Messer und Musketen
Sadiks gellender Schrei, der bei ihren unbekannten Gegnern eine Schrecksekunde auslösen und für zusätzliche Verwirrung sorgen sollte, zerriss die trügerische Stille der Nacht und ließ Freund wie Feind zusammenzucken. Tobias sprang nach links. Mit einem wahren Hechtsprung brachte er sich vom Lagerfeuer weg ins Halbdunkel. Er rollte über die Schulter ab, während er den Degen mit der linken Hand auf der Höhe seines Unterschenkels hielt. Er hörte, wie die Scheide gegen einen Stein stieß, spürte einen Schlag gegen die Hüfte und sprang auf. Der Degen flog förmlich aus der Scheide und ihm in die Hand.
Gaspard und Jana hatten genauso blitzschnell reagiert und rannten auf die schwarz lackierte Kutsche zu. Jana hielt Unsinn an die Brust gepresst, der von dem Tumult erschrak und in schrilles Gekreische ausbrach.
Sadik war ihnen allen um den Bruchteil einer Sekunde voraus. Noch im Schrei war er wie vom Katapult geschossen hochgeschnellt. Mit den beiden brennenden Ästen in den Händen wirbelte er herum und schleuderte diese Fackeln nun in die Richtung, in der er die Männer, die sich an ihren Lagerplatz angeschlichen hatten, vermutete. Der Flammenschein der auf sie zufliegenden Äste würde sie irritieren und vielleicht sogar blenden.
Er erzielte mit dieser Aktion den erhofften Erfolg. Aus dem Dickicht der Sträucher kamen erschrockene Rufe. Der eine Ast prallte gegen einen Baumstamm, dass die Funken wie ein Regen rot glühender Sterne nach allen Seiten wegstoben. Der andere brach in Brusthöhe durch die Zweige eines Brombeerstrauches. Fast im selben Augenblick krachte ein Schuss, gefolgt von einem lästerlichen Fluch. Ein Kugelhagel, der nach feinem Vogelschrot klang, prasselte hoch oben durch das Blattwerk eines Baumes. Da hatte einer vor Schreck abgedrückt, während der Lauf noch nach oben zeigte.
Ein zweiter Schuss blitzte mit grellem Mündungsfeuer aus den Büschen auf, zwischen denen nun am Boden Flammen züngelten. Sadik sah mit Bestürzung, wie Jana getroffen aufschrie und zu Boden stürzte, keine zwei Schritte von der Kutsche entfernt. Wie hingezaubert lag im nächsten Moment eines seiner Wurfmesser in der Hand.
»Jana ist getroffen!«, schrie Tobias mit vor Entsetzen schriller
Stimme und rannte fünf Schritte links von seinem beduinischen Freund und Mentor auf das Versteck zu.
Sadik sah einen Schatten und schleuderte das Messer aus zehn, zwölf Meter Entfernung. Es fand sein Ziel. Ein Schrei gellte aus der Dunkelheit vor ihnen, die von den noch brennenden Ästen etwas aufgehellt wurde. Die Umrisse von vier Gestalten waren zu erkennen. Einer von ihnen taumelte mit Sadiks Messer in der Schulter rückwärts aus dem Flammenschein und suchte Schutz zwischen den Bäumen. Augenblicke später jagte Gaspard vom Kutschbock aus die beiden Ladungen der doppelläufigen Schrotflinte zwischen die Bäume und Büsche. Einige der Schrotkugeln hatten getroffen, wie das augenblicklich einsetzende Geschrei und Gefluche unmissverständlich bewies. Und statt zum Gegenangriff überzugehen und aus dem Wald auf die Lichtung hinauszustürmen, ergriffen die Männer die Flucht.
