VIERZEHNTES KAPITEL
Die Legende vom Julianischen Korund
Die Witwe Iewuta lebte in einem Dorf des Creïch-Gebirges auf dem Satelliten Julius. Es geschah aber, dass ihr Sohn Hilmesch sehr krank wurde. Da sie weder Land noch Geld besaß, weigerte sich der Heiler des Dorfes, ihn zu behandeln. Verzweifelt nahm sie ihren Sohn und marschierte mit ihm in Richtung der aufgehenden Sonne und erklomm den Berg der Wunder, wo die Göttinnen und Götter der alten Überlieferungen lebten. Doch sie fand weder Göttin noch Gott, sondern allein eine alte Frau, die Blumen am Wegrand pflückte. Iewuta fragte sie, wo die Göttinnen und Götter seien, die ihren Sohn Hilmesch heilen könnten. Die alte Frau antwortete ihr, ihrer Kenntnis nach würden die Gottheiten in einem fernen, längst vergessenen Land leben.
»Man braucht viele Jahrhunderte, um zu ihnen zu gelangen. Und der Weg in das Götterland ist so schwer zu finden, dass viele Suchende vom Weg abkommen und in die Tiefe stürzen …«
Da setzte sich Iewuta auf einen Fels, legte ihren fiebernden Sohn auf die Erde und flehte die Götter an, ihr den Weg zu zeigen. Sie betete mit solcher Inbrust, dass ein blauer Strahl aus ihrem Herzen aufleuchtete. Sie nahm ihren Sohn und trug ihn noch einmal drei Tage und drei Nächte, immer der Richtung des Strahls folgend, bis sie den Eingang einer dunklen Grotte erreichte. Als sie hineinging, sah sie, dass der blaue Strahl nicht mehr aus ihrem Herzen kam, sondern von einem in einen Fels eingeschlossenen Edelstein.
Zwei Tage und zwei Nächte hielt sie ihren Sohn Hilmesch so, dass sein Körper vom himmlischen Strahlen des Steins getroffen wurde, und so geschah es, dass er geheilt wurde. Überglücklich warf sich Iewuta zu Boden und dankte den Göttinnen und Göttern.
Da aber trat die alte Frau in die Grotte und sagte: »Am besten dankst du jenen, die dir dieses unschätzbare Geschenk gemacht haben, indem du diesen Stein mit dir nimmst, um alle heilungswilligen Kranken gesund zu machen, die dich um Hilfe bitten.«
Die alte Frau verschwand auf dieselbe geheimnisvolle Weise, wie sie gekommen war. Da begriff Iewuta, dass sie einer Göttin in Menschengestalt begegnet war.
Nach drei Tagen harter Arbeit gelang es ihr, mit blutenden Fingerkuppen endlich den Stein aus dem Felsen zu lösen. Als sie mit ihrer kostbaren Trophäe in ihr Heimatdorf zurückkehrte und die Leute sahen, dass Hilmesch genesen war, bedrängten sie die Witwe, damit sie die Kranken ebenfalls heile. Iewuta berührte deren Stirn mit dem Edelstein, und kleine wie große Übel verflogen. Ihr Ruf als Heilerin verbreitete sich bald in den Nachbardörfern, dann im ganzen Land, und daraufhin kamen Kranke aus allen Welten zu ihr.
Doch es geschah, dass ihre großen Erfolge die Heiler ärgerte, und sie schmiedeten ein Komplott mit dem Ziel, ihre Konkurrentin zu vernichten. Seit sie Wunder vollbrachte, kam kein Kranker mehr zu ihnen noch wollte jemand ihre Ratschläge hören. Und ein fürchterliches Gefühl der Nutzlosigkeit befiel sie, sie kamen sich völlig überflüssig vor.
Iewuta töten konnten sie nicht, weil der blaue Korund, der Saphir aus dem Creïch-Gebirge, sie gegen den Tod gefeit hatte. Doch sie mischten ein Pulver, das die Witwe für immer einschlafen lassen würde. Einer von ihnen trat verkleidet unter die Kranken und schüttete das Pulver im Haus Iewutas in ihr Getränk. Als sie davon trank, fiel sie in einen tiefen Schlaf, aus dem sie nicht mehr erwachte.
Ihr Sohn Hilmesch weinte tagelang, bis sein Kummer und sein Gram ihn in eine andere Welt trugen. Er wurde unter dem Bett seiner Mutter bestattet.
Doch niemand wagte es, den Stein zu berühren. So blieb er in Iewutas Haus, bis ein Mann vom Planeten Osgor, ein Prophet, der von der Geschichte gehört hatte, ihn an sich nahm und die Heilkräfte des Saphirs wieder aktivierte. Der Mann hieß Antus Sij Païlar, aber bekannt wurde er unter dem Namen Kreuz.
Iewuta jedoch wartet noch immer darauf, dass die Menschen den geheimen Weg, der zu den Göttinnen und Göttern führt, wiederfinden. Erst dann kann sie aus ihrem Schlaf erwachen.
Mündlich überlieferte julianische
Legende
Übersetzung: Messaodyne Jhû-Piet
Anmerkung des Übersetzers: Wie es heißt, habe Kreuz den Julianischen Korund seinem Nachfolger, dem Syracuser Alguinzir, als Zeichen seiner Legitimität übergeben. Die Syracuser haben daraus gefolgert – ziemlich voreilig, fürchte ich –, dass die Legitimität der Kirche des Kreuzes mit der des Planeten Syracusa gleichzusetzen sei. Also verlegten sie den Sitz der Kirche nach Venicia und installierten eine Art Monopol für die Nachfolge der Muffis. Und dieses Monopol endete erst im Jahr 17 des Ang-Imperiums, als der Kardinal Fracist Bogh, ein Marquisatiner, dem Muffi Barrofill XXIV. auf den Thron folgte. Da die Wahl Fracist Boghs viele Fragen aufwarf, die nie geklärt wurden, war sie äußerst umstritten.
