ELFTES KAPITEL
MARS: Das Geschlecht der Mars’ gehörte zum engen Kreis des syracusischen Hochadels. Da die Familie von der Macht ausgeschlossen war, intrigierte sie ständig gegen die Ang, um sie vom Thron zu stoßen … Die Familie tat sich außerdem in der Erforschung und späteren Produktion synthetischer, rauscherzeugender Drogen hervor, den Mikrostasen. Ihnen wurde die Eigenschaft zugeschrieben, den menschlichen Geist vor der mentalen Inquisition zu schützen, sowie das psychische Potenzial des Konsumenten zu steigern. Beide Wirkungsweisen wurden nie bewiesen, aber es gab keine Zweifel über die verheerenden Folgen der Droge: Die regelmäßige Einnahme bewirkte ein Schrumpfen des Körpers um bis zu einem Drittel seiner Größe und seines Volumens …
Wegen Mikrostasen-Missbrauch wurde Iema-Hyt de Mars auf den Planeten Franzia verbannt, wo sie – der Legende nach – ihr Leben unter dem Namen Iema-Ta als Schleuserin fristete und von dem jungen Marti de Kervaleur ermordet wurde. Ihre jüngere Sch wester Miha-Hyt, die »Kaiserin« genannt, stand unter dem Verdacht, mit den Kriegern der Stille einen Geheimpakt geschlossen zu haben.
»Geschichte des Großen
Ang-Imperiums«
Unimentale Enzyklopädie
Shari erholte sich langsam von seiner Kryogenisierung. Erst nach stundenlangem Delirium hatte er wieder klar denken und deutlich sprechen können. Sein psychokinetischer Transfer aus dem Keller des alten Herrscherpalastes in den Park hätte ihn fast das Leben gekostet, weil er ihn unternommen hatte, nachdem er von einem Kryostrahl getroffen worden war und das Agens sich bereits in seinem Körper ausbreitete. Die für eine Reise mittels Gedankenkraft notwendige Energie stand in krassem Gegensatz zum chemischen Prozess der Fixierung. Wegen dieses Kontrasts zwischen fließender Wärme und starrer Kälte hatte Shari während eines syracusischen Tages zwischen Leben und Tod geschwebt.
Jek saß auf einer Luftbank im Zimmer und betrachtete die zwei mit Zahlen versehenen Kugeln in seiner Hand, die er nach hartem Kampf den Gardisten des Imperators entrissen hatte. Die Nummern entsprächen denen auf den Sockeln, auf denen die Kryogenisierten ruhten, hatten ihre Gastgeber versichert.
Nun fragte er sich, ob er jene Kugel in der Hand hielt, mit der er Yelle ins Leben zurückrufen konnte. Spielte das eine Rolle? Sie würden ohnehin nicht von hier fortgehen, bis sie alle vier reanimiert hätten. Wahrscheinlich aber hatte ihr nur halb geglückter Versuch zur Befreiung ihrer Freunde die Wachsamkeit ihrer Feinde verstärkt. Von dem Überraschungsmoment konnten sie nun nicht mehr profitieren, und Seneschall Harkot würde geeignete Vorkehrungen treffen, um ihrer habhaft zu werden.
Der Schein der Lichtkugeln spiegelte sich in den Wassertapeten und den Teppichen mit sich ständig verändernden Mustern. Noch nie – nicht einmal in der Kabine des Dogen Papironda – hatte Jek einen solchen Luxus gesehen. Noch einmal fragte er sich, warum diese syracusische Adelsfamilie den leblosen Körper von Sharis geborgen hatte. Im Park war alles so schnell gegangen, dass er versucht war zu glauben, das Geschehene nur geträumt zu haben.
Als die Interlisten auf ihn zurannten, hatte er noch schnell das Etui mit den Spritzen aus Sharis Tasche genommen, war aber zu nervös gewesen, seinen Freund zu reanimieren. Schweren Herzens hatte er Shari verlassen und sich dematerialisiert. Denn dieser vorübergehende Rückzug erlaubte ihm absolute Bewegungsfreiheit und die Möglichkeit, später wieder in das Geschehen eingreifen zu können. Noch blieben ihm knapp drei Stunden, um den Mahdi wiederzubeleben, ohne dass er dem Agens den genetischen Code hinzufügen musste. Er hatte sich an den Gedanken geklammert, es genüge, wenn er sich Sharis Gesicht vorstellte, um sich sofort an dessen Seite zu rematerialisieren. Zwar war diese Vorstellung mehr von Hoffnung als von Gewissheit getragen, doch auch das befreite ihn nicht von dem Selbstvorwurf, sich feige verhalten zu haben.
Mitten in einem Dorf war er wieder aufgewacht – einem ziemlich rückständigen Dorf, den Holzhäusern und der ungepflasterten Straße nach zu urteilen. Sein plötzliches Erscheinen hatte unter den Einheimischen für ziemliche Aufregung gesorgt.
Als er sich umsah, war er von affenähnlichen Wesen umgeben, die Kleidung aus gegerbten Häuten trugen. Manche von ihnen – die Frauen? – hatten Schmuck aus Elfenbein im Haar. Doch alle strömten sie einen strengen Geruch aus, der Jek an die Raubtiere im Wildpark in seiner Geburtsstadt Anjor erinnerte.
»Sie brauchen keine Angst zu haben. Diese Leute sind nicht aggressiv«, sagte jemand hinter ihm.
Die Stimme gehörte einem kreuzianischen Missionar, wie an seinem safrangelben Colancor und Chorhemd unschwer zu erkennen war, ein altersloser Mann mit funkelnden Augen, starken Brauen, kantigem Gesicht und gebeugten Schultern.
