SIEBZEHNTES KAPITEL
Im Jahr 20 des Ang-Imperiums war ich Techniker bei der staatlichen Holovision, S. H. Wir bekamen den Auftrag, die Erstürmung des Bischöflichen Palastes zu Venicia durch die imperialen Truppen – Pritiv-Söldner, Interlisten und Purpurgarde – zu dokumentieren. Also begleiteten wir die Angreifer bei ihrer zweiten Attacke in den Palast. Die Vorhut hatte bereits den Widerstand gebrochen. Zahlreiche Osgoriten waren niedergemetzelt worden und Flure und Räumlichkeiten von verstümmelten Leichen übersät. Trotzdem wurden weiterhin Lichtbomben gezündet, und wir verdankten unser Leben nur den Interlisten, die uns begleiteten. Alle Gänge und Korridore waren derart mit Minen verseucht, dass viele der Angreifer ihr Leben lassen mussten. Rauch und Qualm waren so dicht, das sogar unsere ultrasensiblen Holoobjektive nur sehr unscharfe Bilder lieferten. Doch wir wurden von dem Wunsch angetrieben, den Muffi Barrofill XXV. vor die Kamera zu bekommen, den Marquisatolen, den Mann, den alle Venicianer am Feuerkreuz sehen wollten.
Nach einer Stunde erreichten wir endlich das Kellergeschoss. Über den Muffi waren die abstrusesten Gerüchte im Umlauf: Er sei erschossen worden; er habe Selbstmord begangen, indem er sich einen Dolch ins Herz stieß; er habe sich in die Reparaturwerkstatt für Deremats geflüchtet; oder gar, die Krieger der Stille seien zu seiner Unterstützung herbeigeeilt.
Und während wir im Getöse der Explosionen und den Schreien der Sterbenden weiter in den Palast vordrangen, wuchs der Hass auf den Marquisatolen in uns, denn wir gaben diesem Mann die Schuld an dem Massaker, bei dem Hunderte den Tod fanden.
Terni Jauïonn,
»Autobiografie eines Zeitzeugen«
Maltus Haktar fragte sich, ob er nicht verrückt geworden sei. Nur der heiße Lauf seiner Todeswellenpistole war real und verhinderte, dass er endgültig den Verstand verlor.
Der ein paar Meter von ihm entfernt liegende Tote war plötzlich zum Leben erwacht. Es wollte einfach nicht in den Kopf des Obersten Gärtners, dass sich der Jersaleminer durch einen so genannten heiligen Spruch unsichtbar machen konnte und jetzt den leblosen Mann nach einer Waffe durchsuchte.
Die Pritiv-Söldner hatten sich hinter dem Schutthügel verschanzt und starrten auf die Tür des Raums, in dem sich ihre Feinde aufhielten. Wahrscheinlich hatten sie die Bewegungen ihres toten Kameraden nicht bemerkt.
Im schwach aufblitzenden Licht schien es Maltus Haktar, als würden sie jetzt die Teile einer Mumifizierungskanone zusammenschrauben – eine schreckliche Waffe, gegen die es keinen Schutz gab und deren Einsatz wahrscheinlich zum Einsturz dieses Teils des Gebäudes führen würde.
Da spürte der Osgorite, dass jemand in seiner Nähe war. Die Jersaleminerin, in Sharis weißen Mantel gehüllt, stand vor der Türöffnung und starrte in den Gang.
»Da dürfen Sie nicht bleiben, Madame«, sagte Maltus Haktar. »Diese Leute haben Waffen, die …«
Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, als eine glänzende, sich drehende Scheibe gegen den Metallrahmen der Tür prallte, nur ein paar Zentimeter von Phoenix’ Kopf entfernt. Erschrocken packte der Gärtner den Arm der jungen Frau und zerrte sie so heftig zurück, dass sie zu Boden stürzte.
»Sind Sie verrückt geworden, Maltus?«
»Mir ist es lieber, verrückt zu sein und lebendig als bei Verstand und tot, Eure Heiligkeit … oder wer auch immer Ihr seid … Gütiger Himmel!«, sagte er, weil er sah, dass der Jersaleminer plötzlich wieder Gestalt angenommen hatte und – nicht wie versprochen, zurückkam, sondern zum Fuß des Schutthaufens kroch. Jetzt richtete er sich auf und schoss mit der erbeuteten Waffe.
Der überraschende Angriff war ein voller Erfolg. Mehrere Söldner wurden von den tödlichen Wellen getroffen und stürzten rücklings zu Boden. Die Kanone flog auseinander.
»Was ist da los, Maltus?«, rief Fracist Bogh.
»Unser jersaleminischer Freund räumt auf, und ich werde ihm gleich dabei helfen«, antwortete der Gärtner und rannte gebückt und ununterbrochen schießend zu dem tapferen Mann. Die Söldner waren derart unter Beschuss geraten, dass sie sich in einen anderen Gang zurückgezogen hatten.
Beide hörten mit dem Schießen auf. Sie rührten sich nicht, alle Sinne angespannt spähten sie in die Dunkelheit.
»Es ist Zeit, dass wir aus unserem Loch rauskriechen«, murmelte Maltus Haktar.
»Was sagt Ihr Kopf, wohin sollen wir uns begeben?«, fragte San Francisco.
