FÜNFUNDZWANZIGSTES KAPITEL
Gib dich der Deva hin!
Erstes Gebot der devakischen Religion.
Die Deva ist eine Entität mehrerer
gemeinsam betender Gläubiger.
Du sollst sein!
Die Neun Evangelien Ephrens,
»Lebensweisheiten«
Das Antra! Konzentriert euch auf das Antra!«, rief Shari mit kraftvoller Stimme, die seine Gefährten beruhigte.
Er fühlte, wie sich Tau Phraïms kleine Hand und Onikis eiskalte Hand in den seinen entkrampften.
Gemeinsam riefen sie den Klang des Lebens an, und der Chor der Deva sang wieder mit einer Stimme.
San Francisco und Phoenix hassten die Gocks neben ihnen nicht mehr. Jek hasste Fracist Bogh nicht mehr, diesen fanatischen Kardinal, der das Nord-Terrarium hatte vergasen lassen, bei dem sein alter Freund Artrarak getötet worden war. Whu hasste die vier Greise nicht mehr, die die Lehre verfälscht hatten, und Jankl Nanupha, der ihn zum Sklavenhändler gemacht hatte. Ghë hasste ihre Vergewaltiger nicht mehr. Fracist Bogh hasste seine Mutter und seine Lehrer der Schulen der heiligen Propaganda nicht mehr. Oniki hasste die Matrionen nicht mehr, die sie ins demütigende Exil auf die Insel Pzalion gezwungen hatten. Tau Phraïm hasste seinen Vater nicht mehr, der ihn allein unter Korallenschlangen hatte aufwachsen lassen. Yelle hasste die Menschen nicht mehr, weil sie nichts hörten, sahen oder fühlten. Aphykit hasste ihren Vater nicht mehr und auch nicht ihren zu einem Roboter gewordenen Mann – seine Hand war so kalt wie die eines Toten. Und Shari hasste sich selbst nicht mehr, weil er der Lehre des Narren der Berge zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt und Tixu im Kampf gegen Hyponeros allein gelassen hatte.
Das Antra stellte die Stille wieder her und öffnete den Weg in das Innere der Deva.
Die In-Creatur griff erneut an. Sie musste unbedingt verhindern, dass die Energie der Entität wuchs. Das schwächte sie.
»Ihr kennt meine Macht«, wiederholte Tixu.
Dieser Satz sollte das Vertrauen der Gefährten zueinander zerstören und sie schwächen.
Die Nacht wurde immer schwärzer, verhüllte Farben und Formen. Die Sterne waren nicht mehr zu sehen. Die Erde verlor ihre Konsistenz. Alle hatten das Gefühl, auf einem Ozean des Nichts zu treiben. Allein der Strauch des Narren leuchtete noch.
»Ihr kennt meine Macht.«
»Das Antra!«, rief Shari.
Der Klang des Lebens war nur noch ein feines Vibrieren, das langsam schwand. Dieses Schwinden war schmerzlos und vollzog sich mit einer nahezu emotionslosen Gleichgültigkeit.
Durch Tixus Hand ergriff die Kälte des Nichts von Aphykit Besitz, durch diese Hand, die so oft Wärme und Liebe gegeben hatte. Ihr schien, als habe sie nur für diesen Moment endgültigen Verzichts gelebt. Gibt es noch irgendetwas von Bedeutung?, dachte sie und öffnete die Augen. Sie sah die Gesichter ihrer Gefährten im Licht der Blüten des Strauchs. Sie spiegelten nur Resignation und Indifferenz wider. Ich habe nicht einmal mehr mütterliche Gefühle für Yelle, dachte sie. Jegliche Lebenslust hat mich verlassen.
Wir werden alle sterben, ohne die Inddikischen Annalen gesehen zu haben. Was macht das schon? Alles wird sterben, untergehen.
Der Lärm des Bloufs war inzwischen so laut, dass er die Vibrationen des Antra übertönte. Doch Yelle hatte keine Angst. Der Blouf wollte sie vernichten, aber sie tat nichts, um ihrem schrecklichen Schicksal zu entkommen. Gewiss, ein solches Ende habe ich nicht vorhergesehen, dachte sie, weil ich doch an die Unsterblichkeit glaube. Wer könnte mir jetzt Lebenslust schenken? Jek? Ach, wahrscheinlich versteht er mich überhaupt nicht. Außerdem bin ich immer allen anderen Menschen voraus und habe diese schrecklichen Visionen. Wenn ich sterbe, habe ich wenigstens meine Ruhe.
