VIERTES KAPITEL
Es gab Ritter der Absolution, die nicht rechtzeitig zum Planeten Selp Dik reisen konnten, um an der Entscheidungsschlacht zwischen den imperialen Truppen – bestehend aus einem Bataillon Scaythen, die alle über die Fähigkeit des mentalen Tötens verfügten, und einer Handvoll Pritiv-Söldner, Renegaten, den Urfeinden der Ritter – und ihrem Orden teilnehmen zu können. Sie waren zu dieser Zeit krank, verwundet oder wurden gefangen gehalten. Deshalb erreichte sie der Aufruf nicht oder zu spät. Aus diesem Grund entkamen sie ungewollt dem Massaker von Houhatte …
Die meisten dieser Überlebenden wurden von den Inquisitor-Scaythen unerbittlich gejagt, von den Pritiv-Söldnern gefangen und zum Tod am Feuerkreuz verurteilt. Dennoch gelang es einigen unter ihnen, durch das engmaschige Netz ihrer Feinde zu schlüpfen und im Untergrund zu leben. Sie wurden die »Umherirrenden Ritter« genannt, und man konnte sie an der Beherrschung des Todesschreies sowie einer ewigen Tonsur erkennen, die sie durch Kopfbedeckungen oder Perücken zu verbergen versuchten.
Einige wurde dennoch erkannt und von der lokalen Bevölkerung gelyncht, weil diese die Ritter für den Untergang des Ordens verantwortlich machten. Es wird erzählt, dass auf dem Planeten Nouhenneland der Ritter Jacq Asquin im Schlaf überwältigt und auf dem Dorfplatz öffentlich zur Schau gestellt wurde. Jeden Vorbeikommenden habe man aufgefordert, ein Stück Fleisch aus seinem Körper zu reißen, nicht ohne ihn vorher zu blenden und seinen Mund zuzunähen, damit er seinen Todesschreinichtausstoßen konnte. Weiter heißt es, dass sich die Männer geprügelt hätten, um ihm seine Hoden abzureißen, weil sie in ihnen den Sitz seiner legendären Kräfte vermuteten …
Aber einige Ritter des Ordens der Absolution überlebten – so als könne sein Geist nicht ganz zum Erlöschen gebracht werden, so als müsse dieser achttausend Jahre alte Traum durch Zeit und Raum weiterleben – und siedelten sich im Universum an, wo ein jeder auf seine Weise die Flamme des Geistes wieder entfachte.
»Geschichte des Großen
Ang-Imperiums«
Unimentale Enzyklopädie
Die gezackte Silhouette des Pïaï-Gebirges hob sich scharf von den safrangelben Wolken ab. Die »gelber Himmel« genannte Jahreszeit näherte sich ihrem Ende, doch noch immer stießen die Geysire derart viel schwefelhaltige Gase aus, dass das Doppelgestirn Marij-Urij aus dem Planetensystem Sigma P. nur wenig Licht spendete.
Mit einer automatischen Geste vergewisserte sich Whu Phan-Li, ob der Luftschlauch seiner Maske korrekt mit seiner Sauerstoffflasche – ein flacher Metallbehälter, den er über die Schulter gehängt hatte – verbunden war. Denn nur die Ringier, auf einem Planeten der Ringe Geborene, konnten während der vier Monate dauernden gelben Jahreszeit auf Atemgeräte verzichten, weil ihre Lungen durch eine Membran geschützt waren, die toxische Gase herausfilterte. Sie entledigten sich dieser giftigen Substanzen, indem sie häufig ausspuckten. Dieses Organ, das Resultat einer Mutation, wurde von den Einheimischen ironisch »Schmerz-Schwefel« genannt.
Ehe Whu Phan-Li das Gebäude betrat, warf er einen Blick zum Himmel und sah zwischen gelegentlich aufreißenden Gaswolken die Fragmente der fünf inneren Ringe und dahinter die größer werdende Scheibe Sbaraos. Selbst wenn er es eilig hatte, nahm sich Whu immer etwas Zeit für diesen einzigartigen Anblick: der Planet und seine Satelliten. Sie waren derart zahlreich und von so großer Dichte, dass sie miteinander verschmolzen waren und elf konzentrische kompakte Ringe gebildet hatten. Dank der Schwerkraftregler und der Sauerstoffgeneratoren hatten neun von ihnen besiedelt werden können.
Whu Phan-Li hatte schon viele Welten besucht, doch nirgendwo hatte er ein derartiges Phänomen vorgefunden, nirgendwo hatte er das merkwürdige Gefühl gehabt, zwischen Himmel und Erde zu schweben, nirgendwo hatte er mit bloßem Auge die Erdkrümmung sehen können.
Manchmal sagte er sich, dass es nur einen einzigen Grund gegeben habe, sich für ein Leben auf dem Sechsten Ring von Sbarao zu entscheiden: weil das Klima hier heiß und trocken war und ihn überhaupt nicht an das milde Meeresklima von Selp Dik erinnerte.
Der Orden der Absolution war vor zwanzig Jahren zerstört worden, und er, einer ihrer Ritter, hatte nicht an der Schlacht von Houhatte teilgenommen. Damals war er nicht dem Aufruf des Rats des Weisen nachgekommen, weil er sich unsterblich in eine Frau auf Bradebent – ein kleiner Planet, auf den man ihn zur Ausführung eines Auftrags geschickt hatte – verliebt hatte. Den Reizen seiner schönen Geliebten ganz und gar verfallen, war ihm die Dringlichkeit dieses Messacodes entgangen, und er hatte geantwortet, eine ansteckende tropische Krankheit hindere ihn am Kommen. Nur ein paar Tage später hatten die Bildschirme der Bullovision den Untergang des Ordens der Absolution und die Machtergreifung Menati Angs verkündet. Ein Unglück kommt selten allein: Seine Herzensdame hatte sich mit einem Bradebentiner eingelassen und ihm den Laufpass gegeben.
