FÜNFTES KAPITEL

Jetzt möchte ich über Tau Phraïm sprechen, den mutmaßlichen Sohn des Mahdis Shari von den Hymlyas. Den Anhängern der Neun Ephrenevangelien  – die, wie ich weiß, hier zahlreich vertreten sind – wäre ich sehr dankbar, wenn sie meinen Argumenten, ohne mich zu unterbrechen, folgen würden. Denn diese Argumente basieren auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und beweisen, dass die meisten Tau Phraïm zugeschriebenen Wunder nichts mit der Realität zu tun haben, sondern Ausdruck eines den phraïmischen Adepten eigenen kollektiven Unterbewusstseins sind. Ich bitte Sie, protestieren Sie nicht! Später werden Sie genug Zeit haben, die Fakten zu bezweifeln … Mein erstes Beispiel gilt dem ersten, Tau Phraïm zugeschriebenen Wunder. Die Neun Evangelien behaupten, ich zitiere: »Er stahl im Alter von fünf Jahren eine Aquakugel, verbrachte sieben Tage und Nächte ohne zu essen und zu trinken an Bord und ging unentdeckt im Hafen von Koralion an Land …« Dann habe er an der wöchentlich stattfindenden Messe teilgenommen, die Auslöschungsaktionen der Scaythen auf gravierende Weise behindert – »das Phänomen des Auslöschens ausgelöscht« steht in den Evangelien, und darin besteht das Wunder – und einen Aufruhr provoziert. Daraufhin kehrte er in aller Ruhe auf die Insel zurück, wo er von seiner Mutter und den »Verbannten« erwartet wurde. Erster Einwand: die Verbannten. Denn die ehemaligen Leidensgefährten Onikis waren längst durch ein Bataillon, bestehend aus Scaythen von Hyponeros und Pritiv-Söldnern, ersetzt worden. Zweiter Einwand: In den Evangelien steht geschrieben, dass sich diese Episode im Jahr 20 des Ang-Imperiums zugetragen habe. Aber Tau Phraïm war zu jener Zeit erst drei und nicht fünf Jahre alt. Dritter Einwand: Tau Phraïm und seine Mutter Oniki wurden ständig von den Scaythen streng überwacht, es war ihnen also unmöglich, ohne das Wissen ihrer Bewacher die Korallen zu verlassen …

Sollten die Phraïmer weiterhin stören, lasse ich den Saal räumen! Es ist sehr wahrscheinlich, dass Oniki von den Pritiv-Söldnern ermordet wurde, nachdem sie die Riesen-Korallenschlangen vernichtet hatten und der Schutzschild in sich zusammengebrochen war, und dass Tau Phraïm auf die Welten des Zentrums flüchtete. Ich habe Beweise, dass er auf den Planeten Marquisat und Issigor gesehen wurde. Jetzt möchte ich über das zweite Wunder sprechen, das so genannte Wunder der Zwölf Gunstbeweise …

Öffentlicher, sehr stürmisch verlaufender Vortrag des neoropäischen Historikers und Gelehrten Anatul Hujiak, umstrittener Biograph Sri Lumpas, des Prinzen Jek der Hyänen und Tau Phraïms

Du hast meine Befehle missachtet, Jek At-Skin! Und du hast eine schreckliche Gefahr für uns heraufbeschworen! Für die vier im Eis Schlafenden! Für die gesamte Menschheit!«, sagte Shari, und seine schwarzen Augen blitzten, während seine Stimme ruhig blieb, aber so schneidend wie eine scharfe Klinge war.

Genau wie seine Hinreise war Jeks Rückreise ohne Zwischenaufenthalt verlaufen, direkt aus dem Planetensystem von Hares in das Sonnensystem Terra Maters.

Im Schlafzimmer des Hauses in Anjor hatte er sich auf das Bett gesetzt, seine Panik unterdrückt und war in das Stadium der inneren Stille hinabgeglitten. Während die Stimmen der Hausbewohner und der Söldner vor der Tür immer leiser wurden und schließlich verstummten, hatte sich die Öffnung mit dem blauen Licht wieder aufgetan und eine mächtige Strömung hatte ihn ergriffen und durch Zeit und Raum transportiert. Stundenlang hatte er erschöpft im feuchten Gras gelegen, ehe er aufstehen und ins Dorf gehen konnte.

Trotz seiner großen Müdigkeit hatte er sich unendlich leicht gefühlt, wie vom Strom des Äthers belebt. Überall hatte er Yelle gesehen: im Säuseln des Windes, im goldenen Licht der untergehenden Sonne.

Der Mahdi Shari hatte ihn bereits erwartet. Er saß vor dem Kamin, mit finsterem Blick, Bart, Haupthaar und Kleidung voller kleiner Zweige einer unbekannten Pflanze.

Seine Zornesausbrüche waren umso mehr zu fürchten, da sie selten waren.

»Wo bist du gewesen?«, hatte er wütend und gleichzeitig erleichtert gefragt.

»Auf Ut-Gen.«

Plötzlich war Jek bewusst geworden, welches Risiko er mit dieser Reise eingegangen war. Er hatte geglaubt, das Antra werde ihn vor den mentalen Durchsuchungen der Scaythen beschützen, aber sie hatten ihn sofort aufgespürt, waren ihm gefolgt und hatten ihm eine Falle gestellt. Seinetwegen wussten sie nun, dass Shari nicht eine Gestalt aus der Legende war, sondern wirklich existierte und auf einem kleinen blauen Planeten lebte. Durch seine Fahrlässigkeit mussten der Mahdi und er nun überaus wachsam sein, weil jeden Augenblick imperiale Truppen per Deremat auf Terra Mater gesandt werden konnten.

»Geh schlafen«, hatte Shari mit harter Stimme gesagt. »Wir reden morgen darüber.«

Das hatte sich Jek nicht zweimal sagen lassen. Ohne sich auszuziehen, hatte er sich auf sein Bett geworfen und fünfzehn Stunden geschlafen.

Doch Shari war noch immer wütend. Er hatte nur gewartet, bis sich sein junger Gefährte erholt hatte, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Als Jek nach dem Erwachen durch den verwilderten Garten ging, weil er im Gebirgsbach baden wollte, versperrte ihm der Mahdi den Weg.