»Zur Deremat-Werkstatt. Die Deremats sind bereits vorprogrammiert, uns zu einer Relaisstation auf Platonia zu transferieren.«
»Wo ist diese Werkstatt?«
»Ein paar Hundert Meter von hier entfernt, tief unter der Erde. Wir müssen den Gang hinunter, dann die erste Abzweigung nach links nehmen, bis zum Lift nach unten. Von dort aus sind es noch etwa fünfzig Meter.«
»Mein Kopf sagt mir, dass der Weg sehr lang ist …«
»Ihr Kopf hat nicht ganz Unrecht. Wahrscheinlich treiben sich diese verdammten Söldner überall herum.«
»Mein Herz sagt mir, dass wir viel Zeit verloren haben.«
So amüsant und verwunderlich der Osgorite auch die Ausdrucksweise des Jesaleminers fand, so bewunderte er diesen Mann für seinen Mut.
»Mein Herz schlägt so heftig, dass ich es nicht mehr verstehe«, sagte er, nicht ohne Respekt. »Aber ich habe mich noch nicht vorgestellt. Ich bin Maltus Haktar, Osgorite und Oberster Gärtner des Palastes.«
»San Francisco, Prinz der Amerikaner Jer Salems.«
»Ein Prinz?«, sagte Maltus Haktar erstaunt. »Da kann ich nicht konkurrieren. Ich bin nur ein Mann aus dem Volk, ein Bauer aus einem Dorf auf Osgor.«
»Nicht die Geburt entscheidet über den Wert eines Menschen«, entgegnete San Francisco. »Denn Sie sind ein Prinz des Kopfes und des Herzen.«
Der Oberste Gärtner sah den Jersaleminer verblüfft an. Dieser Mann war nackt, war gerade erst aus einem drei Jahre währenden Tiefschlaf erwacht und strahlte so viel Würde und Edelmut aus, dass man ihn sich sofort zum Freund wünschte.
»Mein Kopf sagt mir, dass es Zeit ist, unsere Freunde zu holen …«
»Machen Sie das. Ihre Frau sorgt sich um Sie. Ich halte hier die Stellung.«
Nachdem sich die kleine Gruppe mit den Todeswellen der gefallenen Pritiv-Söldner bewaffnet und Maltus Haktar ihnen die Handhabung der Waffen erklärt hatte, stiegen die Freunde über den Schutthaufen und gingen vorsichtig weiter, Maltus Haktar und San Francisco – er trug wieder das Cape des Gärtners – an der Spitze. Aphykit und Phoenix folgten ihnen mühsam, denn sie hatten sich kaum von den Nachwirkungen ihrer Reanimation erholt. Diese Phase, bis die Wiederbelebten ihre vollständigen körperlichen und geistig seelischen Kräfte zurückgewonnen hatten, dauerte normalerweise zwei Tage. Shari trug Yelle und folgte Aphykit. Jek und Fracist Bogh bildeten den Schluss.
Als sie die Abzweigung nach links erreichten, wurden sie zum ersten Mal angegriffen. Der Oberste Gärtner und San Francisco hörten das charakteristische Klicken der Wurfmaschinen und riefen sofort:«Vorsicht!«
Alle pressten sich an die Wand des Gangs, als die Wurfscheiben mit ihrem bösartigen Summen durch die Luft schossen, aber keinen Schaden anrichteten.
»Wie viele sind es?«, flüsterte San Francisco.
»Drei oder vier, schätze ich«, antwortete der Gärtner leise. »Söldner, die Ihren Angriff vorhin überlebt haben. An denen kommen wir nicht leicht vorbei. Sie töten uns, sobald wir uns hervorwagen. Es sei denn, Sie machen sich noch einmal unsichtbar.«
»Mein Herz täte das gern, aber mein Körper ist dazu noch nicht fähig, denn es ist nicht genügend Zeit verstrichen, um diese Kräfte zu regenerieren.«
Die Stille wurde plötzlich von dumpfem Kampflärm unterbrochen. Noch immer wehrten sich die Osgoriten tapfer gegen die Übermacht der imperialen Streitkräfte.
»Aber ich habe das heilige Wort noch nicht gesprochen«, sagte Phoenix entschlossen und ging zu den beiden Männern.
»Mein Herz sagt mir, dass das keine gute Idee ist«, murrte San Francisco.
»Und was sagt dir dein Kopf, Prinz der Amerikaner?«
»Mein Kopf sagt, dass dies die einzige Lösung ist, aber mein Herz ist dagegen.«
»Manchmal muss man sein Herz zum Schweigen bringen … Aber ihr beide müsst schnell handeln. Ich bin in der Kunst des Unsichtbarwerdens nicht so geübt wie du.«
San Francisco legte den Sicherheitsbügel von Phoenix’ Waffe um. »Drei Sekunden genügen. Solange du unsichtbar bist, sind Schusswaffen wirkungslos. Achte darauf, nicht das Gleichgewicht zu verlieren.« Er machte mit der Waffe eine Schwenkbewegung. »Zielen ist unnötig. Behalte nur den Finger am Abzugsbügel.«
Phoenix nickte.
Er legte die Hand auf ihre linke Brust und fühlte das wilde Schlagen ihres Herzens.
