DRITTES KAPITEL
Ich sehe ihren Körper, zu Eis
gefroren, und erstarre.
In der Erinnerung höre ich sie lachen und bin
verzaubert.
Ihre geschlossenen Lider verbergen das
Strahlen ihrer Augen.
Ihre Haare tanzen unter einer finsteren
Sonne.
Unbeweglich ruht sie, wie eine
Tote.
Doch sie wacht, unter angsterregender
Blässe.
Kein Laut entschlüpft ihren bleichen
Lippen.
Trotzdem ruft sie nach mir, durch Raum und
Zeit.
»Gesang an die vorübergehend
Abwesende«
Anonymus von Ut-Gen, übersetzt von
Messaodyne Jhû-Piet, syracusischer Dichter
der ersten Periode des Postang’schen-Imperiums
Vom azurblauen Himmel strahlte die Sonne herab, aber das Herz Jek At-Skins war finster. Er saß am Ufer des Gebirgsbachs, in dem er und Yelle oft gebadet hatten.
Härchen begannen an seinen Wangen zu sprießen, er kam in dem Stimmbruch. Doch je mehr Zeit verging, umso mehr ergriff Yelle Besitz von ihm. Im Pfeifen des Windes hörte er ihr spöttisches Lachen, im Herbstlaub sah er die goldenen Flammen ihres Haars, in den graublauen Seen ihrer Augen badete er. In flirrender Hitze sah er ihre Gestalt, auf warmem Felsgestein berührte er ihre Haut.
Landschaften, Farben und Gerüche Terra Maters waren erfüllt von Yelle. Jedes Fleckchen Erde, über das sie gegangen war, weckte Erinnerungen an sie. Oh, sie war gewiss kein gewöhnliches Mädchen, sie hatte eine flinke Zunge, und ihre Worte waren oft so verletzend wie Pfeile. Doch je mehr Jek nach Fehlern bei ihr suchte, umso unfehlbarer wurde sie für ihn.
Mahdi Shari hatte ihm berichtet, dass ihr kleiner tiefgefrorener Körper zusammen mit denen von Naïa Phykit, San Francisco und Phoenix in einem Palast Venicias öffentlich zur Schau gestellt worden war, doch dass die vier nun auf Geheiß des Muffis in einem geheimen Raum des Bischöflichen Palastes ruhten.
»Was will er mit ihnen machen?«, hatte Jek angstvoll gefragt. »Sie verbrennen?«
»Das glaube ich nicht«, hatte Shari geantwortet. »Seneschall Harkot hat sich geweigert, dem Muffi die Kryo-Codes zu geben, und die Kirche des Kreuzes wird sie nicht vor Gericht stellen, solange sie nicht wiederbelebt sind.«
»Warum? Es wäre doch einfacher, sie zu verurteilen, da sie sich im Moment nicht verteidigen können. Die Kreuzianer haben sich auch nicht gescheut, die Quarantäner zu vergasen.«
»Die Kirche liebt spektakuläre Inszenierungen, aber die öffentliche Hinrichtung eines tiefgefrorenen Häretikers ist für einen theatralischen Tod kaum geeignet.«
»Warum befreien wir sie nicht?«, hatte Jek nach kurzem Nachdenken gefragt.
»Aus drei Gründen«, hatte der Mahdi Shari geantwortet. »Erstens, weil wir nicht genug Zeit haben, um ein derart kompliziertes Unterfangen zu organisieren. Außerdem musst du noch üben, zum einen das psychokinetische Reisen und zum anderen, deine Emotionen besser zu beherrschen. Zweitens, weil wir nicht in die Falle tappen wollen, die uns Seneschall Harkot gestellt hat. Drittens, weil die vier Kryo-Codes jeden Tag an einem anderen Ort aufbewahrt werden. Wir brechen auf, wenn ich sicher bin, die richtigen Informationen zu haben und sicher … auf dich zählen zu können.«
Jek glaubte, ein Geräusch hinter sich gehört zu haben. Er war auf diesem verlassenen Planeten nicht gern allein. Oft fürchtete er, die weiß maskierten Männer könnten wieder auftauchen und ihn ergreifen, so wie sie Yelle, ihre Mutter, San Francisco und Phoenix gefangen genommen hatten. Er drehte sich um. Nichts. Er hörte nur das Rauschen des Windes und den Gesang der Vögel. In der Ferne sah er die vom ewigen Eis bedeckten Gipfel des Hymlyas-Gebirges.
Im Morgengrauen war der Mahdi Shari zu einer Reise aufgebrochen. Er wollte Oniki und ihren Sohn Tau Phraïm auf dem weit entfernten Planeten Ephren einen Besuch abstatten. Jek hatte er anvertraut, dass er sich den beiden auf der Insel Pzalion nicht zeige, weil sie ständig von den Scaythen überwacht würden. Also bleibe er unsichtbar, um sie alle drei nicht in Gefahr zu bringen. Doch jedes Mal, wenn er von einer solchen Reise zurückkehrte, brauchte er mehrere Tage Erholung.