»Ihr kennt meine Macht.«
Oniki hatte sich schon seit Langem auf das Nichts vorbereitet. Nie in ihrem Leben hatte sie es gewagt, den ihr angemessenen Platz einzunehmen. Weder bei den Thutalinen im Kloster, noch auf dem Korallenschild oder an der Seite ihres Prinzen oder ihres Sohnes. Sie hatte nur als Schatten gelebt, ein Gast, der es nicht wagte, an der Tafel Platz zu nehmen. Sie hatte ihren Eltern gehorcht, den Matrionen gehorcht, ihrem Prinzen gehorcht, ihrem Sohn gehorcht – und nun gehorchte sie der In-Creatur … Gab es in diesem Univesrum einen Platz für einen Menschen ohne eigenen Willen?
»Ihr kennt meine Macht.«
San Francisco würde nie ein Prinz Jer Salems sein, von seinem Volk geliebt und geachtet. Sein Volk hatte ihn verbannt und dann im Zirkus der Tränen den wilden Tigerbären zum Fraß vorgeworfen. Der Stamm der Amerikaner und alle anderen Stämme existieren bereits nicht mehr, dachte er. Und weder mein Kopf noch mein Herz wollen über das Nichts herrschen. Also soll das Nichts über mich herrschen.
»Ihr kennt meine Macht.«
Bald werde ich mit meinem Volk vereint sein, dachte Ghë. Das ist Unsinn. Man kann sich nicht mit Menschen vereinen, die nicht mehr existieren. Aber ich werde sie bis in alle Ewigkeit ins Nichts begleiten. Die lange Irrfahrt El Guazers durchs All war nur eine Vorwegnahme des Endes. Sie sah das von den Blüten des Strauchs beleuchtete Gesicht Fracists. Ich bin ihm dankbar für diese Momente des Glücks, ehe alles untergeht.
»Ihr kennt meine Macht.«
Das Xui hatte seinen Meister gefunden, und Whu blieb nichts anderes übrig, als sich dieser Kraft zu beugen. Endlich erkannte er die Absurdität seines Lebens. Jedes Mal, wenn ich den Todesschrei ausgestoßen habe, dachte er, diese Perversion fundamentaler Energie, habe ich der In-Creatur gedient und der Herrschaft des Nichts. Dasselbe habe ich mit jedem von mir eingefangenen Kind getan. Die beiden wichtigsten Erfahrungen meines Lebens – als Ritter und als Sklavenhändler – hatten ein und dasselbe Ergebnis. Warum soll ich diesen Weg weiter beschreiten? Ist es nicht besser, die Waffen niederzulegen und sich ins Vergessen zu stürzen. Katiaj, verzeih mir mein Versagen.
»Ihr kennt meine Macht.«
Fracist Bogh dachte: Ich war ein jämmerlich schwaches Kind, ein jämmerlicher Kardinal und ein jämmerlicher Muffi. Warum sollte ich Ghë ein guter Gefährte sein? Ich liebe sie, ja. Aber weiß ich denn, was Liebe ist? Ist mein Herz nicht durch die Dogmen zu Stein geworden? Ich habe versucht, mich selbst zu zerstören, indem ich Tausende hinrichten und ermorden ließ. Das wird mir niemals jemand verzeihen können. Und weil das so ist, kann der Tod mir nur willkommen sein.
»Ihr kennt meine Macht.«
Phoenix war die letzte Frau des erwählten Volkes, die letzte eines überlegenen und heiligen Geschlechts. Weder mein Herz noch mein Kopf können es ertragen, unter Gocks zu leben, unter verfluchten Menschen, deren Bäuche verfault sind und deren Samen unrein ist. Ich will keine Kinder gebären, die sich später mit Menschen einlassen, deren Gene krank sind. Sie müssten Unreine heiraten. Deshalb ist es mir tausendmal lieber, vernichtet zu werden, als mein Volk verraten zu haben.
»Ihr kennt meine Macht.«
Yelle wird mich nie lieben, davon war Jek überzeugt. Nicht, weil sie unfähig zur Liebe wäre, sondern weil andere Menschen ihr gleichgültig sind. Jemand, der den Lärm des Blouf hört, kann nicht den Schlag seines eigenen Herzens hören. Jemand, der das Sterben der Sterne beobachtet, kann sich nicht der Liebe hingeben. Jemand, der einen so durchdringenden Blick hat, kann andere nicht zärtlich ansehen. Trotzdem lebe ich nur durch sie und für sie. Sonst habe ich niemanden mehr, keine Familie, kein Haus … Das Einzige, was ich möchte, ist, in Yelles Herz zu wohnen. Aber sie verschließt es.
