte er sich hungrig auf sein Fressen und begab sich bereitwillig in den Bambuskäfig. Es blieb noch immer eine Stunde bangen Wartens, denn es war gerade halb neun. Die wenigen Sachen, die sie zu packen gehabt hatten, lagen schon seit Stunden in der Kutsche verstaut.

Tobias war voller Unruhe, konnte keine fünf Minuten still sitzen und zählte die Minuten, die so quälend langsam verstrichen. Dagegen war Sadik die Gelassenheit in Person. Er hockte auf seinem kleinen Gebetsteppich und las im Koran. Als Tobias wieder einmal von seinem Bett aufsprang, zum Fenster ging und zum x-ten Mal den Deckel seiner Taschenuhr aufklappen ließ, sah der bàdawi vom Koran auf.

»Er kommt – oder er kommt nicht, Tobias. Also lauf nicht ständig wie ein kopfloses Huhn herum, sondern beschäftige dich mit etwas, was dich ablenkt«, riet er ihm. »Nimm ein Buch zur Hand. Ein Buch …«

»… ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt«, beendete Tobias den Satz für ihn und verzog dabei das Gesicht. »Ich weiß, aber im Augenblick ist mir verdammt nicht nach einem Spaziergang durch irgendeinen Garten zu Mute!«

»Versuche es. Du wirst sehen, wie rasch dann die Zeit vergeht.«

»Jetzt lesen? Wo so viel auf dem Spiel steht?« Heftig schüttelte Tobias den Kopf. »Unmöglich!«

»Du hast es ja noch gar nicht versucht.«

»Ich weiß, dass es nicht funktionieren wird.«

Sadik seufzte. »Eigensinn ist die Energie der Dummen«, zog er ihn auf.

»Und besser ein Stummer, der verständig ist, als ein Redender, der aufdringlich ist!«, antwortete Tobias ihm schlagfertig.

Ein vergnügtes Lächeln umspielte Sadiks Mundwinkel. »Wenn mich nicht alles täuscht, zitierst du da eine Weisheit von Scheich Abdul Kalim, den ich überaus schätze. Nur ziehe ich seine Originalfassung deiner Variante vor, in der nicht von ›aufdringlich‹ die Rede ist, sondern von ›töricht‹.«

Tobias grinste ertappt. »Und wenn schon! Du drehst dir deine

Sprüche doch auch immer so zurecht, wie du sie gerade brauchst. Gib es doch zu!«

»Scheich Abdul Kalim würde dazu sagen: ›Das Wohlergehen des Menschen beruht im Bewahren seiner Zunge‹«, entgegnete Sadik mit leichtem Spott. »Und ein weiser Mullah hat einmal zu mir gesagt, als ich etwa so jung war wie du: ›Zwei Schilfrohre trinken aus einem Bach, und doch kommt dabei nicht dasselbe heraus. Denn das eine ist hohl, das andere ist Zuckerrohr‹.«

Tobias stemmte die Fäuste in die Hüfte.

»Reizend, Sadik! Da hast du mal wieder prächtig tief in deinen Bauchladen sinniger Sprüche gegriffen. Ein bisschen sehr tief, wie mir scheint. Zumindest hast du mich bis jetzt noch nie mit einem hohlen Rohr verglichen!«

»Es kommt immer darauf an, was man aus Dingen macht, die einem nicht gefallen«, meinte Sadik herausfordernd.

»Wie meinst du das?«, fragte Tobias und merkte gar nicht, wie geschickt der Beduine ihn in ein freundschaftliches Streitgespräch verwickelte und so von Kapitän Leon und der Alouette ablenkte.

Sadik antwortete ihm mit einer kleinen Geschichte. »Es war einmal ein Affe, der warf nach einem hungrigen Derwisch eine schwere Kokosnuss. Er traf ihn damit auch am Bein. Doch statt auf den Affen zu schimpfen und verärgert zu sein, nahm er die Nuss, labte sich an der köstlichen Milch, aß das frische Kokosfleisch und bearbeitete die Nuss, sodass er einen praktischen Becher hatte.«

Tobias lachte. »Mir ist ein Rätsel, woher du all diese Geschichten und Weisheiten herholst, Sadik.«

Sadik lächelte. »Allah kherim! … Allah ist großzügig und er hat mir die Gabe geschenkt, nicht nach dem faden Reichtum des Geldes zu streben, sondern nach dem des Wissens. Dazu fällt mir übrigens die Geschichte mit dem Nilpferd ein …«

Natürlich wollte sich Tobias diese Geschichte nicht entgehen lassen und es blieb nicht bei dieser einen. Jana und Gaspard gesellten sich kurz darauf zu ihnen, was dazu führte, dass Sadik ihnen noch mehrere arabische Rätsel stellen musste.