Jek hätte nie geglaubt, dass der Mahdi Shari – ein Halbgott in Lumpen, der auf einem Lichtstrahl vom Himmel gestiegen war – bekümmert oder gar verzweifelt sein könne. Genauso erstaunt war er vor drei Jahren gewesen, als Naïa Phykit geweint hatte, während sie von Sri Lumpa sprach. Er war überzeugt gewesen, solche Gefühle seien nur gewöhnlichen Sterblichen wie ihm vorbehalten, bis er erkannte, dass diese legendären Persönlichkeiten, auf denen die Hoffnung der Menschheit ruhte, wie alle anderen körperlich und seelisch litten. Diese Erkenntnis beruhigte und verunsicherte ihn gleichermaßen. Sie beruhigte ihn zwar, weil seine Vorbilder menschlich geblieben waren, aber sie verunsicherte ihn, weil er sich fragte, ob sie trotz ihrer Verletzbarkeit in der Lage sein würden, ihre Mission zu erfüllen.
Manchmal dachte Jek an seine Eltern, P’a und M’a At-Skin. Die Erinnerung an sie verblasste immer mehr, auch die Erinnerung an seinen kalten und freudlosen Heimatplaneten Ut-Gen, den er aus der Distanz aber viel freundlicher und wärmer sah, ja, im Laufe der Zeit sogar reizvoller als die schönsten Planeten des Universums.
Doch dann sagte er sich: Wäre ich in Anjor geblieben, hätte ich auch nicht Yelle kennengelernt und wäre wohl auf Ut-Gen geblieben, meinem tristen grauen Planeten.
Obwohl der Mahdi Shari ihm noch nicht erlaubt hatte, allein eine Reise in den Äther zu unternehmen, glaubte er stark genug zu sein, sich kraft seiner Gedanken im All zu bewegen. Er sehnte sich danach, seinen Eltern einen Besuch abzustatten, weil er ihnen beweisen wollte, dass ihr einziger Sohn die Vergasung des Nord-Terrariums in Anjor überlebt hatte und ein Krieger der Stille geworden war, eine dieser heroischen Gestalten. Nicht aus Liebe zu ihnen hegte er diesen Wunsch, sondern aus Eitelkeit. Er wollte ihnen beweisen, dass sie sich geirrt hatten und dass er sie zu Recht verlassen hatte, um den Rat des alten Quarantäners Artrarak zu befolgen.
M’a würde mit dem Putzen aufhören und P’a vor Stolz die Backen aufblasen, wenn er ihnen von seinen Abenteuern erzählte. Vielleicht würden sie dann sogar vom kreuzianischen Glauben abfallen. Wer weiß?
Jek erhob sich und machte sich auf den Weg ins Dorf. Der Mahdi und er lebten in dem Haus Sri Lumpas, den Shari immer »mein Vater Tixu« nannte. Seit Jek gelernt hatte, sich mittels des Antras fortzubewegen, ging er gern zu Fuß. Er genoss es, die Erde zu berühren, die Sonne auf der Haut zu spüren und die Düfte in der Luft zu riechen.
Die Hauptstraße des Dorfs war voller Laub, und die Häuser zu beiden Seiten der Straße waren bereits derart mit Pflanzen überwuchert, dass nur noch die Dächer herausragten. Nur der Dornenstrauch des Narren blühte wie eh und je, und Jek setzte sich oft vor ihn hin, um zu meditieren. Während ihn seine Gedanken dann unweigerlich zu Yelle führten, hörte er den schrecklichen Klang des Bloufs, ein zugleich nahes und fernes Geräusch, das ihm jedes Mal das Blut in den Adern gefrieren ließ. Sogar in seinem Körper konnte er den Zerfall des Universums spüren, sodass er beinahe das Gefühl hatte, von diesem unsichtbaren Feind aller Menschen angefallen zu werden.
»Das große Universum ist nichts anderes als eine Projektion kleiner Universen«, hatte der Mahdi Shari geantwortet, als Jek von seinen Ängsten sprach.
Doch diese kryptischen Worte hatten in Jek mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet.
Jedes Mal, wenn er über den schmalen Pfad inmitten des Laubs auf der ehemaligen Hauptstraße ging, überfiel ihn dasselbe Entsetzen wie damals, als Yelle und er auf dem Hof die kryogenisierten Körper von Phoenix und San Francisco entdeckt hatten. Noch immer herrschte in dem Dorf dieselbe, einer Erstarrung gleichende Atmosphäre. Mit jedem Schritt zum Haus schlug sein Herz schneller, weil er fürchtete, einen Mann mit auf ihn gerichteter Waffe in der Tür stehen zu sehen. Das war Marti de Kervaleur gewesen, ein Diener des Bloufs. Doch der hatte Selbstmord begangen. Und mobile Deremats hatten die Pritiv-Söldner und die vier Körper dann auf Syracusa transferiert.
Obwohl niemand wusste, dass sich der Mahdi Shari von den Hymlyas und Jek At-Skin auf Terra Mater befanden, packte den kleinen Anjorianer immer die Angst, wenn er über die Schwelle des Hauses trat.
Es roch nach Früchten und Gemüse. Die beiden hatten die letzten drei Jahre von den Vorräten gelebt, die Pilger, Sri Lumpa und Naïa Phykit angelegt hatten. Doch weder er noch der Shari hatten Zeit und Lust gehabt, den Garten zu bestellen und die Erträge gefrierzutrocknen. Im Frühjahr und Sommer litten sie keine Not, doch im Winter mussten sie sich mit kargen Mahlzeiten begnügen.