»Sehen Sie zum ersten Mal Tiermenschen?«
Jek hatte mit einem vagen Kopfnicken die Frage mit Ja beantwortet.
Zwei Gestirne, die sich am Horizont gegenüberstanden, schmückten den Himmel mit geometrischen Figuren, die in allen Nuancen blauer und roter Farbtöne schillerten. Das gesamte Dorf war von einem dichten dunklen Wald umgeben.
Jetzt stand der Missionar vor dem Anjorianer und fragte ihn argwöhnisch: »Wie sind Sie nach S’ran-Bra gekommen? Der letzte Ovalibus hat vor mehr als einem Monat hier gehalten. Sie haben unser Dorf doch nicht etwa zu Fuß erreicht, denn die nächste Stadt, M’all-Ker, ist über siebenhundert Kilometer entfernt. Sie haben eine Deremat-Maschine benutzt, nicht wahr?«
Jek war auf der Hut, er hatte geschwiegen.
»Eine illegale Deremat-Maschine, nehme ich an. Denn Sie wären nicht so vorsichtig, wenn Sie nicht das Gesetz gebrochen hätten. Aber auf dem Planeten Getablan werden die imperialen Gesetze nicht nach dem Buchstaben befolgt. Also ist es egal, aus welchem Grund Sie uns einen Besuch abstatten. Uns, meinen Schäfchen und mir, genügt es, Sie als Bruder willkommen zu heißen, als einen geliebten Sohn der Kirche des Kreuzes.«
Nach dieser Rede war Jek zu einer wohlschmeckenden, deftigen Mahlzeit in der Casuta des Missionars – so hießen die Behausungen der Tiermenschen – eingeladen worden, die von den Einheimischen aufgetragen wurde. Es war ihm, trotz der Neugier seines Gastgebers, gelungen, der Frage nach seinem Transportmittel auszuweichen. Der Missionar hatte auch den Dorfältesten, D’rar Plej, und die zwei ältesten Frauen, beide Hüterinnen des kollektiven Gedächtnisses und Geschichtenerzählerinnen, zu diesem Mahl gebeten. Die alten Frauen hatten Jek mit verstohlenen Blicken gemustert, die Bewunderung aber auch Angst ausdrückten. Seine magischen Kräfte schienen ihnen noch größer als die Bruder Sergians zu sein. Denn an das fliegende Ei des Missionars hatten sie sich inzwischen gewöhnt, diese lärmende, transparente Maschine. Aber dem Erscheinen dieses in Grau gekleideten Jungen war nichts vorausgegangen, kein Geräusch, kein Licht. Deshalb glaubten sie, der Gott der Winde, Vyou, habe ihn in ihrem Dorf abgesetzt.
Natürlich sprachen sie mit Bruder Sergian nie über ihre alten Götter, weil der Missionar mit Nachdruck die Anbetung eines einzigen Gottes forderte. Doch wenn er alle drei Monate das große Ei bestieg und seine Brüder in der Hauptstadt besuchte (die Rückreise trat er per Deremat an), kehrten sie sofort zu ihren traditionellen Riten zurück, als hätten sie vom Kreuzianismus nie gehört.
Jek konnte von ihrer rauen und gutturalen Sprache nicht ein Wort verstehen.
»Das muss Sie nicht weiter stören«, hatte Bruder Sergian erklärt. »Ich habe drei Jahre gebraucht, um zu begreifen, was sie sagen, und mich verständlich zu machen.«
Dann hatte er von sich gesprochen, von seinem Studium in der Schule der Heiligen Propaganda zu Duptinat, wo er Fracist Bogh, den derzeitigen Muffi der Kirche des Kreuzes, sehr gut gekannt habe; anschließend hatte er über seine Berufung auf Getablan geredet und von seinem ewigen Kampf gegen die Reiseveranstalter Syracusas erzählt, die für Höflinge spezielle Safaris auf diesem Planeten veranstalteten.
»Und wissen Sie, wer das Wild ist? Sie …« Mit einer Geste hatte er auf den Dorfältesten und die beiden weisen Frauen gedeutet. »Ich habe gehört, dass dasselbe auf dem Planeten Franzia im Sternenhaufen von Neorop stattfindet. Dort jagen sie die Sylven, allein um des Vergnügens willen, um dann mit deren präparierten Köpfen ihre Wände zu dekorieren. Aber was regen wir uns über dieses lebensverachtende Verhalten auf! Schließlich ist es Usus in den höchsten Kreisen. Die weisen Frauen haben mir erzählt, dass der Konnetabel Pamynx vor fünfzig Jahren eine große Zahl Tiermenschen deportieren ließ und sie als Versuchsobjekte im Rahmen wissenschaftlicher Experimente über den mentalen Tod benutzte. Möge die Kirche des Kreuzes sich unserer erbarmen, in welcher Welt leben wir? Da ich Fracist Bogh gut gekannt habe, glaube ich nicht, dass seine Wahl zum Muffi dazu beiträgt, die Situation zu verbessern.«
»Fracist Bogh? Der Gouverneur Ut-Gens?«
»Der ehemalige Gouverneur. Kennen Sie ihn?«
»Nicht persönlich.«
»Seine Wahl zum Oberhaupt der Kirche finde ich beunruhigend. Denn schon während seiner Studienzeit war er ein äußerst intoleranter Mann.«
»Menschen können sich ändern«, hatte Jek gesagt und seinen Holzteller beiseitegeschoben.