»Das Universum braucht kein launenhaftes Kind, sondern einen Soldaten. Dieser Krieg überrollt uns, Jek At-Skin! Und sein Ausgang wird über das Schicksal der gesamten Menschheit entscheiden.«

Seine durchdringende Stimme schreckte einen Schwarm Spatzen auf, die tschilpend aufflogen. In solchen Augenblicken glich Shari einem flammenden Busch. Er spie nicht nur Feuer, auch seine Augen blitzten auf, sein ganzer Körper schien zu brennen.

Jek erstarrte und versuchte nicht einmal zu antworten. Es wäre vergeblich gewesen und hätte Sharis Zorn nur noch mehr angestachelt. Zwar wusste er, dass er einen Fehler gemacht hatte, doch er war noch immer überzeugt, richtig gehandelt zu haben, indem er seiner Intuition gefolgt und in seine Heimat zurückgekehrt war, um sich ein für alle Mal von seiner Vergangenheit zu befreien und somit von seinen Ängsten. Sonst hätte er sich nicht weiterentwickeln können.

»Jetzt ist die Stunde gekommen, wo wir unsere gesamte Energie bündeln müssen, nicht verschwenden!«, fuhr Shari wütend fort. »Wie kann ich auf dich zählen, wenn du deinen Kopf durchsetzt? Wie kann Yelle auf dich zählen?«

Jek senkte den Kopf und wartete auf das Ende des Gewitters. Ihm schien, dass Shari vor allem gegen sich selbst wütete, dass er eigentlich Oniki meinte, wenn er von Yelle sprach. Flüchtig erinnerte Jek sich an einen Zornesausbruch seines Vaters, der ihn einmal mit hochrotem Kopf angeschrien und dabei ziemlich lächerlich gewirkt hatte. Wider Willen musste Jek kichern.

Diese unerwartete Reaktion überraschte Shari derart, dass er verstummte. Er sah Jek fragend an und musste dann ebenfalls lachen.

»Verzeih mir, Jek At-Skin. Ich behandele dich noch immer wie ein Kind, dabei bist du schon fast ein Mann geworden. Außerdem habe ich mich in letzter Zeit nicht genug um dich gekümmert. Meine Gedanken galten nicht dir, sondern waren auf Ephren«, sagte er, und sein Blick verschleierte sich. »Tau Phraïm ist jetzt drei Jahre alt«, fuhr er bedrückt fort. »Er lebt mit seiner Mutter im Korallenwald. Zwar spricht er nicht, doch er kommuniziert mit den Schlangen. Die Scaythen haben die Überwachung auf der Insel Pzalion noch verstärkt …«

Er legte eine Hand auf Jeks Kopf – eine Geste voller Zärtlichkeit.

»Mir ist überhaupt nicht bewusst geworden, dass auch du größer geworden bist. Es ist Zeit, dass ich mein Versprechen einlöse, das ich dir gab, als wir uns kennenlernten.«

»Einblick in die Inddikischen Annalen zu nehmen?«, fragte Jek aufgeregt.

»Ja. Wir müssen sie um Rat fragen. Ich glaube, dass du jetzt dafür bereit bist. Wir haben schon zu lange gewartet. Auf Terra Mater können wir sowieso nicht länger bleiben, weil die Streitkräfte des Imperiums hier jederzeit landen könnten.«

»Und nur, weil ich diesen Fehler gemacht habe!«, sagte Jek schuldbewusst. »Der Inquisitor-Scaythe hat meinen Kopf ausgeforscht und …«

»Er hat dich nicht ausgeforscht«, unterbrach Shari seinen Freund. »Das Antra hat ihn daran gehindert. Er hat aber gelauscht, als du zu deinen Eltern sprachst.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich habe dich während deiner ganzen Reise begleitet, Jek At-Skin!«, antwortete Shari, sichtlich erfreut über die Wirkung seiner Worte. »Ich bin schon vor deinem Transfer nach Ut-Gan hier gewesen, habe mich aber nicht gezeigt, weil ich wusste, wie wichtig dir diese Reise war. Und dann hast du so häufig über deine Heimat und deine Eltern gesprochen, dass ich sie einmal kennenlernen wollte …«

»Sie waren da, als mich die Pritiv-Söldner jagten?«

»Dieses Risiko musste ich eingehen. Solltest du deine Emotionen und deine Erschöpfung nicht beherrscht haben, wärst du nie ein Krieger der Stille geworden und hättest keinen Zugang zu den Inddikischen Annalen gehabt.«

»Und Sie hätten mir nicht geholfen, wenn sie mich gefangen hätten?«, fragte Jek empört.

»Momentan wäre ich dazu nicht in der Lage gewesen.«

»Und warum … warum sind Sie mir dann böse gewesen?«, stammelte der kleine Anjorianer irritiert.

»Ich stand in letzter Zeit derart unter Anspannung, dass ich meinen Zorn an jemandem abreagieren musste.«

Da begriff Jek, dass Shari seinen Zweifeln und Ängsten manchmal Ausdruck verleihen musste, da die Verantwortung für Oniki und Tau Phraïm, die auf ihm lastete, ihn zu erdrücken drohte, zumal er die beiden nicht besuchen durfte. Und nach Sri Lumpas Weggang und Naïa Phykits Gefangenschaft war er allein im Kampf gegen den Blouf – ein ständiger Drahtseilakt. Denn er war der letzte Mittler zwischen dem Universum und den Menschen, der letzte Funken Glut eines Feuers, das nahezu erloschen war. Jede Entscheidung, die er traf, jede seiner Handlungen entschied über die Zukunft der Menschheit. Nie durfte er sich gehenlassen, träumen oder sich melancholischem Nichtstun hingeben – wie es Jek nur zu oft und gerne tat.

Ich muss ihm helfen, dachte der kleine Anjorianer. Ich muss Shari einen Teil seiner Last abnehmen, eins mit ihm werden, damit wir zu einem Kern verschmelzen, der zu einem Anziehungspunkt für andere Individuen wird und somit mehr Energie bündelt, denn dieser Krieg ist nur durch totale Hingabe, Willenskraft und unablässige Wachsamkeit zu gewinnen.

So als wäre Shari den Gedanken seines jüngeren Gefährten gefolgt, legte er nun seine Hände auf dessen Schultern und drückte ihn an sich. So blieben die beiden eine Weile stehen. Die Sonne strahlte vom blauen Himmel herab, die Vögel zwitscherten, die Blätter der Bäume rauschten leise im Wind.