Manchmal sehnte sich Jek nach den Kochkünsten seiner Mutter, obwohl die Qualität der Nahrungsmittel auf Ut-Gen eher dürftig gewesen war. Diese Sehnsucht wurde immer besonders groß, wenn Shari mehrere Tage auf Reisen und er allein war.
»Du bleibst hier, bis ich wiederkomme. Denn hier bist du außer Gefahr, weil dich das Antra beschützt.«
Trotz dieses Befehls hatte Jek Mühe zu gehorchen. Nur zu gern hätte er auf eigene Faust bevölkerte Planeten erkundet. Die Gesellschaft anderer Menschen fehlte ihm. Denn wenn er sich in Begleitung des Mahdis auf eine psychokinetische Reise begab, rematerialisierten sich die beiden immer inmitten einer Wüste oder Einöde oder am Ufer eines dunklen Meers.
Er ging in die Küche, nahm eine Frucht aus dem Korb auf dem Tisch und biss hinein. Hier war es angenehm kühl im Gegensatz zu der Hitze draußen. Er setzte sich auf einen Schemel vor den Kamin.
Wie immer, wenn er allein war, hatte er weder im Bach gebadet noch seine Kleider gewaschen, auch wenn er zugeben musste, dass es lächerlich war, auf diese Weise seine Unabhängigkeit zu beweisen. Aber wenigstens hatte er dann das Gefühl, die Autorität des Mahdi etwas zu untergraben.
Vor sich hingrübelnd saß er eine Weile da. Die Frucht schmeckte scheußlich, und trotz seines Hungers warf er sie, kaum angebissen, aus dem halb offen stehenden Fenster.
So blieb er unbeweglich sitzen, bis die Sonne sank.
Als sich die Dämmerung zur Dunkelheit verdichtete, hatte Jek eine Entscheidung getroffen, denn der Mahdi war nicht zurückgekommen.
Noch eine Nacht will ich nicht allein auf Terra Mater verbringen, dachte er. Dann kann ich wieder nicht schlafen und werde von diesen schrecklichen Phantomgestalten heimgesucht. Bei jedem Knacken im Gebälk fürchte ich, dass sich ein heimtückischer Mörder an mich heranschleicht. Und das Antra kann mich gegen solche Feinde auch nicht schützen.
Beim Aufgehen der Sonne werde ich mich wegen meiner Ängste schämen, dachte Jek.
Und er ahnte, dass er sich weigerte, erwachsen zu werden, und der Mahdi aus diesem Grund ihrer beider Abreise verzögerte.
Ich muss mich von meinen Erinnerungen befreien und dazu auf meinen Heimatplaneten zurückkehren, meine Eltern noch einmal sehen und durch die alten Viertel streifen, überlegte er. Das würde alle meine Probleme lösen.
Dieser Gedanke, der ihm zuerst wie ein verrückter Traum erschienen war, kam ihm nun völlig logisch vor.
Jek saß noch immer auf dem Schemel, schloss die Augen und versuchte, das Stadium der inneren Stille zu erreichen. Diese Phase kostete ihn viel Zeit, weil er zum ersten Mal Sharis Befehle missachtete und Schuldgefühle an ihm nagten und ihn daran hinderten, sich zu entspannen.
Er öffnete die Augen und stellte erstaunt fest, dass um ihn herum pechschwarze Nacht herrschte. Heftiger Regen trommelte auf das Dach. Kurz spielte er mit dem Gedanken, eine Kerze anzuzünden, so sehr bedrückten ihn die Finsternis und das prasselnde Wasser. Doch er unterdrückte sein Schaudern und schloss die Augen wieder.
Sofort verflüchtigten sich alle seine Gedanken, wie verweht von einer kräftigen Brise, und das Antra, der Klang des Lebens, erhob in seinem Inneren die Stimme. Schnell erreichte er jenen Knotenpunkt, von dem die Wege abgingen, jene ätherischen Schluchten und Tunnel, alle in blaues Licht getaucht.
»Die Wahrnehmung dieser Routen ist immer eine persönliche«, hatte Shari ihm erklärt. »Mein Vater Tixu hat mir erzählt, dass er sie anfangs wie die Partikelfilter eines alten Deremats erlebte.«
»Und du, wie siehst du sie?«
»Wie das Leuchten von Onikis Liebe …«
Jek glitt in die erste vor ihm liegende Öffnung und hatte sofort das Gefühl, von einer Welle unendlicher Energie ergriffen zu werden, während er im Zustand eines nie gekannten Glücks, jedoch ohne jedes Zeitgefühl, durchs All raste. Sein letzter Gedanke galt Yelle, ehe sich sein Körper in einen heißen, flüchtigen Aggregatzustand verwandelte.
Der Scaythe, ein ranghohes Mitglied der heiligen Inquisition und somit in einen roten Kapuzenmantel gehüllt, gab sich große Mühe, die kleine Gestalt auf dem belebten Rakamel-Markt in Anjor nicht aus den Augen zu verlieren. Es wäre für den Inquisitor viel einfacher gewesen, dem mentalen Prägungsmuster zu folgen, doch leider war Kyax außerstande, in das Gehirn des Verfolgten einzudringen.