Von dem süßsauren Eintopfgericht war ihm leicht übel geworden. Automatisch hatte er in seiner Jackentasche die Schachtel mit den Spritzen und die kleine Kugel mit dem Kryo-Code berührt. Und diese Berührung hatte ihn abrupt in die Realität zurückgebracht. Die Mahlzeit und das Gespräch mit Bruder Sergian hatten ihn bereits zu viel Zeit gekostet. Er musste auf den Planeten Syracusa zurückkehren und Shari reanimieren, eine Aufgabe, die durch die strenge Überwachung des Mahdis schwierig genug sein würde.
»Jedenfalls hat sich Fracist Bogh nicht verändert!«, hatte der Missionar erklärt. »Der Anfang seines Pontifikats wurde vom Genozid der Jersaleminer und den zunehmenden Hinrichtungen am Feuerkreuz überschattet. Obwohl die Kirche des Kreuzes Nächstenliebe verkündet …«
»Seinen Nächsten zu lieben bedeutet, ihn zu der Quelle seines Ursprungs zurückzuführen, ihm seine Entscheidungsfreiheit und Unabhängigkeit wiederzugeben …«
Jek wusste nicht, warum er das gesagt hatte. Vielleicht hatte bereits das Antra aus ihm gesprochen, das in seiner Seele schlummerte.
»Sie sind sehr jung, um derartige philosophische Gedanken auszusprechen. Würden Sie mir jetzt bitte erklären, wie …«
Doch der Klang des Lebens hatte die Stimme des Missionars und alle anderen Geräusche verschluckt … Kurz bevor Jek in das blaue Licht eintauchte, hatte er versucht, an Shari zu denken. Doch seltsamerweise war es ihm nicht gelungen, sich das Gesicht des Mannes vorzustellen, der länger als drei Jahre sein einziger Gefährte gewesen war.
Er war in einem luxuriösen Zimmer erwacht, das von schwebenden Lichtkugeln in ein angenehmes Licht getaucht wurde. Als Erstes hatte er einen Baldachin aus Optalium über einem Luftbett gesehen, auf dem jemand ruhte, und die Umrisse zweier Männer und einer Frau, die vor einer Bank standen. Im Gegensatz zu den Tiermenschen Getablans hatten sich diese Menschen über sein Erscheinen nicht gewundert. Sie hatten ihn kühl und mit leicht arroganten Mienen gemustert, mit dem typischen Blick der Aristokraten. Auch ihre kostbare Kleidung und ihre feinen Gesichtszüge wiesen darauf hin, dass sie zur Oberschicht gehörten. Doch ihre geringe Körpergröße und ein dunkles Feuer in ihren Augen verliehen ihnen eine mysteriöse, ja beunruhigende Aura.
»Da ist ja der junge Mann, von dem Ihr gesprochen habt«, hatte die Frau, an einen Dritten gewandt, gesagt, den Jek noch nicht bemerkt hatte.
Es handelte sich um einen Interlisten, dem es nicht gelungen war, seine Überraschung zu verbergen. Mit offenem Mund und großen Augen hatte er Jek wie ein Gespenst angestarrt.
»Hat man Euch nie beigebracht, Eure Gefühle zu kontrollieren?«, hatte die Frau hinzugefügt.
»Entschuldigt, Madame, aber ich bin diese Art von Hexerei nicht gewohnt.«
»Wie könnte Ihr es wagen, etwas als Hexerei zu bezeichnen, was Wissenschaft ist, Hauptmann. Es ist nichts als die Anwendung physiologischer Gesetze. Aber Ihr habt meine Frage noch nicht beantwortet.«
»Es war Nacht, und ich war weit entfernt. Aber ich glaube, er ist es«, hatte der Hauptmann bestätigt. »Jedenfalls dürften Menschen, die nach Belieben erscheinen und verschwinden können, nicht zahlreich sein.«
Jek war zum Bett gegangen und hatte Shari betrachtet. Er schien friedlich zu schlafen. Nur seine grünliche Hautfarbe wies darauf hin, dass etwas nicht stimmte.
»Seid Ihr sicher, dass es keine Zeugen für Euer Handeln gibt, Hauptmann?«, hatte die Frau gefragt.
Diese äußerlich so zarte und alterslos wirkende Frau strömte Autorität aus. Jek musste sofort an Iema-Ta denken, die Chefin des Menschenhändlerrings in Nea-Marsile.
»Ja. Ganz sicher. Ich habe meine Männer für immer zum Schweigen gebracht. Ich hoffe nur, dass Dame und Sieurs de Mars mir keine Märchen erzählt haben.«
»Was für Märchen?«
»Über die Mikrostasen … Schützen sie wirklich vor den mentalen Inquisitionen?«
»Solltet Ihr etwa an unseren Fähigkeiten zweifeln, Hauptmann? Seit fünfzehn Generationen gibt es in unserer Familie Experten auf dem Gebiet der physikalischen Chemie.«
Sie war auf den Offizier zugegangen und hatte ihn – obwohl sie zwei Köpfe kleiner war als er – verächtlich gemustert.
»Stellt Euch nicht dümmer an als Ihr seid, Hauptmann. Wären unsere Mikrostasen nicht effizient, wären wir schon längst am Feuerkreuz einen langsamen Tod gestorben …«
»Das stimmt. Was wollt Ihr mit Euren beiden Schützlingen machen?«
»Darüber werden wir Euch zu gegebener Zeit informieren.«
Der Hauptmann hatte genickt und war gegangen.