Whu Phan-Li hatte seine graue Kutte verbrannt, sich den Schädel rasiert, um seine Tonsur zu verbergen, und in einem Stadium verzweifelter Ohnmacht mit ansehen müssen, wie die kaiserliche Armee und kreuzianische Kohorten in Bradebent einfielen. Er hatte den Vier Weisen, den Stellvertretern des Mahdi Seqoram, nicht gehorcht; er hatte sein Gelübde als Ritter gebrochen, und die entscheidende Schlacht hatte ohne ihn stattgefunden. Gewiss hätte seine Anwesenheit in Houhatte den Lauf der Dinge nicht verändert, aber er hätte das Schicksal seiner Mitbrüder geteilt. Er wäre einen ehrenvollen Tod gestorben, anstatt in Schande zu leben.
Von Gewissensbissen getrieben, hatte er sich zum Haus seiner ehemaligen Mätresse begeben, sie und ihren neuen Liebhaber getötet, als wären die beiden für seine Verfehlungen verantwortlich. Seine lokalen Informanten hatten ihm die Adresse eines illegalen Fluchthelfers gegeben, mit dessen veraltetem Deremat er in die Hauptstadt von Sbarao, Rahabezan, gelangt war. Auf der Straße, inmitten einer aufgebrachten Menschenmenge, hatte er sich rematerialisiert, denn der Regent, Dons Asmussa, war gerade hingerichtet worden, und der Anblick des öffentlichen Martyriums seiner Gemahlin und seiner Kinder empörte das Volk. Hinzu kamen noch die unerträglichen Repressionen der Interlice und der Pritiv-Söldner.
Allein seine lange Ausbildung zum Ritter hatte Whu Phan-Li damals das Überleben gesichert. Ehemalige Anhänger des Ordens rieten ihm, sich nicht in der Hauptstadt, sondern auf den Ringen niederzulassen, wo er den Einheimischen im Widerstand gegen den neuen Herrscher helfen könne. So hatte er erst auf dem Ersten Ring gelebt, bis auch dieser von der Besatzungsmacht eingenommen worden war, dann auf dem Zweiten und Dritten und schließlich auf dem Sechsten. Die Rebellen hatten inzwischen den Kampf aufgegeben, und überall brannten jetzt die Feuerkreuze.
»Wo bleibst du denn, Todes-Schrei? Der Capo wartet auf dich!«
Whu Phan-Li hatte sofort die Piepsstimme von Bauch-Aufschlitzer erkannt, einem jungen gedrungenen Sbaräer, der so genannt wurde, weil er seine Gegner immer tötete, indem er ihnen seinen Dolch in den Bauch stieß.
»Du kannst deine Maske jetzt abnehmen«, fügte Bauch-Aufschlitzer hinzu. »Der Wind bläst diesen Scheißschwefel weg. Endlich kann man wieder atmen.«
Es stimmte. Das weiße Licht des Doppelgestirns fiel in breiten Strahlen auf das Pïaï-Gebirge, und es war ein paar Grad wärmer geworden.
Whu nahm seine Maske ab. Ein warmer Wind trocknete den Schweiß auf seinem Gesicht.
»Schon länger als zwanzig Jahre hängst du jetzt auf dem Sechsten herum, und man könnte meinen, dass du dich noch immer nicht daran gewöhnt hast …«, sagte Bauch-Aufschlitzer hämisch, mit einem bösen Funkeln in seinen schwarzen Augen.
»An wahrer Schönheit kann man sich nie sattsehen«, unterbrach Whu ihn.
»Schönheit?«, sagte der Sbaräer und lachte schallend. »Diese dämlichen Kieselsteine und dieses beschissene Gas? Dein Herkunftsplanet muss die reinste Müllhalde sein, wenn du …«
Ein Blick, der hätte töten können, brachte den jungen Mann sofort zum Verstummen.
Vielleicht sieht Todes-Schrei dort Schönheit, wo ich nur Schwefel und Dürre sehe. Aber er gehört zu den unberechenbarsten Kämpfern und zu den gefährlichsten in Jankl Nanuphas Netzwerk. Wenn mir also mein Leben lieb ist, sollte ich ihn respektieren, überlegte der Sbaräer.
»Sei mir nicht böse, Todes-Schrei«, sagte er deshalb schnell und breitete entschuldigend die Hände aus. Durch die Geste fiel seine Weste auseinander und enthüllte seinen braunen muskulösen Brustkorb und den Griff seines im Gürtel steckenden Dolchs. »Schließlich kannst du schön finden, was dir gefällt …«
Whu wusste, dass dem jungen Mann eine Frage auf den Lippen brannte, dieselbe Frage, die die Mitglieder des Netzwerks ihm seit zwanzig Jahren stellten. Nur weil Bauch-Aufschlitzer erst seit drei Monaten dazugehörte, machte er keine Ausnahme.
»Von welchem Planeten kommst du?«
»Von irgendwoher da oben«, antwortete Whu und deutete zum Himmel.
»Du siehst wie ein Mensch aus den östlichen Welten aus.«
»Hast du schon mal jemanden von dort kennengelernt?«
»Nicht richtig. Nur in einer Holovisionsendung gesehen. Warum machst du ein solches Geheimnis um deine Herkunft?«
»Würde ich es dir enthüllen, wäre es kein Geheimnis mehr.«
Whu selbst wusste nicht genau, warum er sich mit diesem Geheimnis umgab. Vielleicht hegte er insgeheim den Wunsch, seine Jugend zu vergessen, sich im Nichts wie seine einstigen Gefährten aufzulösen. Vielleicht war es auch eine Methode, sich gegen alle Neugierigen und Neider zu schützen, sonst hätten ihn diese Leute wegen seiner Vergangenheit als einer der Ritter der Absolution denunzieren können. Doch als ein führender Mitarbeiter eines der bedeutendsten Menschenhändler des Imperiums, Jankl Nanupha, genoss er gegenüber den Repräsentanten der heiligen Inquisition eine gewisse Immunität. Die Inquisitoren ließen ihn in Ruhe, aber er hatte alles andere als ein ruhiges Gewissen. Sein Leben widerte ihn immer mehr an, er ekelte sich derart vor sich selbst, dass er manchmal mit dem Gedanken an Selbstmord spielte.