Dann badeten Shari und Jek im eiskalten Gebirgsbach, wuschen ihre Kleidung und breiteten sie zum Trocknen auf den Felsen aus. Sie legten sich ins Gras, und eine wohlige Wärme breitete sich in Jek aus, während er dem leisen Plätschern des Baches lauschte. Seine Gedanken wanderten zu Yelle.

Sie erwartete ihn, auf Syracusa, unter einem Leichentuch aus Eis. Das Bild ihres erstarrten Körpers stärkte seine Entschlossenheit.

Als er in die Wirklichkeit zurückkehrte und seinen in der Nähe liegenden Gefährten betrachtete, sah er, dass Shari mit geschlossenen Augen weinte.

 

Die beiden zogen ihre inzwischen getrocknete Kleidung an, setzten sich einander gegenüber, legten die Handflächen aneinander und flogen mit dem Strom des Äthers durchs All. Noch nie hatte Jek eine psychokinetische Reise zu zweit unternommen, und das Gefühl, seine Individualität völlig aufzugeben, verwirrte ihn dermaßen, dass er plötzlich den Kontakt zu dem Antra verlor und sich inmitten der Gashülle eines Planeten wiederfand.

Es war sehr heiß, und er geriet in Panik, als er ein Gemisch aus Ammoniak, Helium und Wasserstoff einatmete. Dem Ersticken nahe, stürzte er im freien Fall ins Zentrum einer rotorangefarbenen Wolke. Reflexartig schloss er die Augen und stellte die innere Stille wieder her. Sofort waren seine Energieströme wieder im Gleichklang mit denen Sharis. Er glaubte, ein musikalisches Lachen mit einem spöttischen Unterton zu hören, und es begleitete ihn, bis sich die beiden vor einem prächtigen Portal aus Licht rematerialisierten.

Dieser strahlende Bogen vor dem Hintergrund der Unendlichkeit gehörte nicht zu der Welt der Formen, trotzdem war er keine Fata Morgana, denn die Gefährten mussten diesen Torbogen durchschreiten, so wie sie durch eine gewöhnliche Türöffnung gegangen wären. Sie schritten weiter, über eine leuchtende Straße, die von hohen, unüberwindbaren Mauern der Finsternis gesäumt war, und mussten sich während ihres Marschs gegen die Attacken des Formlosen wehren. Das Licht dieser Straße war so intensiv, dass es eine Substanz unter ihren Füßen bildete.

Jek hatte das Gefühl, über ein Band im Nichts zu schreiten. Obwohl Shari – wie ein Schutzschild – vor ihm ging, hatte er entsetzliche Angst und musste mit aller Kraft dagegen ankämpfen, umzukehren. Eine unerträgliche Kälte breitete sich in ihm aus, drang bis in sein Innerstes. Nicht er stellte sich dem Nichts, das Nichts breitete sich in ihm aus, destrukturierte ihn. Er versuchte, an Yelle zu denken und daran, dass Shari allein gewesen war, als er zum ersten Mal diese Straße beschritten hatte.

Dann sah er in der Ferne ein funkelndes Gebäude, den Tempel mit den sieben Säulen, den Aufbewahrungsort der Inddikischen Annalen. Er stieß einen Ruf der Begeisterung aus und beschleunigte den Schritt, um dem Mahdi folgen zu können.

Doch das Formlose infiltrierte mit wachsender Energie Jeks Geist, rief längst Vergessenes hervor, lies ihn Horror und Entsetzen empfinden. So blieb er immer weiter hinter Shari zurück. Die Konturen um ihn herum verschwammen vor seinen Augen.

Aus der Ferne hörte er eine Stimme:« Wehr dich, Jek! Wenn du nachgibst, wirst du nichts als ein welkes Blatt im Wind sein, das in eine unbekannte Welt geweht wird. Du wirst Jahre brauchen, bis du wieder erwachst. Und vielleicht wirst du auch von den Winden des Nichts für immer verweht …«

Da erfüllte unbändiger Hass den kleinen Anjorianer. Shari kam ihm plötzlich wie ein Monster vor, weil er ihm – Jek – diese Prüfung aufgezwungen hatte. Dieser Mann benimmt sich wie mein Herr und Meister, dachte er, aber er ist mein ärgster Feind, ein gefährliches Individuum, das ich sofort töten muss!

Fieberhaft tastete er seine Taschen nach einer Waffe ab, nach einem Messer, einem Stein, aber sie waren leer. Und aus lauter Wut zerriss er den Stoff mit seinen Nägeln.

»Wehr dich, Jek!«

Wer wagt es, so mit mir zu reden? Gegen wen oder was soll ich mich wehren? Ich weiß nicht einmal, wo ich bin. Vielleicht in der Hölle der Kreuzler?

Er erinnerte sich vage, in einem der Aerotome der Wüstenratten gelegen zu haben. Wirre Bilder tauchten vor seinem geistigen Auge auf. Von Angst und Traurigkeit gepeinigt, konnte er sie nicht mehr voneinander unterscheiden. Er wusste nur, dass er ins Nichts zurückkehren würde, doch diese Aussicht ließ ihn völlig unberührt, er empfand nur ein vages Bedauern. Er würde nicht sterben, denn der Tod war ja nur die Logik des Lebenszyklus. Er würde das Stadium des Nicht-Lebens erreichen, in die absolute Leere hinabgleiten.

Bis in alle Ewigkeit.

»Wehr dich, Jek! Denk an mich! Denk an Yelle!«

Yelle. Ihr Name weckte sein Interesse. Sofort stellte er eine Beziehung zwischen ihr – ihrem reglosen Körper – und der ihn umgebenden Kälte her.

Yelle. Jek sah ihr schmollendes Gesicht, ihr goldenes gelocktes Haar, ihre großen graublauen Augen.

Ich liebe dieses Mädchen, erinnerte er sich. Ich habe eine lange Reise angetreten, um sie aus ihrem Gefängnis aus Eis zu befreien.

Mit diesen Gedanken baute er sein Selbst wieder auf, ganz langsam. Er wurde wieder zu Jek At-Skin, einziger Sohn von Marek und Julieth At-Skin, Freund es Quarantäners Artrarak, Prinz der Hyänen, Passagier im Bauch eines Xaxas’ und einziger Schüler des Mahdis Shari von den Hymlyas.

Yelle! Der Klang dieses Namens war wie ein Fanal. Er war eine Kriegserklärung an den Blouf.