Was die Heilkräfte des muffialen Rings betrifft, so wurden sie nie bewiesen – aber auch nie offiziell bestritten …
Sharis Fingerspitzen glitten über die kleinen glatten Kugeln. Nur mühsam hatte er seinen Ekel überwunden, als er die raue kalte Haut des Scaythen berühren musste.
Harkot hatte sich bei der plötzlichen Attacke seines Gegners nicht gerührt, so als hätte der Krieger der Stille seine Nervenzentren gelähmt. In dem Moment, als er seine Erkenntnisse an das Dritte Konglomerat weiterleitete, hatte sein Feind den Sieur d’Ariostea gestoßen und ihn angegriffen. Weil der Mahdi eine so große innere Lichtenergie ausstrahlte, hatte ihn die Nicht-Energie der In-Creatur verlassen, auch die ständige Kommunikation mit den Meister-Creatoren war unterbrochen, so als ob der physische Kontakt mit einem Urmenschen die mentalen Frequenzen aller ihrer künstlichen Kreaturen gestört habe.
Noch immer herrschte zwischen den Höflingen ein unbeschreibliches Durcheinander. Alle waren in Panik geraten, die autopsychischen Selbstkontrollen funktionierten überhaupt nicht mehr. Die Menschen liefen planlos hin und her – endlich empfanden sie wieder etwas, auch wenn es nur der köstliche Schauder der Angst war.
Als eine bewaffnete Abteilung Pritiv-Söldner in den Saal stürmte, wurde die Panik noch größer. Doch rücksichtslos bahnten sich die Pritiv-Söldner ihren Weg durch die Menge. Dann sahen sie einen weiß gekleideten Mann, der auf seltsame Weise den Seneschall umklammerte.
Shari hatte sich inzwischen der Codes bemächtigt. Obwohl sein Mund nur ein paar Zentimeter von dem des Seneschalls entfernt war, spürte er keinen Atem. Das verstörte ihn. Er hatte das Gefühl, eine seelenlose Hülle zu berühren. Denn der Atem war nicht nur ein Symbol des Lebens, sondern lebensnotwendig. Brauchten Scaythen denn keinen Sauerstoff, kein Wasser, keine Nahrung? Allein dieser fundamentale Unterschied machte deutlich, dass sie nicht dazu geschaffen waren, in menschlichen Welten zu leben, sondern nur dazu, sie zu schwächen und schließlich auszulöschen – also hatten sie überhaupt kein Interesse daran, ein Universum zu erhalten, das für ihre Existenz unwichtig war. Diese neutrale und unabhängige Kondition – quasi emotionslos und mechanisch – war gleichzeitig ihre Stärke und Schwäche. Ihre Stärke, weil sie der Wahrscheinlichkeitsrechnung folgend äußerst effizient agierten, doch ihre Schwäche, weil sie keinen kreativen Zugang zur Schöpfung besaßen und ihr Vernichtungswerk nicht »überleben« würden.
Als Shari seine Hand aus der Tasche nahm, fing der Scaythe an, heftig zu zittern.
Obwohl von der Anwesenheit Tixu Otys im Matrix-Bottich geschwächt, war es den Meister-Creatoren gelungen, die Verbindung zu dem Dritten Konglomerat wiederherzustellen, und sie holten zum Gegenschlag aus, der auf der Reaktivierung der Eigenschaften eines atypischen Keimlings beruhte, der seit dem Jahr 7157 des Standardkalenders der Konföderation von Naflin nicht mehr zum Einsatz gekommen war, weil er, da er von primitivem Hass geprägt war, vom Hyponeriarchat nicht mehr kontrolliert werden konnte.
Des Hassgefühls hatten sich die Meister-Creatoren bereits früher bedient, als sie Harkot mit dem einstigen Konnetabel Pamynx verschmolzen, und zwar von einer sehr geringen Dosis. Doch nun verstärkten sie diesen Impuls extrem, denn nur Hass war imstande, die zerebralen Implantate des Senschalls zu reaktivieren.
Plötzlich legten sich die klobigen Finger Harkots wie Greifzangen um den Hals seines Gegners. Der Angriff kam für Shari völlig unerwartet, doch instinktiv schloss er die Hand fester um die vier Codes, auch wenn sich das Antra in einem roten Nebel auflöste und er kaum noch atmen konnte. Er versuchte, sich im Geist einen der ätherischen Fluchtpunkte vorzustellen. Es gelang ihm nicht. Mit seiner freien Hand versuchte er, sich aus dem Würgegriff zu befreien. Auch das gelang ihm nicht.
Dem Erstickungstod nahe, befand er sich jetzt in einem Ausnahmezustand und hatte weder den Willen noch die Kraft zu reagieren. Diese Ohnmacht löste ein Gefühl der Gleichgültigkeit und schließlich Resignation aus. Die Umwelt nahm er kaum noch wahr, nur ein paar Schreie drangen noch an sein Ohr.
»Tötet diesen Terroristen, Seneschall!«
»Das ist ein Paritole aus Ut-Gen! Eine widerwärtige Kreatur!«
Die beiden waren jetzt von Pritiv-Söldnern umringt, die ihre Kryo-Waffen auf sie richteten. Da die Söldner jedoch nicht wussten, dass Scaythen diesen Strahlen gegenüber immun waren, wagten sie nicht zu schießen. Sie hatten Angst, den Seneschall zu treffen.
Zum ersten Mal waren sie Zeuge, dass ein Scyathe einen Gegner körperlich und nicht nur geistig angriff, und sie mussten entsetzt feststellen, über welche physische Stärke die Abkömmlinge von Hyponeros verfügten. Harkots schwarze Augen leuchteten wie Sterne, die eine unheilbringende Energie ausstrahlten, während sich seine Finger immer tiefer in den Hals seines Feindes gruben.
