ZWEITES KAPITEL
Zwölf an der Zahl müssen
erscheinen,
Gemäß den zwölf ersten Welten,
Den zwölf ersten Gewässern
Und den zwölf ersten Tagen.
Zwölf Stimmen werden
singen,
Auf gerade oder verschlungene Pfade sich
begeben.
Finster oder rein wird ihre Seele
klingen.
Lang oder kurz wird es sein, ihr Leben.
Zwölf Funken werden
sprühen,
Wie die zwölf ersten Blumen
erblühen,
Wie die zwölf ersten Bäume zum Licht
streben
Und die zwölf ersten Tiere leben.
Zwölf Herzen werden kraftvoll
schlagen,
In Welten grün oder schwarz an allen
Tagen.
Blau oder weiß werden ihre Augen
sein
Und hell- oder dunkelhäutig werden sie
sein.
Zwölf Denkweisen werden sich
vereinen,
Wie die ersten zwölf Frauen,
Wie die ersten zwölf Männer,
Wie die ersten zwölf Kinder.
Zwölf Menschen voller
Leidenschaft
Werden dank ihrer Kraft
Voller Freude triumphieren,
Und alle werden jubilieren.
Elf an der Zahl werden
kapitulieren,
Elf werden untergehen,
Elf werden vernichtet.
Sollte ein Einziger
sterben,
Sollte ein Einziger versagen,
Sollte ein Einziger Verrat üben,
Wird die Menschheit untergehen und verderben.
Der Duodekalog
Erstes Buch des Zeitenendes
»Die Prophezeiungen des Zahiel«
Es ist Zeit, dass Wir Uns vor den Erzfeinden des Glaubens in stillem Gedenken sammeln, mein lieber Adaman …«
Adaman Mourall stimmte mit einem Nicken zu und folgte seinem erhabenen Gesprächspartner. Die beiden Männer verließen die Gemächer des Pontifex über ein Treppenhaus, das in die feuchtkalten und dunklen Kellerräume des Bischöfl ichen Palastes in Venicia führte. Ihre Gedankenhüter – acht für den Muffi und zwei für den jungen Exarchen – gingen in gebührendem Abstand hinter ihnen her. Fast unhörbar waren die Schritte der in weiße Kapuzenmäntel gekleideten Scaythen.
Die regelmäßigen Besuche der vier in einem Kellergewölbe ruhenden tiefgefrorenen Menschen machten Adaman Mourall fast wahnsinnig, und ebenso widerwärtig fand er es, von Barrofill XXV. ständig mit »mein lieber Adaman« oder »mein lieber Sohn des Marquisats« angeredet zu werden. Doch diese Titulierungen musste er fast täglich über sich ergehen lassen, seit der Unfehlbare Hirte ihn zum Ersten Sekretär ernannt hatte. Eine Auszeichnung, auf die der Absolvent der Elitehochschule der Heiligen Propaganda (EDHP) gern verzichtet hätte. Wie der Muffi war er in Duptinat – der Hauptstadt des Planeten Marquisat – geboren. Doch diese Tatsache hatte ihm eher zum Nachteil als zum Vorteil gereicht. Statt nach dem Studium sofort in seine Heimat zurückkehren zu dürfen, wie seine Lehrer es ihm versprochen hatten, hatte man ihn gezwungen, für unbestimmte Zeit auf Bella Syracusa zu leben, und das im Schatten einer der mächtigsten und gefürchtesten Persönlichkeiten des Ang-Imperiums.
Gewiss, der kaiserliche Planet besaß unbestreitbare Vorzüge: ein angenehmes mildes Klima, bezaubernde Landschaften, eine äußerst kultivierte Bevölkerung, eine prachtvolle Hauptstadt, deren Schönheit bereits legendär war – doch Adaman Mourall litt trotz alledem unter Heimweh.
Im Alter von fünfzehn Jahren hatte er in einem Deremat des Intergalaktischen Transportunternehmens die Reise nach Venicia angetreten, um dort an der Elitehochschule zu studieren, und nie vermutet, dass ihm die sechs Jahreszeiten, der fahle Himmel, die Nachtgestirne und die eher einfache Architektur seiner Heimat derart fehlen würden.
In seiner Doppelfunktion als Faktotum und Vertrauter des Unfehlbaren Hirten war er dessen ständiger Begleiter und wie sein Gebieter häufig das Ziel von Attentaten. Erst vor zehn Tagen war er knapp einem Anschlag mit einer Lichtbombe entkommen, deren Strahlen gut zwanzig Novizen und Vikare dahingerafft hatten. Er war nur leicht am Arm verletzt worden, doch dieser Vorfall hatte ihm einen großen Schrecken eingejagt, von dem er sich bis heute noch nicht erholt hatte.
Denn die meisten der fünftausend am Konklave teilnehmenden Kardinäle gaben sich in der Abgeschiedenheit ihrer venicianischen Luxusdomizile vor allem ihrer Lieblingsbeschäftigung hin: dem Schmieden von Intrigen und Komplotten.
Und Adaman Mourall fragte sich nicht zum ersten Mal, durch welches Wunder der »Marquisatole« – eine Wortschöpfung aus Marquisatiner und Paritole (die abfällige Bezeichnung der Syracuser für andere Planetarier) –, wie die Einheimischen Barrofill XXV. nannten, zweitausendsechshundertundzwei Stimmen am siebten Tag der Wahl bekommen hatte. Er vermutete, dass dieses unerwartete Ergebnis etwas mit den Führungskräften des Vikariats zu tun hatte, deren Präsenz im Bischöflichen Palast immer lästiger und bedrückender wurde. Einige ekelerregende Besuche in der Gruft der Kastraten – einem geheimen Raum, wo die Vikare ihre als Opfergaben gedachten Sexualorgane in Luftkugeln aufbewahrten – hatten den Ersten Sekretär in dieser Vermutung bestätigt.
Er war nicht der Einzige, der Zweifel am Ausgang dieser Wahl hegte. In weniger als drei Jahren hatte das Sondergericht, das sich jeweils zur Hälfte aus Kardinälen und Vikaren zusammensetzte, neun Prozesse zur Annullierung der Wahl des Muffis angestrengt.
Lange hatte Adaman Mourall gezögert, die Frage zu stellen, die ihm auf den Lippen brannte. Doch eines Abends, als die beiden Marquisatiner allein im kleinen Salon des Muffis saßen, hatte er sich ein Herz gefasst.
»Warum liefern Euch die Kardinäle einen derart erbitterten Kampf, Eure Heiligkeit?«
Barrofill XXV. hatte nur müde gelächelt. Seine dunklen Augen waren von tiefen Schatten umgeben, die deutlich hervortraten, weil er sich entgegen der höfischen Regeln nicht schminkte. Er war deswegen schon zur ständigen Zielscheibe des Spotts von Höflingen und Kardinälen geworden.
»Weil ich kein Syracuser bin und genau wie Ihr die Autopsychische Selbstkontrolle nur schlecht beherrsche, mein lieber Adaman.«
»Verzeiht mir, Eure Heiligkeit, aber ich verstehe nicht, was die Feindschaft der Kardinäle mit der APS zu tun hat …«
Der Muffi hatte sich von seinem in der Luft schwebenden Sitz erhoben, war zu dem großen Fenster gegangen, das einen herrlichen Ausblick auf Romantigua – den historischen Stadtkern Venicias – bot, und hatte sich lange in die Betrachtung des indigofarbenen Flusses Tiber Augustus versenkt. Ihm schien, als leuchteten am nachtblauen Himmel jeden Abend weniger Sterne.