Die beiden Männer durchschritten das Tor in der hohen, den Hof umgebenden Mauer. Dort herrschte fieberhaftes Treiben, weil aus Syracusa eine große Bestellung eingegangen war. Um seine Kunden – Kardinäle und Höflinge – zufriedenzustellen, hatte Jankl Nanupha eine neue Razzia befohlen, obwohl die letzte erst vor Kurzem stattgefunden hatte.
Die Automechaniker hatten noch nicht einmal Zeit gehabt, die mit Atomkraft betriebenen Batterien der veralteten Lastwagen aufzuladen. Jetzt reparierten sie die Drahtgitter der Käfige auf den Ladeflächen.
Whu Phan-Li warf einen Blick in die Runde. Auf der Befestigungsmauer standen bewaffnete Wachen. Die Interlisten hatten Jankl Nanupha diese ehemalige Rebellenbastion überlassen. Böse Zungen behaupteten, der Gründer des Netzwerks habe mit den imperialen Streitkräften ein Geheimabkommen getroffen, und die bösen Zungen hatten wahrscheinlich Recht. Aber weil die im Dienst Jankl Nanuphas stehenden Sbaräer diejenigen Leute, die ihre Stimmen erhoben, unerbittlich verfolgten und ihnen meist die Köpfe abschlugen, waren sie bald verstummt. Auch wurde der Gebrauch privater Deremats – sonst mit hohen Strafen belegt –, wenn sich das Netzwerk ihrer bediente, nie bestraft – getreu dem alten Wahlspruch: »Verachtet sei, wer Böses dabei denkt.«
Bauch-Aufschlitzer deutete auf die Lastwagen. »Der Capo will uns in den Tod schicken«, schimpfte er. »Erst vor zwei Tagen sind wir aus dem Pïaï-Gebirge zurückgekehrt, und ich hatte nicht mal Zeit, ein paar dieser Sklaven auszuprobieren …«
Während sie nebeneinander hergingen, beobachtete Whu den Sbaräer aus den Augenwinkeln. Von einem Individuum, das zur Betonung seiner Männlichkeit sein Messer wie einen erigierten Penis trug, war nichts Gutes zu erwarten. Wenn er weiterhin auf diese Weise prahlend herumpöbelte, würde er im Netzwerk nicht lange überleben. Jankl Nanupha wusste es zu schätzen, wenn neue Mitglieder möglichst diskret und effizient arbeiteten, ohne Klagen alle Befehle ausführten, und der Capo hatte überhaupt kein Verständnis für diese Perversen, die glaubten, die Menschen – Ware erst einmal »ausprobieren« zu müssen.
Whu bedauerte es, seine Atemmaske abgenommen zu haben. Der Wind trieb Staubwolken vor sich her, verstopfte seine Nase und legte sich wie ein feiner Film auf seine durchgeschwitzte Kleidung. Der Himmel war jetzt klar, und das Doppelgestirn warf gleißendes Licht vom Himmel.
»In kaum einer Stunde werden wir fünfzig Grad haben!«, schimpfte Bauch-Aufschlitzer weiter. »Der Capo muss verrückt sein, wenn er uns bei solchen Temperaturen ins Gebirge schickt!«
Die beiden Männer gingen ins Haupthaus, ein massives, mit einem terrassenförmigen Dach versehenes Gebäude, dessen Wände mit Schießscharten versehen waren. Die Wachhabenden verzichteten auf die sonst übliche Durchsuchung, weil Todes-Schrei als der designierte Nachfolger des Capos galt.
Auf ihrem Weg zum Büro warf Bauch-Aufschlitzer dem Älteren einen bewundernden und gleichzeitig neidischen Blick zu. Hätte er allein an dem Wachposten vorbeigehen müssen, hätten die Männer sich einen Spaß daraus gemacht, ihn auf demütigende Weise einer Leibesvisitation zu unterziehen – von Kopf bis Fuß, nackt und mit gespreizten Beinen, eine Sonde im After. Unter allen möglichen Vorwänden erniedrigten sie die neuen Mitglieder des Netzwerks, und Bauch-Aufschlitzer hatte sich schon öfter zurückhalten müssen, ihnen nicht seinen Dolch in den Leib zu stoßen.
Um einen Schreibtisch aus Edelholz herum standen etwa zwanzig Anführer des Razzia-Teams, die »Kams«. Helles Licht fiel durch die großen Fenster mit den Rundbögen. Die in der Luft schwebenden Klimatisierungs-Kugeln summten leise, ein Geräusch, das dem Summen der Großen Hirschkäfer während der Jahreszeit des Weißen Himmels glich.
»Wir haben alle auf dich gewartet, Todes-Schrei«, sagte Jankl Nanupha.
Der Herr des Netzwerks beugte sich nach vorn und entnahm einer Dose aus rosa Optalium eine Endorphin-Zigarette. Er war klein, hatte ein pockennarbiges Gesicht und stechende Augen. Sein fülliges schwarzes Haar glänzte ölig, und er war wie immer in Weiß gekleidet. Sein unsteter Blick und die lebhaften Gesten passten nicht zu seiner dunklen Stimme und seiner unerschütterlich ruhigen Sprechweise.
Da er Ärzten kein Vertrauen schenkte, bekämpfte er seine unerträglichen Schmerzen wegen eines Magengeschwürs mit jenen Opiat-Analoga, die aus den Körpern unverkäuflicher Waren-Menschen gewonnen wurden, und die er mit dem Tabak aus den Skoj-Welten mischte. Es hieß, er habe persönlich Dons Asmussa und seine Gattin, Dame Moniaj, gekannt, aber Whu war sicher, dass der Capo diese Legende selbst in die Welt gesetzt hatte.