Er sah sie an. Sie erwiderte seinen Blick nicht. Aber ihre Augen leuchteten mit einer derartigen Intensität, dass sie Wärme ausstrahlten, Wellen, die den Vibrationen des Antra glichen.
»Ihr … kennt … meine Macht …«
Wärme … Licht … Liebe … signalisierten die Kohäsions-Keimlinge an die Hauptplatinen.
Tau Phraïm war kurz schwindelig geworden, doch er fing sich schnell wieder, denn er fand es empörend, dass dieser schreckliche Kerl, dieser Handlanger der In-Creatur, das Leben seiner Freundinnen, der Schlangen, bedrohte. Sollen sich die Menschen doch ins Nichts stürzen, dachte er, aber sie haben kein Recht, die Tiere ebenfalls auszulöschen.
Und deshalb stimmte Tau Phraïm – er stand zwischen seinem Vater und Aphykit – mit aller Kraft den Klang des Lebens an. Er konnte seinen Körper nicht mehr erkennen, sah nur noch einen Leuchtpunkt, einen Funken, der gegen die eisige Kälte des Blouf ankämpfte und nicht verlöschen wollte.
Ich will noch mit den Reptilien pfeifen, Yelle ärgern, Jek necken, meine Eltern umarmen und im Gebirgsbach baden, alle Geheimnisse des Lebens erkunden, schlafen, träumen, wieder aufwachen und das bis in alle Ewigkeit.
»Ihr … die Macht … Leere …«
Leere, Leben … vibrieren … Blitz … Gewissen …
Den Hauptplatinen fiel es immer schwerer, die Dateien zu verarbeiten. Die Kohäsions-Keimlinge agierten wie außer Kontrolle geratene zerebrale Implantate.
Shari war völlig ruhig geblieben. Natürlich hatte er das Schwächerwerden seiner Gefährten – außer Tau Phraïm, der sich von den Attacken der In-Creatur überhaupt nicht beeindrucken ließ – bemerkt, aber diese Niederlage kümmerte ihn nicht. Im Gegenteil, je mehr die In-Creatur die Schwächen seiner Gefährten ausnutzte, umso weniger kümmerte sie sich um ihn und ließ ihm Zeit, den Gegenschlag vorzubereiten. Durch das Antra gestärkt, war er in die Tiefen seines Geistes hinabgestiegen, dorthin, wo alles Sein entsteht. Als Erstes hatte er sich gefragt, warum die Deva sie nicht zu den Inddikischen Annalen gebracht habe. Jetzt wusste er, warum: Sie waren bereits in den Annalen.
Sie waren die Annalen.
Der Klang des Lebens wurde immer mächtiger in Shari und Tau Phraïm.
»Die Macht des … des … Lebens.«
Die In-Creatur verbarg sich, rasend vor Wut, zwischen den Hauptplatinen, denn die Kohäsions-Keimlinge hatten die Kontrolle über den Speicher des Konglomerats verloren.
Auf allen Welten des einstigen Ang-Imperiums herrschte Dunkelheit und Kälte. Auf Syracusa, Marquisat, Orange, Issigor, Sbarao und den Ringen, Platonia, Ut-Gen, Oursse, den Planeten Neorops, Roter-Punkt, Zwei-Jahreszeiten …
Die Sterne waren erloschen, überall wurde das Ende des Universums verkündet. Dieses Phänomen wurde als universales Schwinden bezeichnet, andere nannten es die große Bestrafung oder das Ende der Welt. Auch lebte die Hypothese wieder auf, die Scaythen von Hyponeros seien daran schuld und man verglich diese Veränderungen mit dem Verschwinden des Planeten N-er Mars.
Die Tiere verkrochen sich. Die Menschen liefen überall zusammen, beteten oder fluchten, begehrten auf oder resignierten.
Die auf den Planeten der Milchstraße lebenden Völker verschwanden nach und nach in einem riesigen Schwarzen Loch.
Ich bin Jek At-Skin, Sohn von P’a und M’a At-Skin. Ich werde dich so sehr lieben, Yelle, dass du mir dein Herz öffnen musst und ich dich den Lärm des Blouf vergessen lasse sowie das Verschwinden der Sterne. Du wirst mich mit den Augen einer Frau ansehen und deine Kinder mit den Augen einer Mutter.