In der Ferne sah Shari ein blaues Licht. Es rief ihn; er hörte einen betörenden Gesang. Doch noch besaß er genug Verstand, um zu erkennen, dass dieses Licht ihn nicht in die Sphären davontragen würde, sondern in die Welt der Seelen. Er glaubte, das lächelnde Gesicht seiner Mutter zu sehen, und wäre gern zu ihr gegangen, in jenes Reich, wohin sie die Amphanen, die Priester der Ameurynen, vor vielen Jahren geschickt hatten …
Doch irgendetwas, ein unbestimmtes Gefühl hinderte ihn daran, diesen letzten endgültigen Schritt zu tun – ein Gefühl, versagt zu haben, und ein Quentchen Zorn. Wenn er versagte, würde er diese Welt verlassen, ohne die Menschheit vor dem Untergang bewahrt zu haben, würde er Oniki und Tau Phraïm weiterhin als Gefangene der imperialen Kräfte auf Ephren ihrem Schicksal überlassen …
Also wehrte er sich gegen den Tod und kehrte in die Wirklichkeit zurück. Er hörte das tumultartige Geschrei und rief das Antra. Denn gegen Harkots roboterhafte Kraft anzukämpfen, war aussichtslos. Und sofort erfüllte ihn wieder der Klang des Lebens, rein und stark, und trug ihn davon.
Das plötzliche und unerklärliche Verschwinden ließ alle Anwesenden in sprachloser Versteinerung zurück. Die Hand des Seneschalls zerquetschte das Nichts. Die Umstehenden fragten sich, ob man sie nicht genarrt habe, ob sie Zeuge einer Sinnestäuschung gewesen seien, denn es gab holographische Bildhauer, die Meister der Kunst der Illusion waren. Viele Höflinge hatten bereits jenen Spektakeln beigewohnt, in denen dreidimensional Schlachten in Lebensgröße nachgespielt wurden – eine Darbietung, die häufig im Palast des Imperators zelebriert wurde. Doch nie hatte ein Scaythe oder gar der Seneschall an einer derartigen Veranstaltung teilgenommen. Und der weiß gekleidete Paritole aus Ut-Gen hatte im Gegensatz zu einer holographischen Illusion ziemlich kompakt ausgesehen.
»Das war – das muss ein Krieger der Stille gewesen sein!«, rief da eine Frau. »Bei dieser Art des Verschwindens fällt mir ein, dass …«
Nie würde jemand erfahren, was dieser Hofdame eingefallen war, denn Seneschall Harkot, noch immer vom primitiven Hass des Matrix-Bottichs erfüllt, packte sie und brach ihr zum Entsetzen aller das Genick.
Von den Vikaren angeführt drangen die feindlichen Truppen immer tiefer durch die Geheimgänge ins Innere des Palastes ein. Die Kämpfe wurden heftiger, denn die Verteidiger verdoppelten ihre Anstrengungen, um den Muffi und Maltus Haktar zu schützen. Doch ihre altmodischen Granaten und Minen konnten ihre Niederlage nur herauszögern, aber nicht aufhalten, denn die Interlisten und Pritiv-Söldner richteten ein wahres Blutbad an. Es stank nach Tod.
»Wir müssen aufbrechen, Eure Heiligkeit!«, drängte der Meistergärtner. »In ein paar Minuten wird der Weg zu den Deremats blockiert sein.«
»Gehen Sie, Maltus. Sie müssen mein Schicksal nicht teilen. Niemand zwingt Sie dazu, nicht einmal Ihr teurer Vierundzwanzigster …«
Der Muffi hatte Jek den Arm um die Schultern gelegt und hielt ihn an sich gepresst, wie um den Jungen mit seinem Körper zu schützen.
Der Osgorite starrte auf die halb offen stehende Tür, durch die Rauch quoll, und sagte: »Und Ihr, warum wollt Ihr das Los dieser vier im Tiefschlaf liegenden Menschen teilen?«
»Kennen Sie den Duodekalog, das Buch der Prophezeiungen Zahiels?«
Maltus Haktar schüttelte verärgert den Kopf.
»Glaubt Ihr, dass dies der Augenblick ist, um …«
»Ich bin felsenfest überzeugt, dass diese vier Menschen zu den zwölf Herolden des Tempels des Lichts gehören, zu den zwölf Rittern der Offenbarung …«
»Auch Ihr gehört zu ihnen!«, rief Jek.
Der Muffi kniete sich vor den Anjorianer, legte seine Hände auf dessen Schultern und sah ihn mit einem Ernst an, der fast schmerzte. Im Kampflärm und dem ständig aufblitzenden Licht der Explosionen wirkte seine tragische Miene fast maskenhaft.
»Warum sind Sie davon überzeugt?«
»Ich habe es in den Inddikischen Annalen gelesen, im Tempel des Lichts«, antwortete Jek.
»Sie sind in dem von Zahiel beschriebenen Tempel gewesen?«
»Diese Hirngespinste solltet Ihr nicht für bare Münze nehmen, Eure Heiligkeit«, sagte der Oberste Gärtner. »Vielleicht kann er auf seinen Gedanken reisen, trotzdem ist er nur ein Junge!«
»Ich habe Euch bereits in diesem Raum gesehen«, sprach Jek weiter und sah dem Muffi in die Augen. »Ihr seid oft mit Eurem Freund hierhergekommen und habt die Sarkophage betrachtet. Ihr seid auf die Knie gesunken und habt geweint. Dann habt Ihr Euch wieder erhoben und Euren lieben Adaman gefragt, ob er nichts wahrnehme. Aber der hat Euch geantwortet, dass die Kirche des Kreuzes niemals zu ihren mittelmäßigen Dienern spreche …«
Barrofill XXV. war derart verblüfft, dass er eine Weile zu keiner Reaktion fähig war. Seine Finger gruben sich in Jeks Schultern.
Maltus Haktar sah Jek an, als hätte sich der Junge in ein Monster verwandelt.