»Welcher Zusammenhang da besteht, wollt Ihr wissen?«, hatte er resigniert gesagt. »Selbst wenn Ihr Euer Leben lang versucht, Eure Emotionen zu kontrollieren, so werdet Ihr doch nie zu einem Syracuser werden. Auch wenn ich der Unfehlbare Hirte bin, das Oberhaupt der Kirche des Kreuzes, es nützt mir nichts. Ich werde immer der Marquisatole bleiben, der Eindringling, ein ungebetener Gast. Und ebenso wie das Immunsystem im menschlichen Körper einen Virus bekämpft, versuchen die Syracuser, mich zu eliminieren, um einen der Ihren auf den Thron des Pontifex zu setzen.«
»Und warum unterstützen die Vikare Euch dann? Denn jedes Mal, wenn ein Amtsenthebungsverfahren gegen Euch angestrengt wird, machen sie von ihrem Vetorecht Gebrauch.«
»Mein lieber Adaman, Ihr dürft nie vergessen, dass diese Männer sich haben kastrieren lassen, um der Fleischeslust zu entsagen, damit sie sich mit Körper und Seele ganz ihrer schwierigen Aufgabe widmen können. Sie sind also Fanatiker, die eifersüchtig über ihre Privilegien wachen und sich um nichts anderes als die Verkündigung des Wahren Wortes unserer Heiligen Kirche kümmern. Sie sind wohl davon überzeugt, dass ein Paritole weniger als ein Syracuser für die verderblichen Einflüsse des höfischen Lebens empfänglich ist.«
Über die geheimen Machenschaften, mit deren Hilfe er zum Oberhaupt der Kirche aufgestiegen war, sprach der Muffi nicht. Einerseits weil das Gehirn seines jungen Mitplanetariers ständig von den Scaythen ausgeforscht wurde und sie dort nur erfahren durften, was er sie wissen lassen wollte, und andererseits weil er jene Erinnerungslücken, die durch das Auslöschungsprogramm der Scaythen entstanden waren – eine Konsequenz seiner Beziehung zu dem Vikariat –, wieder auffüllen wollte.
Von ihren Gedankenhütern gefolgt – sind sie Hüter, Inquisitoren, mentale Auslöscher oder Mörder, fragte sich Adaman Mourall manchmal – gingen die beiden Marquisatiner über einen Gang, dessen Wände und gewölbte Decke mit Optalumal ausgekleidet waren, einer undurchdringlichen Metalllegierung. Diese im Prinzip perfekte Schutzvorrichtung gegen Strahlen und Wellen aller Art war von dem Vorgänger des jetzt amtierenden Muffis, Barrofill XXIV. installiert worden, dem der kaiserliche Hof post mortem die schmeichelhaften Titel »Tyrann Venicias«, »Palastmonster« und »Komodoteufel« verliehen hatte.
Paradoxerweise fühlte sich Adaman Mourall in diesen nur spärlich durch ein paar schwebende Lichtkugeln beleuchteten unterirdischen Gängen, die er verabscheute, in Sicherheit – es sei denn, einer seiner Gedankenhüter wäre ein im Dienst eines Kardinals, einer syracusischen Adelsfamilie, einer Gilde oder des Imperators Menati stehender Gedankenauslöscher. Doch diese Möglichkeit schloss er gleich wieder aus, als er an die Morphopsychologen dachte, die ständig die Überwachungsbildschirme des Palastes kontrollierten. Sie erkannten, anders als gewöhnliche Sterbliche, jeden Scaythen, auch wenn der sich in einem Kapuzenmantel versteckte, und hätten nie einen Gedankenhüter passieren lassen, wenn sie auch nur den geringsten Zweifel hegten.
In der stickigen Luft lag ein leichter Geruch nach Verwesung. Die wenigen Lichtkugeln schwankten und warfen flackernde Schatten auf verrostete Metalltüren, die durch kodierte Magnetschlösser gesichert waren.
Die beiden Männer blieben vor einer runden, gepanzerten Schleusenkammer stehen, die mit einem perfekten Sicherheitssystem ausgerüstet war. Der Muffi nahm eine winzige Fernbedienung aus einer Tasche seines Chorhemds und drückte auf die Tastatur. Kurz darauf öffnete sich die Schleusentür, während die Gedankenhüter in etwa zehn Meter Entfernung starr wie Gespenster dastanden.
Adam Mourall wartete, bis Barrofill XXV. in dem schwarzen Loch verschwunden war, dann schnitt er dem Rücken des Muffis eine Grimasse, eine Geste infantiler Hilflosigkeit.
»Kommt, mein lieber Adaman!«
Der Exarch stieß einen langen Seufzer aus, ehe er den kleinen, vollständig mit Optalumal ausgekleideten Raum betrat. Eine Sensitivierungslichtkugel füllte sich mit Helligkeit und schwebte langsam über die vier transparenten, auf Kryogentanks ruhenden Sarkophagen.
Die in den gläsernen Särgen ruhenden Gestalten waren gut zu erkennen, obwohl die Innenwände leicht beschlagen waren. Trotz seines Abscheus betrachtete Adaman Mourall die beiden Frauen, den Mann und das kleine Mädchen, die dort seit mehr als drei Jahren mittels der Kryotechnik in einen Tiefschlaf versetzt worden waren.
Beide Frauen waren sehr schön, allerdings auf ganz unterschiedliche Weise. Die eine hatte langes goldenes Haar, schneeweiße Haut und klassische Gesichtszüge, deren Perfektion der ihres Körpers in nichts nachstand, sofern ein Mann, der das Keuschheitsgelübde abgelegt hatte, das beurteilen konnte.
»Aphykit Alexu«, hatte der Unfehlbare Hirte bei ihrem ersten gemeinsamen Besuch in der Krypta erklärt. »Eine Syracuserin, aus Venicia sogar. Von den Kriegern der Stille wird sie Naïa Phykit, die Allwissende Mutter, genannt … Einzige Tochter Sri Alexus, einer der letzten Meister der Inddikischen Wissenschaft.«
»Inddikische Wissenschaft?«
»Eine Art Hexenkult, ein Gräuel. Was hat man Euch in der EDHP gelehrt? Das kleine Mädchen ist wahrscheinlich die Tochter ihrer Liebe zu einem gewissen Tixu Oty, einem gebürtigen Oranger. Was die zwei anderen betrifft, so kennen wir ihre Namen nicht. Wir wissen nur, dass sie jersaleminischer Herkunft sind.«
Bei jedem Besuch in diesem abgeschirmten Raum war das Gesicht Barrofills XXV. von Trauer gezeichnet, wenn sein Blick auf dem Paar aus Jer Salem ruhte. Sie sahen sich sehr ähnlich. Beide hatten langes schwarzes Haar, ausgeprägte, fein geschwungene Brauen, eine gebogene Nase und eine dunkle, fast bronzefarbene Haut. Der Erste Sekretär erriet, dass der Anblick dieser zwei Menschen den Muffi an die fürchterliche Entscheidung erinnerte, die er während der ersten Monate nach seiner Inthronisation hatte treffen müssen: die totale Zerstörung Jer Salems, eines von Eis bedeckten Satelliten des Planeten Franzia und die Vernichtung seiner einhundertvierzigtausend Bewohner, die als Häretiker galten und auf dem Index standen.
Den Körper des kleinen Mädchens betrachtete der Exarch nur flüchtig. Aber jedes Mal musste er sich zwingen, den Blick nicht zu lange auf dem Schamhügel, der in seiner Nacktheit geradezu obszön aussah, verweilen zu lassen. Entsetzt hatte er feststellen müssen, dass er wie viele Geistliche unter einer abscheulichen sexuellen Neigung litt. Trotz dieser Erkenntnis wusste er, dass er diesem Drang eines Tages nachgeben und ihn auf illegale und widerwärtige Weise befriedigen würde.