Frau? Mutter? Ein blasses Gesicht auf einem weißen Kopfkissen …
Ich bin Phoenix, Tochter von Dallas und Cheyenne vom Stamm der Amerikaner Jer Salems. Ich werde dir Kinder schenken, Prinz San Francisco. Und mein Herz wird die Männer und Frauen lieben, die sie einst heiraten werden. Ich werde ein Glied in der Kette des Lebens sein. Gock oder Erwählter, was macht das schon für einen Unterschied? Sie werden Menschen sein, und ich werde durch sie bis ans Ende aller Zeiten leben.
Ein Kind … Orange … Das grüne Vieulinn … Bilo Maïtrelly …
Ich bin Fracist Bogh, Sohn von Jezzica Bogh, Wäscherin im Runden Haus mit den neun Türmen. Wir werden leben, Ghë, und du wirst mich lehren zu lieben, du wirst mich lehren zu verzeihen, du wirst mich lehren, mir selbst ohne Hass und Verachtung zu begegnen. Du wirst mein Spiegel sein, mein anderes Ich. Meine Seelenverwandte aus dem All. Wir werden zusammen die Wunder des Universums entdecken. Wir werden unsere Wege gemeinsam gehen, miteinander das Leben teilen. In dir werde ich Erfüllung finden. Ich werde einen Orden gründen, der sich der Heilkunst widmet, und ihre Mitglieder werden auf allen Welten die Seelen und die Körper der Menschen heilen.
Mein Kind … Yelle … Mein kleines Wunder …
Ich bin Whu Phan-Li, Sohn von Sieng Tzao-Fong und Jung Phan-Li. Ich bin ein Diener des Xui. Ich werde die Menschen lehren, den See des Xui zu entdecken und Katiaj, die Himâ, heiraten. Und ich werde ihre Visionen respektieren. Ich bekenne mich des Sklavenhandels für schuldig und möchte Wiedergutmachung leisten, indem ich alle Kinder, die es wünschen, das Xui lehre, damit sie nie wieder Opfer werden. Mein Todesschrei wird ein Lebensschrei sein, der meinen Sohn beim Austritt aus dem Bauch seiner Mutter begleitet.
Ein Bauch. Weich. Feucht. Dunkel. Eine gewaltige Anstrengung. Das grelle Licht. Ein Schrei. Mein Schrei.
Ich bin Ghë, Tochter von Vinz und Alra, die letzte Überlebende des umherirrenden Volkes in El Guazer und von Maâ als Erwählte ausersehen. Ich werde für alle Toten meines Volkes leben. Ich werde mit Fracist Bogh eine Familie gründen, mit dem Mann, der mich die Brutalität der Männer vergessen ließ. Ich werde ihm helfen, seinen Frieden zu finden, so wie er mir hilft, meinen Frieden zu finden. Ich werde ihn trösten, und ich werde ihm so schöne Kinder schenken, dass er jeden Tag froh sein wird, sein Keuschheitsgelübde gebrochen zu haben.
Haar glänzt wie eine Sonne. Aphykit. Yelle. Meine Sonnen.
Ich bin San Francisco, Sohn des Prinzen Seattle und von Memphis. Es wird mir genügen, ein Prinz der Menschlichkeit zu sein. Mein Stamm wird der der Menschen sein. Ich werde mit Phoenix eine Nation gründen, und wir werden unter dem Eis leben, weil das Licht dort eine unvergleichliche Strahlkraft hat. Wir werden ein Jer Salem errichten, wo alle Menschen willkommen sein werden. Mein Herz und mein Kopf freuen sich bereits darauf, und sie freuen sich, weil ich Jeks Lebensweg kreuzte, den Gock-Prinzen der Hyänen kennenlernte, und sie freuen sich, Naïa Phykit und ihrer Tochter Yelle begegnet zu sein, sie freuen sich, weil sie drei Jahre im Eis geschlafen haben, und sie freuen sich über alles, was geschehen ist oder was noch geschehen wird.
Ich bin ein Mensch. Ein Mann. Ein Mensch.
Ich bin Oniki Kay, Tochter von Arten Wahrt und Jophi Kay aus Koralion. Ich werde leben, um dich zu lieben, mein Prinz. Aber ich werde auch leben, um mich zu lieben. Denn umso mehr ich mich liebe, umso mehr werde ich dich lieben. Ich werde dir alle meine Wünsche offenbaren, und selbst wenn du mich nicht verstehst, werde ich einen Weg finden, mich dir verständlich zu machen. Wir werden Tau Phraïm Geschwister schenken und auf der Insel Pzalion leben. Ich werde sie lehren, die Großen Orgeln zu reinigen, und du wirst sie lehren, auf den Gedanken zu reisen. Nie werde ich unsere erste Begegnung in meiner Klosterzelle vergessen: Du warst mager, du warst traurig. Ich fürchtete mich, ich war verrückt. Nach dir werde ich immer verrückt sein.