»Sie haben mich … überwacht?«, stammelte der Muffi schließlich.
»Das war keine Überwachung«, korrigierte Jek den Pontifex, »sondern eine mentale Erkundung, eine vorbereitende Maßnahme für unsere Intervention …« Dann fügte er mit Tränen in den Augen hinzu: »Und nichts ist wie geplant verlaufen …«
»Jedenfalls ist noch nichts verloren!«, sagte der Muffi ermutigend und mit einem solchen Nachdruck, dass Jek überzeugt war, der Oberste Hirte wolle sich selbst überzeugen.
»Euer Freund hat Recht«, sagte Jek und deutete auf Maltus. »Sie sollten von hier verschwinden. Ich kann auf meinen Gedanken reisen und deshalb noch warten.« Er klopfte auf seine Jackentasche. »Hier drin habe ich die Spritzen.«
»Aber Sie wissen nicht, wie man die Kryo-Caissons desaktiviert«, sagte der Muffi.
»Dann zeigt es mir.«
»Die Bedienung dieser Geräte ist kompliziert, und ich habe Angst, dass Sie vielleicht im Bedienungsablauf eine Stufe überspringen könnten. Außerdem brauchen Sie Unterstützung, um Ihren Freunden zu helfen. Alle de-kryogenisierten Menschen benötigen Zeit zur Reaktivierung ihrer vitalen Funktionen. Wenn sie ins Leben zurückkehren, sind sie ebenso verletzlich wie Neugeborene. Da ich Vertrauen in die Kirche habe, bleibe ich bei Ihnen. Aber ich weiß noch nicht einmal Ihren Namen …«
»Jek At-Skin … Der Mahdi sagt, dass die Adepten der Indda sich duzen …«
»Ich bin sehr geehrt, mein lieber Jek, dass du mich als einen der Deinen betrachtest, und ich heiße dich im Bischöflichen Palast Venicias willkommen«, sagte der Pontifex mit einem strahlenden Lächeln.
Und mit feierlicher Geste streifte er den großen Ring von seiner rechten Hand und hielt ihn dem Anjorianer hin.
»Das ist der Ring des Muffis, der Julianische Korund. Bitte, nimm ihn als Zeichen der Dankbarkeit und der Freundschaft.«
»Ihr verliert den Verstand, Eure Heiligkeit!«, rief Maltus Haktar empört. »Allein das Oberhaupt der Kirche hat ein Recht, diesen Ring zu tragen!«
»In diesem Augenblick breche ich das Gesetz der pontifikalen Nachfolge«, entgegnete Barrofill XXV. entschlossen. »Und ich sprenge die Ketten aller Gläubigen, die durch Gewalt, Drohungen oder Gehirnwäsche zur Konversion gezwungen wurden. Ich löse den Verwaltungsapparat der Kirche auf, den ärgsten Feind des Kreuzes. Und ich rate jedem Menschen eindringlich, auf seine innere Stimme, seine Wahrheit zu hören. Schon zu viele Verbrechen wurden im Namen dieses hassenswerten Symbols begangen, und dies von einer alles dominieren wollenden Macht. Ich halte es für legitim, den Julianischen Korund jetzt den Gerechten zu übergeben, und Jek soll sein Hüter sein. Diese Entscheidung ist nichts als die Vollendung des Willens meines Vorgängers, Barrofill XXIV.«
Von seinen Gefühlen schier überwältigt, betrachtete Jek den geschliffenen Stein, der in allen Blauschattierungen funkelte. Er war in rosa Optalium gefasst und viel zu groß für seinen Ringfinger.
»Nimm diesen Ring, Jek. Er wird der Grundstein einer Welt sein, die uns zu schaffen aufgetragen wurde.«
Jek nahm den Ring. Er strahlte eine solche Hitze aus, dass er ihn schnell in seine Westentasche steckte. Dann musste er weinen, weil ein so mächtiger Mann so viel Demut gezeigt hatte. Der Muffi umarmte ihn.
Der ehemalige Gouverneur Ut-Gens hatte sich geändert, auch wenn Bruder Sergian, der Missionar auf dem Planeten Getablan, das Gegenteil behauptet hatte.
»Von nun an bin ich dieser Last ledig«, murmelte der Pontifex. »Und das berechtigt mich, ein einfacher Schüler, ein Novize der Stille zu werden. Ich verzichte auf meinen Namen als Muffi und nehme meinen Geburtsnamen wieder an, den Namen, den mir meine geliebte Mutter, Wäscherin im Runden Haus in Duptinat, gegeben hat: Fracist Bogh …«
In diesem Augenblick erschütterte eine neue Explosion, von grellen Lichtblitzen gefolgt, die Mauern. Doch da die Wände des Raums mit Optalium gepanzert waren, stürzten sie nicht ein. Aber eine aufquellende Rauch- und Staubwolke machte das Atmen fast unmöglich.
»Die erste Pflicht eines Menschen, der eine neue Welt erschaffen will, ist es doch, am Leben zu bleiben, Eure Heiligkeit … Fracist Bogh!«, schimpfte der Meistergärtner.
Als der ohrenbetäubende Lärm der Explosion verhallte, konnten die drei Schüsse hören, die immer näher kamen, und das verzweifelte Schreien der Verwundeten.
Der Osgorite stellte sich mit gezückter Waffe vor die Tür. »Verdammt nochmal, gleich sind sie da!«
Wie um seine Worte zu illustrieren, trat aus dem Halbdunkel eine schattenhafte Gestalt hervor. Wegen des höllischen Lärms hatte er sie nicht kommen gehört. Er wollte schon schießen, als jemand ihn daran hinderte. Außer sich vor Wut richtete der Gärtner seine Waffe auf den Störenfried und musste verblüfft feststellen, dass es der kleine Ritter der Stille war.
»Nicht schießen! Das ist Shari!«, rief Jek.
Er lief zu dem Mahdi und warf sich in dessen Arme.