Er verbannte diese finsteren Gedanken aus seinem Kopf, lehnte sich an die Wand und beobachtete den Muffi, der nun wie erstarrt und mit Tränen in den Augen vor einer Kiste stand. Was trieb das Oberhaupt der Kirche, einen Mann, der wie ein Krake über Millionen und Abermillionen Untertanen herrschte, dazu, sich in dieser Krypta einzufinden? Hatte diese absurde Andacht etwas mit seinen langen einsamen Ausflügen in andere, fast vergessene unterirdische Gänge des Palastes zu tun? Oder mit dieser geheimnisvollen inneren Stimme, von der er manchmal sprach?
Obwohl Adaman Mourall seinen Mitplanetarier fast jeden Tag seit zwei Jahren sah, verstand er ihn nicht. Denn dieser Mann war ein Mensch mit zwei Gesichtern, ein Janus, ein doppelgesichtiges Wesen. In der Öffentlichkeit präsentierte er sich als unerbittlicher Vertreter des Glaubens, doch sobald er sich in seine Privatgemächer zurückgezogen hatte, zerbrach dieser Schutzschild seiner Überzeugung. Dann wirkte er von der Last seiner Verantwortung bedrückt, von Zweifeln und Gewissensbissen gequält.
Die Vikare belagerten ihn Tag und Nacht. Gleich schwarzen schwatzenden Harpyien forderten sie stets neue Maßnahmen der Unterdrückung, die ihnen auch meistens gewährt wurden. So litt die Bevölkerung nicht nur unter den Hinrichtungen am Feuerkreuz und den dem Gemeinwohl dienenden Auslöschungskampagnen, sondern auch an öffentlichen Demütigungen, die in Form von Selbstauspeitschungen oder anderen körperlichen oder geistigen Torturen stattfanden.
Der Muffi sank auf die Knie und breitete die Arme aus. Tränen liefen über seine bleichen Wangen. Er bot das Bild eines entrückten Mystikers, wie ihn der große Armonius d’Estrée in seinem holographischen Werk über die Gnade und andere göttliche Offenbarungen beschrieben hatte.
Adaman Mourall war nicht das erste Mal Zeuge einer Verzückung Barrofill XXV., doch dieser Anblick löste stets Unbehagen in ihm aus. Musste sich der Oberste Hirte an dem Anblick dieser Körper weiden, um den Zustand der Gnade zu erlangen?
Die triste Atmosphäre in dieser Krypta zerrte an den Nerven des Exarchen, denn außer dem Abscheu vor diesen Halbtoten fühlte er nichts als ein krankhaftes Verlangen nach dem kleinen Mädchen, während ihm die beiden Frauen und der Mann völlig gleichgültig waren. Es drängte ihn, den Raum so schnell wie möglich zu verlassen, auch wenn er sich im Bischöflichen Palast gleich einem geschickten Steuermann durch ein Meer aus Intrigen, Komplotten und Attentaten lavieren musste. Aber dort hatte er wenigstens das Gefühl, lebendig zu sein.
Nach einer Ewigkeit, so schien es dem Ersten Sekretär, löste sich der Muffi aus seiner Erstarrung und erhob sich, ohne seine Tränen zu trocknen.
»Nimmst du denn gar nichts wahr, mein lieber Adaman?«, fragte er, und seine Stimme hallte hohl an den Wänden des Raumes wider.
Der Exarch erstarrte und tat so, als lausche er. Dann schüttelte er den Kopf. Immer stellte der Muffi dieselbe Frage, und immer duzte er ihn dann. Doch auch seine Antwort war immer dieselbe.
»Ich kann keine innere Stimme vernehmen, Eure Heiligkeit. Ich bin nur ein unwürdiger Diener des Kreuzes, ein Nichts unter all jenen, die Euch zu Diensten sind …«
»Für die Kirche zählt nicht der Rang, sondern der Verdienst eines jeden seiner Getreuen.«
»Dann muss mein Verdienst ein sehr geringer sein, denn Er spricht nicht zu mir.«
»Hört auf, Euch geringzuschätzen, mein lieber Adaman. Lernt vielmehr, auf die Stimme Eurer Seele zu hören!«
Verärgert wechselte der Erste Sekretär das Thema. »Was ist aus diesem Tixu Oty geworden, dem mußmaßlichen Vater des kleinen Mädchens?«
»Er ist verschwunden. Einige meinen, er sei tot, andere, er habe den Verstand verloren und irre von einer Welt zur anderen, manche sagen, er habe in einem Paralleluniversum Zuflucht gefunden und bereite seine Rückkehr vor. Seine Anhänger nennen ihn Sri Lumpa oder Sri Lumba. Es bedeutet Herr der Echsen in der Sprache der Ureinwohner des Planeten Zwei-Jahreszeiten.«
»Hat er denn nie ein Lebenszeichen von sich gegeben? Und haben seine Mitläufer nie versucht, die vier Tiefgefrorenen zu befreien?«
»Gerade deshalb hat der Seneschall die Sarkophage auch über ein Standardjahr im alten Palast ausstellen lassen. Er hatte die Hoffnung, genau das werde geschehen. Aber entweder existieren die Krieger der Stille nicht, oder sie verfügen nicht über die magischen Kräfte, die das Volk ihnen zuschreibt. Jedenfalls hat der Köder des Seneschalls nichts genützt. Und schließlich hat er meiner Bitte entsprochen.«
»Und warum war Euch so viel daran gelegen, Eure Heiligkeit?«
Der Muffi schritt zwischen den Särgen auf und ab. Aus den Kryogentanks drang ein leises Summen. Eine Weile musterte er Aphykit Alexus Gesicht, als versuchte er, ihr Geheimnis zu lüften.«
»Die Krieger der Stille sind Feinde der Kirche des Kreuzes, Feinde des Wahren Wortes und des Glaubens, deshalb steht es allein Uns zu, sie zu überwachen«, antwortete er gelassen. »Außerdem erschien es Uns als dringlich, diese Menschen nicht mehr der Neugier des Volkes preiszugeben, obwohl es zum Ketzertum neigt. Und schließlich wollten Wir diese Körper nach Belieben betrachten können, wann immer es Uns beliebt, um nicht der Versuchung zu erliegen, zu nachsichtig zu werden …«
Adaman Mourall ahnte, dass der Oberste Hirte ihm nicht die Wahrheit sagte und ihn mit der offiziellen Version abspeiste, die dazu diente, seine Entourage zu beruhigen. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass sich der Muffi – der im Gegensatz zu ihm gegen die mentale Inquisition immun zu sein schien – seiner bediente, um seine – des Muffis – Feinde auf eine falsche Fährte zu locken. Diese Erkenntnis stieß ihm bitter auf. Naiverweise hatte er geglaubt, Barrofill XXV. sei ihm wegen ihrer gemeinsamen Heimat freundschaftlich verbunden und schätze ihn; doch jetzt erkannte er, dass er nur ein kleiner Bauer in einem Spiel war, dessen Regeln er nicht kannte.
»Ihr seht sehr blass aus, mein lieber Adaman …«
Der Exarch aktivierte seine spärlichen Kenntnisse der APS, um seine Verwirrung so gut wie möglich zu kaschieren.