Als Erstes hatte die seltsame und auf Ut-Gen unübliche Kleidung des Jungen, er trug Tunika und Baumwollhose, Verdacht bei dem Scaythen erregt, weil der Planet von der Kirche des Kreuzes und dem Staat streng überwacht wurde. Alle Deremat-Reisen wurden kontrolliert und es war extrem schwierig, zu anderen Planeten des Ang-Imperiums zu gelangen. Wie also hätte ein Zwölfjähriger solche Hindernisse überwinden können, ohne die Hilfe eines illegalen Netzwerks? Doch seiner schmutzigen und abgerissenen Kleidung nach zu urteilen, stammte dieser Junge aus keiner begüterten Familie, und ungesetzliche Transfers kosteten ein Vermögen. Außerdem schien er sich genau in der Stadt auszukennen.
Das alles hatte Kyax irritiert. Deshalb hatte er sofort mit einer Durchsuchung des Gehirns des Jungen begonnen, war aber auf unüberwindliche Hindernisse gestoßen. Zum ersten Mal war ihm das bei einem Menschen passiert. Also hatte er seine Bemühungen intensiviert und bis zur Schmerzgrenze ausgedehnt. Umsonst. Das Gegenteil war eingetreten: Er hatte eine Botschaft empfangen, die zwar für ihn nicht schmerzhaft war, da Scaythen keinen Schmerz kannten, die er aber als lebensbedrohlich empfand – und die somit ganz Hyponeros bedrohte.
Nach einigem Zögern hatte Kyax deshalb um eine sofortige Unterredung mit dem Scaythen Horax gebeten, dem persönlichen Ratgeber des Kardinal-Gouverneurs Xandius de Mermer und Großinquisitors des Planeten Ut-Gen.
»Ich hoffe, Sie haben gute Gründe, mich zu stören, Keimling Kyax«, hatte Horax geantwortet. »Wir beginnen mit der letzten Phase des Plans, und ein jeder muss unbedingt die ihm zugewiesene Aufgabe erfüllen.«
»Es gibt etwas Neues. Ich verfolge gerade ein Kind, in dessen Gehirn ich nicht eindringen kann. Es wird durch eine Vibrationsbarriere geschützt.«
»Ein Utgenianer?«
Das war für einen Scaythen eine absurde Frage, da er ständig mit den Basisdaten aus dem Matrix-Bottich in Verbindung stand. Deshalb antwortete Kyax erst nach einer Weile.
»Wie soll ich das wissen? Schließlich kann ich nicht in seinem Gehirn lesen. Seiner Kleidung nach kommt er aus einer anderen Welt, aber er scheint sich gut in Anjor auszukennen.«
»Beschatten Sie ihn weiter, Keimling Kyax. Es könnte möglich sein, dass dieses Kind ein Adept der Inddikischen Wissenschaften ist, ein Ur-Mensch. Diese Vibrationsbarriere, von der Sie gerade sprachen, ist ein Teil gewisser Schutzmechanismen dieser Inddikischen Hexer.«
»Hat uns der Matrix-Bottich nicht versichert, dass die erbittertsten Feinde von Hyponeros bereits neutralisiert wurden? Wurde die von Seneschall Harkot programmierte Mission Kervaleur nicht als vollständig gelungen propagiert?«
»Wir haben es mit Menschen zu tun, Keimling Kyax, also Kreaturen, die sich jeder Logik entziehen. Dieses Kind hätte durch die Maschen unseres Netzes schlüpfen können. Und sein Status als Krieger der Stille wäre jedenfalls eine plausible Erklärung für seine Anwesenheit auf Ut-Gen.«
»Das verstehe ich nicht. Werden Sie deutlicher.«
»Ich habe Sie nicht ohne Grund gefragt, ob dieses Kind ein Utgenianer ist, Keimling Kyax.«
»Ich verstehe noch immer nicht.«
»In einer Legende ist zu lesen, dass die Krieger der Stille auf ihren Gedanken reisen können.«
»Jetzt wir mir einiges klar. Also müsste er weder die offiziellen Dienste eines Transportunternehmens noch illegale Dienste in Anspruch nehmen, um von einer Welt in eine andere zu gelangen.«
»Sie sind langsam von Begriff, Keimling Kyax. Versuchen Sie, jetzt etwas schneller zu sein, damit Sie dieses Kind nicht aus den Augen verlieren. Wir bleiben von nun an ständig in Verbindung.«
»Eine letzte Frage. Wie groß ist nach unseren Berechnungen die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um einen Krieger der Stille handelt?«
»Neugier ist eine Eigenschaft des Menschen, Keimling Kyax. Doch um Ihnen Mut zu machen, teile ich Ihnen mit, dass sich der Prozentsatz plötzlich von null Komma null sieben auf sechsundzwanzig erhöht hat.«
Glücklicherweise blieb der Junge von Zeit zu Zeit vor einem der Marktstände stehen und betrachtete mit hungrigen Augen die angebotenen Früchte und Lebensmittel. Auf diese Weise konnte sich Kyax immer wieder unbemerkt dem Verfolgten nähern.