Leben, um zu lieben. Der Mensch lebt durch die Liebe. Warum verabscheue ich mich? Auf Zwei-Jahreszeiten regnet es immer. Traurig. Trostlos. Etwas Mumbë wird mich aufwärmen. Die Tür wird geöffnet. Sieh mal an, eine Syracuserin. Schön ist sie. Was hat eine Syracuserin in diesem gottverlassenen Nest verloren?
Ich bin Yelle, Tochter von Aphykit Alexu und Tixu Oty. Ich bin wie ich bin, eben anders und distanziert. Erinnerst du dich an mich, Papa? Ich war sehr traurig, als du fortgegangen bist, um dem Blouf in seinem Land gegenüberzutreten. Und was hat der Blouf aus dir gemacht? Einen Roboter, eine Maschine. Aber ich spüre und weiß, dass du dir deine Seele bewahrt hast. Ich liebe einen Jungen. Er heißt Jek, und ich werde ihn heiraten. Vielleicht hältst du mich für zu jung, um eine solche Entscheidung zu treffen. Alle Väter sind eifersüchtig! Aber du warst es doch, der mich in seinen Krieg hineingezogen hat. Jek wird mir helfen, mich ein wenig auszuruhen. Vielleicht schenke ich ihm sogar ein Kind. Aber nur eins. Ein Mädchen. Ich weiß sogar schon, wie sie heißt, aber das sage ich dir erst, wenn du nicht mehr in dieser Maschine steckst. Vergiss mich nicht, Papa. Du hast immer gesagt, ich würde wie ein Mann reden. Vergiss mich nicht.
Bist du das, Yelle? Meine Tochter? Ich war so glücklich, als du geboren wurdest, so stolz auf dich.
Ich bin Aphykit, Tochter von Dame Amaït und Sri Alexu. Mich erfüllt wieder Lebenslust, mein Geliebter. Habe ich dir bereits gesagt, dass die Stärke meiner Liebe dich aus den Klauen von Hyponeros befreien wird? Ich war es, die damals die Tür deines Reisebüros auf Zwei-Jahreszeiten öffnete und die du ohne zu zahlen auf den Planeten Roter-Punkt transferiertest. Dann folgtest du mir auf den Planeten Selp Dik, wo du mich aus dem Kloster befreitest, bis ich dich schließlich schätzen und lieben lernte. Habe ich dir das jemals gesagt, Tixu? Kehre zu den Menschen zurück, dann werde ich dir folgen, wohin du auch gehst, selbst in das Reich der Toten. Ich habe dich bereits vor drei Jahren gehen lassen, von nun an werde ich dich nie wieder verlassen. Du musst mich akzeptieren, mein Leben, meine Wärme spüren.
Ich weiß, wer du bist, Aphykit. Ich weiß, wer ich bin …
Der Gesang der in der Deva vereinten Menschen zerstörte die Kohäsions-Keimlinge. Plötzlich brach das gesamte, von den Hauptplatinen erstellte Konstrukt zusammen. Tixu konnte sich wieder erinnern. Er wurde noch einmal Mensch, und seine Kreativität bildete mit seinen elf Gefährten nun die wahre Deva – einen Tempel mit zwölf Säulen. Die besiegte In-Creatur floh aus der körperlichen Hülle des Orangers.
So plötzlich wie es Nacht geworden war, wurde es nun Tag. Die Sonne schien strahlend vom Himmel, der Wind fuhr raschelnd durch die Blätter der Bäume und Sträucher, die Vögel begannen zu singen.
Aphykit fühlte etwas Warmes über ihre Hand rinnen. Sie öffnete die Augen und stieß einen Schrei aus. Tixu stand da, blutüberströmt. Die Gefährten ließen einander los und drängten sich um ihn.
Der innere Mechanismus, der Tixus Körper zusammengehalten hatte, war zusammengebrochen. Tixu öffnete den Mund, er wollte sprechen. Doch nur ein Blutstrom quoll zwischen seinen Lippen hervor. Seine Beine trugen ihn nicht mehr, und er brach neben dem Strauch des Narren zusammen. Aphykit kniete neben ihm, seinen Kopf in ihrem Schoß.