»Dein Herz ist sehr groß, Phoenix.«
»Wäre es das nicht, es wäre deiner nicht würdig, mein Prinz.«
Er trat zur Seite, um sie vorbeizulassen. Sie lehnte sich an die Wand, schloss die Augen, atmete tief ein und sprach stumm die heiligen Worte des Abyners Elian.
Dann verschwand sie in dem Nebengang, blieb nach ein paar Schritten stehen, spreizte die Beine und hob ihre Waffe.
Vier weiße Gestalten mit ausgestrecktem Arm hoben sich von dem dunklen Hintergrund ab. Im Licht ferner Detonationen blitzten die metallenen Wurfscheiben auf.
Phoenix drückte auf den Abzug.
Nichts. Zuerst glaubte sie, noch unsichtbar zu sein, und drückte wieder.
Nichts. Sie wollte schreien, aber kein Ton kam aus ihrem Mund. Sie glaubte, sich in einem Albtraum zu befinden.
Was tue ich hier, in diesem finsteren unterirdischen Gang? Diese vier weiß maskierten Männer wollen mich töten, und meine Waffe ist blockiert.
Eine Wurfscheibe flog sirrend auf sie zu, und sie war unfähig, sich zu bewegen, so als ginge dieses Geschehen sie nichts an. Den Bruchteil einer Sekunde, ehe die Scheibe ihren Hals durchtrennen würde, verlor sie auf seltsame Weise den Halt und fiel der Länge nach hin. Ein scharfer Schmerz durchzuckte ihren Kopf. Sterne tanzten vor ihren Augen.
San Francisco stand auf und schoss eine Salve Todeswellen auf die vier Söldner ab. Das plötzliche Erscheinen Phoenix’ hatte die Männer verwirrt. Und der Prinz von Jer Salem hatte sofort reagiert, indem er seine Geliebte zu Fall brachte und auf seine Gegner schoss.
Die Wurfscheiben der sterbenden Söldner flogen an ihm vorbei. Als Maltus Haktar die beiden erreichte, beugte sich San Francisco über Phoenix und half ihr behutsam auf.
»Mein Kopf schmerzt«, murmelte sie und massierte ihren Hinterkopf, »aber er sagt mir, dass er ohne dein Eingreifen nicht mehr auf meinem Hals säße. Meine Waffe hatte eine Ladehemmung.«
»Dein Ablenkungsmanöver war ein voller Erfolg. Der Weg ist frei.«
»Ich konnte dir noch nicht sagen, wie ich mich freue, dich und Phoenix wiederzusehen«, sagte Jek.
Die acht Freunde standen zusammengedrängt auf der Plattform, weil sie nicht sehr groß war. Jetzt fuhren sie langsam den Gravitationstunnel hinunter. Ein Quietschen begleitete den Abstieg, und Leuchtziffern zeigten die jeweils tiefer gelegene Etage an. Bisher waren sie auf keine Gegner gestoßen, obwohl die Kämpfe noch andauerten.
Die Luft wurde immer stickiger.
»Der Palast wird bald einstürzen«, hatte Fracist Bogh gemurmelt.
San Francisco lachte rau und entgegnete: »Ich glaube, mein Herz und mein Kopf freuen sich noch mehr, Prinz der Hyänen. Du und deine Freunde, ihr habt wie Sterne über unserer unendlichen Nacht geleuchtet. Wir waren gestorben, und du hast uns ins Leben zurückgeholt … Wie ich sehe, bist du fast ein Mann geworden. Daraus schließe ich, dass wir lange in diesen gläsernen Kästen geschlafen haben.«
»Drei Jahre«, sagte Jek.
»Wenn wir diesen Ort verlassen haben, musst du mir alles erzählen, was währenddessen passiert ist. Mein Kopf muss wissen, wie sich das Universum in dieser Zeit verändert hat.«
Jek sah seinen Freund und Phoenix ernst an. »Wir haben erfahren, dass Jer Salem, dass euer Volk …« Ihn verließ der Mut, den Satz zu vollenden.
»Das Ende Jer Salems stand im Himmel geschrieben«, murmelte San Francisco mit finsterer Miene.
»Dafür trage allein ich die Verantwortung«, mischte sich Fracist Bogh ein. »Als Muffi der Kirche des Kreuzes gab ich den Befehl, Jer Salem zu zerstören.«
Daraufhin sahen alle den Marquisatolen an. Sein Gesicht hatte einen gequälten Ausdruck, und Tränen standen in seinen Augen.
»Einen Paritolen auf dem Thron des Pontifex zu sehen, gefiel den syracusischen Kardinälen überhaupt nicht«, sprach Fracist Bogh betrübt weiter. »Sofort stellten sie mich auf den Prüfstand. Als Erstes forderten sie das Todesurteil für die ehemalige Imperatrix, Dame Sibrit de Ma-Jahi, eine Frau mit bemerkenswerten Fähigkeiten; dann verlangten sie die Vernichtung der Jersaleminer, da dieses Volk in ihren Augen der Häresie schuldig sei …
Ich hielt es für besser, die einhundertvierzigtausend Menschen dieses Volkes zu opfern als meinen Gegnern offen den Krieg zu erklären, ein Krieg, der wahrscheinlich etliche Schismen ausgelöst und Milliarden Menschen das Leben gekostet hätte … Ich wäre meines Amtes enthoben worden und ein anderer, weniger unerbittlicher Mann wäre an meine Stelle getreten. Ich hätte die Kontrolle über euch vier, die ihr hier im Tiefschlaf lagt, verloren und wäre nicht in der Lage gewesen, die Aufgabe, die mir von meinem Vorgänger übertragen worden war, zu vollenden. Ich hätte weder Zugang zu den geheimen Schriften der Kirche des Kreuzes gehabt, noch zu den Inddikischen Graphemen … Alles, was ich sage, klingt wie eine Rechtfertigung, das weiß ich. Denn heute kommen mir Zweifel, das Richtige getan zu haben …«
Drückendes Schweigen, nur vom fernen Kampflärm unterbrochen, folgte den Erklärungen Fracist Boghs.