Entsetzen spiegelte sich in den Gesichtern der Marktleute wider, sobald der blutrote Kapuzenmantel einen ihrer Stände streifte. Das in das Gehirn des Scaythen implantierte Programm registrierte sofort die Panik und die Schuldgefühle der Leute. Alle Menschen waren immer voller Schuldgefühle – deren Ausbeutung war eines der wesentlichen Elemente des Plans der Scaythen; denn sich schuldig zu fühlen, bedeutete bereits, von der Urquelle des Lebens abgetrennt zu sein.
Kyax konnte in ihnen allen lesen und wusste auf Anhieb, dass zum Beispiel dieser Mann noch immer heidnische Götter anbetete, dass diese Frau rituelle Orgien in ihrem Haus veranstaltete und eine andere die staatlichen Gewächshäuser missbrauchte, um dort heimlich verbotene Drogen anzubauen.
Trotz dieser blitzartigen Erkenntnisse brauchte er momentan seine ganze Kraft, um den Jungen zu beschatten. Jetzt hatte er keine Zeit, diese armen Kreaturen dem Auslöschungsamt zu übergeben oder sie zum Tode am Feuerkreuz verurteilen zu lassen.
Dieses effiziente Überwachungssystem hatte der Planet Ut-Gen seinem ehemaligen Gouverneur, dem Kardinal Fracist Bogh, zu verdanken, dem jetzigen Muffi der Kirche des Kreuzes. Auf diese Weise schritt die Vernichtung der Menschheit rapide fort, wobei die Menschen selbst hinsichtlich der Grausamkeiten untereinander einen ungeahnten Einfallsreichtum entwickelten. Diese Eigenschaft kam den Scaythen sehr gelegen, denn sie waren einzig und allein zu dem Ziel geschaffen, die gesamte Menschheit zu vernichten, und sie verrichteten ihre Aufgabe mit der ihnen eigenen kalten Effektivität. Sie erzielten eine Mortalitätsquote von 94,06 Prozent.
Anfangs war Jek glücklich gewesen, wieder auf Ut-Gen zu sein, die vertraute feuchte Luft einzuatmen, durch die engen Gassen mit den halb verfallenen Fassaden der alten Häuser zu marschieren und die rote Scheibe des verlöschenden Gestirns Hares unter dem ewigen Dunstschleier wiederzusehen.
Er hatte sich in einer der Vorstädte rematerialisiert, nicht weit von dem ehemaligen Nord-Terrarium entfernt. Weder von dem riesigen Tor zum Ghetto noch von den vielen Einstiegsschächten in den Untergrund war etwas übrig geblieben. An dieser Stelle hatte die Kirche des Kreuzes eine Kirche mit hundert Türmen, einen Palast und eine Schule der Heiligen Propaganda errichten lassen, und er musste kurz an seinen ehemaligen Freund denken, den alten Artrarak, dem er sein Leben verdankte.
Jek hatte keine Ahnung, wie weit Ut-Gen von Terra Mater entfernt war, da sich seine Kenntnisse in der Astronomie auf ein rudimentäres Wissen über das Sonnensystem von Hares beschränkten. Doch er hatte sich bei seiner jetzigen spirituellen Reise viel schneller erholt, als bei seinen Ausflügen mit dem Mahdi. Noch ehe er vollständig das Bewusstsein wiedererlangte, hatte er gewusst, dass er seinen Heimatplaneten erreicht hatte. Obwohl er anfangs schwach wie ein Neugeborenes gewesen war und unter heftigen Kopfschmerzen litt, hatte er uniformierte Gestalten und Scaythen in verschiedenfarbigen Kapuzenmänteln um sich herum bemerkt.
Beschützt mich das Antra nicht mehr?, hatte er sich angstvoll gefragt, weil fremde, seltsame Gedanken gleich Tentakeln in seinen ungeschützten Geist eindringen wollten.
»Bist du hingefallen? Hast du dir wehgetan?«
Erst die Worte einer besorgten Frau, die sich über ihn beugte, hatten ihn vollends in die Realität zurückgebracht.
Er war sofort aufgesprungen, hatte den Kopf geschüttelt und war fortgelaufen. Jetzt erst war das beruhigende Vibrieren des Antras zu spüren gewesen und mit ihm seine Migräne verschwunden.
Einem Impuls folgend war er zum Markt gegangen und hatte sich dann entschieden, die sieben Kilometer zum Haus seiner Eltern ebenfalls zu Fuß zurückzulegen, weil er fürchtete, in einem öffentlichen Verkehrsmittel leichter aufgespürt werden zu können.
Sehr bald hatte Jek seinen Ungehorsam, allein zu reisen, bereut, denn er konnte sich des Gefühls einer ständigen unheimlichen Bedrohung nicht erwehren. Aber der spirituelle Transfer hatte ihn erschöpft, und er musste sich ausruhen, um die Rückreise antreten zu können.
Der Schüler Jek At-Skin war längst noch nicht Meister in der Kunst des psychokinetischen Reisens.
Ich habe nur eine Möglichkeit, dachte er. Ich besuche meine Eltern. Dort kann ich neue Kräfte sammeln und morgen verlasse ich sie wieder.
Er beschleunigte den Schritt, weil er sich beobachtet fühlte. Gehetzt warf er einen Blick über die Schulter, konnte aber in dem ständigen Dunst, der über den Straßen hing, unter den Passanten keinen potenziellen Verfolger erkennen. Er ging noch schneller, bis er trotz seiner leichten Kleidung schweißüberströmt vor dem elterlichen Haus stand.
