FÜNFZEHNTES KAPITEL

K-FUNKTION: Möglichkeit einiger prähistorischer Raumschiffe, ihre Selbstzerstörung zu programmieren, um im Fall einer Niederlage oder eines Suizidangriffs innerhalb der feindlichen Flotte den größtmöglichen Schaden anzurichten.

Gemäß dem syracusischen Gelehrten Messaodyne Jhû-Piet, Spezialist für tote irdische Sprachen, steht der Buchstabe K für das Wort »Kamikaze«. Es bedeutet »göttlicher Wind«.

»Die Vorgeschichte der Weltraumfahrt«
Unimentale Enzyklopädie

Seit einigen Tagen umkreiste der Raumschiffzug El Guazer die Erde. Durch das winzige Bullauge ihrer Kabine konnte Ghë die riesige blaue, von weißen und ockerfarbenen Flecken übersäte Halbkugel sehen. Als sie zum ersten Mal den Ursprungsplaneten der Menschen sah, hatte sie vor Freude alle ihre Schmerzen vergessen und erneut die Emotionen ihrer Schwestern und Brüder im Exil aufgefangen. Wegen der Hitze hatte sie ihr Kleid ausgezogen und die Kühle des Ventilators auf ihrer nackten Haut genossen  – aber ihre tiefe Depression war geblieben.

Als sie aus ihrer kurzen, durch Paralysin verursachten Kryogenisierung erwachte, hatten die Vigilanten sie fast totgeschlagen und dann der Reihe nach auf brutalste Weise vergewaltigt. Sie hatten sie geschändet.

»Die Erwählte verdient eine Sonderbehandlung!«

Daraufhin hatte Ghë ein Stadium der Empfindungslosigkeit erreicht. Ein Gefühl der Irrealität beherrschte sie, wie in einem Albtraum, und sie wünschte sich nichts anderes, als allein in ihrer Kabine aufzuwachen.

Später wurde ihr bewusst, dass diese Männer das Verlangen in ihr getötet hatten, dass sie nie wieder sinnliche Lust würde empfinden können. Am liebsten wäre sie gestorben, aber die Vergewaltiger waren nicht so mitfühlend gewesen, sie über Bord zu werfen.

Sie blutete aus vielen Wunden, doch im Gegensatz dazu waren ihre Augen trocken geblieben, und da hatte sie gewusst, dass sie auch nie wieder weinen würde.

Von tiefster Verzweiflung ergriffen, war sie in einen fiebrigen Schlaf gefallen, in dem wache Momente mit Phasen von Bewusstseinstrübungen wechselten.

Ghë erwachte, weil jemand sie an der Schulter rüttelte.

Als sie Augen öffnete, sah sie eisenbeschlagene Stiefel. Instinktiv krümmte sie sich zusammen. Allein diese Geste erinnerte sie an die erlittenen Qualen.

»Du brauchst keine Angst zu haben. Ich bin kein Vigilant.«

Die Stimme kam ihr bekannt vor, doch sie konnte sie nicht einordnen.

»Diese brutalen Kerle haben nie den Befehl bekommen, dich auf diese Weise zu misshandeln. Aber die Kaste der Vigilanten hält sich nicht immer an die Regeln. Es tut mir leid. Ich bin der Primas Kwin.«

Er beugte sich über sie. »Ich schicke dir einen Mediziner, Schwester Ghë …«

Sie fragte sich, was dieser Mann von ihr wollte, denn sie hatte nur ein Bedürfnis: heißes Wasser über ihren Körper rinnen zu lassen, sich zu reinigen, auch wenn sie wusste, dass nur die Zeit ihren Geist von den grausamen Bildern würde reinigen können, die sie ständig verfolgten.

»Du kannst mir helfen, Licht ins Dunkel zu bringen, Schwester Ghë«, sagte der Primas Kwin. »Denn du hältst das Schicksal Mâas, das ihrer Mitschwestern und das deiner Eltern in deiner Hand …«

»Wo sind meine Eltern?«, fragte Ghë.

