»Königin Elizabeth lässt bitten!«
Die Tür des Wohnhauses ging auf und ein älterer, stämmiger Mann mit dem massigen Kopf eines Stiers kam zum Vorschein. Er trug die Kleidung eines Mannes, der nicht ständig darauf gefasst sein musste, sich bei körperlicher Arbeit zu beschmutzen. Umso seltsamer wirkte an ihm sein extrem kurz geschnittenes Haar. Es war kaum halb so lang wie die Borsten einer Bürste, wie man sie beim Waschen derber, schmutziger Wäsche benutzte. Und genauso borstig sah das Haar des Mannes auch aus.
Er machte ein paar Schritte auf das Tor zu. Dann glaubte er, schon genug gesehen zu haben. »Macht, dass ihr verschwindet!«, rief er ihnen barsch zu und machte eine entsprechende Handbewegung.
»Entschuldigen Sie, Mister …«, begann Sadik höflich.
Borstenkopf fiel ihm ins Wort, kam dabei aber näher. »Du kannst dir deine Puste sparen, Entschuldigungen inklusive. Gebettelt wird hier nicht!«, beschied er. »Und wenn ihr vor Einbruch der Dunkelheit noch den nächsten Gasthof erreichen wollt, solltet ihr hier nicht eine Sekunde länger verplempern. Im Feathers in Farnham gibt man auch Zigeunern Quartier, sofern sie im Voraus bezahlen.«
Jana blitzte ihn an. »Wofür halten Sie uns?«, rief sie empört.
Borstenkopf blickte auf den Bambuskäfig mit dem kleinen Affen in ihrer linken Hand und sah sie dann mit genauso viel ehrlichem Erstaunen wie Ärger an. »Sicherlich nicht für die Königin von Saba, Mädchen«, sagte er dann spöttisch. »Also macht keinen Ärger und verschwindet!«
Tobias musste zugeben, dass sie für die Augen eines englischen Torhüters ein recht merkwürdiges Trio abgaben und wenig Vertrauen erweckend aussahen. Sadik mit seiner getönten Haut und seinem fremdländischen Aussehen, Jana in ihrer auch nicht eben dezenten Kleidung und mit Unsinn unter dem Arm und er mit verknitterten Sachen, einem Degen an der Seite und einem Seesack über der Schulter. Zudem tauchten sie auch noch zu Fuß vor dem Tor von Mulberry Hall auf. Da musste auch ein weniger misstrauischer Mensch als dieser knurrige Borstenkopf seine falschen Schlüsse ziehen.
»Sie unterliegen einem wenn auch verständlichen, so doch kapitalen Fehler, der für Sie gewiss nicht ohne Konsequenzen bleibt, wenn Sie uns das Tor weisen, Mister! Denn meine Freunde und ich werden auf Mulberry Hall erwartet, auch wenn Sie diesbezüglich gewisse Schwierigkeiten haben, sich das vorzustellen, was wir Ihnen jedoch nachzusehen bereit sind, sind doch auch die Umstände von nicht ganz gewöhnlicher Art«, erklärte Tobias, bewusst etwas geschraubt und förmlich in der Wortwahl. Und im Tonfall deutete er die leicht herablassende, unterschwellig aber gereizte Haltung eines befehlsgewohnten Mannes der herrschenden Klasse an, der einem Bediensteten auf feine Art zu verstehen gab, dass er kurz davor stand, ihn zu verärgern und sich selbst in ernsthafte Schwierigkeiten zu bringen.
Es war keine schlechte Imitation. Denn Borstenkopf, der sich schon abgewandt hatte und im Begriff stand zum Haus zurückzukehren, blieb augenblicklich stehen und schaute ihn erst verblüfft und dann verunsichert an.
»Sie behaupten, auf Mulberry Hall erwartet zu werden?«, fragte er.
»Das ist keine Behauptung, sondern eine Tatsache«, korrigierte Tobias ihn mit demselben Anflug von Arroganz, wie er sie sonst auf den Tod nicht ausstehen konnte. Doch was blieb ihm in dieser Situation anderes übrig? Er wollte nicht die Nacht im Wald verbringen oder zu Fuß nach Farnham zurückmarschieren müssen. »Mister Burlington …«
»Ha!«, rief Borstenkopf triumphierend, als hätte er ihn endlich eindeutig der Lüge überführt. »Auf Mulberry Hall gibt es keinen Mister Burlington!«
»Jah-salam!«, murmelte Sadik verständnislos. »Das ist unmöglich! Ich weiß, dass dies hier Sihdi Burlingtons Landsitz ist und …«
»Nein, einen Mister Burlington gibt es hier nicht, sondern nur einen Lord Burlington! Und wenn Sie mit Seiner Lordschaft bekannt wären, hätten Sie das gewusst!«, hielt ihnen Borstenkopf schroff vor.