Wohl hundertmal hatte er sich während seines Weges umgedreht und sich gesagt, dass diese durch Einsamkeit und Ermüdung ausgelösten Ängste wohl der Preis der Freiheit sein müssten.
Als Jek P’a und M’a At-Skin durchs Fenster sah, traten Tränen in seine Augen. Es war Zeit zum Abendessen, und sie saßen an ihren gewohnten Plätzen. Sein Vater war noch dicker geworden, während seine Mutter immer dünner wurde. Sie aßen schweigend und schauten mit leerem Blick vor sich hin.
Jek musste schlucken, als er das dritte Gedeck auf dem Küchentisch entdeckte. Dort, wo er früher gesessen hatte. Er wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und öffnete mit klopfendem Herzen die Tür. Seine Eltern hörten das Geräusch und hoben gleichzeitig die Köpfe.
Doch sein Lächeln erstarb, als er in ihre erloschenen Augen blickte. Sie sahen ihn, ohne ihn zu sehen. Sie sahen durch ihn hindurch.
»P’a, M’a, ich bin’s, Jek …«
»Kennen wir uns?«, fragte sein Vater und blies die Backen auf.
»Ich bin Jek, dein Sohn«, sagte Jek mit zitternder Stimme, dem Schluchzen nahe.
»Wovon redest du? Wir haben nie Kinder gehabt«, sagte M’a At-Skin und schüttelte den Kopf. »Wie bist du ins Haus gekommen?«
»In dem Identifikator waren noch meine Fingerabdrücke gespeichert.«
»Ach ja? Das muss ich sofort ändern«, sagte P’a At-Skin.
Jek fragte sich kurz, ob die interstellare Reise nicht seine Gehirnfunktionen verändert habe oder ob er nicht träume und gleich im Haus Sri Lumpas auf Terra Mater aufwachen werde. Dann sagte er sich, dass er größer geworden sei und sich verändert habe und seine Eltern ihn deswegen nicht erkannt hätten und ihn vielleicht für einen Einbrecher hielten.
»Seht mich an! Ich bin es, Jek, euer Sohn!«, rief er. »Vor mehr als drei Jahren bin ich fortgegangen. Ihr wolltet mich in die Schule der Heiligen Propaganda stecken …«
Während er sprach, forschte er in den Gesichtern seiner Eltern nach Zeichen des Wiedererkennens. Aber sie starrten ihn nur verstört an.
»Ich bin an jenem Abend, als die Kirche das Nord-Terrarium vergasen ließ, zu meinem Freund, dem Quarantäner Artrarak, gegangen …«
Schlagartig wurde ihm bewusst, dass ein Auslöscher-Scaythe seine Eltern ihres Erinnerungsvermögens beraubt haben musste. Jetzt weinte er hemmungslos, sprach aber unablässig weiter, wohl, weil er sich alles von der Seele reden musste, aber auch, weil er hoffte, seine Eltern aus ihrem stumpfsinnigen Zustand reißen zu können.
»Das Nord-Terrarium?«, fragte P’A. »Was ist das? Eine Fabrik?«
»Du solltest hier nicht rumschreien, sondern uns in Ruhe essen lassen«, sagte M’a.
»Wer weint, hat ein schlechtes Gewissen«, erklärte P’a besserwisserisch. »Menschen mit einem ruhigen Gewissen weinen nicht.«
Jek hörte nicht zu. Noch immer weinend, redete er weiter: »Dank meines Freundes konnte ich dem Gas entkommen und wurde in der nuklearen Wüste von dem Traren Godovan gerettet. Dann habe ich einen Teil des Alls an Bord eines Weltraumschiffs des Dogen Papironda durchquert und bin im Inneren eines Xaxas bis nach Terra Mater gereist. Dort habe ich Naïa Phykit und ihre Tochter Yelle kennengelernt, ehe sie von den Pritiv-Söldnern gefangen genommen und an den Muffi ausgeliefert wurden. Der Mahdi Shari hat mich gelehrt, mittels des Antras zu reisen. Und ich bin gekommen, euch Adieu zu sagen, ehe wir nach Syracusa aufbrechen. Dort will ich Yelle befreien, weil ich sie liebe und heiraten will. Mir geht es ziemlich gut, auch wenn ihr mir manchmal fehlt … Könnt ihr euch wirklich nicht an mich erinnern?«
P’a schüttelte den Kopf.
»Warum habt ihr ein drittes Gedeck aufgelegt?«, fragte Jek. »Habt ihr jemanden zum Essen erwartet?«
»Das ist eine Manie von M’a At-Skin«, antwortete sein Vater und zuckte mit den Schultern. »Sie behauptet, es sei eine gute Tat, auch für einen Abwesenden den Tisch zu decken.«
»Abwesende?«
»Die Toten, die Verschollenen, alle, die über uns umherirren. Dann sehen sie, dass wir an sie denken, und legen bei den Heiligen der Kirche ein gutes Wort für uns ein.«
Jek schüttelte den Kopf. Ihm wurde bewusst, dass von nun an Yelle, Naïa Phykit, San Francisco und Phoenix seine einzige Familie waren. Jetzt wollte er nur so schnell wie möglich fort von hier, dieses Haus, diese Stadt, diesen Planeten verlassen und Shari treffen, damit sie gemeinsam die vier kryogenisierten Mitstreiter befreien konnten.