»Ich bin zu erschöpft, um dich zu begleiten, Todes-Schrei. Deshalb musst du die Leitung der gesamten Operation übernehmen. Die Nachfrage für Jungen unter zehn Jahren ist sehr groß. Doch es ist Vorsicht geboten. Denn selbst wenn diese Gebirgsstämme unter dem Einfluss der Himâs, der Seherinnen, stehen, herrschen die Männer. Und das Patriarchat schützt vor allem seine Söhne, die Erben. Den Familienoberhäuptern ist es völlig egal, ob sie ihre Töchter oder gar ihre Frauen verlieren.«
Dann drückte er auf einer in seinen Schreibtisch integrierte Tastatur die Eingabetaste, und eine holographische Karte wurde an die Wand projiziert. Mit dem Zeigefinger deutete er auf die Hochebene inmitten des Gebirges.
»Die Abrazzen haben wir seit zehn Jahren nicht mehr aufgesucht. Die Bevölkerung sollte inzwischen genug Zeit zur Regeneration gehabt haben.«
»Viel zu gefährlich!«, warf einer der Kams ein. »Ich habe gehört, dass die Bande von Perp Hubra den Abrazzen Waffen verkauft hat …«
Ein Blick, der hätte töten können, unterbrach den Störenfried, einen großen ungehobelten Kerl mit wirrem Haar und ungepflegtem Bart.
»Seit wann lässt du dich von Gerüchten und ein paar ungebildeten Gebirglern einschüchtern, Augen-Stecher?«
Der Kam schwieg. Er wusste, dass ihn noch eine Widerrede das Leben hätte kosten können. Jankl Nanupha hasste es, wenn ihm öffentlich widersprochen wurde. Gespanntes Schweigen herrschte im Raum, während er Augen-Stecher böse anstarrte und schließlich seine Zigarette anzündete. Blauer, süßlich riechender Rauch breitete sich aus.
»Hat noch jemand etwas zu sagen?«, fragte der Capo und ließ den Blick über seine Männer schweifen. Niemand außer Whu Phan-Li wagte es, ihm in die Augen zu sehen.
»Ihr könnt jetzt gehen. Du bleibst noch, Todes-Schrei. Ich muss mit dir reden.«
Nachdem die Kams das Büro verlassen hatten, lud der Capo Whu ein, in einem der Luft-Sessel vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. Er zündete seine erloschene Zigarette wieder an.
»Diese blöden Endorphine«, klagte er. »Deswegen brennt der Tabak nicht richtig. Aber sonst käme ich auch nicht in den Genuss ihrer wohltuenden Wirkung. Jede Sache hat eben zwei Seiten, nicht wahr?«
Whu nickte.
»Seit einiger Zeit kommst du mir vor wie eine verlorene Seele, Todes-Schrei. Bist du nicht glücklich? Fehlt dir etwas bei uns?«
»Wer ist in unseren Welten schon glücklich?«, entgegnete Whu.
»Erspare mir deine rätselhaften philosophischen Betrachtungen! Bei diesen brutalen Kerlen tragen sie dir vielleicht Respekt ein, aber ich weiß, dass sie nur ein Ausdruck deines Unbehagens sind. Ich rede nicht über das absolute, aber nie erreichbare Glück, wie es die Mystiker und andere Lügner beschreiben, sondern über die einfachen Freuden des Lebens, die Liebe, die Freundschaft, die Arbeit, das Vermögen …«
»Hätte ich jemals derartige Bedürfnisse zu befriedigen getrachtet, hätte ich bereits gegen Sie intrigiert, Jankl.«
»Diese Selbstlosigkeit habe ich immer besonders an dir geschätzt. Daher auch deine Loyalität und deine Kaltblütigkeit. Das sind zwei unerlässliche Charaktereigenschaften für eine Spitzenposition in einem Netzwerk. Aber du bist nicht mehr selbstlos, sondern gleichgültig geworden, und eine derartige Einstellung kann ich bei dem zukünftigen Capo nicht dulden.«
Whu fühlte sich nicht wohl. Trotz der Klimatisierungs-kugeln schwitzte er, die Kleidung klebte an seinem Körper, und er rutschte in seinem Sessel unruhig hin und her.
»Ich kann den Mann, zu dem ich geworden bin, nicht mehr respektieren«, sagte er betrübt.
»Menschenhandel ist in der Tat vom ritterlichen Ideal weit entfernt«, entgegnete Jankl und blies den inhalierten Rauch durch seine Nasenlöcher aus.
Die Worte des Capos bohrten sich wie ein Eispickel in Whus Brust. Wie erstarrt saß er nun in seinem Sessel, unfähig, seine Gedanken zu ordnen.
»Wenigstens kann ich mich einmal rühmen, dich sprachlos gemacht zu haben, Todes-Schrei! Dein Name ist ein Hinweis auf deine Vergangenheit. Nur die Ritter der Absolution beherrschen die Kunst des Xuis, auch Schrei des Todes genannt. Und auch wenn du dir alle drei Tage den Schädel rasierst, kannst du doch deine ewige Tonsur nicht verbergen.«
»Seit wann …«, fing Whu an.
»Ich es weiß?«, unterbrach Jankl in. »Von Anfang an. Ich habe noch nie darüber gesprochen, aber ich habe dir das Leben gerettet, Todes-Schrei. Die Inquisitor-Scaythen hatten dich sofort nach deiner Ankunft auf dem Sechsten Ring aufgespürt. Sie wollten dich festnehmen, aber weil ich mit dem neuen Kardinal-Gouverneur eine … sagen wir, geschäftliche Vereinbarung getroffen hatte, bat ich sie, dich zu verschonen und mir zu erlauben, dich in mein Team zu integrieren. Ich kenne nicht nur deinen richtigen Namen, mein lieber Whu Phan-Li, ich weiß ebenfalls, von welchem Planeten du stammst. Darüber hinaus bin ich über alle Aufträge, die du im Namen des Ordens ausgeführt hast, informiert. In der Geheimakte, die mir der Kardinal-Gouverneur freundlicherweise – gegen zwei kleine Mädchen, Zwillinge vom Dritten Ring – überlassen hat, wird eine gewisse Alenn Braal erwähnt, eine Bradebenterin, in deren Herzen eine Stichwaffe, die dir gehörte, steckte …«
»Warum haben Sie mir das nicht früher gesagt?«, fragte Whu, der langsam wieder klar denken konnte.