»In der Nähe. Wir haben sie nicht in den Weltraum geworfen … Noch nicht … Zuerst musst du mir erzählen, was du während deines Trancestadiums gesehen hast.«

Kwins Ansinnen überraschte Ghë. Warum interessiert sich die Kaste der Herrschenden für die Krypto-Zeremonie, fragte sie sich.

»Die Kryptogame haben dieselben Halluzinationen wie immer bewirkt«, antwortete sie vorsichtig. »Euphorie, Glückseligkeit …«

Der kleine Mann sah sie mit vor Zorn funkelden Augen an. »Mach dich nicht über mich lustig, Schwester Ghë! Das könntest du bereuen. Die Virnâ-Priester haben die Kryptogame analysiert, die diese Hexer dir verabreicht haben. Es sind gefährliche Drogen, eigentlich Gifte, mit denen man außerordentlich sorgsam umgehen muss, und die ins Reich des Okkulten gehören. Man nennt sie Kryptogame der Enthüllung oder Offenbarung. Mâa hat dich einer Prüfung unterzogen, die für dich hätte tödlich enden können …«

»Der Tod wäre mir mehr als willkommen gewesen«, flüsterte Ghë.

»Aber du lebst. Und damit sagen uns die Kryptogame, dass du eine bedeutende Rolle für die Zukunft der Menschheit spielst … Aber diese Erkenntnis stellt uns vor ein Problem.«

»Haben Sie aus diesem Grund den Vigilanten erlaubt, mich … mich …«

»Die Männer werden schwer bestraft, weil sie dir Gewalt angetan haben, Schwester Ghë. Und jetzt muss ich wissen, welche Vision du unter dem Einfluss der Kryptogame hattest. Der Kaste der Herrscher wurde die schwere Aufgabe übertragen, die Rückkehr zur Erde vorzubereiten. Deshalb darf sie sich nicht nur auf Vermutungen stützen …«

Ghë ahnte, dass ihre Erkenntnisse während ihres Trancezustands Argwohn und Zweifel bei den Vigilanten geweckt hatten, und sie hatte sofort erkannt, dass sie diese Ungewissheit zu ihrem Vorteil nutzen konnte. Vor allem wollte sie sich an ihren Folterknechten rächen, ehe sie sich ihren elf Gefährten anschloss, die sie in ihrer Vision gesehen hatte.

»Zuerst brauche ich Pflege …«

Primas Kwin nickte verständnisvoll und ging. Kurz darauf hatten drei Frauen von der Kaste der Medizinalassistenten ihre Kajüte betreten, Ghë gewaschen, mit parfümierten Handtüchern abgetrocknet und ihre Wunden mit Heilsalbe bestrichen. Ein Nutritionist brachte ein Tablett mit auserlesenen Speisen, die kastenlose Unverheiratete sonst nie zu essen bekamen.

Bei jedem der folgenden Besuche Kwins hatte Ghë dem Primas erfundene Einzelheiten ihrer Vision erzählt, die jedoch auf verschiedenste Weise interpretiert werden konnten. Geschickt hatte sie öfter ihren Bericht unterbrochen, um Bedingungen zu stellen. Sie forderte, ihre Eltern zu sehen, was ihr bisher aus fadenscheinigen Gründen verwehrt worden war.

Sie erkannte, dass der Primas sie zuvor belogen hatte, als er nun erklärte, man habe sie, Mâa und die anderen Seherinnen über Bord geworfen. Seltsamerweise hatte sie bei dieser Nachricht keinen Schmerz empfunden, so als wäre sie gefühllos und ihr Herz zu Stein geworden.

Doch ihr Hass war noch gewachsen, als sie befahl, man sollte ihr auf einem Tablett die Köpfe und die Geschlechtsorgane jener Vigilanten bringen, die sie vergewaltigt hatten. Diese Forderung hatte den Primas verärgert, und Ghë hatte seine Reaktion als ein Geständnis der Mittäterschaft interpretiert. Selbst wenn die Vigilanten eigenmächtig gehandelt haben sollten, war es Kwin zuwider, sie dafür zur Rechenschaft zu ziehen.