Erst als ein dumpfes Donnergrollen in der Ferne über die Küste rollte, brach der Bann. Mit Verwunderung und dann Erschrecken bemerkte Tobias, dass sie im Zimmer schon in völliger Dunkelheit saßen.

Er sprang auf. »Um Gottes willen! Wir sitzen hier und reden und verpassen darüber vielleicht Moustique und Kapitän Leon!«, rief er und riss seine Taschenuhr heraus.

»Noch ist Zeit«, beruhigte ihn Sadik. »Es ist nicht später als zehn nach neun.«

»Stimmt!«, stieß Tobias nach einem Blick auf das Ziffernblatt ungläubig hervor. »Mein Gott, woher kannst du ohne Uhr die Zeit so genau bestimmen?«

»Allah kherim«, antwortete Sadik nur mit einem geheimnisvollen Lächeln, steckte den Koran ein und rollte seinen Gebetsteppich ein.

Gaspard und Tobias hatten es eilig, aus dem Zimmer und in den Hof zu kommen. Jana jedoch wartete auf Sadik. Als sie die Treppe hinuntergingen, fragte sie: »Kann man so etwas lernen, Sadik?«

»Was?«

»Na, so ein genaues Gefühl für die Zeit zu haben.«

»O ja!«, beteuerte er ernst.

»Und was muss man dafür tun?«

Er blieb stehen und sah sie verschmitzt an. »Genau hinhören und die Schläge der Kirchturmuhr mitzählen«, verriet er ihr sein großes Geheimnis. »In der Wüste funktioniert das natürlich nicht ganz so gut, weil da Glockentürme doch so selten sind wie Kamele in Tinville.«

Jana lachte noch, als sie in den Hof kamen. Ihr liefen die Tränen über die Wangen. Doch als Tobias und Gaspard sie nach dem Grund fragten, sagte sie ihnen nicht die Wahrheit, sondern erzählte ihnen einen Witz, den sie angeblich von Moustique gehört und gerade Sadik erzählt hatte. Tobias und Gaspard fanden ihn recht lustig, verstanden jedoch nicht, wieso Jana darüber so sehr lachen konnte, dass ihr die Tränen über die Wangen liefen.

Die Kutsche stand schon im Hof bereit. Tobias und Gaspard holten nun die Grauschimmel und spannten sie ein. Erneut kam ein Grollen aus der Ferne.

»Scheint ein Gewitter aufzuziehen«, sagte Jana sorgenvoll. »Für eine Abkühlung käme es ja gerade richtig. Aber ob dann auch die Alouette ausläuft?«

»Ein Gewitter bringt meist auch Wind«, meinte Tobias. »Und solange kein Sturm aufkommt, ist das in Ordnung. Wir wollen ja nicht über den Atlantik, sondern nur nach England hinüber, und das ist doch ein Katzensprung von gerade mal achtzig, neunzig Seemeilen.«

»Ertrinken kann man auch im Dorftümpel«, pflichtete Jana ihm bei.

Um kurz vor halb zehn wies Sadik Gaspard an, in die Kutsche zu steigen und dort zu bleiben, es sei denn, er würde ihn rufen. Louis hatten sie, wie es mit Tambour abgesprochen war, weggeschickt und die Laterne über dem Torbogen gelöscht. Jetzt brannte nur noch die neben dem Hintereingang, jedoch mit heruntergedrehter Flamme.

»Bitte lass sie kommen«, murmelte Tobias, als er mit Sadik auf die Männer von der Alouette wartete.

»Moustique hält bestimmt Wort!«, glaubte Jana, war aber innerlich so aufgeregt wie er. Auf ihre Menschenkenntnis konnte sie sich normalerweise verlassen, aber vor einem Irrtum war sie natürlich auch nicht gefeit.

Um zwanzig vor zehn, als Tobias schon fast mutlos war, hörten sie jenseits der Mauer Schritte von zwei Männern.