Der spiralförmige Nebel in Jeks Kopf lichtete sich. Er hatte wieder Boden unter den Füßen und konnte die hinterhältigen Attacken der In-Creatur abwehren, als sie sich in seinen Geist einschleichen wollte. Er mobilisierte sein Antra, und obwohl Yelle in einem Tiefschlaf gefangen war, wachte sie über ihn.

Als er aufblickte, sah er erstaunt, dass er bereits vor dem Tempel stand. Der Anblick war überwältigend. Der dreieckige Frontgiebel ruhte auf sieben dreihundert Meter hohen Säulen, während die Wände des Gebäudes in einer Art Nebel nur undeutlich zu erkennen waren. Doch von dem gesamten Bauwerk gingen unablässig Impulse aus, gleich einem nie endenden Feuerwerk, das sich ständig änderte und geometrische, sich überlagernde Figuren formte, die in schillernden Farben unaufhörlich ihre Pracht versprühten.

Jek lief die zwölf Stufen zum Eingang des Tempels empor. Ein unendliches Glücksgefühl durchströmte ihn; er hatte den Eindruck, auf Sonnenstrahlen zu gehen. Es herrschte eine unglaublich heitere und gleichzeitig ernste Atmosphäre, die seine Euphorie noch verstärkte. Die Säulen  – eher wirbelnde Lichtgebilde als Konstruktionen aus Materie – verschmolzen mit einer Decke, die einem sternenübersäten Himmel glich.

Shari erwartete seinen jungen Gefährten in der Vorhalle.

»Willkommen in der letzten Bastion der Menschheit, Jek At-Skin«, sagte er mit einem strahlenden Lächeln. »In fünfzehntausend Jahren haben nur zwei Personen diesen Tempel betreten: der Narr der Berge und ich. Der Narr ist gegangen, und die Inddikischen Annalen warten auf ihren neuen Hüter …«

»Sind Sie nicht ihr neuer Hüter?«, fragte Jek, und seine Stimme klang wie der Flügelschlag eines Schmetterlings in der Stille.

»Ich glaubte es zu sein. Aber ich liebe Oniki, und ein Hüter kann nicht zwei Lebenswege einschlagen. Denn er wacht viele Tausend Jahre über die Annalen, wie einst ihres Rechts verlustig gegangene Männer über das Feuer wachten, damit es niemals ausgehe.«

»Vielleicht müssen die Annalen jetzt nicht mehr bewacht werden …«

»Alles Existierende auf dieser Welt muss durch einen Zeugen bekundet werden, um seine Existenz zu bestätigen. Das Beobachtete existiert nicht ohne seinen Beobachter. Wären die Annalen ohne Hüter, hätten sie keine Daseinsberechtigung mehr – doch wenn es sie nicht mehr gibt, wird die Menschheit ausgelöscht. Zwischen meinem Vater Tixu, meiner Mutter Aphykit und mir sind die Rollen nicht mehr wie vorgesehen verteilt, und das Hyponeriat hat aus dieser Tatsache einen entscheidenden Vorteil gezogen.«

»Vorgesehene, also vorherbestimmte Rollen?«

»Die Nachfolge des Großmeisters der Inddikischen Wissenschaften wurde von den letzten drei Großmeistern Sri Mitsu, Sri Alexu und dem Mahdi Seqoram nicht gesichert. Letzterer, der Großmeister des Ordens der Absolution, wurde ermordet, ehe er einen Nachfolger bestimmten konnte. Die Annalen informierten den Narren der Berge von diesem Geschehen, als er – indem er mit dem Gebot der Neutralität in seiner Eigenschaft als Hüter brach – mit Sri Mitsu telepathisch in Kontakt trat. Doch Sri Mitsu lebte, von der Kirche des Kreuzes verurteilt, in der Verbannung und weigerte sich, den Bruch in der Nachfolge wieder zu kitten. Also begab sich der Narr der Berge auf Terra Mater, die Wiege der Menschheit, und lehrte mich die Grundbegriffe der Inddikischen Wissenschaften, bis die neuen Großmeister, Tixu und Aphykit, die Nachfolger Sri Mitsus und Sri Alexus, zu uns stoßen und wir wieder eine Einheit bilden könnten. Die beiden sollten diese Aufgabe übernehmen, doch sie waren nur mit sich und ihrer Liebe zueinander beschäftigt und haben mich allein gelassen. Wir alle waren unentschlossen, der Narr der Berge hat diese Welt verlassen, und die Einheit wurde nicht wiederhergestellt, weil wir die Regeln gebrochen haben. Also brach ein neues Zeitalter an, doch mit ungewissem Ausgang. Vielleicht werden Tixus verzweifelte Bemühungen jetzt Wirkung zeigen …«

»Welche Gefahren drohen denn den Menschen?«, fragte Jek, den trotz der strahlenden Schönheit des Tempels ein unheilvolles Gefühl beschlich.

»Wir werden alle von der In-Creatur verschlungen, so wie es dir fast vorhin passiert wäre. Wir versinken im Nichts, als hätten wir nie existiert. Wir wissen nicht mehr, wer wir sind, noch haben wir eine Erinnerung an das, was wir einmal waren. Das gesamte Universum – dessen Fortbestehen auf menschlichem Denken gegründet ist – wird in seiner Vielfalt verschwinden. Sollten wir besiegt werden, wird die Schöpfung nicht mehr existieren, Jek.«

Der Anjorianer hatte das Gefühl, sein Herz werde durchbohrt und der Blouf habe sich bereits in den Tempel geschlichen und würde ihn als seine Beute wie ein ausgehungertes Raubtier belauern.

»Was müssen wir tun, um das zu verhindern?«, fragte er mit tonloser Stimme.

»Ich hoffe, dass die Annalen uns auf diese Frage eine präzise Antwort geben …«

»Haben sie das denn noch nicht getan?«

»Doch. Sie haben uns bereits unzählige Antworten gegeben. Aber da sich die gesamte Menschheit unablässig in verschiedene Richtungen weiterentwickelt, kann man diese Antworten höchst unterschiedlich interpretieren.«

»Wie wird uns denn die Antwort übermittelt? Mittels Holovision?«

»Komm mit. Dann siehst du es selbst.«

Die beiden gingen durch den Vorraum, durchschritten das Licht. Es reichte ihnen, ähnlich einer üppigen Vegetation, bis zu den Knien. Jetzt hörte Jek verschiedene Geräusche, Töne, die an Musik erinnerten wie auch an erstickte Klagelaute.