»Es ist vielleicht nicht nötig, zu derart drastischen Maßnahmen zu greifen, Schwester Ghë …«

»Sie sollten nicht vergessen, Primas Kwin, dass ich durch die Kryptogame wesentliche Einzelheiten erfahren habe, die unsere Rückkehr zur Erde zu einem Erfolg machen. Und Ihnen fehlen diese Details. Und sollten Sie mir die Köpfe und die Geschlechtsorgane Unschuldiger präsentieren, Kastenloser zum Beispiel … sollten Sie immer daran denken, dass ich die Gesichter dieser Bestien niemals vergessen werde.«

Eine Stunde später wurden silberne Tabletts gebracht und ihr zu Füßen gestellt. Auf jedem lag ein blutleerer Kopf. Tote Augen schienen bis in alle Ewigkeit auf ein Bild des Grauens zu starren.

Ghë hatte sofort die Gesichter ihrer Schänder erkannt. Ihre körperlichen Wunden heilten. Mehrere Tage sah sie den Primas Kwin nicht mehr, bis sie auf telepathischem Weg von einem ihr wohlgesonnenen Menschen erfuhr, dass El Guazer in das Sonnensystem eintrete. Sie war aufgestanden und hatte aus dem Bullauge geschaut. Der Zug der Weltraumschiffe hatte einen grünen, von einem vertikalen Ring umgebenen Planeten passiert und war mit aufheulenden Motoren immer langsamer geworden. Boden, Decke und Wände ihrer Kabine begannen, auf beunruhigende Weise zu beben. Daraufhin trat Stille ein, die, nur vom leisen Summen von El Guazers Hilfsmotoren durchbrochen, umso intensiver war. Die Kraft des Sonnenlichts wuchs und ließ die nahen Sterne verblassen. Das Gestirn wurde im Gesichtsfeld des Bullauges immer größer.

Vertreter anderer Kasten wie die der Herrschenden oder die der Kryptologen hatten Ghë besucht. Sie alle waren sichtlich neugierig, weil eine Kastenlose eine Krypto-Zeremonie der Offenbarung überlebt hatte – und eine kollektive Vergewaltigung, darüber redeten sie natürlich nicht.

Sie hatten ihr eine Menge Fragen gestellt, worauf sie kryptische Antworten gab, was die hohen Herren noch mehr verwirrte. Die Virnâ-Priester hatten ihr böse Blicke zugeworfen, denn sie selbst hätten es nie gewagt, einen derart starken Trank aus halluzinogenen Pflanzen zu sich zu nehmen, weil sich dessen Substanz nur allzu oft als tödlich erwiesen hatte. Einige ihrer Mitbrüder waren bei derartigen Experimenten unter höllischen Qualen gestorben.

So war Ghës Kabine nach und nach zu einem der belebtesten Treffpunkte El Guazers geworden, weil auch die Erinnerungshüter, die Astronomen, die Externen und Warner  – an ihren übergroßen Schädeln erkennbar – ihren Kollegen nicht nachstehen wollten.

Der Weltraumzug hatte inzwischen die Planetoiden, die auf elliptischer Bahn um die Sonne kreisen, hinter sich gelassen, und Ghë hatte den größten Planeten des Sonnensystems der Erde mit seinem Strahlungsgürtel und seinen vierzehn Satelliten bewundert. Das Durchqueren des Gürtels war nicht ungefährlich gewesen, da El Guazer von unzähligen Asteroiden getroffen worden war. Ständig war Alarm ausgelöst worden, doch trotz heftiger Schwankungen hatte der Schutzschild des Weltraumzuges den Attacken im All standgehalten, auch wenn die Menschen an Bord eine baldige Katastrophe fürchteten.

Eine dieser von Panik erfüllten Stunden hatte Gil, ein Angehöriger der Kaste der Herrschenden gewählt, um Ghë heimlich zu besuchen. Als er sicher war, mit ihr allein zu sein, hatte er sich vor ihr verneigt.

»Verzeiht mir mein Eindringen, Schwester Ghë, aber ich konnte es nicht riskieren, Euch telepathisch zu kontaktieren. Ihr werdet ständig überwacht …«, sagte der junge Mann mit den ebenmäßigen Gesichtszügen. Er trug eine kurze schwarze Jacke und einen kegelförmigen Hut.