Sadik war so überrascht, dass Rupert Burlington ein Lord war, wie Jana und Tobias. Letzterer fasste sich jedoch rasch. »Unter Königen gibt man nichts auf Titel. Und jetzt melden Sie unserem Freund Rupert endlich, dass Scheich Sadik Talib, der König der Beduinen, in Begleitung von Seiner Exzellenz Tobias Heller von Falkenhof und Prinzessin Jana zu Alouette seine oft wiederholte Einladung zu einem Besuch auf Mulberry Hall angenommen hat!«, herrschte er ihn nun an.
Borstenkopf fiel die Kinnlade herunter und seine Augen wurden groß. »Scheich Sarik Balib?«, fragte er verblüfft.
»Scheich Sadik Talib, König der Beduinen«, verbesserte Tobias ihn scharf, während es um Sadiks Mundwinkel kaum merklich zuckte.
»Und … und …«
»Exzellenz Tobias Heller von Falkenhof«, half Tobias ihm auf die Sprünge, »sowie Prinzessin Jana zu Alouette. Können Sie das behalten? Ein blinder Kutscher reicht uns für heute. Da können wir auf einen schwerhörigen Torhüter als Abendgabe sehr gut verzichten!«
Die Erwähnung des blinden Fahrers hatte fast noch mehr Wirkung als ihre Phantasietitel. Borstenkopf sah sie plötzlich ernstlich verstört an. »Sagen Sie bloß, der alte Corky hat Sie von Farnham …?«
Tobias fiel ihm ungeduldig ins Wort. »Seinen Namen hat er uns nicht genannt, doch was seinen Fahrstil angeht, wäre als Spitzname wohl eher so etwas wie ›Der blinde Totengräber auf dem Kutschbock‹ angebracht. Wir haben es jedenfalls vorgezogen, die Fahrt zu unterbrechen, solange wir dazu noch in der Lage waren, und den Rest des Weges zu Fuß zurückzulegen.«
Er schien nun tatsächlich geneigt zu glauben, dass sie zu Lord Burlington wollten und von diesem auch erwartet wurden. »Bitte kommen Sie mit mir! Ich werde Lord Burlington Ihre Ankunft melden«, sagte Borstenkopf und öffnete ihnen nun endlich das Tor. Dann wandte er sich um und rief: »Scipio! … Scipio!«
Ein junger Mann in Arbeitskluft erschien im Tor des anderen Backsteingebäudes. »Ja, Mister Hegarty?«
»Ich muss vermutlich noch mal zum Herrenhaus hoch. Also sieh zu, dass Lisette gleich fahrbereit ist!«, trug Borstenkopf alias Mister Hegarty ihm auf.
»Kein Problem!«, lautete die Antwort des Mannes und er verschwand wieder im Innern des hallenartigen Gebäudes.
»Siehst du, es ist doch ein Stall«, raunte Jana an Tobias’ Seite.
»Ja, und ein ganz schön spleeniger«, gab dieser leise zurück.
»Bis zum Herrenhaus sind es von hier noch gute zwei Meilen«, erklärte Borstenkopf, während sie ihm zum Haus folgten. »Ich schicke rasch Hermes los, um Sie dort anzumelden, damit man sich schon auf Ihr Eintreffen einstellen kann. Wenn Sie bitte solange warten würden.«
Jana runzelte die Stirn. »Wenn Sie erst einen Boten losschicken, um uns anzumelden, wird es schon längst Nacht sein, bis der Bote wieder vom Herrenhaus zurück ist!«, wandte sie ein.
Hegarty schüttelte den Kopf. »Nein, es dauert nicht mal zehn Minuten, bis ich weiß, ob Seine Lordschaft bereit ist Sie zu empfangen.
Denn Hermes ist ein geflügelter Bote – und zwar im wahrsten Sinne des Wortes!«
Hermes stellte sich als Brieftaube heraus, die Augenblicke später aus dem Taubenschlag hinter dem Haus in den Abendhimmel aufstieg und zum Herrenhaus flog. An ihrem Bein trug sie einen breiten Metallring, der Hegartys Nachricht enthielt.
»Eine gute Idee«, sagte Tobias anerkennend, als die Taube hinter den Bäumen verschwand.
»Dein großspuriger Auftritt war auch keine üble Idee«, bemerkte Jana belustigt. »Prinzessin zu Alouette klingt gar nicht mal so schlecht.«
»Dass du mich zum Scheich ernannt hast, fand ich ja recht schmeichelhaft«, sagte Sadik schmunzelnd. »Aber diesen König der Beduinen hättest du dir sparen können. Beduinen sind so frei wie der Wind, Tobias, und dulden keinen anderen Herrscher über sich als Allah. Sogar ein Scheich besitzt noch nicht einmal die Macht, um seinem Stamm Befehle zu erteilen. Deshalb gibt es bei uns auch keine gekrönten Häupter.«
»Dann ist doch jeder bàdawi ein König der Wüste, oder?«, hielt Tobias ihm verschmitzt vor.