Und Jek hatte nun drei Mitglieder einer der ältesten und renommiertesten Familien Syracusas kennengelernt, Miha-Hyt, Guntri und Zerni de Mars. Sie hatten Shari bereits das Agens zur Reanimation injiziert, aber statt der Wiederbelebung seines Stoffwechsels war er in einen Starrkrampf gefallen, eine höchst beunruhigende Reaktion. Denn eine weitere Injektion hätte eine Überdosis bedeutet und somit zum Stillstand seiner vitalen Funktionen geführt.
Also war ihnen nichts anderes übriggeblieben, als abzuwarten. Jek machte sich Sorgen und hörte nur mit halbem Ohr den wirren Reden der Mars-Geschwister zu. Er glaubte, verstanden zu haben, dass die drei ihnen beiden eine Art Bündnis anböten, um den Imperator zu stürzen und den Seneschall Harkot zu eliminieren. Dann wollten sie wohl eine Koalitionsregierung bilden, an der sie natürlich an der Spitze stehen würden. Doch welche Rolle die Krieger der Stille in dieser Allianz spielen würden, das wusste Jek nicht.
»Es ist Zeit, die Ang-Familie zu stürzen, diese Totengräber unserer Kultur, und diese Verdammten von Hyponeros!«, hatte Miha-Hyt, die Älteste, mit unbeweglicher Miene, aber eiserner Entschlossenheit erklärt.
»Die Angs sind allein durch Krieg und Verrat an die Macht gekommen«, hatte der Jüngere, Guntri, hinzugefügt. »Mikeli Ang, der erste Seigneur der Moderne, hat Artibanus Saint-Noil, unseren Heros und Sieger über das Planetarische Komitee, einfach ermordet.«
»Allein die Angs und vor allem Seigneur Arghetti haben die Scaythen von Hyponeros und deren Aufstieg begünstigt«, hatte der Jüngste, Zerni, betont. »Außerdem haben sie Sri Mitsu ins Exil geschickt, die Konföderation von Naflin gestürzt und den Orden der Absolution zerstört.«
Nach langen Wartestunden – die Mars’ hatten sich zur Ruhe begeben, um, wie ein Diener sagte, den Tyrannen der Mikrostasen einen kleinen Besuch abzustatten – hatte Jek bei seinem fiebernden und am ganzen Körper bandagierten Freund eine Reaktion bemerkt, zuerst schwach, dann immer stärker. Und seine Hoffnung wuchs, dass Shari ins Leben zurückkehren werde.
Doch schließlich fielen dem Anjorianer vor Übermüdung die Augen zu, und er schreckte aus dem Schlaf hoch, als die drei Geschwister und der Arzt das Gemach betraten. Die Sonne des Ersten Tages, Rose Rubis, tauchte den Raum in helles Licht, und jetzt sahen ihre kaum geschminkten Gesichter alt und verbraucht aus.
Alle waren an das Bett getreten, als Jek Sharis Blick begegnete. Voller Freude hatte er seinen Meister umarmt. Dieser Gefühlsausbruch hatte die Geschwister verwirrt, doch darum hatte sich Jek nicht gekümmert. Er war überglücklich, auch wenn sein Gefährte sich noch schwach fühlte.
»Wir können Euch helfen, in den Besitz der beiden fehlenden Codes zu gelangen«, sagte Miha-Hyt.
»Und wie soll das geschehen?«, fragte Shari.
Nachdem er eine kräftigende Mahlzeit zu sich genommen und einen weißen Colancor angezogen hatte, saß er nun im Bett und hatte bereits mithilfe des Antra einen Teil seiner Kräfte wiedererlangt, was auch sein normaler bronzefarbener Teint bezeugte.
»Wir haben Verbindungen zu Leuten innerhalb der Purpurgarde des Imperators, die uns ergeben sind.«
»Die Codes werden täglich an einen anderen Ort gebracht …«
»Das wissen wir, und auch wie die Kryogenisatoren neutralisiert werden können, während der Austausch der Codes stattfindet. Dann bringen wir sie Euch, und Ihr müsst Euch dann nur noch kraft Eurer Gedanken in den Bischöflichen Palast begeben.«
»Es bleibt Euch nicht mehr viel Zeit«, sagte Guntri. »Denn der Sturmangriff soll bei Beginn der Zweiten Dämmerung stattfinden …«
»Der Sturmangriff?«
»Mit Unterstützung des Hofes wollen die Kardinäle und das Vikariat den Marquisatolen eliminieren. Interlisten, Purpurgardisten und Pritiv-Söldner sind bereits in die Geheimgänge des Bischöflichen Palastes eingedrungen.«
»Wer ist das, der Marquisatole?«, fragte Jek.
»Der Muffi«, sagte Guntri mit kaum verhohlener Verachtung gegenüber einem solchen Ignoranten, »ein junger marquisatinischer Kardinal, ein Usurpator auf dem Thron des Pontifex.«
»Ich dachte, der Muffi würde während eines Konklaves von den Kardinälen gewählt«, sagte Shari.
»Wenn wir richtig unterrichtet sind, hat das Vikariat die Wahl gefälscht. Die Eunuchen bedauern das jetzt, aber wir glauben, dass sie von dem Vorgänger des Muffis manipuliert worden sind.«
»Warum wollen die Kardinäle das Oberhaupt der Kirche absetzen? Bietet das Dogma der Unfehlbarkeit ihm denn keinen Schutz?«
Offensichtlich fanden die Mars’ diese Frage absurd. Sie sahen sich erstaunt an.
»Das Dogma hat nur für das gemeine Volk Gültigkeit«, sagte Miha-Hyt schließlich.
»Die Unfehlbarkeit ist kein göttliches Gesetz, sondern nur eine These, die politische Bedeutung hat«, erklärte Guntri.