Tobias hieb mit der Klinge auf die Sträucher ein und wollte ihnen nachsetzen, doch Sadik hielt ihn zurück. »Lass es gut sein! Wir haben sie vertrieben. Das soll uns genügen.«
»Sie haben Jana getroffen!«
»So schlimm scheint es nicht zu sein. Sie steht schon wieder auf«, erwiderte Sadik und sah, wie Jana sich den linken Oberarm mit der rechten Hand hielt. Doch sie stand sicher auf den Beinen. »Vermutlich nur ein Streifschuss. Sie hat noch mal Glück gehabt.«
»Trotzdem …«
Sadik legte ihm seine Hand schwer auf die Schulter und hielt ihn zurück. »Wenn man auf der Durchreise ist, steckt man nicht die Hand in den Bau des Schakals, nachdem man ihn dorthin vertrieben hat!«
Tobias verzog das Gesicht. »Du mit deinen sinnigen Sprüchen! Dieses hinterhältige Pack ist viel zu billig davongekommen!«, brummte er, ließ die Klinge jedoch sinken und stieß sie dann mit einer heftigen Bewegung zurück in die Scheide.
»Sehen wir, wie es Jana geht«, sagte Sadik.
Gaspard hatte, als beide Läufe abgefeuert waren, die Flinte fallen lassen, sprang vom Bock und riss den Kutschenschlag auf, um sich nun mit einer Muskete zu bewaffnen.
»Das hast du gut gemacht, Gaspard!«, rief Sadik ihm anerkennend zu. »Ich glaube nicht, dass wir von denen noch etwas zu befürchten haben. Nimm eine Decke und schlag die Flammen aus. Es scheint hier lange nicht geregnet zu haben und wir wollen keinen Waldbrand verursachen.«
Gaspard tat, wie ihm geheißen, und vertauschte die Muskete gegen eine der Pferdedecken.
Tobias lief zu Jana hinüber, die sich gegen das hintere Rad der Kutsche lehnte. »Wie geht es dir?«, rief er besorgt. »Ist es schlimm?«
»Es brennt ganz schön«, antwortete sie mit leicht schmerzverzerrten Zügen. »Aber ich habe viel Glück gehabt. Ich glaube, die Kugel steckt nicht. Sie hat wohl nur eine Wunde gerissen.«
»Lass mich mal sehen«, sagte Sadik und drehte ihre linke Schulter ins Licht des Lagerfeuers. Sie nahm die Hand vom Oberarm und er zog aus der kunstvoll gearbeiteten Scheide aus gehämmertem Silber sein kostbarstes Messer. Das Griffstück bestand aus Elfenbein und in die gut zwei Finger breite Klinge waren arabische Schriftzüge eingraviert. Von weitem ähnelten sie Feuerzungen. Die Kugel hatte Janas bunt kariertes Hemd aus grobem Kattun auf der Höhe der Achsel aufgefetzt. Sadik führte die rasiermesserscharfe Klinge blitzschnell einmal nach links und nach rechts durch den Stoff, dass das Auge den Bewegungen kaum zu folgen vermochte, und im Hemd klaffte eine breite Öffnung. Er besah sich die Wunde.
»Und? Wie sieht es aus? Ist etwas verletzt? Sehnen? Muskeln?«, fragte Tobias mit einer Besorgnis, die der sichtlichen Geringfügigkeit ihrer Verletzung kaum angemessen war – dafür jedoch umso mehr seinen tiefen Gefühlen für sie. »Mein Gott, nun sag schon!«
Sadik warf ihm einen spöttischen Blick zu. »Zu viel Flattern zerbricht die Flügel, Tobias!«, mahnte er ihn zu mehr Ruhe und Gelassenheit. »Und was Janas Arm betrifft, so wird sie ihren Enkelkindern noch erzählen können, wo sie sich diese Narbe geholt hat. Denn mehr wird davon in ein, zwei Wochen nicht mehr zu sehen sein.«
Tobias atmete erleichtert auf. »Gott sei Dank!«
Jana warf ihm ob seiner Sorge um ihr Wohlergehen einen ebenso verlegenen wie dankbaren Blick zu. »Zum Glück ist nicht jeder so ein Meisterschütze wie Sadik.«
Dieser schmunzelte. »Setz dich auf die Trittstufe. Ich werde die Wunde säubern, ein Mittel auftragen, das einer bösartigen Entzündung vorbeugen wird, und einen Verband anlegen. Morgen wird das Brennen gerade noch ein Ziehen sein.«
»Bleiben wir?«, fragte Tobias mit zweifelndem Unterton.