Sadik lachte. »Aiwa, das will ich gelten lassen.«
»Aber sag mal, warum hast du nicht gewusst, dass Rupert Burlington ein leibhaftiger Lord ist?«, wollte Tobias wissen.
»Ganz einfach, weil weder er noch dein Vater diesen Titel je erwähnt haben«, antwortete Sadik. »Es verwundert mich gar nicht. Denn Äußerlichkeiten waren ihm nie wichtig. In vielen Dingen hegt er eben eine ganz eigene, manchmal nicht leicht nachvollziehbare Einstellung.«
»Ja, wie die zur Ehe«, bemerkte Jana spitz.
Sadik lächelte. »Daran dachte ich eigentlich weniger …«
»Was wiederum mich nicht verwundert, Sadik«, erwiderte Jana, und es machte ihr ein Vergnügen, sich mit ihm einen scharfzüngigen Wortwechsel zu liefern.
Hegarty nutzte die Zeit des Wartens, um die Laternen vor den beiden Backsteingebäuden und am Tor zu entzünden, denn das Tageslicht schwand nun rasch. Wenige Minuten später kam aus der Richtung, in die Hermes entschwunden war, eine andere Brieftaube zurück. Sie war im Gegensatz zu Hermes, dessen Gefieder von grauer, gedeckter Farbe gewesen war, fast weiß, sodass man sie am abendroten Himmel schon von weitem ausmachen konnte.
Tobias sah, wie Hegarty tief Atem holte und fast bestürzt rief: »Königin Elizabeth lässt bitten! … Es ist also alles wahr, das mit dem Beduinenkönig und … O Gott!«
»Wie bitte?«, fragte Jana.
Borstenkopf räusperte sich, verlegen und sichtlich betroffen, sie drei völlig falsch eingeschätzt zu haben. »Oh, diese Taube heißt Königin Elizabeth«, erklärte er nun sehr beflissen. »Mister Parcival Talbot, das ist der Butler Seiner Lordschaft, schickt sie immer dann, wenn die Herrschaft ganz besondere Gäste erwartet, die Seiner Lordschaft sehr am Herzen liegen.« Er machte eine Pause, schluckte schwer und sagte dann: »Es tut mir aufrichtig Leid, König … Mein Gott, ich dachte wirklich, verehrte Prinzessin … Ich meine, Exzellenz …« Hilflos wandte er sich von einem zum andern und wusste nach dem dritten Anlauf immer noch nicht, wie er sich bei ihnen für sein Verhalten entschuldigen sollte. Er machte ein ausgesprochen komisches Gesicht in seiner Fassungslosigkeit und Ratlosigkeit.
»Die Welt ist nichts als ein Schaukelspiel«, half Sadik ihm nun mit begütigendem Tonfall aus der Klemme, »wo man kommt und geht und wo sich Fehler mit großen Taten abwechseln. Belassen wir es dabei, Mister Hegarty, dass Sie heute einen Ihrer weniger glücklichen Tage hatten, und bringen Sie uns jetzt bloß noch zum Herrenhaus, womit dann alles vergessen wäre.«
»Natürlich! Gewiss! Sofort, Exzellenzen!« Er eilte zum benachbarten Gebäude, aus dem schon seit einiger Zeit merkwürdige Geräusche zu ihnen auf den Vorplatz drangen. Er riss das Tor weit auf. Warmer Lichtschein flutete aus dem Gebäude in die Dunkelheit, die sich indessen über das Land gelegt hatte.
Jana, Sadik und Tobias rechneten ganz selbstverständlich damit, dass der junge Mann ein Pferd namens Lisette eingespannt hatte und dass Hegarty nun eine Kutsche aus dem reichlich seltsamen Backsteinstall zu ihnen auf den Platz hinauslenken würde.
Doch dem war nicht so.
Jana war die Erste, die sah, was sich aus dem Gebäude bewegte, begleitet von einem scharfen Zischen, das so klang wie das einer gereizten Riesenschlange kurz vor dem Angriff. Jana schrie auf und hätte fast den Bambuskäfig umgestoßen, als sie unwillkürlich zwei Schritte zurückwich.
Auch Sadik und Tobias hatten das Gefühl, als bliebe ihnen für einen Augenblick vor Schreck das Herz stehen.
»Allah, der Barmherzige, stehe uns bei!«, entfuhr es dem Beduinen im ersten Moment fassungsloser Verstörung.