»Und die Verurteilung des Marquisatolen geschieht demnach aus politischen Gründen«, sagte Zerni.
»Das findet Ihr also richtig?«, fragte Shari.
Er verstand erst jetzt, warum die Inddikischen Annalen den Muffi als einen der zwölf Ritter der Offenbarung auswiesen. Der Fanatismus der Kirche trübte den Blick auf die wahre Natur des Menschen, auf seinen Ursprung, seine Quelle … Noch hatte er Mühe, sich zu einem Verbündeten dieses Mannes zu zählen, der über eine Institution herrschte, die Menschen vernichtete. Wahrscheinlich hatte sein Vorgänger das Vikariat manipuliert, damit der Marquisatole Muffi werden konnte – allein, um zu der Erkenntnis zu gelangen, dass die Kirche einen falschen Weg eingeschlagen hatte.
Shari sah nun den Krieg zwischen Staat und Kirche gegen den Pontifex unter einem anderen Blickwinkel. Denn es ging nicht nur um die politische Vormachtstellung, sondern im Wesentlichen um eine geistige Dominanz.
»Einen Paritolen als Oberhaupt der Kirche zu sehen, gefällt mir nicht«, erklärte Guntri de Mars. »Umso weniger, da dieser Paritole den syracusischen Adel missachtet und unsere Traditionen ins Lächerliche zieht. Seine Audienzen hat er auf ein striktes Minimum reduziert, seinen Palast in eine Festung verwandelt und seine Bediensteten – Paritolen wie er – demütigen die Besucher auf unangemessene Weise.«
»Er leitet die Kirche nicht, sondern gibt sich obskuren Praktiken hin, die der Hexerei ähneln«, fügte Zerni hinzu. »Alle diese Vorkommnisse haben uns dazu bewogen, den Adel zu unterstützen und als Nachfolger des Pontifex einen Mann aus unseren Reihen, der überdies von den Mikrostasen geschützt ist, für dieses Amt vorzuschlagen. Die Unterstützung der Kardinäle haben wir bereits.«
Shari stand auf und ging zu Jek, der vor dem Panoramafenster stand. Er legte seinem Freund die Hand auf die Schulter und bewunderte mit ihm die Schönheit des Parks im Licht der Morgendämmerung des Ersten Tages. Langsam kam Shari wieder zu Kräften und genoss den Anblick des Lebens in seinen vielfältigen Formen – das kostbarste Geschenk, wie ihm, nur knapp dem Tode entronnen, jetzt noch deutlicher bewusst wurde. Und er schwor sich, mit all seinen Kräften die Menschheit vor dem drohenden Untergang zu bewahren.
»Warum bietet Ihr uns Eure Unterstützung an?«, fragte er, ohne den Blick von dem Panorama abzuwenden.
»Ihr habt gewisse … Fähigkeiten entwickelt, die uns nützlich sein könnten«, antwortete Miha-Hyt. »Und wir glauben, dass Ihr – nicht nur der Junge und Ihr, aber vielleicht auch die vier Tiefgefrorenen und weitere Personen, die uns momentan noch unbekannt sind – den Kern einer Geheimorganisation bildet, die eines Tages den Orden der Absolution ersetzen könnte. Außerdem sind wir der Überzeugung, dass eine universale Regierung nur garantiert werden kann, wenn sie von einer okkultistischen Organisation überwacht wird, also Menschen, die über übersinnliche Kräfte verfügen. Dies war einst die Rolle der Smellas der Kongregation und die der Ritter der Absolution. Und dieses System hat sich achttausend Jahre lang bewährt, eine außerordentlich lange Zeitspanne, wenn man die Komplexität der interplanetarischen Administration bedenkt. Eine Ära der Stabilität und des Fortschritts! Dieses politische Gleichgewicht möchten wir wiederherstellen.«
»Eine neue Konföderation von Naflin?«
Auch Miha-Hyt ging jetzt zum Panoramafenster. Obwohl sie etwa so groß wie Jek war, sah sie nicht wie ein junges Mädchen aus. Sie verströmte einen seltsamen Geruch, ein Gemisch aus Parfüm mit einer metallisch herben Duftnote. Sie hob den Kopf und sah Shari mit ihren blassgoldenen Augen an.
»Es wäre eine Illusion und dazu noch dumm, die Konföderation wieder zum Leben erwecken zu wollen«, sagte sie und betonte jedes Wort. »Wir wollen eine aufgeklärte Zentralregierung, die trotzdem ihre imperialen Strukturen bewahrt. Die Kirche des Kreuzes hat die Ang-Dynastie legitimiert, und …«
»Ich wüsste nicht, wie wir Euch unterstützen könnten, Madame de Mars!«, unterbrach Shari die Adelige. »Wir sind nichts als eine Handvoll Ketzer, die auf dem Index stehen!«
»Das mag wohl sein. Aber Ihr verfügt über die einzig wahre Legitimation, die Legitimation, die das Volk Euch verliehen hat. Unsere Informanten haben uns versichert, dass die Krieger der Stille auf allen Planeten des Ang-Imperiums bekannt sind und verehrt werden. Trotz der Auslöschungen leben überall Geheimkulte auf und werden unter dem Namen Mahdi Shari von den Hymlyas, Sri Lumpa und Naïa Phykit zelebriert …«
Jetzt gesellte sich Guntri de Mars zu ihnen.