Bei den Worten des Kirchenmannes hatte Phoenix an ihre Eltern und ihren Heimatplaneten denken müssen, die sie nun niemals wiedersehen würde. Doch seltsamerweise erfüllte sie dieser Gedanke weder mit Bedauern noch mit Trauer.
»Das Volk der Jersaleminer hat sich selbst zum Tode verdammt«, sagte San Francisco. »Hätte es nicht den Pfad des Herzens verlassen, die Xaxas hätten es zur Terra Mater gebracht, und Sie hätten ein unbewohntes Gestirn zerstört. Sie sind nur ein Werkzeug des Schicksals gewesen.«
»Ein Werkzeug des Todes«, flüsterte Fracist Bogh. »In die Geschichte werde ich als der Muffi eingehen, der einen Genozid verübt hat.«
»Vielleicht wird man Sie ganz anders in Erinnerung behalten: als einen der zwölf Ritter der Offenbarung, der Erlösung brachte«, mischte sich Shari ein.
»Von welcher Erlösung sprechen Sie? Von meiner?«
»Welcher Zusammenhang besteht zwischen dem Kreuzianismus und der Inddikischen Wissenschaft?«, fragte Aphykit, die inzwischen wieder im Vollbesitz ihrer geistigen Fähigkeiten war. Allerdings erfüllte sie bei der Erinnerung an Tixu eine tiefe Trauer, und Yelles Lähmung schmerzte sie sehr. Doch trotzdem kämpfte sie weiter.
»Der Kreuzianismus ist sozusagen ein Ast der Inddikischen Wissenschaft«, antwortete der ehemalige Muffi. »Ein Ast, der sich vom Stamm getrennt hat und langsam verfault ist.«
»Jetzt verstehe ich, warum mein Vater, Sri Alexu, einst sagte, dass die Kirche eine gehorsame Tochter, eine verrückte Frau und eine grausame Mutter sei.« An Shari gewandt, fügte sie hinzu: »Erzähl mir von diesen zwölf Rittern der Offenbarung.«
Shari änderte Yelles Position, um seine schmerzenden Muskeln zu entlasten. In dem Moment erloschen die Wandleuchten. Rußschwarze Finsternis herrschte auf der Plattform.
»Wir haben die Inddikischen Annalen um Rat gefragt …«
»Du hast sie also gefunden?«
»Nicht nur ich, auch Jek. Und wir müssen zwölf sein, um Zugang zu ihnen zu haben, wir müssen eine götterähnliche Einheit – die Versammlung der Leuchtenden und Himmlischen – bilden. Nur so haben wir eine Chance, den Blouf zu besiegen.«
»Wer sind diese zwölf?«
»Die beiden Jersaleminer, der Muffi, du und deine Tochter, ein ehemaliger Ritter der Absolution, ein Mensch in einem Raumschiff-Zug, meine Oniki und mein Sohn Tau Phraïm – außerdem Jek und ich.«
»Deine Frau und dein Sohn? Wo sind die beiden? Auf Terra Mater?«
»Auf dem Planeten Ephren«, antwortete Shari traurig. »Seit ein paar Tagen habe ich keine Nachricht mehr von ihnen erhalten und ich habe das Gefühl, ihnen könnte etwas zugestoßen sein.«
»Sie sprechen sicher von Oniki Kay, der verbannten Thutalin?«, sagte Fracist Bogh. »Die ephrenischen Behörden haben vor Kurzem um Erlaubnis gebeten, aus Nouhenneland Riesenvögel zu importieren, um die Korallenschlangen auszumerzen.«
»Und Sie haben zugestimmt?«
»Schon seit Langem trifft Seneschall Harkot alle wichtigen Entscheidungen allein. Adaman Mourall, mein Privatsekretär, hat mir davon berichtet. Mehr weiß ich leider nicht darüber.«
»Sie sprachen von zwölf Rittern der Offenbarung«, sagte San Francisco. »Aber mein Kopf hat nur elf gezählt.«
»Wir wissen nicht, wer der Zwölfte ist«, antwortete Shari.
Die Plattform setzte sanft am Anfang eines von schwebenden Lichtkugeln erleuchteten Ganges auf.
»Papa«, murmelte Yelle.
»Was, Papa?«, fragte Aphykit.
»Papa ist der Zwölfte.«
»Er ist für immer fortgegangen.«
»Er wird zurückkommen«, beharrte ihre Tochter, »in seiner Gestalt, aber sein Herz wird von der Macht des Nichts erfüllt sein.«
An den mitleidigen Blicken der anderen erkannte Yelle, dass sie ihr nicht glaubten. Sogar ihre Mutter schien zu glauben, dass der Geist ihrer Tochter ebenso geschwächt wie deren Körper sei. Nur Jek, der sie liebte, sah sie an und glaubte ihr.