 

Als sie den Hauptraum des Tempels betraten, glaubte Jek, das Innere eines riesigen Diamanten zu betreten. Er musste die Augen eine Weile schließen, um sich an das strahlende Leuchten zu gewöhnen. Dieses Licht auf seinem Gesicht und seinen Händen umhüllte ihn mit derart viel Energie, dass er sich anstrengen musste, um nicht vom Boden abzuheben.

Jetzt hörte er auch eine Musik; mächtig und kraftvoll durchströmte sie den Raum, während Bilder aus der Vergangenheit in wirrer Folge vor seinem geistigen Auge auftauchten.

Schweißgebadet öffnete er leichtsinnigerweise die Augen und stellte fest, dass die Töne in unmittelbarem Zusammenhang mit den wechselnden Lichteffekten standen. Er war überwältigt und fühlte sich desorientiert, deshalb suchte er mit den Augen nach dem Mahdi.

Doch Shari war nur noch eine scheinbar flammende Silhouette  – wie damals, als er ihn auf einem Lichtstrahl sitzend über dem Strauch des Narren gesehen hatte. Da hatte er geglaubt, einem Gott begegnet zu sein, der Terra Mater einen Besuch abstattete.

Nun schwankten die Wände und die Decke des Tempels. Sie änderten ständig Form und Größe. Blendende Strahlenbündel fielen aus unsichtbaren Fensteröffnungen in den Raum und zeichneten komplizierte, flüchtige Bilder.

»Die Deva«, murmelte Shari, »die Versammlung der Leuchtenden oder Himmlischen, die Funken der Schöpfung …«

Jek konzentrierte sich auf eine dieser schillernden Facetten, und sofort wurde er von einem neuen Bewusstsein erfüllt, dass Millionen Männer und Frauen in ihm lebten. Er hörte Millionen Stimmen, hörte Millionen Menschen atmen, und ihre Verzweiflung und ihr Elend erfüllten sein innerstes Wesen. Schon seit Jahrtausenden dämmerten sie im Zustand des Vergessens ihrer wahren Natur dahin und hatten es zugelassen, dass fremde Kräfte über ihr Schicksal bestimmten. Sie hatten die Quelle ihres Seins vergessen, jene leuchtende Flamme des Lebens, die seit Urzeiten brennt. Weil sie sich nur von ihren Sinnen leiten ließen und panische Angst vor dem Tod hatten, beschuldigten sie sich gegenseitig, Unheil zu verursachen, und töteten einander unter fadenscheinigen Gründen.

Der Blouf hatte geschickt ihre Schwäche zu nutzen gewusst und es war ihm gelungen, den ursprünglich kreativen Menschen zu beschränken, auf das Niveau der In-Creatur zu erniedrigen, ihn in Zeit und Raum einzusperren. Dann hatte er sich des menschlichen Erfindungsgeistes bedient, um eigene Klone zu produzieren.

Jek spürte die Bedrohung, er spürte, dass die Flamme des Lebens zu verlöschen drohte. Die Scaythen von Hyponeros standen kurz davor, eine Arbeit zu vollenden, die sie vor Millionen Jahren begonnen hatten, seit dem Beginn der Schöpfung, seit aus den zwölf ersten Funken Formen und Wellen entstanden waren. Sie löschten das zeitlose Erinnerungsvermögen schleichend, aber für immer, aus.

Jek konnte das schreckliche Angstgefühl, das ihn zu ersticken drohte, nicht mehr ertragen und richtete den Blick auf eine andere Facette. Eine neue Welt öffnete sich vor seinem inneren Auge, eine Welt mit anderen Formen, Farben und Gerüchen. Aber er hatte den Eindruck, auch diese andere Welt würde von einer ständigen Nacht bedroht.

»Die Meister der Inddikischen Wissenschaften hätten einen derartigen Niedergang verhindern können«, sagte Shari, als könne er in Jek lesen. »Sie waren beauftragt, die Menschen zu ihren Ursprüngen zurückzuführen, doch sie versäumten ihre Pflicht und kamen vom rechten Weg ab. Andere Männer, Propheten und Visionäre, haben dann deren Aufgabe übernommen und das Wissen bruchstückhaft übermittelt. Doch die In-Creatur hat sich in ihre Worte geschlichen und den Geist ihrer Anhänger vergiftet, sodass diese zu Fanatikern im Namen des Wahren Wortes wurden.«

»Warum ist der Narr der Berge fortgegangen?«, fragte Jek verzweifelt. »Er hätte uns helfen können.«

»Er hat mit all seinen Kräften gegen den Untergang gekämpft, war aber am Endes seines Menschseins-Zyklus angekommen«, antwortete Shari. »Er hat weitaus mehr getan, als von ihm verlangt wurde. Doch dann erreichte ihn ein Ruf aus anderen Welten, und mit dem damit erlangten Status wäre es für ihn und die Seinen gefährlich geworden, sich weiterhin in menschliche Belange einzumischen. Wir können nur noch auf uns selbst zählen, Jek. Das ist ein aufregendes und zugleich gefährliches Unterfangen.«

»Was sollen wir jetzt tun?«

»Wir müssen uns vereinigen, eine untrennbare Entität bilden und die subtilsten Zusammenhänge der Schöpfung erkunden. Vielleicht hört man uns an, und vielleicht bekommen wir eine Antwort, wenn ich es erst einmal allein versuche. Bist du bereit?«

Jek nickte. Die beiden legten die Handflächen aneinander und glitten in das Stadium der inneren Stille. Das Antra brauchten sie nicht; sie ließen sich vom Klang des Lebens tragen, vom ewigen Gesang im Tempel.

 

Als Jek wieder das Bewusstsein erlangte, befand er sich in einem Raum, der mit poliertem Metall ausgekleidet zu sein schien. Unter der niedrigen Decke schwebte eine Lichtkugel, die aber nicht leuchtete, so dass es in dem Gelass dunkel war.

Jek bestand nicht aus Materie. Er schwebte – ebenso flüchtig wie ein Gas – über vier transparenten Sarkophagen, in denen vier Menschen ruhten. Zuerst erkannte er die wunderschöne Naïa Phykit, dann Phoenix. Beim Anblick San Franciscos war er zutiefst erschüttert, konnte in seinem jetzigen nicht materiellen Zustand aber nicht einmal weinen.