Noch etwas hatte er begriffen: dass er an den Ort seiner Kindheit hatte zurückkehren müssen, um sich endgültig von seiner Vergangenheit zu befreien, damit er zu einem wahren Krieger der Stille werden konnte.
Allein der Anblick seiner Eltern – dieser zombiegleichen, seelenlosen Wesen – bestärkte ihn in seinem Entschluss. Er wollte die verlorene Zeit aufholen.
»Auf Wiedersehen«, sagte er und lächelte resigniert.
»Auf Wiedersehen, mein Junge«, erwiderte P’a At-Skin. »Das nächste Mal musst du in das richtige Haus gehen. Und mach die Tür hinter dir zu.«
M’a At-Skin würdigte ihn keines Blicks und aß ungerührt weiter.
Als Jek in den nasskalten Nebel hinaustrat, fröstelte er. Er wusste nicht, in welche Richtung er gehen sollte, denn er wollte sich noch etwas erholen, ehe er seine interstellare Rückreise antrat. Seine Umgebung erschien ihm bedrohlich, voller Gefahren. Er schlug den Kragen seiner Tunika hoch und schlang die Arme um seinen Oberkörper, doch er fror noch immer. Die U-Bahnstationen würden ihm genügend Wärme und Schutz bieten, damit er sich ausruhen und seine mentale und physische Leistungskraft wieder herstellen konnte. Also lenkte er seine Schritte zum nächsten erleuchteten U-Bahneingang.
Drei grauweiße Gestalten tauchten aus der Dunkelheit auf und schwärmten aus. Aus ihren hochgeschobenen Ärmeln blitzten die Schienen ihrer Wurfgeräte auf. Ihre hinter weißen Masken verborgenen Gesichter waren nicht zu sehen, doch aus den Schlitzen der Masken lugten ihre Augen hervor und ihre Blicke sendeten tödliche Blitze.
Nur ein paar Sekunden hatten Jek genügt, um die Lage einzuschätzen. Er sah, dass diese drei nicht die Einzigen waren. Von allen Seiten wurde er umzingelt. Außerdem glaubte er, etwas weiter hinten den roten Kapuzenmantel eines Inquisitors gesehen zu haben.
»Ihr dürft eure Wurfscheiben nicht einsetzen! Nur die Kryo-Strahlen. Wir brauchen ihn lebend!«
Jek war so entsetzt, dass er weder denken noch sich bewegen konnte. Er begann zu zittern, weil er sofort das Geräusch des Kryogenisateurs, wie vor ein paar Jahren auf Terra Mater, erkannt hatte.
Ein weißer Blitz erhellte die Nacht, und der Strahl schlug in eine Mauer, ein paar Meter von ihm entfernt, ein. Der Söldner fluchte laut, weil er sein Ziel verfehlt hatte.
Jetzt erwachte Jek aus seiner Erstarrung. Sollten diese Männer ihn gefangen nehmen, würde auch er in einem geheimen Raum des Bischöflichen Palastes ruhen. Schlimmer noch, er könnte dem Mahdi Shari nicht helfen, Yelle, Naïa Phykit und die beiden Jersaleminer zu befreien und gegen den Blouf zu kämpfen. Er hörte ein Klicken, täuschte eine Bewegung nach links vor, tauchte aber nach rechts ab. Der Kryo-Strahl verfehlte ihn, doch er stolperte über eine Unebenheit im Pflaster und stürzte. Sofort rappelte er sich wieder hoch und lief trotz der Schmerzen in seiner Schulter auf eine Mauer zu, die ein Grundstück samt Haus umgab.
»Bewegt euch, ihr Nullen!«, rief jemand. »Dieser verfluchte kleine Kerl wird uns noch entkommen.«
Die Pritiv-Söldner wagten nicht zu schießen, weil sie vielleicht selbst Opfer des kryogenisierenden Gases geworden wären. Außerdem war die Sicht sehr schlecht. Jek hatte die Mauer inzwischen fast erreicht. Obwohl er auf der Flucht war, versuchte er, das Antra in sich zu rufen, den Zustand der inneren Stille zu erreichen.
»Verdammt noch mal, schneidet ihm den Weg ab!«
Jeks Bewegungen wurden immer präziser. Mit erstaunlicher Leichtigkeit übersprang er die Mauer, landete geschmeidig auf einem mit Kieselsteinen belegten Weg und rannte weiter, während über seinem Kopf eine Salve Kryo-Strahlen abgefeuert wurde und den Verputz von der Hauswand riss.
»Hinter der Mauer, ihr Idioten! Wenn ihr ihn entkommen lasst, bringe ich euch eigenhändig um.«
In der Ferne heulte ein Tier, wahrscheinlich ein Löwenhund. Jek lief um eine Ecke. Aus einer halb offen stehenden Tür fiel ein Lichtstrahl. Jek stieß sie auf, lief in den Flur und eine Treppe hinunter. Dort standen ein Mann und eine Frau, zweifellos die Eigentümer des Hauses.
»Was haben Sie hier zu suchen?«, fragte der ebenso dicke und hässliche Mann wie P’a At-Skin.