Die Zugluft in dem Gang wirbelte so viel Staub und Rauch auf, dass die Gefährten kaum etwas erkennen konnten. Sie lauschten, hörten aber kein verdächtiges Geräusch. Maltus Haktar hatte seine Gefolgsleute zum Schutz der Deremat-Werkstatt vorsorglich so positioniert, dass in der Nähe noch nicht gekämpft worden war.
»Ist dies der einzige Zugang zur Werkstatt?«, fragte San Francisco.
»Es gibt noch einen Lastenaufzug, doch den habe ich letzte Nacht mit Flüssigbeton blockieren lassen.«
»Was befindet sich in der Werkstatt?«, fragte Aphykit.
»Deremats, wie ich bereits sagte«, antwortete der Gärtner verärgert, weil er sich wiederholen musste. »Mit ihnen können wir auf Platonia reisen, in den kreuzianischen Tempel von Bawalo. Das ist ein Dorf, dessen Missionar ein Freund von mir ist, ebenfalls ein Osgorite. Er besitzt zwei Deremats, die Reisen über große Entfernungen ermöglichen, was natürlich illegal ist. Aber von dort aus können wir uns auf jeden beliebigen Planeten transferieren lassen.«
»Diese Ruhe hier lässt nichts Gutes ahnen«, verkündete San Francisco. »Mein Kopf sagt mir, dass wir mit größter Vorsicht vorgehen müssen.«
Der Flur war so schmal, dass sie nur hintereinander hergehen konnten, Maltus Haktar als Erster, ihm folgte Fracist Bogh. Die Atmosphäre war bedrückend, und es roch nach Verfall und Fäulnis in der stickigen Luft. Eine schwebende Lichtkugel zerschellte unerwartet an der Wand, und ein Regen leuchtender Glühfäden fiel hernieder. Der Flur endete vor einer Flügeltür aus Metall.
»Seltsam, dass sie offen steht«, flüsterte Maltus Haktar.
»Adaman muss vor uns hier gewesen sein«, gab Fracist Bogh zu bedenken.
Als der Gärtner diesen Namen hörte, verzog er angewidert das Gesicht.
»Hassen Sie ihn denn so sehr?«, fragte der ehemalige Muffi.
»Warum habt Ihr ihn zu Eurem Freund gemacht?«
»Weil ich glaube, dass er im Grunde seines Herzens ein guter Mann ist, und weil …«
Erst jetzt merkte Fracist Bogh, dass er Adaman Mourall nie Achtung entgegengebracht hatte und ihn allein deswegen zu seinem Privatsekretär ernannt hatte, weil der Mann ein Mitplanetarier war und seine Gesellschaft ihn die Einsamkeit im Exil hatte leichter ertragen lassen.
Die Werkstatt war ein großer Raum, in dem etwa zwanzig Deremats auf in der Luft schwebenden Hebebühnen standen. Andere befanden sich an einer Wand aufgereiht nebeneinander mit aufgeklappten Einstiegsluken oder Motorhauben. Ausgemusterte Geräte lagen aufeinandergetürmt in einer Ecke, in der Nähe eines Wiederverwertungstanks, in dem die verschiedenen Materialien voneinandergetrennt wurden.
Die Halle war grell erleuchtet, der Boden rot gestrichen, die Wände waren mit Rauputz versehen. Es roch stark nach Lösungsmitteln und Schimmel, und die Luft war zum Ersticken heiß.
Shari erkannte den Raum sofort wieder, denn er hatte ihn während seiner mentalen Reisen besucht und erkannt, dass dieser Ort bedeutend für die Durchführung seiner Pläne sein würde, weil hier alle geheimen Transfers in andere Welten stattfanden. Wichtig war jetzt nur eins: Er war hier, in Begleitung der vier Kryogenisierten und des Muffis.
Er hoffte, dass die chemischen Agenzien Yelle nicht zu sehr geschadet hätten, denn sie brauchten die ganze geistige Kraft dieses Mädchens, um gegen Hyponeros zu kämpfen. Immer, wenn sie ihn mit ihren graublauen Augen – dieselben wie Tixu – ansah, spürte er die ungewöhnliche Kraft, die in ihrem Blick lag.
Maltus Haktar ging zu den vier links in der Ecke stehenden schwarzen Deremat-Kapseln, die sich mit geringen Abweichungen glichen. Die Einstiegsluken befanden sich an den gewölbten Seiten. Drei waren offen, die vierte geschlossen.
Der Oberste Gärtner deutete mit ausgestrecktem Arm auf den Deremat. »Adaman Mourall ist da drin!«
Seine Stimme klang seltsam hohl in der großen, zu zwei Dritteln leeren Halle. Er ging zu dem Sockel, nahm die Fernbedienung aus einer Nische und drückte auf den Öffnungsknopf. Dann drehte er sich um und sah nacheinander seine sieben Mitstreiter an.