Ein ironisches Lächeln umspielte die braunen rissigen Lippen des Capos. Asche fiel von seiner Zigarette auf sein Jackett und seine Hose. Er kümmerte sich nicht darum.
»Nicht nur du hast ein Recht auf Geheimnisse, Todes-Schrei! Ich habe immer gehofft, dass du eines Tages deine Vergangenheit vergessen würdest, aber du kannst dir nicht verzeihen, bei der Schlacht von Houhatte gefehlt zu haben. Doch das war Schicksal, und du musst dich an den Gedanken gewöhnen, dass der Orden der Absolution nicht mehr existiert und mit ihm dieser ganze Mist vom Rittertum. Auch musst du dich jetzt entscheiden. Entweder du bleibst bei uns, und wir arbeiten weiterhin gut zusammen, oder du ziehst es vor, in deiner Vergangenheit zu leben. Dann gibt es keinen Platz mehr für dich an meiner Seite. Denn ich kann das Netzwerk nicht einem Mann anvertrauen, der nicht mit beiden Füßen auf der Erde steht. Die Schlacht von Houhatte wird sich für dich noch als verhängnisvoll erweisen, Todes-Schrei. Du müsstest es eigentlich besser wissen, die Nostalgie ist der Feind des Xuis …«
Whu saß noch immer wie versteinert da. Er versuchte, sich seine Verzweiflung nicht anmerken zu lassen.
»Du musst dich nicht sofort entscheiden«, fuhr der Capo fort. »Ich bin nicht so erschöpft, wie ich diesen Idioten erklärt habe. Wenn ich dich diese Razzia von dir leiten lasse, geschieht es in der Hoffnung, dass du durch das Oberkommando und die damit verbundene Verantwortung wieder Geschmack am Leben findest.«
Nach einer nächtlichen Fahrt im Licht der Scheinwerfer erreichte die Lastwagenkolonne im Morgengrauen die Abrazzen-Plateaus.
Whu Phan-Li saß im ersten Fahrzeug und hatte sich trotz seiner Müdigkeit nicht in einer der drei Schlafkabinen hingelegt, sondern mit schmerzenden Augen auf die unebene Straße gestarrt. Die Fahrer hatten sich alle drei Stunden abgelöst, aber nicht gewagt, mit ihm ein Gespräch zu beginnen.
Selbst der anbrechende Tag stimmte Whu nicht fröhlicher. Jankl Nanuphas offene Worte hatten ihn plötzlich aus seiner Lethargie geweckt. Auch wenn er kein Ritter gewesen war, der alle Regeln strikt befolgte, so hatte er während all dieser Jahre gewisse Werte beibehalten. Ein Freund seines Vaters, ein gewisser Long-Shu Pae, hatte ihn seinerzeit zum Eintritt in den Orden bewogen. Doch als Whu sein Noviziat im Kloster auf Selp Dik begann, hatte er erfahren müssen, dass der Ritter wegen heterodoxen Verhaltens für immer auf den Planeten Roter-Punkt verbannt worden war. Und trotz gravierender Verstöße gegen die Ordensregeln hatte Whu ein paar Jahre später die Ritterwürde erlangt, wenn auch die Klosterleitung es für ratsam hielt, ihn auf eine lange Missionsreise zu den fernen Welten des Planetensystems Sigma P. zu schicken, denn sie hielt offensichtlich nicht viel von den Ureinwohnern des Planeten Ja-Hokyo, der zu diesem im Osten des unbekannten Universums gelegenen System gehörte. Whu war nie ins Kloster Selp Dik zurückgekehrt und hatte Long-Shu Pae nie wiedergesehen. Manchmal sehnte er sich nach dem Meer der Feen von Albar, dem nach Jod riechenden Wind und den schrillen Schreien der Silbertölpel, und auch nach der heiteren und gelassenen Atmosphäre in den Hörsälen. Dann wurde ihm bewusst, dass diese acht Jahre im Kloster die schönsten seines Lebens gewesen waren.
Die Lastwagen fuhren jetzt eine schmale gewundene Straße zu den Dörfern der Abrazzen hoch, während das aufsteigende Gestirn Marij-Urij Sbarao und die Fünf Inneren Ringe in silbernes Licht tauchte – »silbernes Licht am Morgen bringt Kummer und Sorgen«, sagten die Einheimischen. Am immer heller werdenden Himmel verblassten die Sterne einer nach dem anderen.
Nach vier Stunden hatten sie das Hochplateau erreicht. Whu konnte die grauen Dächer der verstreut zwischen Feldern und Obstgärten liegenden Dörfer durch die flirrende Hitze nur verzerrt wahrnehmen.
»Fahr an den Straßenrand und halt an!«, befahl Whu dem Chauffeur.
Nachdem alle Lastwagen standen, verteilten die Kams die Verpflegungsrationen und versammelten sich am ersten Fahrzeug. Während die für die Käfige verantwortlichen Leute die Gitter überprüften, luden die Richtkanoniere ihre Kanonen mit Netzkugeln.