»Die Tür stand offen …«, antwortete Jek.
»Das ist doch kein Grund, dass …«
Lärm im Flur unterbrach ihn.
»Der Dreckskerl muss da unten sein!«, rief einer der Verfolger.
»Was wollen die von Ihnen?«, fragte die Frau. Sie war so schön und sanft wie M’a At-Skin einmal gewesen war.
»Mich gefangen nehmen und kryogenisieren«, antwortete Jek. »Kann man die Tür Ihres Schlafzimmers abschließen?«
Die Frau nickte.
»Ich muss nur ein paar Sekunden allein sein …«, fügte Jek hinzu.
Die Pritiv-Söldner drängten sich inzwischen auf der Treppe. Die Frau trat beiseite und bedeutete dem Flüchtenden, in das Zimmer zu gehen. Jek schenkte ihr ein dankbares Lächeln, ehe er den Raum betrat und den Code des Magnetschlosses veränderte.
»Du bist völlig übergeschnappt!«, protestierte der Mann. »Du …«
Doch sie hielt ihm die Hand vor den Mund, damit er schwieg.
Die Söldner brauchten zwei Minuten zum Öffnen der Tür. Doch das Zimmer war leer.
»Gebt euch keine Mühe mehr, ihr werdet ihn nicht finden«, sagte der Inquisitor-Scaythe und durchschnitt mit seiner metallisch klingenden Stimme die Stille des Hauses.
»Wissen Sie, wie dieser kleine Kerl uns entkommen konnte?«, fragte der Anführer der Pritiv-Söldner.
»Ich habe keine Ahnung«, log Kyax.
Er drehte sich um und deutete mit ausgestrecktem Arm auf das Ehepaar. Die beiden saßen verängstigt auf einem Sofa.
»Aber ich weiß, dass diese Leute ihm bei der Flucht geholfen haben.«
»Ich wollte das nicht!«, protestierte der Mann und richtete sich auf.
Seine Frau sah ihn überrascht und gleichzeitig verächtlich an.
»Warum tragen Sie keinen Nacht-Colancor, so wie es unsere heilige Kirche vorschreibt?«, sagte Kyax und seine gelben Augen funkelten bösartig.
»Sie hat es getan, stammelte der Mann und deutete auf seine Frau. »Sie findet den Colancor lächerlich und verweigert sich mir, wenn ich ihren Launen nicht nachgebe«, fügte er mit angstvollem Blick auf den Scaythen hinzu.
»Enthaltsamkeit ist eine Tugend«, erklärte Kyax.
»Was sollen wir jetzt mit ihnen machen?«, fragte der Anführer der Söldner.
»Bringt sie ins Gefängnis der Kirche. Morgen früh werden sie vom heiligen Inquisitionsgericht abgeurteilt. Wenn Sie wollen, können Sie sich vorher mit der Frau vergnügen. Das wird ihr den Geist der Rebellion austreiben.«
»Nein! Nein!«, rief der Mann und fiel auf die Knie.
»Regen Sie sich nicht auf. Das Gericht wird Sie nur zu einer leichten Auslöschungsstrafe verurteilen, wenn Sie sich nichts weiter vorzuwerfen haben.«
Aber Kyax wusste bereits, dass dieses Ehepaar wegen seiner Verfehlungen gegen das Kirchengesetz zur Höchststrafe, dem Tod am Feuerkreuz, verurteilt werden würde.
Er aktivierte den mentalen Kontakt zu Horax, seinem Vorgesetzten.
»Der Junge ist entkommen. Doch er hat vor seiner Flucht seinen biologischen Eltern ein paar interessante Mitteilungen gemacht.«
»Und die wären?«
»Er lebt auf Terra Mater, mit einer Person, die unserer Wahrscheinlichkeitsberechnung nach nur eine Erfindung des kollektiven Bewusstseins sein kann: der Mahdi Shari von den Hymlyas. Sie planen eine Reise nach Syracusa, um dort Naïa Phykit und die drei anderen Kryos zu befreien.«
»Berichtigung, Keimling Kyax. Die These der Nichtexistenz des Mahdis Shari diente bis jetzt unseren Interessen. Seneschall Harkot wartet bereits seit mehr als drei Standardjahren auf dessen Erscheinen auf Syracusa. Ihr Scheitern bezüglich der Gefangennahme dieses Jungen – wahrscheinlich eines Kriegers der Stille – hat daher keine negativen Konsequenzen. Im Gegenteil, seine Gefangennahme hätte das Misstrauen des Mahdis Shari geweckt und diesen vielleicht dazu bewegt, sich nicht auf Syracusa zu begeben.
Ihre zerebralen Implantate jedoch haben an Effizienz gewonnen, Keimling Kyax. Der Matrix-Bottich hat Sie also nicht gänzlich verpfuscht. Gepriesen sei Ihr Missgeschick. Ende der Kommunikation. Ich muss mich jetzt mit unserer Relaisstation in Verbindung setzen.«
Emotionslos starrte Kyax auf den zu seinen Füßen kauernden schluchzenden Anjorianer.
Die junge Frau saß wie versteinert auf dem Sofa. Sie wehrte sich nicht, als sich die Söldner auf sie stürzten und ihr das Nachthemd vom Leib rissen.