Schließlich betrachtete er Yelle. Einem goldenen Vlies gleich umgab ihr Haar ihren Kopf, und selbst im Tiefschlaf hatte sie ihren schmollenden Gesichtsausdruck beibehalten. Sie erschien ihm viel kleiner als in der Erinnerung, aber wohl nur, weil sie während dieser bereits drei Jahre dauernden Erstarrung nicht gewachsen war.

Es drängte ihn, ihre Stirn zu streicheln, doch da er sich im Stadium der Körperlosigkeit befand, musste er auf diese Geste der Zärtlichkeit verzichten, was ihn zutiefst frustrierte, wenn er sich auch freute, sie endlich zu sehen.

Plötzlich wurde eine Tür geöffnet. Die Lichtkugel begann zu leuchten und schwebte über die vier Sarkophage. Instinktiv suchte Jek nach einem Versteck, doch dann erinnerte er sich, dass er körperlos war und die zwei Neuankömmlinge ihn nicht sehen konnten.

Einer der Männer trug einen weißen Colancor und darüber ein weißes Messgewand. An einem seiner Finger prunkte ein in Optalium gefasster großer Korund. Der jüngere Mann war in einen nachtblauen Colancor und ein grünes Chorhemd gekleidet. Seine Gesichtszüge konnte Jek unter der dicken Schicht weißen Puders kaum erkennen, aber ihm gefiel der lüsterne Blick nicht, mit dem der Geistliche Yelles Körper musterte.

Er fragte sich, warum die Inddikischen Annalen ihn hierhergeschickt hatten. Denn in diesem Raum würde er keine Antwort auf seine Fragen bekommen. Für Shari mochte das nicht zutreffen. Er schien immer alles zu sehen und zu wissen. Wahrscheinlich dienten seinem Lehrer derartige Transfers nur dazu, Erkundigungen einzuziehen.

Der Weißgekleidete kniete sich mit verschränkten Armen vor die Sarkophage. Jek hatte das Gefühl, ein unsichtbares Band verbinde diesen hohen geistlichen Würdenträger mit den vier mittels der Kryotechnik tiefgefrorenen Körper, ja mehr noch, dass deren Schicksal untrennbar miteinander verbunden sei – gleich einem Fluss, der in einen Strom mündet, der sich wiederum in einen Ozean aus Licht ergießt.

Der zweite Geistliche lehnte an der Wand, und von Gedanken gepeinigt, die ihn keinen Seelenfrieden finden ließen, musterte er Yelle mit verstohlenen Blicken.

»Nimmst du denn gar nichts wahr, mein lieber Adaman?«, fragte der Mann in Weiß, als er sich erhob.

»Hört auf, mir diese Frage zu stellen, Eure Heiligkeit«, entgegnete der Angesprochene missmutig. »Ihr wisst sehr wohl, dass ich nur ein unbedeutender Diener der Kirche des Kreuzes bin.«

Obwohl Jek seiner sinnlichen Existenz momentan beraubt war, konnte er als körperloses Wesen besser hören und sehen, so als schärfe dieser volatile Zustand seinen Geist.

»Ich habe gehört, dass Seneschall Harkot Euch gebeten hat, ihm diese Körper zurückzugeben«, fuhr der jüngere Geistliche fort. »Was werdet Ihr ihm sagen, Eure Heiligkeit?«

»Ich werde ihm die Schlafenden nicht übergeben«, antwortete der Weißgekleidete.

»Was nützt Euch ein Konflikt mit der weltlichen Macht, da Ihr doch nicht über den Code der Reanimation verfügt?«

»Was nützt es Euch, Fragen zu stellen, auf die ich nicht zu antworten vermag?«

Ganz plötzlich wurde Jek von einer mit blauem Licht gefüllten Öffnung eingesaugt. Die Szenerie verschwamm vor seinen Augen, die Stimmen wurden leiser, bis er nur noch winzige Punkte erkennen konnte und nichts mehr hörte. Als Letztes sah er ein großes, von hohen Türmen flankiertes Gebäude, eine erleuchtete Stadt, einen in blaue und rote Farben getauchten Planeten – dann erfasste ihn ein Schwindel, ein alles verdrängendes Gefühl aus Hitze und Geschwindigkeit.

 

Der drei Jahre alte Junge wirkte neben den Riesenschlangen winzig. Die größten maßen gut zwanzig Meter, doch wenn sie vorsichtig an ihm vorbeikrochen, streiften sie ihn trotz des beengten Platzes nur leicht. Nie bedrängten sie ihn oder warfen ihn gar um. Nur manchmal öffneten sie das Maul, schnappten das Kind und verschwanden mit ihm in einem der engen und dunklen Tunnel.

Nachdem sich Jek von seinem Schrecken erholt hatte, begriff er, dass die Reptile den Kleinen auf diese Weise in dem Korallenschild in Sicherheit brachten, und diese seltsame Methode des Transports erinnerte ihn an seine Reise im Bauch des Xaxas’. Er brauchte ein paar Minuten, bis er eine Verbindung zwischen diesem Ort, dem Kind, den Schlangen und Sharis Bericht herstellen konnte.

Jetzt hatten ihn die Inddikischen Annalen auf den Planeten Ephren geschickt, um Oniki und Tau Phraïm einen immateriellen Besuch abzustatten.

Obwohl Oniki so ganz anders als Naïa Phykit aussah, erschien sie ihm ebenso schön wie Yelles Mutter. Jetzt verstand er, dass Shari sie liebte, was er bisher unbewusst abgelehnt hatte – denn er konnte nicht begreifen, dass ein Mann mit einer derart grandiosen Zukunft die Liebe von Frau und Kind der Errettung der Menschheit vorziehen konnte –, wobei er ganz vergaß, dass auch er Yelle zutiefst liebte.

Doch als er Oniki jetzt sah, erkannte er, dass Shari ohne sie nie die Energie gehabt hätte, all seine Kräfte zu mobilisieren, und dass sie allein ihm diese Liebe und Zärtlichkeit schenkte, die seinem Freund die nötige Stärke verlieh.