»Ich bin Gil, aber ich …«, er senkte seine Stimme zu einem kaum hörbaren Flüstern, »… ich bin, ich war ein Adept Mâas. Sie wurde mit ihren Schwestern ins All geworfen. Doch weil sie ihren Tod geahnt hat, hinterließ sie Anweisungen. Meine Aufgabe ist es, als Bindeglied zwischen Euch und Eurer Truppe zu dienen.«

»Meiner Truppe?«

»Da Ihr zu unserer Erwählten bestimmt wurdet, haben Mâas Adepten Anweisung erhalten, Euch zu dienen. Unser Auftrag besteht darin, Euch unversehrt auf die Erde zu bringen. Wir haben erfahren, was die Vigilanten Euch angetan haben, und Ihr könnt mir glauben, dass …«

»Sprecht nie wieder darüber!«

Gil wich erschrocken zurück, als hätte Ghë ihn geschlagen.

»Sagt mir lieber«, fuhr sie in sanfterem Ton fort, »welche Pläne Ihr habt.«

»Wir warten, bis wir die Umlaufbahn der Erde erreicht haben. Vorher können wir nicht handeln, denn es könnte zum Kampf kommen, ehe wir unseren Bestimmungsort erreicht haben. Allein die Vorstellung, alle Techniker – ob Verbündete oder Feinde – könnten dabei getötet werden, ist inakzeptabel. Wir wären manövrierunfähig.«

»Vielleicht haben sich Vigilanten in Eure Organisation eingeschlichen. Auch Mâa und ihre Adepten wurden verraten.«

Gil hatte mit großer Überzeugung gesprochen, doch jetzt glaubte Ghë Zweifel in seinen Augen aufblitzen zu sehen.

»Unsere Mitstreiter verhalten sich ruhig, und wir haben ihnen jede telepathische Kommunikation untersagt.«

»Über welche Waffen verfügt Ihr?«

»Seit mehr als zwanzig Jahren versorgen uns Externe mit Metallteilen, wenn sie Reparaturen ausführen. Daraus haben wir zweischneidige Schwerter, Lanzen und Schilde gefertigt.«

»Und welche Rolle habt Ihr mir in Eurem Schlachtplan zugedacht?«

»Euer Status bleibt derselbe, Schwester Ghë. Solange Ihr für die Herrschenden und die Virnâ-Priester ein Rätsel seid, werden sie Euch nicht nach dem Leben trachten. Es genügt, wenn Ihr diese Leute weiterhin in die Irre führt … so wie Ihr es bisher meisterhaft getan habt.«

»Warum haben sie nicht auch mich über Bord geworfen?«

Gil stand vor dem Bullauge und ließ den Blick über den Asteroidengürtel schweifen. »Verzeiht mir, wenn ich das Thema noch einmal anspreche, Schwester Ghë, aber die Vigilanten haben Euch das Leben gerettet …«

Er schwieg, weil er der jungen Frau Zeit lassen wollte, das Gesagte zu erfassen.

»Die Herrschenden wollten Euch vernichten, aber die mit der Exekution beauftragten Vigilanten haben davon profitiert und Euch vergewaltigt. Währenddessen analysierten die Kryptologen den Inhalt des Kelchs mit dem Harmonischen Nektar, und sie kamen zu dem Schluss, dass Ihr diese Prüfung bestanden habt. Ein einmaliges Ereignis in der Geschichte El Guazers. Die Virnâ-Priester und die Herrschenden wurden sofort über dieses Ergebnis unterrichtet. Alle glaubten Euch bereits tot, doch Primas Kwin wollte sich bei den betreffenden Vigilanten selbst davon überzeugen. Dabei überraschte er sie bei ihrem schändlichen Tun … Das Schicksal nimmt manchmal unbegreifliche Umwege.«

»Jedenfalls hat es mich für dieses Wunder sehr teuer bezahlen lassen«, murmelte Ghë verbittert.

»Ich habe gehört, dass Eure Peiniger ihre gerechte Strafe bekommen haben.«

»Leider hat der Anblick ihrer Köpfe meinen Schmerz nicht gelindert.«

Gil drehte sich um und warf Ghë, die in ihrer Koje lag, einen vorwurfsvollen und gleichzeitig mitfühlenden Blick zu.