»Die Zeit ist reif«, sagte er. »Der syracusische Adel steht hinter unserem Projekt. Auch die Pritiv-Söldner sind auf unserer Seite, weil der Imperator ihnen nicht die gebührende Achtung erweist. Und schließlich – wahrscheinlich ist dies von größter Bedeutung – haben wir Mikrostasen entwickelt, die imstande sind, die Scaythen von Hyponeros zu neutralisieren. Das ist ein chemisches Agens, ihrem Auslöschungsprozedere absolut gleichwertig.«
»Und wie wollt Ihr sie dazu bringen, Eure Mixtur zu schlucken?«
Ein selbstgefälliges Lächeln umspielte Guntris schwarz geschminkte Lippen. »Mixtur ist nicht die angemessene Bezeichnung. Außerdem nehmen die Scaythen nie etwas zu sich, weder Essen noch Getränke. Sie atmen nicht und schlafen nie … Die einzige Möglichkeit, die Mikrostasen in ihren Organismus einzubringen – wenn man diese abscheuliche Karikatur eines Körpers überhaupt Organismus nennen kann –, besteht darin, ihnen Gelatinekapseln in die Nasenlöcher zu schieben. Dazu verwenden wir Fluggeräte, so winzig wie Insekten, die automatisch gesteuert werden.«
»Und wen wollt Ihr zum neuen Imperator machen?«
Miha-Hyt warf ihrem Bruder einen kurzen Blick zu und trat dann einen Schritt vor. »Betrachtet das bitte nicht als einen Ausdruck des Misstrauens unsererseits, aber wir möchten diese Information jetzt noch für uns behalten.«
Shari beobachtete zerstreut einen radschlagenden Pfau. Nicht Menschenliebe trieb die Mars-Geschwister zum Handeln, sondern maßloser Ehrgeiz und Machtgier. Unter dem Einfluss ihrer Drogen, den Mikrostasen, wollten sie eine dem Okkultismus verpflichtete Regierung etablieren, die ebenso wie die Kreuzler und die Scaythen der In-Creatur Tür und Tor öffnete.
»Was haltet Ihr von unserem Vorschlag?«, fragte Miha-Hyt.
»Da Ihr den Namen des künftigen Herrschers noch geheim halten wollt, werde ich Euch erst auf Eure Frage antworten, wenn Ihr mir die beiden letzten Codes übergeben habt«, sagte Shari.
Er hatte sich bereits entschieden, war aber momentan nicht in der Lage, das Angebot abzulehnen, umso weniger, weil er nicht wusste, ob er bereits fähig sein würde, jetzt eine psychokinetische Reise zu machen. Auch hätte er mit Jek zu den Inddikischen Annalen zurückkehren müssen, um die Codes zu lokalisieren. Das allein hätte ein unkalkulierbares Risiko bedeutet, zu spät nach Syracusa zurückzukommen, um ihre vier Freunde wieder zum Leben erwecken zu können.
»Da muss ich Euch Recht geben«, entgegnete Miha-Hyt. »Wenn wir unsere Effizienz bewiesen haben, wird es Euch nicht schwerfallen, für unsere gerechte Sache zu kämpfen. In zwei Stunden werdet Ihr die Codes haben.«
Alezaïa konnte sich dunkler Vorahnungen nicht erwehren. Sie hatte ihren Untergebenen in der Altstadt Romantigua treffen wollen, aber er war nicht erschienen.
Ehe sie ihren Dienst bei den Blaurenaar antrat – der einzig darin bestand, sich um Sieur Patriz zu kümmern –, rief sie ihren Vorgesetzten über Notruf an.
»Wahrscheinlich hat er ein Problem mit der Mars-Familie«, vermutete der Mann. »Denn er hat die jüngste Tochter von Guntri de Mars ausgequetscht, eine völlig Verrückte, und diese Leute mögen es nicht, wenn man seine Nase in ihre Angelegenheiten steckt.«
»Was ist das für ein Problem?«
»Ich fürchte, ein großes, das er kaum überleben wird«, antwortete der Mann nach einigem Zögern.
Alezaïa biss sich auf die Lippen, bis sie bluteten. Trotzdem musste sie weinen. Passanten warfen ihr böse Blicke zu. Sie waren empört, dass sich ein menschliches Wesen derart gehen lassen konnte.
»Sie werden also seine Aufgabe übernehmen«, fuhr der Mann fort. »Erfinden Sie einen Vorwand, und begeben Sie sich zu der Residenz der Mars’. Dort informieren Sie die beiden Krieger der Stille, dass der Seneschall die vier richtigen Codes ständig bei sich trägt. Sie müssen schnell handeln, noch vor der Zweiten Dämmerung.«
Alezaïa nickte automatisch. Sie hatte das Gefühl zu ersticken und konnte keine Ordnung in ihre Gedanken bringen. Zwar kannte sie nicht einmal den Namen ihres Untergebenen im Netz, doch sein Verschwinden bedeutete für sie den Weltuntergang; es war der Verlust aller ihrer Illusionen. Nie würde sie sich verzeihen können, ihn während ihres letzten Gesprächs so schlecht behandelt zu haben.
»Ich gebe Ihnen jetzt die Koordinaten und den Zutritts-Code zu der geheimen Residenz der Mars’ …«
Sie hörte die Angaben wie durch einen Nebel.
»Unterbrechen Sie jetzt den Kontakt, aber informieren Sie mich so oft wie möglich. Wir schicken Mitarbeiter an alle relevanten Örtlichkeiten, um Sie zu unterstützen. Viel Glück.«
Zutiefst traurig und verstört ging Alezaïa zum Stadtpalais der Blaurenaars. Diese neue Mission entband sie nicht von ihrer täglichen Pflicht. Sie konnte es sich nicht leisten, Patriz de Blaurenaar zu vernachlässigen, war er doch die wichtigste Quelle ihrer Informationen.