»Langsam, lass mich erst wieder zu Atem kommen«, murmelte Shari.
Jek trat einen Schritt zurück und sah seinen Freund prüfend an. Der Mahdi wirkte äußerst erschöpft und musste gekämpft haben, wie der Anjorianer an den Spuren am Hals erkannte.
»Ich habe die Codes«, sagte Shari mit müdem Lächeln und beantwortete damit Jeks stumme Frage.
Er öffnete die Hand, darin lagen vier kleine weiße Kugeln.
Jek war außer sich vor Freude, endlich konnten sie Yelle, Aphykit, San Francisco und Phoenix wieder zum Leben erwecken.
»Schnell, wir dürfen keine Zeit mehr verlieren«, sagte da Maltus Haktar.
Der Mahdi sah den Obersten Gärtner misstrauisch an.
»Sie sind Freunde«, erklärte Jek. »Das ist Maltus Haktar, der Sicherheitschef des Bischöflichen Palastes. Er wollte dich nicht erschießen. Und das ist der Muffi Barro … Fracist Bogh. Wir werden belagert, und wir müssen uns beeilen.«
»Einander vorstellen können wir uns später«, drängte der Osgorite. »Geben Sie mir diese Kugeln. Ich muss die Nummern der Codes mit denen der Kryo-Codes in Verbindung bringen.«
»Vertraut Maltus. Er ist zwar nicht vom Fach, aber er kennt sich mit der Reanimation tiefgefrorener Körper sehr gut aus.«
Shari nickte und gab dem Obersten Gärtner die Kugeln. Ein angespanntes Schweigen herrschte, als Maltus Haktar sich an die Arbeit machte. Er öffnete eine Klappe und gab auf der darunter integrierten Tastatur den Befehl ein, den Gefrierungsprozess zu stoppen. Obwohl jetzt pausenlos Kampflärm herrschte, konnten alle hören, dass die Motoren nicht mehr liefen. Dann entriegelten sich mit einem leisen Knacken die Sargdeckel. Die Innenwände der Sarkophage beschlugen sofort; die darin Liegenden waren nur noch undeutlich zu erkennen. Der Osgorite verglich die auf den Kugeln eingravierten Ziffern mit denen auf den Sockeln der gläsernen Särge und legte jeweils einen Code in eine Vertiefung des entsprechenden Sockels.
Jek hielt bereits vier vorbereitete Spritzen bereit, die er einer Blechschachtel entnommen hatte. Auf Maltus Haktars Anweisung hoben Fracist Bogh und Shari den Deckel vom ersten Sarg, dem Aphykits. Ein eisiger Luftstrom, in den sich der Geruch des Kryo-Gases mischte, streifte ihre Gesichter. Der Nebel, der die junge Frau eingehüllt hatte, verflüchtigte sich.
Shari hatte vergessen, wie schön seine Wahlmutter war, und als er ihr Gesicht von nahezu überirdischer Schönheit erblickte, schien ihm, als wäre er für alle seine Qualen belohnt worden. Augenblicklich wurde er wieder zu dem fröhlichen unbeschwerten Kind der Hymlyas-Gebirge, der, in Begleitung der Aïoulen auf einem Stein sitzend, über die Ebene flog und in eiskalten Gebirgsbächen badete …
Fracist nahm den Code der Spritze, die Jek ihm reichte, entfernte das Siegel und stach mit der Nadel in die winzige auf der Kugel angebrachte Markierung. Er saugte die DNA-Probe ein und vermischte sie mit dem Agens der Reanimation.
Das exakte Prozedere hatte er von den Kryo-Einbalsamierern der Kirche gelernt und so oft im Geist wiederholt, dass er sie jetzt, ohne Zeit zu verlieren, wiederholen konnte, als hätte er geahnt, wie wertvoll dieses Wissen einmal sein würde.
Ohne zu zögern, ergriff er Aphykits Armbeuge und gab ihr die für sie bestimmte intravenöse Injektion. Dafür brauchte er etwa fünfzehn Sekunden. Ohne auf eine Reaktion von Aphykit oder den Kampflärm zu warten, nahm er die zweite Spritze und bedeutete Shari, San Franciscos Sarg zu öffnen – was Jek zur Verzweiflung brachte, denn er fürchtete, sie würden nicht mehr genug Zeit haben, Yelle ins Leben zurückzurufen. Fracist Bogh gelang es erst beim vierten Versuch, dem Jersaleminer das Agens zu verabreichen, dessen Gesicht und das lange schwarze Haar Shari an den Narren der Berge erinnerte.
»Seht nur! Sie bewegt sich!«, rief Jek aufgeregt.
Die drei Männer richteten den Blick auf Aphykits Sarkophag. Sie hatte den Arm bewegt und öffnete die Augen. Ihr ganzer Körper zitterte. Das Leben nahm wieder von ihr Besitz. Fracist Bogh zog schnell sein Chorhemd aus und gab es Jek.
»Sie soll sich damit bedecken …«
Aphykit umklammerte die Ränder ihres Sarkophags und wollte sich aufrichten. Schon fiel ihr das goldene Haar in üppigen Wellen über Schultern und Oberkörper. Ihre wunderschönen blaugrünen, mit goldenen Punkten gesprenkelten Augen sahen den Anjorianer an. Der war außerstande zu sprechen und reichte ihr stumm das Chorhemd.
Sie runzelte die Stirn und musterte es eingehend, so als suche sie in ihrer Erinnerung nach einer Erklärung dafür. Dann wandte sie den Kopf und ließ den Blick durch diesen seltsamen, von Qualm und Staub erfüllten Raum wandern, in dem gelegentlich Blitze aufzuckten, die von Detonationen begleitet wurden. Doch da diese bizarre Szenerie keine Erinnerung in ihr wachrufen konnte, sah sie wieder Jek an.
Er fand sie so schön wie an jenem Tag, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Damals hatte er geglaubt, einem Engel gegenüberzutreten. Ihr langer Schlaf im Eis hatte ihre Schönheit nicht zerstört.