»Ihr müsst immer im Auge behalten, dass der Capo nur Jungen unter zehn Jahren haben will«, sagte Whu. »Ihr könnt auch Jugendliche beiderlei Geschlechts fangen, aber Frauen im gebärfähigen Alter müsst ihr verschonen. Fruchtbare Erde lässt man nicht zur Wüste verkommen.«
Die Kams sahen Todes-Schrei respektvoll, aber auch etwas dreist an. Der Mann leitete zum ersten Mal eine Razzia, und sie würden keine Gelegenheit verpassen, seine Autorität auf die Probe zu stellen. Selbst wenn der Capo ihn zu seinem Nachfolger bestimmt hatte, musste er erst zwei oder drei von ihnen töten, ehe sie ihn als gleichwertig betrachteten und als ihren Chef anerkannten.
Whu wiederum hatte das Gefühl, das Alphatier einer Horde Bestien zu sein.
Und genau das waren sie, diese Männer, nur von Instinkten geleitete wilde Tiere, unter denen das unerbittliche Gesetz des physisch Stärkeren galt.
»Wir fahren in Gruppen von jeweils drei Lastwagen«, instruierte er sie. »Um ihnen keine Zeit zur Selbstverteidigung zu lassen, greifen wir mehrere Dörfer gleichzeitig an.«
»Das ist doch totaler Quatsch!«, mischte sich Augen-Stecher ein. »Ihre Späher haben uns sicher bereits bemerkt und sich organisiert. Wir müssen sie sofort überfallen, alle zwanzig Lastwagen auf einmal!«
Die anderen Männer murrten und wandten sich von ihm ab.
»Na prima! Zwanzig Lastwagen, eine ideale Zielscheibe«, sagte Whu ironisch.
Da merkte Augen-Stecher, dass er mit seiner Meinung allein war, und hielt den Mund.
»Zwei Angriffe auf jeden Ort«, fuhr Whu fort. »Nicht mehr. Vergesst nicht eure Atemmasken und die Sauerstoffflaschen. Ein Schwefelsturm könnte aufkommen. Jedes Team handelt selbstständig, nach den Anweisungen seines Kams. Ganz gleich, wie das Resultat der Razzia aussieht, wir treffen uns hier bei Einbruch der Nacht. Auf Nachzügler wird nicht gewartet. Noch Fragen?«
Zwar warfen die Kams einander fragende Blicke zu, doch alle blieben stumm. Whu teilte die Lastwagen in sechs Gruppen zu je drei Fahrzeugen ein und setzte sich an die Spitze der zwei verbleibenden Fahrzeuge. Die Männer bestiegen ihre Trucks. Am fahlen Himmel kreisten Raubvögel und stießen heisere Schreie aus.
Als die beiden Laster unter dem Befehl Whus über die staubige Hauptstraße ins Dorf fuhren, trafen die Männer auf keinen Widerstand. Offensichtlich hatten die Abrazzen den verheerenden Angriff auf ihre Siedlungen vor sechzehn Jahren vergessen.
Die Kanoniere saßen in seitlich befestigten, schwenkbaren Kästen und richteten ihre Kanonen auf die Hütten aus Strohlehm. Davor saßen Kinder, oder sie spielten am Ufer des Bewässerungskanals. Die Männer, die sich an die Wände der Käfige klammerten – deshalb wurden sie auch Affen genannt –, öffneten die Klappen ihrer Gefängnisse.
Die Frauen begriffen sofort, dass die Kinderdiebe zurückgekehrt waren. Sie hatten unter den Vordächern ihrer kleinen Häuser gesessen und sprangen nun auf und stießen schrille Schreie aus. Durch das Geschrei alarmiert, kamen jetzt auch die Männer, mit altmodischen Gewehren bewaffnet, aus ihren Hütten.
Die Kinder liefen schreiend in alle Richtungen davon, die meisten jedoch die Hauptstraße entlang.
Whu stand auf einer schmalen Plattform hinter der Fahrerkabine und sah sie wie eine in Panik geratene Herde vor seinem Laster davonrennen. Staub wirbelte auf; das Licht blendete; die Männer schrien aufgeregt. Das Jagdfieber hatte sie ergriffen.
Drei Netzkugeln wurden abgeschossen und trafen. In dem Moment öffneten sich die Netze und stülpten sich, Flügeln gleich, über die Fliehenden. Jetzt mussten die Netze nur noch eingeholt werden und die kleinen zappelnden Körper in die Käfige gesperrt werden.
Diese Arbeit erforderte viel Geschick, denn sonst wurden die Kinder verletzt und konnten nicht mehr verkauft werden.
Whu warf kurz einen Blick über die Schulter. Durch die Käfiggitter hindurch sah er drei Mütter seinem Lastwagen hinterherlaufen. Ein vergebliches Unterfangen! Er hörte trotz des Motorenlärms ihre verzweifelten Schreie …
Ein seltsames Gefühl überkam ihn, nicht Furcht, sondern eine dunkle Vorahnung, eine leise innere Stimme, dass diese Razzia in einem Blutbad enden würde, in unendlichem Leid.
Obwohl den Menschenfängern von diesen nur mit einem Lendenschurz bekleideten und schlecht bewaffneten Männern, die jetzt die Straße säumten, kaum Gefahr drohte. Die Frauen liefen wie aufgescheuchte Hühner umher und versuchten verzweifelt, ihre Kinder einzusammeln.
Jetzt schossen die Männer auf die beiden Laster. Doch ihre Gewehre richteten kaum Schaden an. Nur einer der Männer wurde getroffen und fiel zu Boden, worauf seine Kameraden sofort zu schießen begannen.
Whu klopfte viermal auf die Fahrerkabine. Der Fahrer bremste scharf und legte sofort den Rückwärtsgang ein. Bis der andere Fahrer das Manöver begriffen hatte, verging etwas Zeit, und so waren die beiden Lastwagen kurz darauf mehr als dreihundert Meter getrennt.
Der Himmel hatte sich inzwischen verfinstert. Heftiger Wind war aufgekommen, der nichts Gutes verhieß. Ein Schwefelsturm näherte sich ihnen.
Vielleicht ist dieser Sturm der wirkliche Feind, dachte Whu an die dunkle Vorahnung, die ihn vorhin überfallen hatte, und kletterte ins Fahrerhaus zurück.