Yelle weinte nicht. Sie hatte gewusst, dass ihr Vater diese Prüfung nicht überleben werde. Sie konnte in die Zukunft sehen. Den Blouf hörte sie nicht mehr: Die Inddikische Deva hatte ihn für die Dauer mehrerer Millionen Jahre besiegt. Jek ging zu ihr und umarmte sie zärtlich.
»Jek, wirst du mich lehren, den Gesang des Lebens hören zu können?«
Tixus Körper schwand dahin, als hätte er sich in einem unsichtbaren Bottich aufgelöst.
Aphykit erhob sich, die Augen voller Tränen. »Er starb als Mensch«, flüsterte sie und sah zum Himmel.
Irgendwo dort, in dieser Unendlichkeit wartest du auf mich, dachte sie. Ich komme bald. Das habe ich dir versprochen.
Drei Tage blieben sie bei Aphykit und Yelle, um die beiden zu trösten.
»Wir haben die Inddikischen Annalen nicht gesehen«, sagte Fracist Bogh, als er mit Shari und Whu am Gebirgsbach spazieren ging.
»Wir konnten sie nicht sehen, denn wir sind zwölf … wir waren zwölf«, antwortete Shari. »Wir selbst sind die Inddikischen Annalen. Aber ich lade euch ein, sie, jeder für sich, zu besuchen. Sie sind einen Umweg wert.«
»Das verstehe ich nicht ganz«, sagte Whu. »Sie können doch nicht hier und gleichzeitig woanders sein.«
»Wir sind alle hier und woanders.«
Whu fand die Antwort interessant, weil er nun wieder etwas erforschen, ein Rätsel lösen konnte. Denn sein Volk hatte das Lösen von Rätseln zu einer Kunst erhoben.
In der Morgendämmerung des vierten Tages trennten sie sich. Nur Aphykit, Yelle und Jek blieben auf Terra Mater. Ehe sie in den Äther aufbrachen, umarmten sie sich und gaben sich das Versprechen, sich wiederzusehen. Tau Phraïm drückte Aphykit so fest an sich, dass sie einen blauen Fleck bekam.
In der Frühe des siebten Tages entdeckte Aphykit einen neuen Strauch neben dem Busch des Narren, einen Strauch mit roten Blüten, so rot wie Tixus Blut.
Yelle und Jek besuchten gern das Dorf in den Hymlyas. Sie mischten sich unter die Pilger, doch sie gingen nicht zu den beiden Sträuchern mit den ewigen Blüten, sie gingen den schmalen Pfad hoch, der zum Gebirgsbach führte. Jetzt war Frühlingsanfang, und es lagen noch Schneereste auf den Wiesen.
Aphykit saß vor der Grotte des Narren, ihrem Lieblingsplatz. Ihr goldenes Haar zeigte Spuren von Grau, doch im Alter schien sie noch schöner zu werden.
Den von den Reiseagenturen organisierten Pilgerreisen und dem ständigen Strom der Menschen schenkte sie kaum Aufmerksamkeit. Sie nährte sich von wilden Früchten und Essensresten, die die Pilger übrig ließen. Die Leute hielten sie für ein Original, eine Frau, die ihr Leben dem Kult der Verehrung der Ritter der Stille widmete. Sie wären erstaunt gewesen, hätten sie erfahren, dass sie Naïa Phykit war, die legendäre Gefährtin Sri Lumpas.
»Mama!«, rief Yelle zur Begrüßung.
Und als Aphykit in die Richtung ihrer Tochter schaute, streckte diese ihrer Mutter ihre zwei Monate alte Tochter, Abahelle, entgegen.
Aphykit nahm das Kind in die Arme, betrachtete es lange, streichelte es und summte ihm ein altes syracusisches Wiegenlied vor.
Dann sah sie Yelle an. Aus ihrer Tochter war eine schöne junge Frau geworden, die Tixu immer ähnlicher wurde. Sie schien mit Jek sehr glücklich zu sein. An ihrer rechten Hand glänzte der Julianische Korund.
»Sie heißt Abahelle«, sagte Yelle. »Ich habe mich beeilt, denn ich wusste, dass du deine Enkelin sehen willst, ehe du gehst.«
»Jetzt kann ich in Frieden gehen, meine Enkelin ist sehr schön. Wo wohnt ihr?«
»In einem Aven auf Platonia«, antwortete Jek. »Jedenfalls momentan …«
Er war zu einem Riesen von über zwei Metern herangewachsen; seine Frau wirkte winzig an seiner Seite. Sein rundes Gesicht drückte viel Güte aus und Geduld – diese Eigenschaften brauchte er dringend im Zusammenleben mit Yelle.