»Sie sind es!«, flüsterte Tobias mit vor Aufregung heiserer Stimme. »Sie müssen es sein!«

»Wenn Allah will, dass wir noch rechtzeitig über den Kanal kommen, dann wird er uns seine Helfer auch zur rechten Zeit schicken«, antwortete Sadik leise.

Im nächsten Moment traten zwei Gestalten durch das Tor in den Hof. Es waren die Männer von der Alouette, denn Sadik erkannte Moustique sofort wieder. Der Mann an seiner Seite, bei dem es sich um Kapitän Jean-Baptiste Leon handeln musste, war das genaue Gegenteil von ihm: nämlich breit und kantig wie ein Kleiderschrank, jedoch einen Kopf kleiner. Er schien nur aus Brustkorb, Schultern und einem Schädel zu bestehen, der scheinbar ohne Hals wie ein Findling auf seinem Oberkörper saß. Trotz der schwülen Hitze trug er einen langen, dunklen Seemannsrock, der mit Messingknöpfen versehen war und vor der Brust weit aufklaffte. Auch mit aller Gewalt hätte er ihn nicht zu schließen vermocht. Eine dunkelrote Baskenmütze saß schief und mit einer gewagten Neigung zum rechten Ohr hin auf seinem Kopf. Sein Haar war schwarz, straff nach hinten gekämmt, dem Geruch und Schimmer nach mit Pomade gefügig gemacht und im Nacken zu einem Zopf geflochten.

Sadik beugte sich zu Jana hinüber. »Du hast das alles möglich gemacht, aber Männer sind komisch, wenn es darum geht, mit einer Frau einen Handel zu schließen, besonders Kapitäne. Die haben nie gern Frauen auf ihrem Schiff. Deshalb lass mich das machen. Du hältst dich besser zurück«, sagte Sadik leise zu ihr, während sie sich aus dem tiefen Schatten der Stallungen lösten und den beiden Männern über den Hof entgegengingen.

»Ich weiß«, raunte Jana zurück. »›Lieber tausend Feinde als ein schlaues Weib‹, nicht wahr? Oder wie heißt die andere arabische Weisheit: ›Die Weiber sind die Fallstricke des Satans!‹ Komisch, dass Männer offenbar so schnell zu Fall kommen können. Spricht nicht gerade für ihr Selbstvertrauen, oder? Nur schade, dass mir niemand die Sprüche verrät, die sich die arabischen Frauen über die Männer gebildet haben. Ich könnte glatt den einen oder anderen dazusteuern, etwa den hier: ›Der Mann hat die Arroganz eines störrischen Kamels und den Gerechtigkeitssinn einer einäugigen Zicke.‹ Nun ja, man könnte gewiss noch daran arbeiten, aber für den Anfang kommen diese Weisheiten der Wirklichkeit doch sehr nahe, findest du nicht auch?«

Sadik stockte kurz und schluckte, fand jedoch keine Zeit, um ihr zu antworten.

Moustique und sein untersetzter, bulliger Begleiter blieben vor ihnen stehen.

»Capitaine Leon?«, sprach Sadik ihn an.

Dieser gab ihm keine Antwort, sondern warf Moustique einen stummen, fragenden Blick zu.

»Ja, das sind sie, mon capitaine«, bestätigte der junge Seemann. »Und das sind ihre Freunde … Monsieur Sadik und Monsieur Heller.« Aus seinem Mund klang Tobias’ Name wie ›Eller‹, denn das H sprach der Franzose nicht.

»Über den Kanal, ja?«, fragte Leon sie knapp und blickte Sadik dabei forschend ins Gesicht.

»Ja«, antwortete Sadik ebenso knapp, der sofort spürte, dass dieser kantige Kerl mit dem von Wind und Wetter gezeichneten Gesicht vor ihm kein Freund der Geschwätzigkeit war.

»Was habt ihr auf dem Kerbholz?« Die Frage kam so schroff und so beleidigend, wie der ganze Mann ungeschlacht wirkte.

»Nichts.«

»Ridicule! … Lächerlich!«, schnaubte Leon ungehalten. »Wer nichts auf dem Kerbholz hat, muss nicht bei Nacht und Nebel über den Kanal.«

»Sofern er ordentliche Papiere besitzt und nicht jemanden im Nacken sitzen hat, der in einer privaten Fehde noch eine offene Rechnung begleichen zu müssen meint«, erwiderte Sadik.