»Was ist los, Todes-Schrei?«, fragte der Chauffeur.
»Ein Schwefelsturm. Halt an. Wir müssen unsere Masken aufsetzen.«
»Wollen wir nicht zuerst unserem Kumpel, Hals-Brecher, zu Hilfe kommen?«
»Erst müssen wir die Masken aufsetzen, sonst kommen wir alle um.«
Der Chauffeur nickte und hielt. Das Fahrzeug stand kaum, da wurde es von einem gelben, den Atem raubenden Dunst eingehüllt. Die Sichtweite war gleich null. Feinste Schwefelpartikel drangen in jede Körperöffnung, jede Pore, jeden Spalt und jede Ritze ein.
Whu legte sofort seine Maske an. Die plötzliche Sauerstoffzufuhr löste ein euphorisches Gefühl in ihm aus. Das war äußerst gefährlich, denn gerade in einer derartigen Situation musste er einen klaren Kopf behalten, um die Sicherheit seiner Männer zu garantieren, während die gefangenen Jungen nichts riskierten, denn die Mutation ihrer Atmungsorgane schützte sie. Doch für seine Männer, die fast alle aus anderen Welten stammten, wäre ein solcher Sturm ohne Schutz tödlich.
Whu stieg aus der Fahrerkabine. Die Sicht betrug etwa dreißig Zentimeter. Seine Umgebung konnte er kaum noch erkennen. Und der Motor des Lasters gab seinen Geist auf. Jetzt war nur noch das Heulen des Windes zu hören.
Er hörte Schüsse, sah undeutlich irgendwelche Gestalten.
In dieser extremen Lage stellte er sich wieder den Strom vor, der ihn zum Xui-See führte. Nur selten nahm er jene alten Techniken zu Hilfe, weil er sich dann immer schämte, sein altes Wissen zu missbrauchen – schließlich waren seine Ziele alles andere als nobel. Doch weil er keine Waffe hatte und die Abrazzen ihn jeden Augenblick überwältigen konnten, blieb ihm keine andere Wahl.
Also stemmte er sich fest gegen den stürmischen Wind voller Schwefelpartikel, die auf seiner Haut brannten.
Whu erinnerte sich an die Lehren an den Gestaden des Meeres der Feen von Albar. Seine Lehrer pflegten dort ihre Schüler den Zustand der inneren Stille zu lehren und das inmitten der entfesselten Elemente der Natur.
Wie oft ist es mir passiert, dachte der einstige Ritter, dass ich jedes Zeitgefühl verloren habe und dann merkte, dass mein Lehrer und meine Mitschüler schon längst gegangen waren, als ich aus dem Xui wieder auftauchte, mich selbst aber ein unendliches Gefühl der Fülle und Vollkommenheit beherrschte.
Dieselben Empfindungen hatte er jetzt inmitten des Schwefelsturms, ein Bedürfnis, sich nicht von den Elementen beherrschen zu lassen, sondern eins mit der Stille zu werden und Kraft aus dieser Urenergie zu schöpfen.
Manchmal hatte er sich gefragt, ob die Weisen des Klosters nicht neidisch gewesen waren, weil er einen so leichten Zugang zu dem Xui hatte, und ihn deshalb ins Exil auf Bradebent geschickt hatten.
Plötzlich tauchte dicht vor ihm eine Gestalt auf, ein völlig nackter Abrazze. Er zielte mit einer doppelläufigen Flinte auf Whus Brust. Whu stieß den Todesschrei aus. Der Mann schwankte und stürzte zu Boden. Durch den Schock löste sich mit einem ohrenbetäubenden Knall ein Schuss, und Whu hatte das Gefühl, als würde er von einem Raubtier ins rechte Bein gebissen. Schrotkugeln steckten in seinem Schienbein und in der Wade. Ein eisiger Schauder ließ ihn frösteln. Er unterdrückte den Schmerz und humpelte über die Straße, immer bemüht, das Xui in sich zu bewahren. Undeutlich sah er, wie schattenhafte Gestalten auf den Lastwagen kletterten. Der Schmerz lähmte seine ganze rechte Seite, Blut quoll aus seinem Stiefel. Er hörte Schüsse und Kampfgeräusche.
Ich muss einen Ort finden, wo ich meine Wunde versorgen und die Blutung stoppen kann, dacht Whu. Meine Leute können sich selbst versorgen, und helfen kann ich ihnen ohnehin nicht.
Er humpelte weiter, auf die niedrigen Häuser zu. Jeder Schritt war qualvoll, fast unerträglich durch den Schwefel, der in die offenen Wunden eindrang.
Eine halb offen stehende Tür schlug gegen den Rahmen. Er schlüpfte leise in das Haus und schob den Vorhang zwischen Flur und Zimmer beiseite. Da hörte er ein höhnisches Lachen, gefolgt von einem Entsetzensschrei. Whu nahm seine Maske ab, weil er durch sie kaum etwas sehen konnte. Hier drinnen konnte er die Luft atmen.
Als sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, sah er auf dem Boden eine Atemmaske und eine Sauerstoffflasche liegen und eine alte Frau mit aufgeschlitztem Bauch. Aus dem Nebenzimmer hörte er Stimmen, tauchte wieder tief in den See des Xui ein, spürte den Energiestrom und hinkte in die Richtung, wo er die Stimmen gehört hatte.
Der Raum war einfach möbliert, mit einem Bett und einer Kommode. Ein mit einem Messer bewaffneter Mann bedrohte eine junge schwarzhaarige Frau in einem zerrissenen Kleid.
»Gleich werde ich dich von meinen Messern kosten lassen, meine Schöne«, sagte der Mann und machte obszöne Bewegungen. »Zweimal werde ich deinen Bauch aufschlitzen, damit du spürst, wie sanft die Küsse meiner Klingen sind.«
Whu erkannte den widerlichen Kerl sofort, doch er reagierte nicht gleich. Zu oft hatte er derart abstoßende Szenen gesehen, sie hatten ihn zwar angewidert, er hatte aber bisher nie etwas dagegen unternommen.