»Ich habe begriffen, dass ich für die Rettung der Menschheit der unbedeutendste Mann bin … Also werde ich als Letzter die Reise antreten.«
»Jek und ich brauchen keinen Deremat«, sagte Shari. »Jek erwartet Sie auf Terra Mater, im ehemaligen Dorf der Pilger. Währenddessen hole ich Oniki und Tau Phraïm vom Planeten Ephren.«
»Ich möchte Yelle begleiten«, sagte Aphykit. »Auch fühle ich mich noch nicht stark genug, um auf meinen Gedanken zu reisen.«
Maltus Haktar hatte das Gefühl, sich als einfacher Sterblicher in eine Götterwelt verirrt zu haben. Denn sie sprachen in völlig normalem Ton über magische Kräfte; sie redeten wie legendäre Helden – die sie ja auch waren. Menschen glaubten an sie, weil von ihnen das Schicksal der Menschheit abhing.
»Yelle kann die Bewegungen, die für den Transfer nötig sind, nicht machen«, fügte Aphykit hinzu.
»Das tun wir für sie«, sagte der Osgorite. »Wir schließen die Einstiegsluke und geben den Code per Fernbedienung ein. Noch eine Frage: Auf welche Koordinaten Terra Maters sollen wir die Deremats von Bawalo programmieren?«
»Auf die Koordinaten von Exod, der einstigen Stadt der Ameuryner. Sie sind in allen Memodisketten der Maschinen vorhanden«, antwortete Shari. »Das Wort E-X-O-D genügt.« Er senkte den Kopf und sah Yelle an. »Bist du bereit?«
Sie wandte Jek das Gesicht zu und schenkte ihm einen liebevollen und zugleich verzweifelten Blick. Dann schloss sie, kurz zustimmend, die Lider. Der Anjorianier lächelte Yelle an, dabei war er den Tränen nahe. Und Yelle klammerte sich an den Gedanken, dass sie sich auf Terra Mater wiedersähen und wie früher in dem Wildbach baden würden.
Maltus Haktar half Shari, Yelle durch die Luke zu schieben, dann beugte er sich in die Kabine und legte sie behutsam und so bequem wie möglich auf die Liege.
»Bis später, meine schöne Kleine …«
Yelle sah den Osgoriten eindringlich an. Für immer wollte sie sich das Gesicht dieses Mannes einprägen. Sie war ihm für seinen Mut und seine Ergebenheit unendlich dankbar, und sie wusste, dass sie ihn nie wiedersehen würde.
Sobald er wieder stand, bediente er die Fernbedienung. Die Luke schloss sich, dann war ein leises Rauschen zu hören, und aus den Spalten der Motorhaube zuckten grelle grüne Blitze.
»Jetzt sind Sie an der Reihe«, sagte Maltus Haktar zu Aphykit, San Francisco und Phoenix. »Befolgen Sie nur die Anweisungen auf dem Armaturenbrett. Nun zu Euch, Eure Heiligkeit … Fracist Bogh. Ihr müsst drei Minuten warten, bis sich der Desintegrationsmechanismus des ersten Deremats abgekühlt hat …«
»Und Sie? Womit reisen Sie?«, fragte der ehemalige Muffi.
»Macht Euch um mich keine Sorgen. Ich komme nach …«
Und während Aphykit und Phoenix die schwarzen Transferkapseln bestiegen, ging San Francisco zu Maltus Haktar und sah ihn ernst an.
»Mein Herz freut sich, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben.«
»Wenn das so ist, mein Prinz, wird es sich auch noch in wenigen Minuten freuen, wenn wir uns auf Platonia wiedersehen. Schauen sie mich um Gottes willen nicht so an, als wäre ich bereits gestorben.«
Trauer erfüllte die Augen des Jersaleminers. Er wollte etwas sagen, besann sich aber anders, winkte Jek zu und ging zu dem freien Deremat, während sich die Luken der anderen Maschinen eine nach der anderen schlossen, das Rauschen begann und die Apparate grüne Funken sprühten.
Maltus Haktar starrte angestrengt auf seine Fernbedienung. Sobald das gelbe Licht darauf erlosch, würde Yelles Deremat wieder verfügbar sein.
»Sie müssen nicht mehr warten, meine Herren«, sagte er, an Shari und Jek gewandt. »Ihre Freunde sind in Sicherheit.«
»Wir sehen uns auf Terra Mater wieder«, entgegnete Shari.
»Wie schön. Ich habe immer davon geträumt, dem Urplaneten einen Besuch abzustatten.«
»Vielen Dank, für alles, was Sie für uns getan haben.«
»Ich habe nur den Willen eines Verstorbenen respektiert«, sagte der Osgorite und starrte ostentativ auf seine Fernbedienung. Denn er glaubte, endgültig den Verstand zu verlieren, sollte er mit eigenen Augen sehen, wie sich Shari und Jek in Nichts auflösten.
»Überzeugen Sie sich selbst«, sagte da Fracist Bogh.
Nach einem kurzen Blick in die Runde und nachdem sich der Oberste Gärtner überzeugt hatte, mit dem Muffi allein zu sein, zuckte er mit den Schultern und sagte: »Das werde ich nie verstehen.«
Ein Licht blinkte an seiner Fernbedienung auf.
»Bald seid Ihr an der Reihe, Eure Eminenz …«
Plötzlich wurde die Flügeltür krachend aufgestoßen. Pritiv-Söldner stürmten in die Werkstatt und verteilten sich an strategisch wichtigen Punkten. Maltus Haktar griff nach seiner Waffe, packte den erstarrten Fracist Bogh am Arm und zerrte ihn hinter einen Deremat. Glänzende Metallscheiben surrten durch den Raum und fielen kreischend zu Boden. Der Gärtner schoss eine Salve auf die Angreifer ab, um sie auf Distanz zu halten.