»Das klingt schon einleuchtender«, knurrte Leon und fragte: »Wohin nach England?«

»Irgendwo an die Küste zwischen Brighton und Portsmouth«, antwortete Sadik.

Capitaine Jean-Baptiste Leon zog einen dicken Holzspan aus der Rocktasche, schob ihn sich zwischen die Zähne und kaute darauf herum. Er überlegte, und dabei wanderte das Spanholz in seinem Mund von rechts nach links und wieder zurück. »Ist machbar«, sagte er schließlich, fügte jedoch einschränkend hinzu: »Sofern wir uns über die Bezahlung einigen können.«

»Nennen Sie mir Ihren Preis, Capitaine Leon!«, forderte Sadik ihn auf.

Dieser lachte trocken auf. »Nennen Sie mir die Summe, die Ihnen die Passage wert ist!«

Das Donnern wurde lauter und ein Blitz spaltete den Himmel im Nordosten mit einem Speer aus blau-weiß gezacktem Licht. Ein Wind kam auf.

Sadik zog eine Goldmünze hervor. Er schnippte sie ihm zu. »Eine pro Kopf«, bot er ihm an.

Leon fing die Münze mit der linken Hand auf, wog sie kurz in der Hand, spuckte das Holz aus und biss auf die Münze. Er schien mit dem Ergebnis zufrieden, denn sein grimmiger Ausdruck wich einem freudig überraschten Ausdruck. »Für eine Passage auf einem stinkenden Fischkutter würden zwei von der Sorte vielleicht reichen. Aber ich habe eine Brigantine unter Segel und ich muss einen höllisch großen Umweg segeln. Zudem wird es nicht gerade eine ruhige Überfahrt werden. Ich werde meiner Mannschaft was auf ihre normale Heuer draufzahlen müssen, weil wir uns im Gewitter über den Kanal wagen.«

Moustique zog spöttisch die Mundwinkel hoch.

»Drei müssen es schon sein, wenn Sie mit der Alouette nach England wollen«, stellte Leon seine Forderung.

»Neun Goldmünzen? Ich will Ihre Brigantine nicht kaufen! Ich biete Ihnen fünf!«, feilschte Sadik.

»Für fünf Goldstücke bringe ich Sie vielleicht nach Marseille, wenn das Wetter gut und Ihre Papiere in Ordnung sind, aber nicht bei Nacht und Unwetter an die englische Küste! Aber weil ich ein großes Herz habe, werde ich mich mit acht zufrieden geben.«

»Wer hat denn davon gesprochen, dass wir mit der Alouette um die Welt segeln wollen? Hier geht es um einen Katzensprung von gerade hundert Seemeilen!«, antwortete Sadik bissig. »Aber damit Sie sich früh zur Ruhe setzen können, biete ich Ihnen sechs Goldstücke an, capitaine Leon. Sechs und keinen Centime mehr!«

»Sadik! Um Himmels willen!«, flüsterte Tobias ihm erschrocken zu. »Du wirst doch nicht wegen zwei läppischer …«

»Schweig!«, zischte Sadik.

Mit einer Geste der Geringschätzung warf Leon dem Beduinen das Goldstück vor die Brust. Dann wandte er sich erbost Moustique zu und schnauzte ihn an: »Warum hast du mich überhaupt hierher geführt, du Trottel? Hast du nicht gesagt, sie wüssten, was sie wollen?«

Moustique blickte betroffen. »Ja, mon capitaine, aber sechs Goldstücke sind doch wirklich …«

Leon fuhr ihm grob ins Wort. »Du hast Recht, für das, was die Leute bieten, bekommen sie gerade mal eine Fahrt im Ruderboot über die Seine. Vergeudete Zeit! Wir hätten jetzt schon auf See sein können! Lass uns gehen!« Er sah Sadik an. »Oder haben Sie es sich vielleicht doch noch anders überlegt?«

»Sechs Goldstücke, capitaine Leon«, blieb Sadik bei seinem letzten Angebot.