Sie betrat das Haus durch eine Geheimtür mit einer Codenummer, die nur sie kannte, und ging sofort in Patriz’ Gemächer. Er lag nackt auf seinem Bett und erwartete sie, in seinen Augen dieses verräterische Glänzen. Er stand unter dem Einfluss von Megastasen, einer Droge, ohne die er keine Erektion bekommen hätte.
Alezaïa zog sich schnell im Badezimmer aus, schlüpfte in den Morgenmantel der Gemahlin ihres Liebhabers und legte sich neben ihn. Nur mit Widerwillen ertrug sie den schlaffen, warmen Körper dieses etwa sechzigjährigen Mannes, dessen Haut einen süßlichen Geruch ausströmte, von dem ihr fast übel wurde. Als seine, wie üblich, täppischen Bemühungen ihm einen bescheidenen Orgasmus verschafften, sackte er erschöpft über ihr zusammen. Tränen traten ihr in die Augen, als sie ihn von sich stieß.
»Tut mir leid«, murmelte er schläfrig, »aber ich bin heute nicht in Form.«
Alezaïa schwieg. Es war müßig, ihm zu antworten, dass er nie in Form sei.
»Zu viel Arbeit«, sagte Patriz de Blaurenaar. »Heute ist der elfte Cestius, und heute haben wir ein volles Programm … Zwar ist die Erstürmung des Bischöflichen Palastes bereits seit Langem geplant, aber wir haben fast die gesamte Zweite Nacht damit verbracht, eine Razzia der Interlisten bei den Mars’ zu organisieren. Der Seneschall musste zuvor die Zustimmung der Adelsfamilien einholen, sonst hätte diese Operation nicht stattfinden können.«
Alezaïa richtete sich auf und schüttelte Patrizes Schulter. »Was ist denn bei den Mars’ los?«
»Sie haben diese beiden Illegalen bei sich beherbergt, diese Inddikischen Hexer … Laut Harkot schmieden sie bereits seit zehn Jahren ein Komplott, um den Imperator zu stürzen. Außerdem stellen sie Mikrostasen her, die die mentale Inquisition verhindern. Dabei werden sie von vielen Offizieren der Interlisten, von Pritiv-Söldnern, Kardinälen und Höflingen unterstützt. Der Seneschall hat bisher nicht interveniert, weil er Informanten in diese Organisation eingeschleust hatte und glaubte, sie auf diese Weise besser kontrollieren zu können. Wie immer hat er damit Recht gehabt … Also hat er eine nette kleine Überraschung für diese Hexer parat: Wenn dieses Miststück Miha-Hyt ihnen die beiden Codes übergeben will, sind darin kryogenisierende Mikrobomben versteckt.«
»Wann soll diese Razzia stattfinden?«
Er öffnete die Augen und warf einen Blick auf die holographische Wanduhr. »In einer knappen Stunde. Und jetzt, liebste Freundin, erlaubt mir, mich etwas auszuruhen. Ihr habt mich erschöpft …«
Zehn Sekunden später war Patriz eingeschlafen. Alezaïa sprang aus dem Bett, lief ins Bad und kontaktierte, noch während sie sich ankleidete, ihren Vorgesetzten.
»Wir wussten, dass der Seneschall die Mars-Familie kontrolliert, aber nicht, dass er von der Anwesenheit der beiden Krieger der Stille in ihrem Geheimdomizil wusste …«, antwortete der Mann besorgt. »Doch jetzt müssen wir handeln. Sofort. Begeben Sie sich so schnell wie möglich zu den Mars’ und informieren Sie die Krieger der Stille. Koste es, was es wolle! Haben Sie eine Waffe?«
»Ich weiß, wie ich mir eine verschaffen kann, aber ich will nicht riskieren, dass das Netz …«
»Das ist jetzt unwichtig. Zögern Sie nicht, sich Ihrer Waffe zu bedienen … Ach ja, wir wissen, was mit Ihrem Untergebenen passiert ist …«
Alezaïa schöpfte Hoffnung.
»Leider habe ich schlechte Nachrichten. Er wurde tot in seiner Wohnung aufgefunden, mit zerschossenem Bauch und zertrümmertem Schädel …«
Die junge Frau hätte sich beinahe übergeben. Doch dann erfasste sie eine kalte Wut, und ein einziger Gedanke beherrschte sie: den Mann zu rächen, in den sie sich verliebt hatte.
Leise ging sie zu der Kommode im Schlafzimmer, öffnete die untere Schublade und entnahm ihr einen Wellentöter mit kurzem Lauf, den sie in eine Tasche ihres Capes steckte. Nach einem letzten Blick auf den schlafenden Patriz de Blaurenaar ging sie.
Bereits eine Viertelstunde war seit dem von Miha-Hyt versprochenen Zeitpunkt verstrichen; Shari und Jek hatten die beiden Codes noch nicht. Doch die Wartezeit hatten sie genutzt, um sich auszuruhen und Kräfte zu sammeln, indem sie sich in die Schwingungen des Antra versenkten.
Als Shari die Augen wieder öffnete, war das Zimmer in das rote Licht von Rose Rubis getaucht. Stille herrschte in der Residenz, eine Stille, die lastend und gefährlich schien. Vielleicht war sie zu dieser frühen Stunde des Ersten Tages normal, aber sie hatte Shari mit einem derartigen Unbehagen erfüllt, dass er sich fragte, ob er zu Recht seinen Gastgebern vertraut habe. Nach kurzem Überlegen weckte er Jek.