»Der Geruch dieser Kryoprodukte macht mich schwindelig …«, stammelte er, als er dabei war zu begreifen, dass er bis zum Ende seines Lebens ein Gefangener sein würde, ein Gefangener des »Marquisatolen«, ein Gefangener der Kardinäle und der Vikare und vor allem ein Gefangener seiner sexuellen Neigungen und somit von Menschenhändlern …
Der kleine Adaman Mourall, der unbeschwerte und aufsässige Waisenjunge aus der Stadt Duptinat, war bereits tot.
Während der Chor der Novizen den Lobgesang anstimmte, ließ der Oberste Hirte den Blick von seiner Loge aus über die Versammelten in der Kathedrale schweifen. Er hatte seine Schwebeloge durch einen Knopfdruck unter der reich geschnitzten Kuppel des Hauptschiffs zum Stillstand gebracht.
Das Licht des Gestirns des Ersten Tages, Rose Rubis, flutete durch die ovalen Kirchenfenster und fiel in purpurroten Säulen auf den Marmorboden des Mittelgangs. Der Duft nach Weihrauch erfüllte die Luft.
Die den Hauptaltar umgebenden Ränge waren den etwa tausend Kardinälen vorbehalten, die in Venicia eine ständige Residenz hatten, sie bildeten eine wogende rote und violette Menge. Drei Kardinäle zelebrierten dort gerade die Frühmesse. Dann folgten die Reihen der Adeligen und Höflinge. Die letzten Ränge waren den Repräsentanten der Gilden vorbehalten und einfachen Leuten, die nur durch das Bezahlen von Schmiergeldern manchmal einer der zweimal täglich gelesenen Messen beiwohnen durften. Die Scaythen standen, in ihre weißen Kapuzenmäntel gehüllt, im Hintergrund. Und unter ihnen befanden sich außer den Gedankenschützern gewiss auch einige im Dienst der Höflinge oder Kardinäle stehende Inquisitoren oder Auslöscher.
Außer dem Muffi verfügte nur noch der Imperator Menati über eine schwebende Loge. In ihr saßen der Herrscher selbst, seine Gattin Annyt Passit-Païr und ihre Kinder, zwei Jungen und ein Mädchen – alle ex-utero-in-vitro zur selben Zeit gezeugt – und ihre drei Gouvernanten.
Menati hatte ein aufgedunsenes Gesicht und Augen, die wie erloschen wirkten, so viel konnte der Muffi erkennen. Seit dem Prozess gegen die ehemalige Imperatrix, Dame Sibrit, und ihrem langsamen, qualvollen Sterben, vermied der Herrscher jeden persönlichen Kontakt mit dem Oberhaupt der Kirche und beschränkte sich auf gelegentliche Memoranden, wenn es die Staatsgeschäfte erforderten. Barrofill XXV. vermutete in dem Herrscher den Urheber einiger Attentate, die im Bischöflichen Palast begangen worden waren.
Es hieß außerdem, der Herr des Universums betäube sich bei ausschweifenden Trinkgelagen und habe seinen Dienerinnen und Mätressen befohlen, nackt unter ihren Kleidern und Roben zu bleiben, damit sie jederzeit für ihn verfügbar seien, und dass er ständig eine Droge nehme, die ihm dauerhafte Potenz verleihe, und dass er seine Gemahlin jedem Mann anbiete, der sie haben wolle, und dass er übermäßig esse und trinke. Das Maß seiner Ausschweifungen sei grenzenlos, ging das Gerücht. Und es gipfelte in dem Skandal, dass er die berühmte Tänzerin Zanayat de Frondebert hinter den Kulissen des Theaters zu vergewaltigen versucht habe.
Wahrscheinlich waren viele Gerüchte unbegründet oder übertrieben, aber eins stimmte: Menati kam seinen Pflichten als Herrscher nicht mehr nach. Seine ganze Macht hatte er in die Hände des Seneschalls Harkot gelegt und zudem hatte er den Adel Syracusas ermutigt, öffentliche Gelder zu verschwenden.
Der Muffi vermutete, dass der Imperator das Opfer eines hinterhältigen Auslöscher-Programms geworden sei, was gewissen hochgestellten Personen nur gelegen sein konnte. Der Mann schien in geistiger Hinsicht immer weniger er selbst zu sein. Im Gegensatz dazu nahm er ständig an Gewicht zu, so als ob er seine intellektuellen Mängel durch Körperfülle kompensieren wollte. Die weiße Schminke auf seinem Gesicht ließ es noch fetter erscheinen, und sein nachtblauer Colancor spannte sich über einem Wanst, den selbst sein Cape aus changierendem Lebensgewebe nicht mehr verdecken konnte.
Dame Annyt an seiner Seite sah hingegen halb tot aus. Die einstige Muse der geheimen revolutionären Bewegung Mashama hatte mehrere Auslöscher-Implantate bekommen. Das erste, um ihre Jugendliebe, Marti de Kervaleur, zu vergessen; das zweite, um ihren Verlobten Emmar Saint-Gal zu vergessen; das dritte, um ihre aufrührerische Vergangenheit zu vergessen – und dann noch ein paar andere, um ihre Schamhaftigkeit zu neutralisieren, damit sie sich den extravaganten sexuellen Praktiken ihres erhabenen Gemahls beugte. Das Resultat dieser nacheinander folgenden Amnesien war der totale Verlust ihrer Persönlichkeit. Sie war nur noch ein Schatten ihrer selbst, ein Stück Fleisch, das sich willenlos den Wünschen eines jeden hingab, ohne jedoch eigene Wünsche ausdrücken zu können. Die Hofschranzen, die sich rühmten, sich ihrer zu bedienen, um ihre sexuellen Lüste zu befriedigen – und ihre Machtgeilheit dadurch auszuleben, denn sexuell die Imperatrix zu besitzen, bedeutete, einen Teil des Universums zu besitzen –, bezeichneten sie als die »offen stehende Tür zum siebten Himmel« oder aber die »leicht einzunehmende Festung des Ang-Imperiums«.
Der Muffi hatte Mitleid mit ihr. Dasselbe Mitleid hatte er für die schöne Dame Sibrit am Feuerkreuz empfunden. Während der zehn Tage dauernden Agonie der ehemaligen Imperatrix hatte er sich jeden Tag zum größten Platz Venicias begeben und mit Tränen in den Augen ihrem qualvollen Sterben zugesehen. Es hatte ihn schmerzvoll daran erinnert, wie er vor dem Feuerkreuz in seiner Heimatstadt gestanden hatte, vor langer Zeit, als er noch Fracist Bogh hieß und Zeuge von Dame Armina Wortlings Martyrium gewesen war.
Einen Teil des Leidens der ersten Gemahlin Menatis hatte er auf sich genommen und sie bis kurz vor ihrem Tod begleitet. Gleich den Märtyrern des Urkreuzianismus, deren Opfergang die Verbreitung des Wahren Wortes zu verdanken war, so hatte Dame Sibrit vor ihrem Verlöschen eine unendliche Energie freien und schöpferischen Lebens ausgestrahlt. Und da hatte er begriffen, dass er nur das Oberhaupt der Kirche geworden war, um das gesamte Universum gerade vom Joch dieser Kirche zu befreien. Er hatte an die Millionen Quarantäner gedacht, die auf seinen Befehl vergast worden waren, an die Abertausend Häretiker, die er zum Tode am Feuerkreuz verurteilt hatte, an die Milliarden Menschen, die unter dem Terror der Inquisition litten, und an die abgrundtiefe Verzweiflung, die von ihm Besitz ergriffen hatte.
Erst in diesem Zustand hatte er jene Stimme vernommen: ein zugleich deutliches und kaum verständliches Murmeln, nah und fern. Es stammte aus einem vergessen geglaubten Gebiet seines Unterbewusstseins, das er nicht definieren konnte. Obwohl es sich um seine innere Stimme handelte, kam sie ihm fremd vor, wie der Atem eines ätherischen Wesens, das von seinem Körper Besitz ergriffen hatte.