»Wollt ihr noch mehr Kinder haben?«, fragte Aphykit.
»Eins genügt!«, sagte Yelle bestimmt.
»Habt ihr die anderen Gefährten der Deva gesehen?«
»Wir besuchen regelmäßig Phoenix und San Francisco. Sie leben in der Eiswelt und haben dort eine herrliche Stadt gebaut. Sie haben Zwillinge, und Phoenix ist wieder schwanger. Einmal haben wir Whu und seine Frau Katiaj besucht. Sie leben auf dem Sechsten Ring von Sbarao. Whu hat eine Xui-Schule gegründet, und sie haben drei Kinder. Und wir wissen, dass Fracist und Ghë eine lange Reise machen. Aber Shari, Oniki und ihre Kinder, die siehst du ja öfter als wir.«
»Tau Phraïm ist jetzt groß«, sagte Aphykit. »Bald wird er bereit sein, den Platz des Narren der Berge einzunehmen und zum unsterblichen Wächter der menschlichen Annalen werden.«
Eine Stunde später verabschiedete sich Aphykit mit ungewohntem Ernst von den beiden. Sie ging weder ins Dorf noch zum Exod-Vulkan, sondern lenkte ihre Schritte in Richtung des Hymlyas-Gebirges. Nicht ein einziges Mal drehte sie sich um. Dann verschmolz ihre Gestalt mit den schneebedeckten Hängen des Massivs.
»Wir werden sie nicht wiedersehen«, sagte Yelle leise. »Sie geht zu meinem Vater. Unsere Tochter wird nie eine Großmutter haben …«
Jek küsste seine Frau zärtlich. »Dann schenken wir ihr noch die Liebe der vier, M’a At-Skin!«
Am nächsten Morgen entdeckten die Pilger einen dritten Strauch neben dem Strauch mit den glänzenden und dem mit den roten Blüten. Seine Blüten waren von reinstem Weiß, so strahlend, dass das menschliche Auge ihren Glanz nicht ertragen konnte.
Ein junger schüchterner Mann trat vor Sri Hampra. Der alte Mann hatte die Angewohnheit, jede Nacht auf einen Hügel zu steigen, den er Arratan nannte, und von dort aus den Sternenhimmel zu betrachten.
Der junge Mann war Syracuser, was an seiner Kleidung zu erkennen war. Seit dreißig Jahren trugen sie keinen Colancor mehr, sondern eine Art Trikot, das bis zum Hals reichte, den Kopf aber frei ließ.
»Ich bin Messaodyne Jhû-Piet«, sagte der junge Mann, »und schreibe eine Dissertation über die Krieger der Stille und die Legenden, die sie umgeben. Darf ich mit Ihnen darüber sprechen?«
»Ich habe bereits von Ihnen gehört«, entgegnete Sri Hampra. »Es heißt, Sie seien der größte Dichter der ersten Postang’schen Periode. Brillant und zudem ein Charmeur, ein Liebling der Damen und von den Herren gehasst! Sie müssen nicht glauben, dass wir auf Neorop nichts vom Universum wissen.«
Der junge Mann verneigte sich respektvoll und sagte: »Das Kompliment kann ich zurückgeben. Wie es heißt, haben Sie Sri Lumpa gekannt und als Einziger Hyponeros erforscht. Stimmt das?«
»Beides hat miteinander zu tun. Ich lernte Sri Lumpa auf einem Planeten kennen, der Hyponeros hätte sein können. Ich bin mir dessen nicht sicher. Ich bin jetzt über zweihundert Standardjahre alt, junger Mann. Der Tod will noch nichts von mir wissen …«
Die Augen Messaodyne Jhû-Piets glänzten in der neoropäischen Nacht. Er brauchte sein kleines Holoaufzeichnungsgerät nicht. Diese Unterhaltung würde er nie vergessen.
»Sri Lumpa hat mich das Antra gelehrt«, sprach Sri Hampra weiter. »Ich rede nicht von diesen lächerlichen Praktiken, die falsche Krieger der Stille vermarkten«, spuckte er aus, »sondern vom Klang des Lebens, einer psychokinetischen Reise.«
»Ich habe einen solchen Kurs mitgemacht«, gestand Messaodyne Jhû-Piet enttäuscht.
»Also überhaupt nichts gelernt«, brummte Sri Hampra. »Ein Antra zum Billigtarif! Fliegendreck! Doch sollten Sie es wünschen, junger Mann, zeige ich Ihnen was eine wirkliche Initiation ist.«
»Aber gerne!«, rief der Syracuser.