Sie trug ein Kleid aus gewebten, rötlich braunen, himmlischen Flechten, das ihren Teint und ihr wunderschönes Haar noch strahlender aussehen ließ. Sie wohnte in einem Schlangennest, das sie durch Vorhänge in drei Räume unterteilt hatte. Die Schlafzimmer hatte sie mit ebenfalls aus Flechten gefertigten Matratzen ausgestattet. Tau Phraïm und sie ernährten sich von Korallenfrüchten: länglichen weißen und saftigen Wucherungen, die inmitten der Korallen wuchsen und auch gerne von den Schlangen verspeist wurden.

Die riesigen Reptilien ließen keinen Moment in ihrer Wachsamkeit nach. Wohin sich Oniki und Tau Phraïm auch begaben, immer wurden sie von etwa zwanzig Tieren begleitet. Manchmal fiel Oniki in ihre Gewohnheit als ehemalige Thutalin zurück. Dann zog sie ihr Kleid aus, kletterte durch einen senkrechten Tunnel und reinigte ihn von seinem himmlischen Abfall. So pflegte sie etwa dreißig Röhren, von denen einige einen Durchmesser von mehr als zehn Metern hatten. Das rote Licht des Gestirns Tau Xir und das blaue Licht des Gestirns Xati Mu fielen in breiten Strahlen durch das Röhrengeflecht und auf die im schwarzen Ozean Gijen liegende Insel Pzalion.

Jek bewunderte Onikis Kraft und Geschicklichkeit. Kleinste Vorsprünge genügten ihr, um in einer der Röhren Halt zu finden. Manchmal kletterte sie mit Armen und Beinen die Röhren entlang, manchmal machte sie Klimmzüge, um sich weiter nach oben zu bewegen, und das alles tat sie mit äußerster Anmut und Präzision. Um sie herum glitten die Schlangen durch verborgen liegende Passagen, tauchten ein paar Meter höher wieder auf, warteten, bis Oniki bei ihnen angekommen war, und verschwanden wieder.

Schließlich schwang sich Oniki auf das Dach des Korallenschilds, setzte sich und ließ ihren schweißbedeckten Körper vom Höhenwind trocknen. Eine Schlange tauchte aus einer Spalte auf und kroch auf sie zu. Oniki lächelte strahlend, als sie ihren Sohn im weit geöffneten Rachen des großen Reptils sitzen sah.

Am liebsten hätte sich Jek zu den beiden gesellt, weil Mutter und Kind so viel Harmonie und Liebe ausstrahlten. Aber er spürte ebenfalls ein forschendes Gleiten schleimiger Tentakel um die beiden, und er ahnte, dass die auf der Insel Pzalion versammelten Scaythen bald handeln würden.

Dann trübte sich seine Sicht, und er wurde von einem himmlischen Wirbel aufgesaugt.

 

Plötzlich hörte das Schwindelgefühl auf. Jek schwebte in einem halbdunklen Raum, der nur mit einer Matratze und zwei Stühlen ausgestattet war. Ein Mann mit kahl geschorenem Kopf lag unter einem Leintuch auf der Matratze. Auf einem der Stühle saß eine Frau in einem gestärkten Kleid.

Jek fragte sich, was er in dieser Hütte sollte. Draußen heulte ein Sturm. Die Augen der Frau hatten keine Iris; sie waren ganz weiß und auf den Mann gerichtet, ohne ihn wirklich zu sehen. Doch da sie über außersinnliche Fähigkeiten verfügte, konnte sie mehr wahrnehmen als das äußere Erscheinungsbild, denn sie konnte in der Seele ihres Gegenübers lesen. Das alles erkannte Jek.

Dieser Mann war in großer seelischer Not und litt, obwohl er viel Würde und Edelmut besaß, so als hätte er lange Zeit zwei verschiedene Leben gelebt, die einander ausschließen. Den Mann zu richten, lag ihr fern, doch sie wusste, dass er sich nicht verzeihen konnte, sein Leben verschwendet zu haben.

»Meine Augen täuschen mich nie«, wiederholte sie. »Du bist einer der zwölf Pfeiler des Tempels. Einer der zwölf Ritter der Offenbarung.«

»Oh, nein! Ich bin nur ein Plünderer des Pïaï-Gebirges, ein Sklavenhändler, ein mieser Handlanger Jankl Nanuphas«, sagte er müde.

»Du bist auch ein Ritter der Absolution, ein Mann, der es versteht, Energie zu bündeln. Ein solch außergewöhnliches Können braucht die Menschheit. Je eher du begreifst, wie wichtig deine Rolle ist, umso eher wird es den Menschen gelingen, dem Schicksal, das ihnen droht, zu entgehen. Einem fürchterlichen Schicksal!«

»Sie haben zu viel von dem Zaubertrank getrunken, um Ihre hellseherischen Fähigkeiten zu steigern, Himâ!«

»Danke Gott, dass er mir die Gabe des Hellsehens verliehen hat! Hätte ich dich nicht vor den Männern meines Dorfs beschützt, wärst du unter Folterqualen gestorben, und der Sturm würde die Reste deines Kadavers in alle Richtungen zerstreuen.«

»Sie hätten diese Männer mich töten lassen sollen …«, sagte er bitter.

Die Himâ zuckte mit den Schultern, stand auf und ging auf und ab.

Da sie sich, ohne sehen zu können, völlig normal bewegte, musste sie wohl Position und Umfang aller sie umgebenden Objekte an der Wellenfrequenz erkennen, die diese aussandten, stellte Jek fest.

»Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren!«, sprach die Frau zornig weiter. »Jankl Nanupha wird schon bald mit seinen Leuten hier auftauchen und nach dir suchen.«

»Warum sollte gerade ich einer der zwölf Erwählten sein? Sie scheinen mir für eine derartige Aufgabe viel qualifizierter zu sein …«

Da drehte sie sich um, beugte sich über die Matratze und legte ihm die Hand auf den Mund. »Ich werde der Bogen sein, du der Pfeil.«

Sie richtete sich wieder auf, öffnete langsam ihr Kleid und ließ es leise raschelnd zu Boden gleiten.

»Schöpfe in mir die Kraft der Überzeugung«, murmelte sie. »Ab jetzt werden wir für immer miteinander verbunden sein. Ich werde dich in Gedanken und in deiner Erinnerung überallhin begleiten. Jedes Mal, wenn du mich brauchst, werde ich da sein.«

Er ließ seine Blicke über ihren schönen Körper gleiten, brennende, fast schmerzhafte Blicke. Und in ihm erwachte viel mehr als nur Begehren.