Wer spricht so zu mir, fragte er sich. Ein Dämon oder ein Teufel? Befinde ich mich im Zustand der Gnade? Oder haben sich diabolische Kräfte infernalischer Welten meiner bemächtigt?
Die Überlegung, das Opfer partieller geistiger Auslöschung geworden zu sein, musste er ausschließen, denn in diesem Fall wäre er zu derartigen Veränderungen seines Denkens nicht fähig gewesen.
Diese innere Stimme wurde immer von einem störenden Kribbeln in seinem Solarplexus begleitet, das sich zu einem unerträglichen Juckreiz ausweitete, den seine Leibärzte weder erklären noch heilen konnten.
»Ihr seid völlig gesund, Eure Heiligkeit«, meinten sie nach jeder Konsultation.
Die Stimme hatte ihm eingeflüstert, sich in einen geheimen, neben der Bibliothek des Bischöflichen Palastes liegenden Raum zu begeben. Nach fünf schlaflosen Nächten, als er vergeblich versucht hatte, die Stimme zu ignorieren, war er dem Rat gefolgt und hatte die Anweisung erteilt, ihn nicht zu stören, sich in die Bibliothek eingeschlossen und hinter einem verschiebbaren Regal eine gepanzerte Tür entdeckt, die er mithilfe des Codes, den ihm die Stimme eingeflüstert hatte, öffnen konnte.
Dahinter befand sich ein riesiger Raum, in dem es nach Chemie und Moder roch. An den Wänden standen Regale, angefüllt mit Holobüchern, Filmmaterialien und antiken Papierbüchern.
Die Stimme hatte ihn schließlich zu einem kleinen, zwischen zwei imposanten Werken versteckten Filmbuch geleitet – eine Abhandlung über den Zufluchtsort Osgor der Kirche des Kreuzes.
Der Muffi hatte mittels eines audiovisuellen Lesegeräts in dem Buch geblättert und war zutiefst ergriffen gewesen, als er zum ersten Mal das Gesicht des Mannes sah und dessen Stimme hörte, der der Gründer der Kirche des Kreuzes war: ein etwa Vierzigjähriger mit rasiertem Schädel und durchdringendem Blick.
Der Mann saß mit nacktem Oberkörper und gekreuzten Beinen im Wüstensand und sprach vom größten Schatz der Menschheit – der Seele eines jeden Einzelnen. Er nannte sie eine zarte Blume, die schnell verwelke, wenn man ihr Schaden durch indoktrinäres Denken zufüge. Trotz der antiquierten Holo-Aufzeichnung ging eine derart immense Kraft von diesem vehement gestikulierenden Redner aus, dass der Muffi den Eindruck hatte, der Mann lebe und würde sich direkt an ihn wenden und seinem bisher fanatischen, den Menschen schadenden Glauben einen neuen Sinn verleihen.
Dann hatte die Stimme ihm geraten, sich vor der mentalen Inquisition, dem Auslöschen des Geistes sowie dem Hirntod zu schützen. Nur mit Bedauern hatte er das kleine Filmbuch geschlossen, sich aber fest vorgenommen, es so oft wie möglich zu konsultieren. Noch immer der Stimme gehorchend, hatte er danach ein mehr als achttausend Jahre altes Papierbuch aufgeschlagen. Es war im Idiom der Weltraumkolonisten verfasst und in Leder gebunden, hatte jedoch weder Titel noch war ein Autor angegeben.
Da zur Ausbildung eines jeden Geistlichen auch Grundkenntnisse jener einstigen Fachsprache gehörten, konnte der Muffi im Licht seiner Taschenlampe – wenn auch mühsam – den Text entziffern. Es handelte sich um eine Einführung in die Inddikische Wissenschaft – ein Fachgebiet, das seit über viertausend Jahren auf dem Index stand. Einige Buchstaben oder Buchstabengruppen – eher Piktogramme als Buchstaben – besaßen definitive Heilwirkungen oder boten mentalen Schutz. Der unbekannte Verfasser dieser Schrift erklärte: es genüge, diese Schriftzeichen auf unauslöschbare Weise in den empfindsamen Geist einzuprägen, um ihre Wirkung zur Entfaltung zu bringen.
Daraufhin hatte Barrofill XXV. strikt die Anweisungen des Traktats befolgt: den Zustand der inneren Stille erreicht, die zwölf auf den letzten Seiten des Buchs abgebildeten Schriftzeichen identifiziert und sich eingeprägt, damit er sie sich jederzeit ins Gedächtnis zurückrufen konnte.
Zunächst hatte er keine Veränderungen in sich feststellen können außer einer großen Müdigkeit, die er seinem Mangel an Schlaf zuschrieb. Also war er nur enttäuscht und frustriert gewesen, hatte die geheime Bibliothek verlassen und sich direkt in seine Gemächer begeben, nicht ohne seine Sekretäre vorher zu informieren, dass er weiterhin nicht gestört werden wolle.
Erst als er auf seinem schwebenden Bett lag, hatte er die Wirkung der Inddikischen Schriftzeichen verspürt. Eine so große Hitze hatte seinen Körper ergriffen, als wäre er in ein Flammenmeer gestürzt. Sofort hatte er das Bild der Feuerkreuze vor sich gesehen und sich hilflos in qualvollen Schmerzen auf seinem Bett hin und her geworfen. Er hatte geglaubt, seine letzte Stunde sei gekommen, während ein Chor gepeinigter, von ihm zum Tode verurteilter Menschen in seinen Ohren dröhnte, bis seine Qualen so groß wurden, dass er sich schließlich wie taub fühlte.
Blutige Tränen waren über seine Wangen gelaufen und hatten rote Blumen auf seinen weißen Colancor und die seidene Bettwäsche gemalt. Und als er glaubte, im Nichts wegdämmern zu müssen, war das Geheul plötzlich verstummt, der Schmerz gewichen, und ein leichtes Vibrieren, einer frischen Brise gleich, hatte die wiedererlangte Stille in ihm belebt.
Seit jener Stunde war er trotz mancher Zweifel zu der absoluten Gewissheit gelangt, dass diese zwölf Inddikischen Symbole gegen die Scaythen mit ihren Gedächtnisauslöschmethoden und Tötungsprogrammen einen totalen Schutz boten. Er hatte sich gefragt, ob sein Vorgänger von eben diesen Schutzmechanismen profitiert hatte, denn niemand hatte jemals gewusst, welche Ziele dieser Mann verfolgte, nicht einmal seine Vertrauten. Oder hatte der einstige »Tyrann Venicias« sich der Hexerei verwandten Techniken bedient, um seine Pläne zu realisieren? Durch welche Zauberei hatte er Fracist Bogh dazu gebracht, den Namen Barrofill zu wählen, ein Name, der seitdem auf allen Welten des Ang-Imperiums als ein Synonym für Ausschweifungen und Perversionen galt?
Der Muffi ahnte, dass ihn mehr mit seinem hinterhältigen Vorgänger verband, als er bisher vermutet hatte. Eine teilweise Amnesie, die viel Ähnlichkeit mit dem Auslöscher-Syndrom hatte, bestätigte ihn in seiner Annahme: Er konnte sich nicht erinnern, was er in den wenigen Stunden vor dem Tod Barrofills XXIV. getan oder gesagt hatte. Ein völliges Versagen seines Erinnerungsvermögens.