Tobias musste an sich halten, seinem älteren Freund nicht einfach in den Rücken zu fallen und damit herauszuplatzen, dass er seine acht Goldstücke bekommen werde, wenn das sein Preis sei. Es kostete ihn ein Höchstmaß an Selbstbeherrschung, seine Panik und auch seine Wut auf Sadik nicht zu zeigen.

Leon zuckte mit den Achseln. »Wie Sie meinen, mon ami.

Dann wird die Alouette eben ohne Sie und Ihren Kindergarten lossegeln.« Damit wandte er sich um, packte Moustique am Arm und ging davon.

»Bist du von Sinnen?«, brach es nun gedämpft, aber nichtsdestotrotz heftig aus Tobias heraus. »Wie kannst du bloß wegen zwei lächerlicher Goldstücke alles aufs Spiel setzen? Wir sind doch nicht auf einem Basar, wo …«

»Die ganze Welt ist ein Basar«, erwiderte Sadik ruhig.

»Himmel, wir müssen über den Kanal!«, sagte Tobias ganz verzweifelt. »Und das war unsere beste Chance! Wir waren schon so gut wie drüben!«

»Keine Sorge, wir kommen über den Kanal – und zwar an Bord der Alouette«, versicherte Sadik gelassen.

Tobias schüttelte fassungslos über die scheinbare Naivität seines Freundes den Kopf. »Dass ich nicht lache! Willst du das Schiff vielleicht entern?«

Leon und Moustique hatten in dem Moment das Tor erreicht, denn sie waren ohne die Eile gegangen, mit der sie gekommen waren. Bevor Sadik noch etwas antworten konnte, gab der Kapitän der Alouette einen ärgerlichen Laut von sich. Es schien, als würde er Moustique Vorhaltungen machen. Dann warf er beide Arme in einer theatralischen Geste gen Himmel, drehte sich kopfschüttelnd um und kehrte zu Sadik, Jana und Tobias zurück.

»Also gut, ich nehme euch für sechs Goldstücke mit, obwohl ich da eigentlich gleich noch zuzahlen könnte. Noch mehr solcher Geschäfte, und ich kann auf meinem eigenen Schiff um eine Heuer nachfragen«, grollte er. »Bedankt euch bei Moustique. Er hat sich für euch ins Zeug gelegt, und wenn ich ihm nicht noch einen Gefallen schuldig wäre, hättet ihr meinetwegen nach England schwimmen können.«

Moustique schwieg dazu, seine Miene jedoch verriet, dass er nichts mit der Sinneswandlung zu tun hatte und capitaine Leon log.

»Wir wissen Ihre Großzügigkeit sehr zu schätzen«, antwortete Sadik gelassen und mit ausdruckslosem Gesicht, und als Leon die Hand nach dem Geld ausstreckte, fügte er mit derselben aufreizenden Ruhe hinzu: »Sagen Sie uns, wo wir an Bord gehen können. Wenn wir an Deck Ihres Schiffes stehen, zahle ich Ihnen gern die sechs Goldstücke.«

Leon warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. »Es gibt eine stille Bucht zwei Meilen nördlich von hier. Moustique kennt den Weg. Er wird Sie dort hinbringen. Halten Sie sich am Strand bereit. Die Alouette ist segelbereit und wird sofort auslaufen, sowie ich an Bord bin. Wir werden Sie mit dem Beiboot abholen – in etwa einer Stunde.« Er sah Moustique mit scharfem Blick an. »Also beeil dich und vertrödel die Zeit nicht mit unnützem Geschwätz!« Das war eine unmissverständliche Warnung.

Moustique beeilte sich mit seiner Versicherung, die er jedoch gegen den Rücken seines Kapitäns sprach. Leon hatte sich nämlich abrupt umgedreht, da es seiner Meinung nach nichts mehr zu bereden gab, und verließ den Hof mit energischen Schritten.

Ein wenig hilflos wandte sich Moustique zu Jana, Sadik und Tobias um. »Er hat so seine Eigenheiten«, sagte er entschuldigend und zuckte dabei mit den Schultern.

»Aiwa, den Eindruck machte er mir auch«, erwiderte Sadik mit spöttischer Untertreibung und forderte ihn auf, schon auf den Kutschbock zu klettern. Sie konnten sofort aufbrechen, sowie sie sich von Tambour verabschiedet hatten.

»Wieso bist du dir so sicher gewesen, dass Leon noch einmal zurückkehren und auf dein letztes Angebot von sechs Goldstücken eingehen würde?«, fragte Tobias leise.