»Wenn Ihr die Prophezeiung El Guazers erfüllt, werdet Ihr Euch nicht mehr quälen müssen und zu heiterer Gelassenheit zurückfinden.«

»Ist das ebenfalls eine Prophezeiung, Gil?«

»Nein, nur eine Intuition, Schwester Ghë. Verzeiht mir, sollten meine Worte selbstgefällig gewesen sein.«

»Warum seid Ihr ein Adept Mâas geworden, und warum kämpft Ihr gegen Eure Kaste?«

Tränen traten in Gils Augen. »Meine Mutter war eine ihrer ersten Schülerinnen, und ich folgte ihr auf diesem Weg …«

Ghë war erschüttert und wünschte sich, noch weinen zu können wie dieser junge Mann.

»Ich muss Euch jetzt verlassen«, sprach er weiter. »Ihr werdet rechtzeitig über unser Vorgehen informiert. Noch vor Kurzem hatten wir jede Hoffnung verloren. Doch dass Ihr lebt, hat uns ungeahnte Kräfte verliehen. Auch wenn wir in der Zahl unseren Feinden unterlegen sind: Wir werden siegen!«

»Noch eine Frage, ehe Ihr geht: Wie kommt es, dass ich hier in dieser Kabine viel besser atmen kann als in meiner alten?«

»Die Kaste der Herrscher und die der Techniker haben in gewissen Bereichen den Sauerstoff rationiert, weil sie fürchteten, dass es ihnen selbst daran mangeln würde. Dieses Verteilungssystem hatte außerdem noch einen Vorteil. Auf diese Weise konnte es nie zu Aufständen kommen. Denn schlecht durchblutete Gehirne schmieden keine Pläne für eine Rebellion. Diesen Missstand werden wir noch vor Ausbruch der Kämpfe beseitigen. Wir brauchen Soldaten, die in Form sind!«

Gil verneigte sich und ging.

In Gedanken versunken hatte Ghë nicht auf die zunehmenden Erschütterungen geachtet, denen der Weltraumzug ausgesetzt war. Er hatte ohne größere Schäden den Asteroidengürtel passiert und drang in das Sonnensystem ein.

Der Primas Kwin suchte sie kurz darauf wieder auf und bedrängte sie auf schroffe Weise mit weiteren Fragen, aus denen die junge Frau klar erkannte, dass der Mann auf seiner dominanten Position und der seiner Kaste beharrte. Sie fragte sich, ob die Herrschenden nicht Mâas Projekt entdeckt, oder schlimmer noch, Gil geschickt hatten, um ihr das notwendige Wissen zu entlocken.

»Ich habe den Eindruck, dass Sie uns in eine Sackgasse führen, Schwester Ghë«, murrte Kwin. »Ich frage mich, ob es klug war, Ihnen das Leben zu schenken.«

»Ich frage mich ebenfalls, ob sich das Leben noch lohnt«, konterte sie.

»Jedenfalls gibt es keinen Beweis, ob die Kryptogame Ihnen etwas Wichtiges enthüllt haben. Wahrscheinlich verfügen Sie über eine besonders robuste Konstitution. Das müssen Sie wohl, denn sonst hätten Sie die Attacken von sechs vor Kraft strotzenden Männern nicht überlebt.«

Sie biss sich auf die Unterlippe, sonst hätte sie ihm ins Gesicht gespuckt.

»Ihre Anpassungsfähigkeit ist bemerkenswert, Schwester Ghë. Ich sprach von den qualvollsten Stunden Ihres Lebens, und Sie reagieren ohne Zorn, mit großer Gelassenheit.«

»Zorn ist ein schlechter Ratgeber …«

Der kleine Mann kratzte sich am Kopf. »Überlegen Sie es sich gut, Schwester Ghë. Es ist nicht in Ihrem Interesse, mir etwas zu verschweigen, was Sie während Ihres Trancezustands erfahren haben sollten.«

»Sie erwähnten meine robuste Konstitution …«

»Was ist besser? Mit uns zusammenzuarbeiten und am Leben zu bleiben oder zu schweigen und mit Ihrem Geheimnis in den Tod zu gehen?«

»Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß. Und ich kann mich immer nur bruchstückhaft erinnern.«

»Bald wird die Erde in unser Blickfeld rücken. Vielleicht hilft Ihnen der Anblick unseres Ursprungsplaneten, sich an alle Bruchstücke zu erinnern.«

Als Ghë zum ersten Mal die Erde erblickte, war sie allein. Obwohl kein Astronom ihr erklärt hatte, was dieser winzige blaue Punkt am linken goldenen Lichtkranz der Sonne sei, wusste sie intuitiv, dass es sich um ihren Heimatplaneten handelte.