Obwohl sich der Muffi vor mentalen Ausforschungen schützen konnte, hatte er seine Gedanken behalten, um keinen Verdacht zu erwecken, und außerdem beschlossen, einen Privatsekretär zu ernennen – auch wenn das den ständigen Gerüchten über seine angebliche Homosexualität neue Nahrung bot –, einen ehrlichen Mann, dem er Informationen mit der Absicht zukommen lassen konnte, seine Feinde zu täuschen. Seine Wahl war auf Adaman Mourall gefallen, dessen schmächtige blaugrün gekleidete Gestalt er jetzt im rotvioletten Meer der Kardinäle entdeckte. Er bedauerte es, seinen jungen Mitplanetarier als mentalen Köder zu benutzen, weil er ihn als Mensch schätzte. Doch ein solches Vorgehen war ihm unerlässlich erschienen, weil er glaubte, auf diese Weise sein Täuschungsmanöver besser kaschieren zu können. Und den aberwitzigen Reaktionen seiner Gegner nach zu urteilen, hatte sich seine Strategie als effizient erwiesen.
Während sich Höflinge und Kardinäle in allerlei Spekulationen ergingen, stattete er der Geheimbibliothek regelmäßige Besuche ab, informierte sich in dem Filmbuch der Kirche des Kreuzes, sog das Wahre Wort in sich auf, blätterte in anderen Werken von geringerem Interesse und lernte die der Heilung dienenden Inddikischen Schriftzeichen auswendig. Seine innere Stimme manifestierte sich nur noch sporadisch und lehrte ihn nichts Neues, als warte sie, ob er alle ihre Anweisungen befolgt habe.
Zu diesen geheimen nächtlichen Aktivitäten und seinen täglichen Pflichten kamen noch die ebenfalls täglichen Besuche in Begleitung Adaman Mouralls in der Krypta des Palastes, wo die kryogenisierten Körper ruhten. Immer wenn er vor diesen gläsernen Sarkophagen stand, wurde er von einem beinahe entzückten, ihm unerklärlichen Gefühl ergriffen. Doch er ahnte, dass diese Emotionen etwas mit seinen Besuchen in der Geheimbibliothek zu tun haben mussten, denn diese starren Gesichter und Körper strahlten die Kraft des Wahren Wortes aus; sie waren mit den Schriftzeichen der Inddikischen Lehre auf geheimnisvolle Weise verwoben, auf immaterielle Weise – doch dieses Geheimnis hatte er bisher nicht zu entschlüsseln vermocht.
Zwar hatte der Seneschall Harkot ihm diese Körper anvertraut, sich aber nicht so großzügig gezeigt, ihm deren DNA und die Zusammensetzung der Kühlflüssigkeit anzugeben, mit der Begründung, derartige Informationen unterständen der Geheimhaltung, weil sie für die Sicherheit des Ang-Imperiums von Bedeutung seien.
Die Messe neigte sich dem Ende zu.
Dies war keine Auslöschungsmesse, eines dieser von den Vikaren monatlich etablierten Rituale, bei denen die Scaythen nach Belieben in die Köpfe der Gläubigen eindringen, um ihnen – so lautete die offizielle Version – den Wahren Glauben zu implantieren, Gerüchten zufolge jedoch, um dort Liebe, Hass, Dummheit oder Wahnsinn zu säen. Eine Methode, von der die Höflinge ständig Gebrauch machten, denn sie verbrachten die eine Hälfte ihrer Zeit damit, die Auslöscher-Scaythen zu bestechen, und die andere Hälfte dann damit, die Konsequenzen ihrer Intrigen und Betrügereien zu ertragen.
Der Muffi vermutete, dass die Scaythen andere Veränderungen in den Gehirnen vornahmen als ihnen aufgetragen war. Veränderungen, die ihnen allein bei der Verfolgung ihrer Ziele nützlich waren. Was genau diese Ziele waren, wusste er allerdings nicht, noch war er momentan in der Lage, diese Praktiken zu unterbinden. Er hatte die Tür zur Wahrheit erst einen Spaltbreit aufgestoßen und musste in der Geheimbibliothek mehr herausfinden und mehr von den schlafenden Kriegern der Stille erfahren.
Der Lobgesang erfüllte die Kathedrale. Die drei Zelebranten vor dem Altar teilten den Segen aus, und die Ränge leerten sich langsam. Die Strahlen des Morgengestirns Rose Rubis tauchten die Weihrauchschwaden in rötliches Licht. Ein Tor öffnete sich oben in einer Wand, und die kaiserliche Loge schwebte hinaus.
Nachdem der Klerus ebenfalls das Gotteshaus verlassen hatte, programmierte der Muffi den Kurs seiner Loge. Sie schwebte über leere Bänke und verschwand in einem dunklen Schacht neben dem Hauptportal.
Als sich der Muffi in dieser Nacht in die Bibliothek begab, konnte er sich des Gefühls nicht erwehren, verfolgt zu werden, obwohl er sich nach der Verabschiedung seiner Entourage, einschließlich Adaman Mouralls, in seine Gemächer zurückgezogen hatte. Über einen der vielen von seinem Schlafzimmer ausgehenden Geheimgänge hatte er ungestört den Vorraum der Bibliothek erreicht.
Verunsichert blieb er in dem großen Raum stehen und ließ den Laserstrahl seiner Taschenlampe in alle Ecken gleiten. Er entdeckte nichts, hörte kein verdächtiges Geräusch, trotz der Beachtung aller Schutzmaßnahmen.
Wahrscheinlich bin ich durch mein Misstrauen schon paranoid geworden, dachte er und ging weiter.
Seine innere Stimme konnte er jetzt klar und deutlich hören. Doch dieses Mal wies sie ihn an, einen anderen Weg als den üblichen einzuschlagen. Er durchquerte kleine Räume, mit Regalen an den Wänden, und ging dann über gewundene, immer enger werdende Gänge, deren Abzweigungen teilweise durch abgestürztes Gestein verschüttet waren. Überall glänzten auf dem Boden schlammige Pfützen. Und er fragte sich, ob sich die Stimme nicht irre.
Den leisen Geräuschen in seinem Rücken schenkte er keine Aufmerksamkeit. Das mussten Katzenratten sein, Nagetiere, die überall im Untergrund Syracusas lebten.
Schließlich gelangte er vor eine massive, aber altersschwache Holztür, die jedoch durch ein mit einem Code versehenes Magnetschloss gesichert war. Wie beim ersten Mal vor der Tür zur Geheimbibliothek verriet ihm auch jetzt die Stimme die neunstellige Zahlenkombination, die er auf der Tastatur eingab. Ein Teil der Tür glitt auf einer Schiene zur Seite und gab den Blick auf ein uraltes Kellergewölbe frei.
Der Muffi trat ein und ließ den Strahl seiner Laserlampe über die rauen Wände und den Boden aus gestampftem Lehm gleiten. Auf einem flachen Stein standen ein Bullovisionsgerät und eine kleine schwarze Röhre – ein Messacode – die er in die Öffnung zur Aktivierung des Programms steckte.
Das Bild wurde hell, und ein faltiges Gesicht erschien. Barrofill XXIV., sein Vorgänger. Ihn jetzt vor sich zu sehen, verwunderte den Muffi nicht besonders. Diese holographische Wiederauferstehung lieferte ihm vielleicht Antworten auf seine Fragen.
Die rissigen Lippen des von allen gefürchteten und machtbesessenen ehemaligen Oberhauptes der Kirche bewegten sich, und seine brüchige hohe Stimme ertönte aus dem Lautsprecher.