Sadik schüttelte den Kopf. »Diese Gegend scheint doch unsicherer zu sein als gedacht. Wer weiß, wer sich hier noch alles herumtreibt. Es sind unsichere Zeiten. Wir fahren besser weiter, bis wir auf eine Ortschaft mit einem anständigen Gasthof stoßen.«
»Ist mir recht«, sagte Tobias. »Dann kümmere ich mich um unsere Sachen und lösche schon mal das Feuer.«
Sadik nickte. »Aber vorher zünde die Kutscherlampen an. Ich brauche Licht.«
Gaspard hatte indessen die Flammen am Fuße des Baumes und zwischen den Büschen mit der Pferdedecke ausgeschlagen und kehrte zur Kutsche zurück, als Tobias die beiden Außenlaternen rechts und links vom Kutschbock und die kleine Öllampe im Wageninnern entzündet hatte. Fasziniert sah er, wie Sadik ein längliches Sandelholzkästchen auf das Fußbord des Kutschbocks stellte und aufklappte. Es war in viele verschiedene Fächer unterteilt und enthielt Arzneien.
Sadik säuberte die Wunde mit einem sauberen, alkoholgetränkten Tuch und rieb dann ein grau-grünliches Pulver, das wie Schimmel aussah, in die Fleischwunde. Jana hielt sich tapfer. Die Berührung verursachte ihr Schmerzen, doch sie verbiss sich jeden Laut.
»Die Hirse wächst nicht schneller, wenn zwei einem dritten beim Wässern des Feldes zuschauen«, brummte Sadik. »Holt besser die Pferde und spannt sie schon mal ein, damit wir gleich zurück auf die Landstraße können! Ich bin hier noch etwas beschäftigt. Wer sich mit der Bearbeitung von Perlen beschäftigt, muss Sorge tragen, dass er ihre Schönheit nicht zerstört.«
»Von welcher Perle spricht er?«, fragte Gaspard spöttisch an Tobias gewandt.
»Der menschliche Leib ist die edelste Schöpfung der irdischen Welt«, belehrte Sadik ihn ernst, »und wer ihn heilen will, muss behutsam und liebevoll mit ihm umgehen. Aber dazu brauche ich euch gewiss nicht.«
Tobias wäre gern bei Jana geblieben, sah jedoch ein, dass die Zeit mit untätigem Herumstehen wirklich vertan war und besser genutzt werden konnte.
»Woher kann der Araber so etwas bloß? Hast du nicht gesagt, er wäre der Führer und Dolmetscher deines Vaters gewesen?«, wollte Gaspard wissen, als er mit Tobias zu den Grauschimmeln hinüberging, die sich von dem Kampflärm kaum hatten stören lassen. »Das sah ja richtig gekonnt aus! Die Wundärzte, die mich damals versorgt haben, als ich mein Auge und meine Hand verlor, haben sich nicht mal halb so viel Mühe gemacht.«
Tobias lachte. »Sadik ist genauso gut ein hakim wie ein Führer und Dolmetscher, auch wenn er das abstreitet und nur von einigem nützlichen Wissen spricht, das er in diesen Dingen besitzt.«
»Hakim?«, fragte Gaspard verständnislos.