»Unsere Verteidigungsstellungen wurden überrannt«, sagte er. »Wo ist Eure Waffe? Mein Magazin ist fast leer.«
»Ich habe sie vorhin auf den Sockel eines Deremats gelegt, weil ich glaubte, sie nicht mehr zu brauchen.«
Die etwa ein Dutzend Söldner pirschten sich vorsichtig näher an die beiden Osgoriten heran. Der Gärtner wusste, dass er mit seiner Waffe die Stellung nicht lange würde halten können. Sobald man sie beide eingekesselt hätte, würden sie verloren sein. Deshalb hielt er es für besser, die Initiative zu ergreifen.
»Wir brauchen zwei Sekunden, um hinter den Deremat zu gelangen«, sagte er leise. »Drei weitere braucht Ihr zum Einsteigen und fünf, um die Koordinaten des Transfers einzugeben. Wollt Ihr diese Chance wahrnehmen?«
»Ja, denn sonst schlachten sie uns einfach ab«, flüsterte Fracist Bogh. »Aber was wird aus Ihnen, Maltus?«
»Ach, ich kann jetzt erhobenen Hauptes vor den Vierundzwanzigsten treten. Aber noch bin ich nicht tot. Ich habe ebenfalls zehn Sekunden, um mit etwas Glück … Als Erstes müsst Ihr Euch die Fernbedienung schnappen und den rechten obersten Knopf drücken. Dann öffnet sich die Einstiegsluke. Konzentriert Euch auf das Notwendige. Ich kümmere mich um den Rest.«
Fracist Bogh legte seine Hand auf den Arm des Obersten Gärtners. »Ich bin Euch zu großem Dank verpflichtet, Maltus …«
»Dankt Eurem Vorgänger. Und lasst Euch nicht von Euren Emotionen beherrschen. Jetzt müsst Ihr einen kühlen Kopf bewahren …«
Er stand auf, schickte eine Salve Todeswellen quer durch die Halle, kauerte sich hin, befahl dem Muffi, ihm zu folgen und kroch zwischen zwei Deremats hindurch.
»Die Fernbedienung!«, zischte Maltus Haktar. »Schnell!«
Fracist Bogh gehorchte. Er kroch zu der Nische, während der Gärtner ihn mit einer weiteren Salve deckte, und drückte die richtige Taste. Die Luke öffnete sich. Doch als sich der Geistliche aufrichtete, zischte eine Scheibe nur Zentimeter über seinen Kopf hinweg und prallte gegen die Maschine, ehe sie als Querschläger gegen eine Wand schlug.
»Verdammt nochmal! Mein Magazin ist leer!«, sagte Maltus Haktar verzweifelt.
Die Todeswellen aus dem Lauf seiner Waffe verloren an Leuchtintensität. Sie reichten nur noch ein paar Meter weit, ehe sie gleich einem Rinnsal versiegenden Wassers zu Boden sanken.
Fieberhaft suchte er die Umgebung nach der abgelegten Waffe von Fracist Bogh ab und entdeckte sie auf dem Sockel eines Deremats zu seiner Rechten. Er ließ seinen Wellentöter fallen, spannte alle Muskeln an, sprang und rollte sofort zur Seite. Wurfscheiben umsirrten ihn, jedoch ohne ihn zu treffen. Wieder sprang er auf, packte die Waffe, entsicherte und drehte sich um.
Eine glänzende Scheibe bohrte sich in seinen rechten Brustmuskel und drang, sich noch immer drehend, tief in seinen Körper ein. Ein unerträglicher Schmerz durchzuckte ihn. Er wollte den Arm heben und abdrücken, aber sein Arm gehorchte ihm nicht mehr.
Von Entsetzen gelähmt, sah Fracist Bogh, wie sich eine zweite Scheibe in den Hals des Osgoriten bohrte und den Kopf vom Rumpf trennte. Blut sprudelte wie eine Fontäne aus der Wunde.
Weißgraue Gestalten kamen hinter ihrer Deckung hervor und gingen auf den Muffi zu. Doch der war unfähig zu reagieren. Wirre Gedanken schossen durch seinen Kopf. Die Zeit schien stillzustehen. Wie in Zeitlupe sah er sein turbulentes Leben an sich vorüberziehen, das gleich im Untergeschoss des Bischöflichen Palastes enden würde. Aus diesem Chaos tauchten die Gesichter von drei Frauen auf: das seiner Mutter, Jezzica Bogh, die er nach seiner Einweisung in eine Heilige Schule der Kreuzler nie wiedergesehen hatte; das Dame Armina Wortlings, der Frau des Seigneurs Abasky, und das Dame Sibrits, der ehemaligen Imperatrix … Drei Frauen, die die Kirche unendlich hatte leiden lassen, so als wäre der weibliche Aspekt im Menschen mit der kreuzianischen Lehre unvereinbar.
Die Augen der Söldner funkelten ihn aus den Schlitzen ihrer weißen Masken an. Drei ineinander verschlungene silberne Dreiecke prangten auf der Hemdbrust ihrer Uniformen.