Ihre Augen flackerten auf, als würde sie nun begreifen. Sie bewegte die Lippen, aber kein Laut kam aus ihrem Mund.
»Ich bin Jek At-Skin«, sagte er langsam und deutlich. »Der Mahdi und ich sind gekommen, um Sie zu befreien. Vor drei Jahren wurden Sie kryogenisiert. Im Augenblick befinden wir uns im Bischöflichen Palast zu Venicia, der von den imperialen Streitkräften überfallen wird. Jetzt müssen wir so schnell wie möglich in den Deremat-Raum gelangen, damit alle an einen sicheren Ort fliehen können. Haben Sie mich verstanden?«
Aphykit schloss als Zeichen der Bejahung einmal die Augen und lächelte.
»Fühlen Sie sich stark genug, um aus dem Sarkophag zu steigen?«
Maltus Haktar hatte den letzten Kryo-Caisson desaktiviert und ging schnell zu den beiden.
»Ich helfe ihr«, sagte er und packte Aphykit unter den Achseln, hob sie aus dem Sarkophag, stellte sie auf den Boden und hielt ihre Taille umfasst, damit sie nicht hinfiel.
Die Art und Weise, wie er Aphykit behandelte, ärgerte Jek. Er fand, dass sie eine respektvollere Behandlung als die des Meistergärtners verdient habe.
»Sie muss sich erst etwas anziehen«, sagte der Anjorianer zornig.
Sie streckte einen zitternden Arm aus, nahm das weiße Chorhemd, setzte sich auf den Sockel des Sarkophags und streifte es über.
Auch San Francisco hatte sich bereits aufgerichtet und wirkte ebenso verwirrt wie Aphykit zuvor. Sein Blick war verständnislos und unstet.
Der Meistergärtner ging zu dem Jersaleminer, half ihm beim Aufstehen und legte ihm sein Cape um die Schultern.
Da Jek Aphykit und San Francisco jetzt in guten Händen wusste, ging er zu Yelle, der Fracist Bogh gerade das Reanimationsagens injiziert hatte. Er stellte sich auf den Sockel und beugte sich über das kleine Mädchen, deren Gesicht in Intervallen von den Strahlen der Highdensity-Wellen beleuchtet wurde. Ein Bluttropfen war in der Vene ihrer Armbeuge zu sehen, aber sie lag starr und steif da, zeigte kein Zeichen des Erwachens. Phoenix in dem Sarkophag neben ihr hatte bereits den Arm bewegt und die Augen geöffnet, obwohl ihr die Spritze erst nach Yelle verabreicht worden war.
Jek wurde das Herz schwer. Mit dem Handrücken streichelte er die eiskalte Wange des Mädchens und sandte allen ihm bekannten Göttern ein stummes Gebet. Auf ewig schien sie in diesem Sarkophag zu ruhen. Doch sie war das Wichtigste in seinem Leben, der Eckstein seines Gebäudes, wie Fracist Bogh gesagt hatte. Drei Jahre hatte er allein für diesen Augenblick gelebt, wenn sie die Augen öffnen und ihn anlächeln und seinen Namen aussprechen würde. Sollte sie für immer in diesem komatösen Zustand bleiben, gäbe es für ihn keinen Grund mehr, in diesem Universum zu verweilen …
Da erinnerte er sich, wie er San Francisco und Robin de Phart daran gehindert hatte, im Zirkus der Tränen auf Jer Salem jenen Punkt zu überschreiten, von dem es keine Rückkehr mehr gab. Doch Feingefühl hinderte ihn daran, die Hand auf Yelles Schamhügel zu legen. Also kniff er sie heftig in den Mund. Ohne Wirkung.
Er spürte, dass jemand hinter ihm stand. Aphykit betrachtete ihre Tochter, sie hielt sich mühsam auf den Beinen, ihr Blick angsterfüllt. Trotz des Chorhemds zitterte sie vor Kälte und Sorge, während Shari und Fracist Bogh daneben Phoenix aus ihrem gläsernen Sarg befreiten.
Eine überaus heftige Druckwelle riss die Tür aus den Angeln und schleuderte sie an die gegenüberliegende Wand. Glassplitter von den zwei leeren Sarkophagen flogen durch die Luft – ein apokalyptisches Bild der Gewalt.
»Wir können nicht länger warten!«, schrie Maltus Haktar.
»Yelle ist noch nicht erwacht!«, schrie Jek zurück.
Er sah, wie sich Aphykits Augen mit Tränen füllten, und verfluchte das Schicksal.
»Die Kleine hat die Kryogenisierung nicht vertragen«, flüsterte Fracist Bogh bedrückt. »Die Spezialisten haben mich gewarnt, dass ein solcher Fall eintreten könne … Vielleicht sollten wir mit den Graphemen der Inddikischen Wissenschaft versuchen, sie wieder zum Leben zu erwecken …«
Shari hüllte Phoenix’ zitternden Körper in seinen Mantel und eilte zu Yelles Sarkophag.
Jek hatte eine Idee, dumm, wie alle aus der Verzweiflung geborenen Ideen. Er nahm den Ring des Muffis aus seiner Tasche und ergriff Yelles Hand. Nur mühsam gelang es ihm, ihr den Ring über den noch steifen Finger zu streifen. Der Korund verlor sofort an Strahlkraft, als ob seine seit Jahrtausenden gespeicherte kristalline Energie in den Körper des kleinen Mädchens gewandert wäre.
Dann beugte sich Shari über diese kleine Schwester, die er heute zum ersten Mal sah. Zwar war sie nicht seine leibliche Schwester, und ihre Geburt hatte ihn damals ziemlich verstört, aber als er ihr jetzt in das schöne, von goldenem Haar umrahmte Gesicht blickte, liebte er sie bereits wie ein Bruder. Als er Jek, der in Tränen aufgelöst war, ansah, verstand er sofort, dass der Anjorianer nur für sie und durch sie lebte, dass sie seine Hälfte war, sein zweites Ich. Und dass sein Gefährte alles, was er getan hatte, nur in der Hoffnung getan hatte, eines Tages wieder mit ihr vereint zu sein.