»Auf Arabisch heißt das Arzt«, erklärte Tobias und packte einen der Grauschimmel am Zaumzeug. »Sadik stand als junger Mann acht Jahre lang in den Diensten von hakim Ibn Al-Amid, der ein berühmter Arzt und Gelehrter war. Mit ihm ist er viele Jahre zwischen Cairo, Damaskus und Bagdad gereist, wo Ibn Al-Amid nicht nur Studenten, sondern sogar auch ausgebildete Ärzte unterrichtet hat. Die ärztliche Kunst des Morgenlandes ist der unseren überhaupt um einige Jahrhunderte voraus.«
Gaspard sah ihn ein wenig zweifelnd an, als traute er den ›Heiden‹ so eine Leistung nicht zu, und fragte gedehnt: »Wirklich?« Es klang nicht anders, als hätte er geantwortet: ›Das glaube ich nicht!‹
Tobias nickte nachdrücklich. »Das weiß ich auch von meinem Onkel Heinrich. Der ist ein Universalgelehrter, und außerdem habe ich selbst gesehen, was Sadik auf diesem Gebiet alles kann. Jana war nach einem schweren Unfall mit ihrem Kastenwagen, mit dem sie allein durch die Lande zog, einmal schon so gut wie tot. Wir fanden sie im Schnee. Ich hätte nicht einen Kreuzer darauf gewettet, dass sie ihre Verletzungen überleben würde. Doch Sadik hat sie mit seinen arabischen Heilmitteln gesund gemacht. Das war im Winter bei uns auf Falkenhof.«
»Du hast auf einem richtigen Landgut gelebt?«, fragte Gaspard, den dies mehr als die Heilkunst des Morgenlandes interessierte.
Tobias nickte. »Ja, südlich von Mainz. Auf Gut Falkenhof, das meinem Onkel gehört, bin ich aufgewachsen. Meine Mutter ist schon früh gestorben und eigentlich war Onkel Heinrich mein Vater. Denn mein leiblicher Vater war ja kaum einmal zu Hause, sondern immer auf Entdeckungs- und Forschungsreisen. Und zwischen seinen oftmals jahrelangen Expeditionen hielt es ihn nie länger als ein paar Monate auf dem Gut.«
Gaspard, der nie aus seiner Welt der Pariser Elendsviertel herausgekommen war, sah ihn bewundernd und auch ein wenig neidisch an. »Aber wenn du es da so gut gehabt hast, warum bist du dann von dort weg?«
»Ach, das hat mit Zeppenfeld und einem geheimnisumwobenen Tal in Ägypten zu tun – und mit einem Koran, einem Gebetsteppich und einem Spazierstock mit einem silbernen Falkenkopf.«
Gaspards Augen leuchteten auf. »Kannst du mir mehr darüber erzählen?«
Tobias zuckte mit den Schultern. »Sicher, wenn es dich interessiert. Es ist aber eine lange Geschichte.«
Gaspard grinste. »Wir haben doch gleich Zeit genug. Denn bis zur nächsten Ortschaft ist es noch ganz schön weit, wie uns der fahrende Händler ja gesagt hat, den wir vor Einbruch der Dunkelheit getroffen haben. Und ich mag Geschichten, vor allem, wenn sie so spannend und geheimnisvoll sind, dass Leute wie du ihr herrschaftliches Gut verlassen und sich nicht scheuen, in Paris in die Barrikadenkämpfe zwischen den Aufständischen und den Königstreuen zu geraten, nur um in den Besitz eines Korans zu kommen, der bei einem unbedeutenden Antiquitätenhändler im Fenster steht.«
»Spannend und voller Rätsel und Geheimnisse ist die Angelegenheit, die uns vom Falkenhof vertrieben hat, ganz bestimmt«, versicherte Tobias, führte den Lederriemen durch die Schnalle und zog den Bauchgurt fest an.
»Dann musst du sie mir erzählen!«
Tobias lächelte. »Also gut, gleich in der Kutsche wirst du erfahren, was es mit dem Spazierstock, dem Koran und dem Gebetsteppich auf sich hat – und warum Zeppenfeld hinter uns her ist und uns unweigerlich auch nach England folgen wird.«