»Seine Augen«, antwortete Sadik. »Die Augen sind der Spiegel der Seele, und Gold entlarvt den Charakter. Capitaine Jean-Baptiste Leon ist ein gieriger Mann, der der Verlockung des Goldes nicht widerstehen kann. Sechs Goldstücke sind ein kleines Vermögen, und er ist kein Mann, der sich ein solches wegen eines stolzen Prinzips durch die Finger gehen lässt.«

»Ich muss zugeben, dass ich vor Wut fast geplatzt wäre und dich für völlig übergeschnappt hielt«, gab Tobias zu.

»Ich weiß, aber du hast dich gut im Griff gehabt«, lobte Sadik ihn. »Du machst Fortschritte.«

»Nur Fortschritte?«, wiederholte Tobias enttäuscht. »Ich dachte, ich hätte mich bewundernswert beherrscht!«

»Dass man sich die Tugend der Selbstbeherrschung aneignet, ist nicht das eigentliche Ziel, sondern das Mittel zum Zweck. Das Ziel ist erst erreicht, wenn man die Selbstbeherrschung eines Tages nicht mehr nötig hat«, belehrte Sadik ihn. »Aber in deinem Alter wäre das zu viel verlangt. Und nun lass uns zu Tambour gehen und Abschied von ihm nehmen.«

Dieser machte aus dem Abschied eine wild bewegte Szene. Sie wäre der Bühne eines jeden Provinztheaters, das sein Publikum mit Rührstücken unterhält, würdig gewesen. Dass ihn immer wieder der Abschiedsschmerz übermannte und er meinte, sie der Reihe nach noch ein drittes und viertes Mal an sich drücken zu müssen, hatten sie zweifellos seiner Schwärmerei für Jana zu verdanken. Tobias bemerkte sehr wohl, dass er Sadik und ihn schnell wieder freigab, um sich umso intensiver Jana widmen und ihr noch einen Abschiedskuss auf die Wangen schmatzen zu können. Sie ließ es jedoch wortlos und mit einem Lächeln über sich ergehen, das viele Deutungsmöglichkeiten zuließ. Später gestand sie ihm, dass sie ihm trotz seines Hangs, sie zu tätscheln, nicht böse sein konnte und dass er ihr Leid täte, weil er sich mit so einer Leibesfülle selbst um viele Freuden des Lebens brachte, worauf Tobias rot wurde und froh war, dass Unsinn sich in seinem Käfig bemerkbar machte und Janas Aufmerksamkeit auf sich lenkte.

Tambour gab ihnen noch einen Proviantkorb mit, der bis zum Rand mit Köstlichkeiten gefüllt war. Er nahm ihnen allen das Versprechen ab, Tambour und das Coq D’ore in Tinville nicht zu vergessen – ein Versprechen, das sie ihm guten Gewissens geben konnten, denn sie hatten Gründe genug, diese vier Tage in der Hafenstadt nicht zu vergessen.

Sadik drängte zum Aufbruch. Er nahm neben Moustique auf dem Kutschbock Platz und lenkte die Kutsche nach dessen Anweisungen, während Gaspard die letzten Meilen gemeinsamen Weges im Wagen mit Tobias und Jana verbrachte. Es war abgemacht, dass Gaspard die Kutsche nach Paris zurückbrachte, was dieser sich ohne weiteres zutraute, und für eine feste Stellung im Zeitungsverlag von Monsieur Roland war gleichfalls gesorgt. Irgendwann würde man sich auch Wiedersehen, wie Jana und Tobias von Herzen beteuerten. Doch wann würde das sein? In wie vielen Jahren?

So herrschte wegen der bevorstehenden Kanalüberquerung und der baldigen Trennung eine gleichermaßen aufgeregte wie traurige Stimmung und sie redeten nicht viel.

Indessen zog das Gewitter näher. Ein frischer Wind fuhr durch die Straßen und wirbelte Staub und Abfälle die Gassen hinunter und um die Ecken. Und dann prasselten die ersten dicken Tropfen so laut wie Kieselsteine auf das Dach der Kutsche.

Jana und Tobias sahen sich an, und beide dachten dasselbe – nämlich dass die Überfahrt kaum ein reines Vergnügen sein würde!