Er warf Aphykit einen Blick zu. Sie litt noch unter den Strapazen der Reanimierung. Die Verzweiflung einer Mutter über den drohenden Verlust ihres Kindes stand ihr ins Gesicht geschrieben, und sie konnte sich nur mühsam auf den Beinen halten.
Oniki besitzt dieselbe Willensstärke, dachte er, und diese unbeugsame Kraft kann ich nur bewundern – und ich muss dafür dankbar sein.
»Sie kommen!«, rief in dem Moment Maltus Haktar.
Der Oberste Gärtner hatte San Francisco, der seine Kräfte wiedererlangte, allein gelassen und sich vor der Tür postiert. Mit gezückter Waffe spähte er in den Gang und sah durch die Rauchwolken schattenhafte Gestalten hin und her huschen. Unmöglich zu erkennen, ob sie Feinde oder Freunde waren. Die Kämpfe nahmen an Heftigkeit zu, und er glaubte zu hören, wie Wände einstürzten.
»Wach auf!«, flehte Jek und strich Yelle über die Nase.
Maltus Haktar schoss eine Salve auf einen grauweißen Söldner – für einen solchen hielt er ihn –, der auf die Tür zurannte. Der tödliche Strahl durchbohrte die Brust der Gestalt, er wurde von den Füßen gerissen und stürzte zehn Meter weiter zu Boden. Die glänzenden Scheiben lösten sich aus seinem Wurfapparat und bohrten sich kreischend in Wände und Decke des Gangs.
»Wir sitzen in der Falle!«, stöhnte der Osgorite. »Der Weg zu den Deremats ist versperrt …«
Jek glaubte, ein kaum wahrnehmbares Flattern von Yelles Lidern gesehen zu haben, doch je länger er sie anstarrte, umso mehr zweifelte er an seiner Beobachtungsgabe.
»Wach auf …«, flehte er unhörbar.
»Der Stein!«, rief Shari. »Er glänzt wieder.«
Der Julianische Korund hatte seine ursprüngliche Strahlkraft wiedererlangt und glühte jetzt in einem noch intensiveren Feuer. Von Hoffnung erfüllt, ging Aphykit zu dem Sarkophag und wagte es endlich, ihre Tochter anzuschauen, dieses außergewöhnliche Geschenk Tixus.
Seit drei Jahren sind wir kryogenisiert, hat der junge Mann gesagt. Wie heißt er noch? Jek oder so ähnlich … Wäre er inzwischen nicht so groß geworden, hätte ich geglaubt, erst vor ein paar Stunden eingeschlafen zu sein.
Eingeschlafen ist nicht das richtige Wort. Die Sonne hatte nicht einmal den Zenith erreicht, als dieser nackte bewaffnete Mann in unserem Pilgerdorf auftauchte und mich bedrohte. Yelle war mit dem Jungen im Gebirgsbach zum Baden gegangen, und die beiden Jersaleminer reinigten die Obstkisten im Garten. Und im Haus hat es nach Gas gerochen, wie ich mich erinnere, wohl weil dieser junge Mann plötzlich bei uns auftauchte. Er sah wie ein Aristokrat aus, schien aber dem Wahnsinn nahe zu sein.
Aphykit sah im Geist immer klarer das damalige Geschehen vor sich.
»Was ist mit Yelle?«
»Deine Tochter kommt auch noch dran. Und der Anjorianer.«
»Sie sind Syracuser, nicht wahr?«
»Ich bin kein Mensch mehr, sondern ein mentales Implantat. Marti de Kervaleur hat nur dazu gedient, euch vier hier aufzuspüren.«
Dann hatte er auf sie geschossen. Aphykit erinnerte sich noch an den Schmerz auf ihrer Stirn und wie sie ein Gefühl der Lähmung ergriffen hatte, bis sie zu Boden gestürzt war. Lange Minuten war sie noch bei vollem Bewusstsein, aber unfähig zu reagieren gewesen. Tixu hatte ihr ans Herz gelegt, auf Yelle aufzupassen, aber sie war in die erstbeste Falle des Bloufs getappt.
Als sie jetzt den starren Körper ihrer Tochter betrachtete, überkam sie ein schreckliches Schuldgefühl.
Aphikit erwachte aus ihren Erinnerungen, als sie einen intensiven Blick auf sich ruhen spürte. Erst in diesem Augenblick erkannte sie Shari an seinen Augen. Er war ein Mann geworden und sah mitgenommen aus. Trotzdem hatte er sich viel von seiner kindlichen Anmut und Naivität bewahrt.
Sein Anblick rief Erinnerungen in ihr wach an die unbeschwerte Zeit, als sie im Gebirge gewandert waren; an warme, von Düften erfüllte Nächte unter einem sternenübersäten Himmel; an das Herumgetolle mit dem kleinen Shari und an die Liebesspiele mit Tixu; an die innige Gemeinschaft mit den Pilgern …
Diese wenigen glücklichen Jahre hatte sie dem Schicksal gestohlen, einem unerbittlichen Schicksal, das sich nun auf fürchterliche Weise rächte: Zuerst hatte es ihr den geliebten Mann genommen, dann hatte es sie zu einem drei Jahre währenden Tiefschlaf verdammt, und jetzt griff es nach ihrer Tochter, so als wolle es ihr nach und nach jeden Lebensinhalt und jede Freude rauben. Sollte Yelle nicht wieder erwachen, hätte sie keine Kraft zum Kampf mehr.
Da sah Aphykit, dass Shari sie ermutigend anlächelte.
»Lange kann ich die Stellung nicht mehr halten!«, rief Maltus Haktar.