»Wie wird dein Volk reagieren, wenn es erfährt, dass du mir deine Jungfräulichkeit geopfert hast?«

»Der Orden der Himâs der Abrazzen wurde zu dem einzigen Zweck gegründet, den zwölften Ritter der Offenbarung zu erkennen. Meine Jungfräulichkeit war nichts als eine Garantie für die Wahrheit der Vorhersagen. Doch da ich dich erkannt habe, Whu, besteht kein Grund mehr, meine Jungfräulichkeit zu bewahren. Die Zeit der Vereinigung ist gekommen.«

Sie glitt unter das Bettlaken und umarmte ihn.

Jek musste an San Francisco und Phoenix im Kerker des Thorials auf Jer Salem denken. Wieder hörte er diese seltsamen Geräusche, die Schmerzen vermuten ließen, und er fragte sich, ob er eines Tages solche Gefühle mit Yelle teilen würde.

Dann ließ er sich im Strom seiner Erinnerungen treiben, durchquerte eine wirbelnde gelbe Wolke, ließ ein System aus zwei Gestirnen hinter sich und setzte seinen Irrweg durchs All fort.

Kurz darauf bewegte sich etwas in der Ferne, eine graue, von grünlichen und schwarzen Flecken gesprenkelte Linie. Das Ganze glich einem Raumschiff oder mehreren, miteinander verbundenen Raumschiffen. Jek hatte den Eindruck, dass dieses Gebilde viel schneller als mit Lichtgeschwindigkeit durch den interstellaren Raum raste. Er bewegte sich auf ein Fahrzeug am Ende dieser Kette zu, durchdrang den Rumpf, glitt weiter durch Gänge, Kabinen und Säle, die im Halbdunkel von seltsamen Gestalten bevölkert waren. Dort fing er Tausende von Gedankenströmen auf und spürte eine herzergreifende Sehnsucht dieser Wesen. Sie alle lebten in ständiger Dunkelheit, so als stünde ihnen kein Licht mehr zur Verfügung.

Schließlich schwebte er in eine winzige Kabine, verharrte über einer Koje, in der eine Gestalt ruhte. Plötzlich durchzuckten zwei Lichtblitze die Dunkelheit, zwei Blitze, die aus Urzeiten zu stammen schienen. Das dumpfe Brummen der Motoren ließ Boden, Wände und Decke leicht erzittern. Die Augen dieser Kreatur strahlten – Brandfackeln gleich – eine solche Energie aus, leuchteten derart intensiv, dass er Angst bekam und instinktiv nach einem Zufluchtsort suchte. Und er dachte sofort, dass der sicherste Ort sein Körper sei, der im Hauptraum des Inddikischen Tempels zurückgeblieben war.

 

Die brennenden Scheite knisterten. Manchmal zerbarst eins von ihnen und versprühte Funken. Jek schob seinen Teller zurück und setzte sich vor den Kamin. Im Moment war ihm die Wärme des Feuers lieber als jede Speise.

Nicht im Tempel hatten Shari und er wieder das Bewusstsein erlangt, sondern im Haus von Naïa Phykit und Sri Lumpa. Beide waren von ihren Reisen durchs All erschöpft und hatten sich zuerst ausgeruht. Da die Scaythen nun wussten, dass die Freunde sich auf Terra Mater aufhielten, mussten sie dieser ständigen Bedrohung mit äußerster Wachsamkeit begegnen.

Doch Jek war von den vor Kurzem gemachten Erfahrungen noch so aufgeregt, dass er trotz seiner Müdigkeit nicht hatte schlafen können.

»Nun, Jek, was haben dich diese Besuche im Reich der Inddikischen Annalen gelehrt?«, fragte Shari. Er kauerte vor dem Kamin und schürte das Feuer.

Jek schwieg, einerseits weil er zu müde war, um den Mund aufzumachen, andererseits weil er nichts zu sagen hatte. Noch hatte er nicht den nötigen Abstand gewonnen, um irgendwelche Schlüsse aus seinen Reisen zu ziehen.

»Ist dir bewusst geworden, dass wir immer zusammen waren?«, fuhr Shari fort. »Sowohl auf Syracusa als auch auf Ephren und dann auf diesem anderen Planeten mit seinen Ringen – wahrscheinlich Sbarao – und schließlich in dem Zug der Raumschiffe …«

Obwohl der Anjorianer Shari während der Reise nie an seiner Seite gespürt hatte, überraschte ihn die Aussage seines Freundes nicht.

»Die Seherin sprach von den zwölf Rittern der Offenbarung, den zwölf Pfeilern des Tempels«, sprach Shari weiter wie zu sich selbst. »Während früherer Besuche bei den Annalen brachte ich bereits in Erfahrung, dass die Zahl zwölf von Bedeutung ist, aber ich wusste nicht, welche Bedeutung ich ihr beimessen muss.«

»Und jetzt wissen Sie es?«

Der Wind heulte immer stärker ums Haus und peitschte die Flammen im Kamin. Bald würde sich das Gewitter entladen.

Shari drehte sich um und sah Jek liebevoll an.

»Die Gefährten der Indda duzen sich, Jek. Betrachte mich nicht länger als deinen Lehrer. Es wäre mir eine Ehre, wenn du mich als gleichberechtigt ansiehst. Erst wir beide haben die Annalen besucht. Aber wir müssen zwölf sein, wie die zwölf Ritter der Offenbarung, wie die zwölf Pfeiler des Tempels. Zu zwölft haben wir eine Chance, den Blouf zu besiegen. Die Annalen haben uns neun künftige Gefährten gezeigt: meine Mutter Aphykit, Yelle, San Francisco und Phoenix … sollte es uns gelingen, sie zu befreien und wiederzubeleben … Oniki und Tau Phraïm … Zu den Gefährten können wir vielleicht noch den gegenwärtigen Muffi der Kirche zählen, dann den Mann mit dem rasierten Schädel – ein Ritter der Absolution, wie die Seherin sagte – und diese Kreatur, die wir in dem Raumschiff nur kurz gesehen haben …«

»Sie flößt mir Angst ein!«, rief Jek.

»Wenn du alle zusammenzählst, ergibt das elf«, sprach Shari weiter, ohne den Einwand seines Freundes zu beachten. »Aber warum haben die Annalen uns nicht den zwölften Reiter gezeigt?«

Mit finsterem Gesicht starrte er auf die Spitze des rot glühenden Feuerhakens.

»Wer ist der Zwölfte?«