»Ihr Enthusianismus gefällt mir. Wie ist die Lage auf Syracusa?«
»In weniger als einem Jahrhundert haben wir es auf neunundzwanzig Regierungen gebracht. Kaufleute drängen die Völker der Satellitenstaaten zum Aufruhr, um die Aristokraten zu stürzen. Sie wollen eine Demokratie errichten. Andere Welten haben uns unseren hegemonialen Wahnsinn nicht verziehen und meiden uns. Prosperität und Stabilität, darauf werden wir noch länger warten müssen. Darf ich Ihnen eine andere Frage stellen? Warum dieser Name, Sri Hampra? Ich glaube, es bedeutet ›Seigneur Affe‹ in der Sprache der Sadumbas. Aber Sie sind nicht sehr behaart …«
»Als ich vom Planeten Arratan kam …«
» Arratan?«
»Ein anderer Name für Hyponeros. Als ich von dort zurückkam, hatte mein Körper eine quasi animalische Gestalt angenommen …«
»Wissen Sie, was aus den Kriegern der Stille geworden ist? Es heißt, dass jedes Mal, wenn einer von ihnen dieses Universum verlässt, ein Strauch auf Terra Mater erblüht.«
»Wie viele Sträucher gibt es bereits?«
»Zwölf. Und diese Blüten haben eine besondere Eigenschaft, ihre Formen und Farben sind sehr verschieden …«
Sri Hampra deutete auf den Sternenhimmel. »Betrachte ihn, Messaodyne, und du siehst, wonach du suchst. Ganz links die Konstellation Fracist und Ghë in Form eines Jabaïb, eines Geiers. Sie beschützen die Heiler und die Reisenden.«
»Fracist? Ist das Fracist Bogh, der Muffi Barrofill der Fünfundzwanzigste?«
»Einige Gelehrte behaupten es. Daneben eine Konstellation San Francisco und Phoenix, in Gestalt eines Schnee-Tigerbären. Zu ihnen wird gebetet, wenn man unfruchtbar ist. Etwas weiter die Konstellation Whu Phan-Li, in den Noten eines Trillers, der Beschützer der Krieger und der Eremiten.
»Ist das kein Widerspruch?«
»Eremiten und Krieger der Seele. Richte jetzt den Blick auf die rechte Seite des Himmels. Dort siehst du die Konstellation Yelle und Jek, in Form eines Auges, das Symbol der Hellsichtigkeit und des Mutes. Und da, ein fliegender Stein, die Konstellation Shari und Oniki, ein Sinnbild der Initiation und der Ergebenheit. Der einsam strahlende Stern, das ist Tau Phraïm, ihr Sohn, der ewige Wächter der Inddikischen Annalen. Und dort ist schließlich meine liebste Konstellation, die Echse in der Mitte. Rötlich ist sie, weil das Rot die Farbe des Opfers ist. Den Kopf stellen sieben Sterne dar. Aphykits Haar in Tixus Körper. Aphykits Seele in Tixus Seele. Dort, wo sich früher ein Schwarzes Loch befand, kann man jetzt Sternenstaub erkennen. Das sind die Scaythen, die einstigen Abgesandten des Nichts. Ihr Verlangen, selbst am Schöpfungsakt teilzunehmen, hat sich stärker als der Wille der In-Creatur erwiesen.«
»Ich sehe überhaupt nichts von alledem«, sagte Messaodyne und seufzte.
Der alte Mann lachte. »Du musst mit dem Herzen sehen. Du erinnerst mich an meine Jugend, als ich noch Loter Pakullaï hieß und ein geachteter Wissenschaftler war.«
»Und wozu soll Ihr Abenteuer gut gewesen sein?«, sagte der Syracuser. »Die Menschen schlachten sich noch immer mit derselben Grausamkeit ab …«
»Grausamkeit gehört zum menschlichen Leben. Hättest du die Tage der Großen Kälte und der Großen Leere kennengelernt, würdest du nicht so reden.«
»Große Kälte? Große Leere? Ich dachte, das wäre ein Märchen, das man den Kindern erzählt …«
»Die Schwärze des Himmels, das ist der Blouf. Er stürzt sich wie ein Raubtier auf uns, sobald wir eine Schwäche zeigen. Ohne das Abenteuer dieser zwölf Gefährten könnten sich die Menschen nicht einmal mehr gegenseitig töten, und wir säßen nicht in aller Ruhe unter dem Sternenhimmel. Doch nun genug geredet. Es ist Zeit, dass du das wahre Antra lernst …«