Er lehnte am Türrahmen und schoss pausenlos in den Gang auf immer zahlreicher anstürmende Gegner. Einige gingen hinter ihren toten Kameraden in Deckung, benutzten sie als Schutzschilde und robbten näher.
»Ich brauche Hilfe!«, schrie der Oberste Gärtner. »Hat noch jemand eine Waffe?«
Jek klopfte seine Taschen ab, musste seinen Wellen-Töter aber verloren haben. Shari hatte seinen in der Residenz der Mars’ vergessen. Das Energiepotenzial von Maltus Haktars Waffe wurde immer schwächer, und schon bald würden sie nur noch mit bloßen Händen gegen die Pritiv-Söldner kämpfen können. Natürlich könnten sie das Antra herbeirufen, aber nur Jek, Shari und Aphykit – sollte sie sich genügend von ihrer Kryogenisierung erholt haben – beherrschten die psychokinetische Reise, und sie durften die beiden Jersaleminer, den Muffi und den Meistergärtner nicht ihrem Schicksal überlassen – von Yelle ganz zu schweigen.
Jetzt leuchtete der Julianische Korund wie ein Stern am Himmel. Das kleine Mädchen war von einem indigofarbenen Schein umgeben.
»Yelle!«
Sie sah ihn mit großen Augen an, wie aus langem Schlaf erwacht, und ihr Blick verriet bereits die Ernsthaftigkeit, die ihr zu eigen war. Sie lächelte, öffnete den Mund und stammelte, kaum hörbar, ein paar Worte.
»Bist du das, Jek? Du bist gekommen …Wo ist Mama? Meine Arme … meine Beine … ich spüre sie nicht …«
Jek schluchzte vor Glück, weil sie erwacht war, aber auch vor Kummer, weil sie gelähmt zu sein schien. Auch Aphykit weinte.
Yelle sah ihre Mutter an. Eine neue Flamme brannte in ihren graublauen Augen. »Mama …«
»Die Spezialisten sagen, dass die Tetraplegie eine eventuelle Folgeerscheinung einer Kryogenisierung sein könne«, erklärte Fracist Bogh. »Wir müssen sie tragen …«
»Wird sie wieder gesund werden?«, fragte Shari.
Der ehemalige Gouverneur zuckte mit den Schultern.
Shari hob Yelle vorsichtig aus dem Sarkophag. Jek zog seine Jacke aus und gab sie dem Mahdi. Sie wickelten das kleine Mädchen darin ein, und Shari bettete ihren Kopf so bequem wie möglich an seine Brust.
Dann ging Jek zu Aphykit, umfasste ihre Taille und legte seine Stirn an ihre Brust. Zuerst reagierte sie nicht, doch dann umarmte sie ihn. So blieben beide eine Weile stehen, vereint in ihrem Schmerz und ihrer Liebe für Yelle.
Phoenix ging langsam zu San Francisco und warf sich in seine Arme.
»Wir sind bereit«, sagte Shari.
Die Pritiv-Söldner hatten inzwischen die letzten Verteidiger massakriert und sich hinter einer Barrikade aus aufeinandergestapelten Leichen verschanzt. Sie warteten geduldig, bis der energetische Vorrat der Waffe des Osgoriten erschöpft war, um den Raum zu erstürmen. Die Explosionen hatten aufgehört. Es war nahezu dunkel in dem von Rauch und Staub erfüllten unterirdischen Gelass.
»Mein Kopf sagt mir, dass wir versuchen müssen, unseren toten Feinden ihre Waffen abzunehmen«, sagte San Francisco, der sich inzwischen hinter den Meistergärtner gestellt hatte. Noch hatte er sich nicht ganz erholt, aber er war ein Prinz Jer Salems, ein Krieger, und konnte es nicht verantworten, dass der Osgorite allein kämpfte.
Maltus Haktar warf ihm einen Blick über die Schulter zu. »Ihr Kopf hat sicher Recht, aber erstens liegt der nächste Tote in etwa zehn Metern Entfernung am Boden, also könnten wir getroffen werden. Und zweitens sind wir nicht einmal sicher, eine brauchbare Waffe zu finden.«
»Ich spreche das Heilige Wort des Abyners Elian …«
»Ich respektiere Ihren Glauben, doch fürchte ich, dass Sie von einer der Wurfscheiben der Söldner enthauptet werden. Obwohl in diesem Gang nicht mehr viel zu erkennen ist, schätze ich, dass wir es noch mit etwa zwanzig Gegnern zu tun haben …«
San Francisco beugte sich vor und versuchte, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Er sah Leichen und graue Schatten hinter den aufgehäuften Toten.
»Das Heilige Wort wird mich in die Lage versetzen, ungefähr fünf Sekunden unsichtbar zu sein. Wenn ich hingehe, dürfte das kein Problem sein, aber wenn ich zurückkomme, müssen Sie mir Feuerschutz geben …«
Der Oberste Gärtner nickte. Der Muffi – der ehemalige Muffi, weil er sich selbst abgesetzt hat – verkehrt mit sonderbaren Leuten im Keller seines Palastes, dachte er. Mit Kindern, die auf ihren Gedanken reisen, mit Frauen von fast überirdischer Schönheit und Personen, die dank eines Zauberspruchs unsichtbar werden … Wenn ich in mein Heimatdorf auf Osgor zurückkehre und meinen wohlverdienten Lebensabend genieße, kann ich diese Geschichten nicht einmal erzählen, weil mich meine Landsleute dann für einen Lügner halten würden.
San Francisco öffnete den Verschluss von Maltus Haktars Cape, warf Phoenix einen verständnissuchenden Blick zu und stellte sich völlig nackt in die Türöffnung.
Er hoffte inständig, dass sein langer Schlaf – drei Jahre hatte der Prinz der Hyänen gesagt – nicht die achttausend Jahre alte Kraft des Heiligen Wortes des Abyners Elian geschwächt habe.