»Dieser verdammte Osgorite wird Euch nicht mehr beschützen, Eure Heiligkeit!«, sagte einer mit dumpfer Stimme.
»Wenn wir den Palast verlassen, wird es kaum noch Paritolen hier geben!«, fügte ein anderer Söldner hinzu.
»Was machen wir mit ihm? Bringen wir ihn um?«
»Du weißt doch, wie der Befehl lautet: Die Kardinäle wollen ihn lebend haben. Wenn er dann am Feuerkreuz stirbt, wird er es noch bedauern, dass wir ihn verschont haben.«
»Bist du sicher, dass er der Marquisatole ist?«
»Ganz sicher. Ich habe ihn öfter im kaiserlichen Palast gesehen.«
»Wo sind denn die vier Tiefgefrorenen? Die Sarkophage sind leer …«
»Sie haben sich wahrscheinlich mit den Deremats transferieren lassen … Wir warten, bis der Ovate kommt.«
Der ganz in Schwarz gekleidete Offizier der Pritiv-Söldner kam ein paar Minuten später. Weder seine Maske noch seine Uniform schien ihm richtig zu passen, beide waren zu klein. Die Söldner hatten schweigend auf ihn gewartet.
Fracist Bogh hatte keine Angst mehr und die Kontrolle über sich zurückgewonnen. Er wollte nur am Leben bleiben; deshalb provozierte er seine Feinde nicht. Vielleicht würden der Mahdi Shari und seine Freunde ihn befreien können, das war seine vage Hoffnung.
Der Ovate schob seine Untergebenen beiseite und ging auf ihn zu. Seltsamerweise hielt er mit der linken Hand seine schwarze Maske am Kinn fest. Fracist Bogh hatte das absurde Gefühl, dass dieser Mann ihm wohlgesonnen sein könnte. Doch er verwarf diesen Gedanken sofort wieder, weil er glaubte, damit nur einer Wunschvorstellung nachzugeben.
»Wir haben den Vogel gerade noch vorm Ausfliegen gefangen, Ovate!«, rief einer der Söldner.
Der Offizier nickte.
»Glauben Sie, dass der Palast jetzt in unseren Händen ist, Ovate?«, fragte ein anderer.
Der Offizier zuckte mit den Schultern.
»Sie müssen ein Problem mit dem Masken-Transplantat haben. Diese Dinger wachsen manchmal nicht richtig an, und dann …«
»Verdammt!«, schrie ein Vierter. »Das ist nicht …«
Er konnte seinen Satz nicht beenden. Der Offizier stieß einen Schrei von ungeheurer Intensität aus, der den Mann mitten in den Solarplexus traf. Er brach über einem Deremat zusammen.
Der Ovate stieß weitere Schreie aus, wobei er den Kopf nach rechts und links drehte. Dieser Ton mähte die Söldner nieder. Das Ganze geschah so schnell, dass sie keine Zeit zur Verteidigung hatten.
Fracist Bogh war derart verblüfft, dass er sich nicht rührte. Ungläubig starrte er auf die Toten oder sich in Zuckungen am Boden wälzenden, wimmernden Männer.
Der Ovate nahm seine Maske ab und enthüllte ein glattes Gesicht mit schräg stehenden, unergründlichen Augen. Er ging vor dem Geistlichen in die Hocke und legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Fühlen Sie sich für einen Transfer stark genug?«
Fracist Bogh nickte.
»Ich bin Whu Phan-Li, ein Ritter der Absolution, und lebte als Flüchtling auf dem Sechsten Ring von Sbarao. Doch durch gewisse Ereignisse und eine Vision sah ich mich gezwungen, mich in dem Hauptquartier der Pritiv-Söldner zu rematerialisieren. Deshalb meine Verkleidung. Ich habe gewartet, bis sie den Bischöflichen Palast erstürmten, dann bin ich ihnen gefolgt.«
Fracist Bogh stützte sich auf den ausgestreckten Arm des Ritters und stand auf. »Ihr müsst der Ritter der Absolution sein, von dem Mahdi Shari sprach … Einer der zwölf Pfeiler des Tempels …«
»Ihr wisst davon?«, sagte der Ritter verwundert.
»Ich bin Fracist Bogh, der ehemalige Muffi der Kirche des Kreuzes, und hatte Gelegenheit, gewisse geheime Dokumente in deren Bibliothek einzusehen. Außerdem gehöre auch ich zum Kreis der zwölf Ritter der Offenbarung.«
»Mir schien, in meiner Vision ebenfalls ein Kind, einen Mann und ruhende Menschen in gläsernen Särgen gesehen zu haben. Aber Ihr seid allein …«
»Eure Vision war keine Täuschung. Alle diese Personen sind …«
Eine ungeheure Explosion erschütterte in diesem Moment Boden und Wände. Die grelle Beleuchtung erlosch. Es herrschte Dunkelheit.
»Sie haben die Generatoren zerstört! Jetzt gibt es keine magnetischen Energieströme mehr!«, rief Fracist Bogh.
»Aber die Deremats funktionieren doch noch?«, fragte Whu.
Schweigen.
»Sie funktionieren, oder nicht?«
Fracist Bogh antwortete verzweifelt: »Nein, das können sie nicht, weil sie mit magnetischer Energie gespeist werden.«