Sie hatte geglaubt, die Vigilanten hätten jegliches Empfindungsvermögen in ihr ausgelöscht, doch allein dieser Anblick bewirkte, dass sie sich mit sich selbst versöhnte, dass sie wieder Freude und Trauer empfinden konnte und sich aus ihrer Erstarrung löste. Mehr noch, die Nähe zur Erde versetzte sie in einen ekstaseähnlichen Zustand. Zwar weinte sie nicht vor Glück, doch sie summte die ersten Takte der Hymne der Rückkehr.

Als die Erde etwa ein Drittel des Himmelsgewölbes einnahm, leiteten die Techniker das Manöver zum Eintritt in die Erdumlaufbahn ein. Sie schalteten die Motoren ab, die die Seitenleitwerke antrieben, und ließen riesige Bremsschilde ausfahren. Der Weltraumzug wurde von einer mächtigen, von Knirschen begleiteten Erschütterung ergriffen. Dann lenkten ihn die Piloten in das Gravitationsfeld des Planeten.

In diesem Stadium sah Ghë durch ihr Bullauge parabelförmig gekrümmte Objekte aus Metall vorbeifliegen, und sie fragte sich plötzlich, ob die Erde bewohnt sei. Sollte das zutreffen, würde die Rückkehr der Exilanten nach zehntausendjähriger Abwesenheit neue, fast unlösbare Probleme schaffen.

Sie sah ebenfalls eine gelbe Sichel, die der Mond sein musste, das bedeutendste Gestirn neben der Sonne, das Mâa als weiblich bezeichnet hatte.

Ghë empfing auch wieder die Gedankenströme ihrer Schwestern und Brüder und tauchte zuversichtlich in dieses Meer voller Energie ein. Das tat ihr wohl; es baute sie seelisch auf. Einige hätten gern mit ihr kommuniziert, doch sie antwortete nicht, da sie wusste, dass sie ständig von den Vigilanten überwacht wurde und selbst eine banale Unterhaltung sich für sie als fatal erweisen könne.

 

Als El Guazer in die von der Sonne beschienene Umlaufbahn der Erde eintrat, schien sie so gleißend hell, dass Ghë instinktiv die Augen schloss. Auch an dieses Licht mussten sich die Exilanten gewöhnen, hatten sie doch Jahrhunderte im dunklen All gelebt.

Es war heiß in der Kabine, und der vom Ventilator erzeugte Luftstrom konnte nicht den Schweiß auf ihrem Körper trocknen.

Die Tür wurde aufgerissen, und Primas Kwin stürmte an der Spitze eines Trupps Vigilanten in schwarzen Uniformen in den kleinen Raum.

Ghë hielt den Atem an.

»Sie sollten sich etwas anziehen, Schwester Ghë!«, sagte Kwin im Befehlston. »Sie wissen doch, was es bedeutet, die Lust der Vigilanten zu wecken …«

Mit klopfendem Herzen streifte sie sich ihr Kleid über.

»Die Stunde der Wahrheit ist gekommen, Schwester Ghë. Wie haben Sie sich entschieden?«

»Wie ich mich entschieden habe? Wofür?«

»Hör auf, mich für dumm zu verkaufen, du kleine Hure! Du bist für uns zu einer Gefahr geworden. Mâa und die Seher haben dich zur Erwählten erkoren, und viele Exilanten an Bord sind bereit, dich zu unterstützen.«

»Wenn sie das wollen, lassen Sie sie doch gewähren.«

Ein Sonnenstrahl fiel auf Kwins gequälte Gesichtszüge. »So einfach ist das nicht. El Guazer hat die Kaste der Herrschenden damit beauftragt, die Rückkehr zur Erde vorzubereiten, und …«

»Das ist eine Lüge! El Guazer hat unsere Ahnen nicht in den Weltraum geschickt, um ihnen durch ein x-beliebiges Kastensystem Fesseln anzulegen!«, sagte Ghë und sah den Primas unverwandt an.