»Ich spreche aus der Ewigkeit – auch wenn ich nicht daran glaube – zu meinem Nachfolger. Bist du es, mein lieber Fracist, an den ich meine Worte richte? Sollte das der Fall sein, so wurde meine Initiative post mortem von Erfolg gekrönt. Andernfalls wird die gesamte Menschheit im Nichts verschwinden. Sollte die Person, die jetzt meine Botschaft empfängt, nicht Kardinal Fracist Bogh sein, bitte ich sie, bei allem, was ihr heilig ist, die Sendung sofort zu stoppen und nach dem Muffi der Kirche des Kreuzes, Barrofill XXV. zu schicken, sollte dieser nicht bereits verstorben sein. Ich werde jetzt eine Minute schweigen, um meinem unbekannten Gesprächspartner zu helfen, die richtige Entscheidung zu treffen …«
Der ehemalige Unfehlbare Hirte starrte stumm in die Kamera. In seinen dunklen Augen loderte ein Feuer, das einzige Lebenszeichen in dem zerfurchten Gesicht des Greises.
»Also, mein lieber Fracist – meinem optimistischen Naturell gemäß ziehe ich nur diese Möglichkeit in Betracht – , entsprachen die ersten Monate deines Pontifikats deinen Hoffnungen? Ich gestatte mir die Freiheit, dich zu duzen, denn das ist wohl Brauch unter Muffis, obwohl es dafür kein Beispiel gibt. Wenn du so weit gekommen bist, musst du bis zum heutigen Tage alle Attentate, Prozesse und Auslöschungsattacken überlebt haben. Von meinem zu langen Leben auf den niederen Welten bedaure ich nur eins: nicht die Verblüffung der Kardinäle und Höflinge gesehen zu haben, als du ernannt wurdest! Vielleicht werde ich sie ja von da oben sehen, aber darüber werden wir nicht miteinander reden können.
Kommen wir zur Sache. Zwar habe ich die Ewigkeit vor mir, aber deine Zeit ist begrenzt. Du sollst wissen, dass die Stimme, die dich bisher in diese Kellergewölbe gelenkt hat, leider nicht göttlichen Ursprungs, sondern das Resultat sublimster Emissionen einer Magnetplaque ist, die ich selbst dir während unserer letzten Begegnung subkutan implantiert habe. Kein Gerät kann sie aufspüren. Diese Impulse haben dich zuerst in die Geheimbibliothek gebracht, wo du das ursprüngliche Wort der Kirche des Kreuzes kennenlerntest, das doch so verschieden von dem ist, was wir unsere Schäfchen lehren, nicht wahr? – und wo du gelernt hast, dein Denken und Fühlen vor den mentalen Inquisitionen zu schützen, und zwar durch ein Prozedere, das ich bereits erprobt habe. Begreifst du jetzt die Chance, die sich dir bietet, mein lieber Fracist? Ich habe erst nach dreißig Jahren das Filmbuch der Kirche des Kreuzes entdeckt und das Papierbuch der Inddikischen Wissenschaften.
Von heute an werden von der Plaque keine Impulse mehr ausgehen, weil sie dich bis an die Stelle gebracht hat, wo ich mit meinen Nachforschungen aufhören musste. Außerdem sollst du noch wissen, dass ich keines natürlichen Todes gestorben bin, wie man dich wahrscheinlich hat glauben lassen, sondern dass ich ermordet wurde – und der Mörder war kein anderer als Fracist Bogh!«
Als der Muffi diese Worte hörte, war er derart erschüttert, dass er unkontrolliert zu zittern anfing.
»Selbst von dem Ort, an dem ich mich jetzt befinde – die Hölle wahrscheinlich –, glaube ich zu hören, wie du deine Unschuld beteuerst! Diese Kastraten, die Vikare, haben das alles organisiert, und ich musste sie gewähren lassen, wenn ich ihren Verdacht nicht erregen wollte. Also habe ich ihre Intrigen zu unserem Vorteil genutzt. Aber sie haben Beweise für deine Schuld. Wie diese Beweise aussehen, weiß ich nicht, doch sie könnten jederzeit deine Amtsenthebung und Verurteilung erfolgreich in die Wege leiten. Zu diesem Zweck haben sie in dein Gehirn für einige Stunden unseres letzten Treffens Vergessen implantiert, von dem Zeitpunkt meiner Ermordung an bis zur Rückkehr in dein Domizil. Ich sage das nicht, weil ich dich anklagen will, Fracist, noch weniger verurteile ich dich. Beruhige dein Gewissen, denn ich habe meinen Tod gewollt. Ich wollte endlich meinen Lastern entkommen. Doch das Vikariat bedeutet eine ständige Gefahr für dich. Deshalb musst du diese Beweise für deine angebliche Schuld aufspüren und vernichten. Und du musst das gesamte Vikariat ebenfalls vernichten, sollte es nötig sein! In dieser Hinsicht darfst du dir keine Schwäche erlauben! Welches Gewicht haben diese elenden Kastraten gegen Abermillionen Menschen der bekannten Welten?
Da ich zum letzten Mal zu dir spreche, möchte ich dich noch auf etwas hinweisen, dir einen neuen Weg aufzeigen: In dem Ersten Buch des Zeitenendes sagt der Prophet Zachiel voraus, dass allein die zwölf Herolde des Tempels des Lichts, die zwölf Ritter der Offenbarung, es verhindern könnten, dass das Universum in ewiger Nacht versinke. Mit dieser Materie solltest du dich intensiv befassen, mein lieber Fracist. Vollende, was ich aus mangelnder Willenskraft nicht getan habe. Ich weiß nicht, wo sich dieser Lichttempel befindet, noch wer diese Ritter sind, aber ich bin mir sicher, dass es die Aufgabe des Ersten Dieners der Kirche des Kreuzes ist, einen dieser Ritter aufzuspüren und somit ebenfalls die anderen.
Ich bin mir bewusst – das habe ich dir bereits bei unserer letzten Begegnung gesagt, aber auch daran kannst du dich nicht mehr erinnern –, dass diese späte Besinnung mich auf keine Weise von meinen Schandtaten freispricht. Betrachte mich auch weiterhin als einen gottlosen und lasterhaften Menschen, bediene dich meiner als Schreckgespenst, aber es wäre schön, wenn ich einen kleinen Platz in deinem Herzen hätte. Dann bliebe mir das Gefühl, dass nur ein winzig kleiner Teil meines Wesens zum Anbruch eines neuen Zeitalters beigetragen habe. Das ist der letzte Wunsch eines Greises, der bereits in einer endlosen und sternlosen Nacht umherirrt.
Adieu, Fracist Bogh, Barrofill XXV., möge die Kirche des Kreuzes ihre Hand über dich halten.«
Die Aufzeichnung endete abrupt, der Bildschirm wurde dunkel. Nur der Laserstrahl der Taschenlampe erleuchtete das Gewölbe.
Lange saß der Muffi unbeweglich da, während alle möglichen Gedanken auf ihn einstürmten.
Der Muffi hat mich beauftragt, das Überleben der Menschheit zu sichern, und mir gleichzeitig gesagt, dass ich ihn ermordet habe. Doch seine Enthüllungen werfen eigentlich noch mehr Fragen auf, als sie beantworten. Als Erstes muss ich versuchen, die Rätsel des Duodekalogs zu lösen, dachte er, auch wenn ich dieser Schrift während meines Studiums nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt habe.
Eine Stimme unterbrach sein Grübeln.