»Wir müssen bereit sein, uns jederzeit auf die Reise zu den Inddikischen Annalen zu machen.«
»Hast du die Codes?«, fragte der Anjorianer.
»Nein. Aber die zwei Stunden sind längst vorbei, und diese Stille hier hat etwas Bedrohliches.«
Die Minuten schlichen dahin. Es gibt nichts Schlimmeres, als vom guten Willen eines Dritten abhängig zu sein, wenn es einen drängt zu handeln.
Da hörten sie Schritte im Vorzimmer. Nervös stand Jek auf und wollte den Ankömmlingen entgegengehen, aber Shari hinderte ihn daran.
»Das Antra. Mach dich für den Transfer bereit!«
Die Mars-Geschwister, der Hauptmann der Interlisten und eine junge unbekannte Frau betraten das Zimmer. Zwei kleine weiße Kugeln lagen in der ausgestreckten Hand Miha-Hyts.
»Entschuldigt die Verspätung, aber unsere Techniker hatten Probleme, das Sicherheitssystem auszuschalten«, sagte die Adelige höflich, als sie Shari die Kugeln geben wollte.
»Hier das Versprochene. Und somit hoffen wir auf gute Zusammenarbeit.«
Jek starrte die Kugeln in der geschrumpften Hand Miha-Hyts an. Doch irgendetwas, vielleicht eine Intuition raubte ihm jede Freude. Ihm schien, als würde von diesen beiden Kugeln eine diabolische Kraft ausgehen. Er warf Shari einen kurzen Blick zu und sah, dass es dem Mahdi genauso erging.
»Wollt Ihr sie nicht an Euch nehmen?«, fragte Miha-Hyt und deutete mit einer Bewegung des Kinns auf die junge Frau, die hinter ihr stand.
»Irritiert Euch vielleicht diese junge Person? Wir waren derart mit unserem Vorhaben beschäftigt, dass ich meine guten Manieren vergessen habe. Darf ich Euch Irka-Hyt vorstellen, die jüngste Tochter meines Bruders Guntri. Sie wollte Euch unbedingt kennenlernen.«
Irka-Hyt war in einen schwarzen, mit silbernen Ärmelaufschlägen verzierten Colancor gekleidet und trug darüber einen taillierten Mantel. Ein einziger langer blauer Zopf ringelte sich einer Schlange gleich um ihre leuchtende Wasserkrone. Sie verneigte sich mit einer fließenden Bewegung und außerordentlicher Grazie vor den Gästen.
»Irka-Hyt hat nur einen einzigen Fehler«, fuhr Miha-Hyt fort. »Ihre Jugend und ihr ungestümer Charakter verleiten sie zu Indiskretionen, die uns manchmal in peinliche Situationen bringen. Aber sie ist uns auch von großem Nutzen, denn der Imperator liebt ihre Spontanität und lädt sie oft zu seinen Soireen ein. Dadurch ist sie zu unserer wichtigsten Informationsquelle im Palast des Herrschers geworden.«
»Ihr bringt mich jetzt in eine peinliche Situation, meine Tante«, sagte die junge Frau leise.
Sie war einen halben Kopf größer als Miha-Hyt und ihre Brüder. Trotz ihrer Schönheit lag eine dunkle Aura wie ein Schatten über ihr – wahrscheinlich die Wirkung des ständigen Gebrauchs der Mikrostasen.
»Wollt Ihr die Codes nicht endlich an Euch nehmen? Ich kann meinen Arm nicht länger ausstrecken, und …«
Plötzlicher Lärm unterbrach ihre Worte; ein dumpfes Geräusch, das wie das Fallen eines Körpers klang. Dann roch es nach verbranntem Fleisch in der parfümierten Luft des Zimmers. Shari drehte sich zu Jek um und bedeutete ihm mit einer Geste, sich für den Transfer bereitzumachen.
Die Tür wurde aufgestoßen und eine junge Frau stürmte in den Raum, eine noch rauchende Waffe in der Hand, die sie auf die Mars’ richtete. Ihre Augen glühten, doch ihr Gesicht war bleich, drückte aber eine wilde Entschlossenheit aus.
Jek rief das Antra herbei, schon sah er den Weg des Lichts.
»Rühren Sie die Codes nicht an!«, schrie die junge Frau. »Das sind kryogenisierende Minibomben!«
»Sind Sie verrückt?«, sagte Guntri de Mars und ging auf sie zu. »Was erlauben Sie sich?«
»Haltet den Mund, Sieur de Mars, oder ich töte Euch! Und Ihr, Hauptmann, rührt Euch nicht vom Fleck!«
Durch den Befehlston der jungen Frau eingeschüchtert, gehorchten die beiden Männer. Sie war Osgoritin, wahrscheinlich Mitglied einer Untergrundbewegung, und die Reaktionen solcher Paritolen waren unberechenbar und daher besonders gefährlich.
Sie ging zu Shari und sah ihn eindringlich an. »Der Seneschall Harkot trägt alle vier Codes bei sich. In der Innentasche seines Kapuzenmantels …«, sagte sie mit ruhiger Stimme, in die sie ihre ganze Überzeugungskraft gelegt hatte.
»Der Muffi …«
Mehr konnte sie nicht sagen. Ein heller Strahl traf sie in den Rücken. Sie ließ ihre Waffe fallen und stolperte ein paar Schritte vorwärts, ehe sie zusammenbrach.
Die beiden falschen Codes explodierten im selben Augenblick in Miha-Hyts Hand, und der Geruch nach dem kryogenisierenden Gas verbreitete sich im Raum.