Wieder lachte der Mann und schlitzte mit einer schnellen Geste das Kleid auf, so dass die Frau fast nackt war.
Whu wunderte sich, Bauch-Aufschlitzer hier vorzufinden, denn er hatte ihn nicht unter den Männern seiner Gruppe bemerkt. Wahnsinn lag im Blick des jungen Sbaräers, als er die junge, an eine Wand gedrängte Frau anstierte. Sie war außerordentlich schön.
Jetzt sah sie Whu an, der noch immer in der Türöffnung stand. Ihre Augen waren ganz weiß, ohne Iris. Aber er hatte nicht den Eindruck, einer Blinden zu begegnen. Ihr Blick drückte pures Entsetzen aus, sie flehte ihn stumm an.
Plötzlich lichtete sich der Nebel in Whus Gehirn, und die ganze Ungeheuerlichkeit seines bisherigen Lebens wurde ihm bewusst. Die zwanzig Jahre im Dienst eines Menschenhändlers erfüllten ihn mit Ekel, erschienen ihm als ein Verrat an seiner Jugend. Hatte ihn die Rede Jankl Nanuphas aus seiner Erstarrung geweckt, so schenkten ihm diese weißen Augen jetzt seine Seele wieder.
Der Blick der Frau irritierte Bauch-Aufschlitzer. Er riss seine Schusswaffe aus seinem Gürtel und drehte sich blitzschnell um. Der hasserfüllte Ausdruck in seinem Gesicht verschwand, als er Todes-Schrei erkannte.
»Teufel auch! Du hast mir einen Schrecken eingejagt!«
Mit dem Kinn deutete er auf die junge Frau. »Ich war beschäftigt. Ein guter Fang, findest du nicht?«
»Lass sie in Ruhe!«, befahl Whu. »Du solltest bei den anderen sein.«
»Ich bin Kanonier und nicht für’s Einsperren in die Käfige zuständig«, entgegnete Bauch-Aufschlitzer. »Willst du sie haben? Tut mir leid, Todes-Schrei, sie gehört mir. Auch wenn du Jankls Liebling bist, darfst du sie erst nach mir ficken. Aber dann ist sie schon tot.«
»Lass sie in Ruhe«, wiederholte Whu ruhig.
Hass glomm in den Augen des Sbaräers auf. Er hob seine Waffe. »Ich konnte dich noch nie leiden, Todes-Schrei …«
Zeit abzudrücken, hatte er nicht mehr. Whus Schrei traf ihn mitten in den Solarplexus. Er knickte ein und stürzte zu Boden.
Fast wäre Whu zusammengebrochen, so sehr hatte er sich verausgabt. Und die Schmerzen kehrten mit aller Heftigkeit zurück. Doch ein plötzlicher Lärm ließ ihn zusammenschrecken.
Etwa zehn, nur mit Lendenschürzen bekleidete Abruzzer stürmten in das Zimmer und begannen, auf Whu einzuschlagen.
»Rührt ihn nicht an!«, befahl die junge Frau mit lauter Stimme.
Die Männer sahen sie verblüfft an, hörten jedoch auf, Whu zu schlagen.
»Aber, Himâ, das ist ein Kinderdieb, ein tollwütiger Wolf im Dienste Jankl Nanuphas«, sagte einer von ihnen.
»So sehen ihn meine Augen nicht.«
»Hat er … hat er dich …?«
Sie ging zu den Männern und deutete auf Bauch-Aufschlitzers Leichnam. »Dieser Mann wollte mir meine Jungfräulichkeit rauben, und der andere hat ihn daran gehindert. Dafür müsst ihr ihm dankbar sein.«
Mit ihren weißen Augen sah sie wieder Whu an. Der fühlte sich nackt und elend vor ihr. Er fing an, am ganzen Leib zu zittern.
»Meine Augen haben gesehen, dass dieser Mann einer der zwölf Säulen des Tempels ist …«, sagte sie feierlich.
Die Abrazzer sahen sie ungläubig an.
»Er ist nicht einer der Unseren, Himâ!«, protestierte ein Mann. »Er kann nicht einer der zwölf sein. Er ist in unser Dorf eingefallen, um unsere Kinder zu rauben …«
»Ich bin eine Himâ, eine Visionärin, eine Hüterin. Wagt ihr es, meine Worte in Zweifel zu ziehen?«
Sie senkten die Köpfe wie gescholtene Kinder. Diese Frau hatte es nicht nötig, die Stimme zu erheben oder zu gestikulieren, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. Denn sie strahlte eine fast übernatürliche Kraft, vergleichbar der des Xuis, aus.
Doch Whu Phan-Li verstand nicht, was sie mit den »zwölf Säulen des Tempels« meinte. Hatten sie etwas mit den zwölf Hauptregeln der Ritterschaft zu tun? Oder nicht? Er begriff überhaupt nichts mehr; er fühlte sich nur unendlich einsam und war sehr traurig.
»Wie steht es mit den Kämpfen?«, fragte die Himâ.
»Die Besatzung der beiden Lastwagen wurde neutralisiert, und wir haben die gefangenen Kinder befreit. Gepriesen sei der Schwefelsturm!«
»Gestern noch habt ihr die Schwefelstürme verflucht. Gepriesen seien also die Götter, die die Gebete ihrer Kinder nicht erhören.«
»Und was machen wir mit ihm?«
»Er bleibt bei mir. Er trägt zu einem Zwölftel zu der Zukunft der Menschheit bei … zu unserer Zukunft. Geht und holt zwei Alte, damit sie seine Wunden versorgen, und dann …«
Ein dumpfes Geräusch unterbrach sie. Whu Phan-Li war auf die Knie gefallen und schluchzte. Endlich konnte er die Tränen weinen, die er länger als zwanzig Jahre zurückgehalten hatte.