»Dieser Messacode war sehr aufschlussreich, Eure Heiligkeit!«
Der Muffi drehte sich erschrocken um. Als er im Licht seiner Taschenlampe Jaweo Mutewa, seinen ehemaligen Sekretär in seiner damaligen Funktion als Kardinal-Gouverneur auf Ut-Gen, erkannte, gefror ihm das Blut in den Adern. Dieser Mann bekleidete inzwischen eine hohe Stellung innerhalb des Vikariats. Mutewas weiße Kutte ließ seine Haut noch schwärzer erscheinen. Seine Augen funkelten böse, als er mit einem grausamen Lächeln seine strahlend weißen Zähne entblößte.
»Meine Brüder, die Vikare, stellten sich in Bezug auf Eure Person gewisse Fragen, Eure Heiligkeit«, fuhr Jaweo Mutewa fort. »Sie baten mich, Euch zu folgen. Und um meiner Pflicht nachkommen zu können, sah ich mich gezwungen, einige Eurer Diener zum Schweigen zu bringen …«
»Adaman Mourall?«
»Nein, nein! Seid ohne Sorge. Euer lieber Adaman ist ausgegangen, und außerdem ist er uns lebendig viel nützlicher … jedenfalls momentan. Aber leider wisst Ihr nun mehr als gut ist, und deshalb kann das Vikariat Euer Pontifikat nicht mehr unterstützen.«
»Was bedeutet?«
»Dass ich mich gezwungen sehe, Euch zu töten, Eure Heiligkeit! Und zwar auf dieselbe Weise, wie Ihr diesen unwürdigen Greis ermordet habt, der vor Euch das Oberhaupt unserer heiligen Kirche war. Es war ein Fehler, Euch so schnell von Euren Verbündeten zu trennen. Ihr habt Euch des Vikariats bedient, doch dann habt Ihr ein Mittel gefunden, der mentalen Inquisition und somit unserer Kontrolle zu entgehen. Dabei hatten wir – und vor allem ich – an eine fruchtbare Zusammenarbeit geglaubt. Doch wir haben uns geirrt. Heute Nacht habe ich begriffen, warum Ihr zum Heuchler und Intriganten geworden seid …«
Während Jaweo Mutewa sprach, hatte er aus einer Tasche seiner schwarzen Kutte eine Waffe genommen und richtete sie jetzt auf den Muffi, der wie versteinert dastand und nicht einmal die Geistesgegenwart besaß, seine Taschenlampe auszuschalten.
»Die Vikare und Ihr arbeitet für Hyponeros zum Schaden der Menschheit«, sagte Barrofill XXV. mit unsicherer Stimme.
»Du meine Güte! Erspart mir Eure Predigten! Ihr sprecht durch den Mund eines Toten, eines Gottlosen, wie er sich selbst bezeichnete. Wenn das Wahre Wort wieder die Herrschaft über das Ang-Imperium angetreten hat, werden wir uns der Scaythen von Hyponeros entledigen, Eure Heiligkeit.«
»Was wisst Ihr über sie? Und was wisst Ihr über das ursprüngliche Wort der Kirche des Kreuzes?«
»Die Lehre des Gründers ist viele Jahrhunderte alt, und wir müssen sie den Bedürfnissen unserer Zeit anpassen. Und was die Scaythen betrifft, wir haben es nicht nötig, sie näher kennenzulernen, denn wir schätzen ihre Ergebenheit. Und wir haben es ebenfalls nicht nötig, die Beweise dafür zu liefern, dass Ihr dieses widerwärtige Monster ermordet habt. Es widerstrebt mir, die Holo-Aufnahmen samt Euren Fingerabdrücken der Öffentlichkeit zu präsentieren. Euerer Pontifikat wird so kurz gewesen sein, dass die Kirche Euer nicht ruhmvoll gedenken wird – ganz zu schweigen von der mangelden Trauer um Euch. Wir haben bereits alle Beweise gefälscht, die Euren kleinen Protegé, Adaman Mourall belasten. Das Motiv? Die Eifersucht Eures Geliebten, den Ihr der Lächerlichkeit preisgegeben habt. Niemand wird sich darüber wundern. Alle wissen, dass Ihr mit ihm liiert seid.
Er wird zum Tod am Feuerkreuz verurteilt werden, und wir werden nie wieder einen Marquisatolen zum Oberhaupt der Kirche machen. Euer Nachfolger steht bereits fest: ein Syracuser, ein Adeliger, ein zuverlässiger und vertrauenswürdiger Mann.«
»Wo habt Ihr ihn gepackt? Bei seinen Eiern?«
Bruder Jaweo Mutewas Mund verzog sich zu einem gemeinen Lächeln. Wie alle Vikare hasste er Anspielungen auf seine Kastration und er stieß wutentbrannt hervor: »Zum zweiten Mal in dieser Nacht sagt Euch jemand Adieu, Fracist Bogh!«
Sein Zeigefinger umfasste den Abzug.
Der Muffi hatte die Vikare unterschätzt. Zu spät wurde ihm klar, dass er einen Fehler gemacht hatte. Er saß in der Falle. Ihm wurde übel, und er hatte Mühe, seine Blase zu kontrollieren.
In dem Moment erhellte ein gleißender Blitz das Halbdunkel. Jaweo Mutewa riss die Augen auf, und sein dunkles Gesicht wurde zu einer Maske ungläubigen Entsetzens. Er schwankte und stürzte dann rückwärts schwer zu Boden. In der stickigen, modrigen Luft des Kellergewölbes roch es plötzlich nach verbranntem Fleisch.
Ein bewaffneter Mann stieg über den reglosen Körper. Schwarzer Rauch quoll aus der Mündung seiner Todeswelle.
»Gelobt sei die Kirche!«, rief er. »Ich bin gerade noch rechtzeitig gekommen.«
Der Muffi brauchte ein paar Sekunden, bis er den Mann erkannte: einen der Obergärtner vom Planeten Osgor, seit mehr als vierzig Jahren im Dienst der Kirche stehend. Sein rotes Gesicht mit den groben Gesichtszügen, seine kräftige Statur und seine großen Hände wollten so gar nicht zu seiner ausgesucht eleganten Kleidung passen – den Seidenstiefeln, einem mauvefarbenen Colancor und dem Mantel aus changierendem Lebensgewebe.
»Hätte ich mein Versprechen nicht gehalten, Barrofill XXIV. wäre aus der Hölle emporgestiegen, um mich zu verfluchen!«, brummte er. »Seit drei Jahren wache ich jede Nacht in der Bibliothek zu Eurem Schutz. Und gerade heute Nacht bin ich eingenickt. Glücklicherweise hat mich mein Wellendetektor geweckt. Ich bin Maltus Haktar, vom Planeten Osgor.«
»Ihr Wellendetektor?«, fragte der Muffi verwirrt, noch unfähig, Ordnung in seine Gedanken zu bringen.
Der Obergärtner entnahm seiner Manteltasche ein kleines, blinkendes Gerät.
»Dieses Schmuckstück hat mir der Vierundzwanzigste geschenkt. Es ist darauf programmiert, in einem Umkreis von fünf Kilometern nur die Anwesenheit von zwei Personen zu tolerieren. Also Ihr und ich, Eure Heiligkeit. Und der Alarm wurde ausgelöst, als dieser Eierlose hinter Euch hergeschnüffelt hat. Ich brauchte ihm nur zu folgen.«
»Danke, mein Sohn. Ohne dein Eingreifen …«, fing der Muffi mit zitternder Stimme an.
»Diese Kastraten muss man zertreten wie Ungeziefer, wie Skorpione. Alle!«, unterbrach Maltus Haktar den Obersten Hirten und deutete auf den Leichnam Jaweo Mutewas. »Mit dem einen Unterschied, verzeiht meine Offenheit, Eure Heiligkeit, dass diese verfluchten Vikare keine Stacheln mehr haben.«