Die Vigilanten waren nervös geworden, denn in der Kabine herrschte eine fühlbare Spannung. Mit den Hände tasteten sie nach ihren Dolchen. Kwin hatte ihnen erzählt, dass dieses kastenlose Mädchen die Köpfe ihrer sechs Gefährten gefordert habe, und jetzt wollten sie sich an ihr rächen.

»Woher weißt du das? Du bist nicht einmal zwanzig Jahre alt und scheinst bereits die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben.«

»Mâa hat mir die wahre Geschichte des Weltraumzuges El Guazer erzählt.«

»Wer schenkt schon einer Hexe Glauben?«, schrie der Primas mit hochrotem Gesicht.

»Die Kryptogame haben mir bestätigt, dass Mâa die Wahrheit sagte. Ihre Interpretation der Prophezeiung El Guazers ist falsch oder vielmehr dient sie allein den Interessen einiger weniger. Nur ein Erwählter hält sich an Bord des Weltraumzuges auf und nicht zwölf, wie Sie behaupten.«

»Wo sind denn die elf anderen?«

»Sie leben auf fernen Welten. Die Menschheit hat sich während unserer zehntausendjährigen Irrfahrt auf Planeten der Milchstraße niedergelassen.«

»Und die einzige Erwählte an Bord der El Guazer, das sollst du sein?«, sagte Kwin und lachte höhnisch.

»Ich habe nicht darum gebeten. Die Kryptogame haben mich dazu bestimmt. Ob Ihnen das nun gefällt oder nicht, Primas Kwin, ich gehöre zu jenen zwölf Menschen, die für die Zukunft der Menschheit wichtig sind. Sollten Sie mich töten, löschen Sie nicht nur das Leben Ihrer Brüder und Schwestern auf der El Guazer aus, sondern auch das aller auf anderen Planeten lebenden Völker.«

»Ich danke dir für deine Aufrichtigkeit, Schwester Ghë. Doch deine Wahrheit ist nicht die Wahrheit. Die Kryptogame haben dich zwar am Leben gelassen, aber du leidest seitdem an einer ausgeprägten Form der Paranoia. Das, was du als Realität ansiehst, ist nichts als eine abartige Wahrnehmung deines Unterbewusstseins. Außerdem prädisponieren dich deine Gene für ein derartiges Verhalten, denn du bist die Tochter von Mâas Anhängern und die Enkelin einer dieser Hexen.«

»Halten Sie etwa die Gewalttaten Ihrer Folterknechte für eine Manifestation meines Unterbewusstseins?«

Kaum hatte sie diese Frage gestellt, wusste Ghë, wie der Primas sie beantworten würde. Auch der Gedanke, sie wäre zum Teil verantwortlich für das, was ihr zugestoßen war, schockierte sie. Doch gleichzeitig ahnte sie, dass dieses Geschehen unerlässlich für das Gelingen des Plans gewesen war – denn ohne diese Gewalt würde sie nicht mehr leben.

»Leider haben wir beschlossen, jene kranken Lämmer nicht mit auf die Erde zu nehmen, die die ganze Herde anstecken könnten, Schwester Ghë. Die Techniker setzen bereits die Pendelraumschiffe instand, und die Kastenlosen werden in Kürze von Bord gehen. In ungefähr einer Woche werden sie festen Boden betreten, deshalb müssen wir alle Störelemente eliminieren. Doch du musst vielleicht noch mehr Gewalt erdulden«, er deutete auf die Vigilanten, »denn diesen Männern hat es überhaupt nicht gefallen, dass du den Kopf ihrer sechs Kameraden gefordert hast … Und ehe sie dich in den Orbit werfen, werden sie dich lange foltern. Denn weder du noch die Deinen werden uns daran hindern, El Guazers Willen zu vollenden.«

Seltsamerweise ließen die Drohungen des kleinen Mannes Ghë völlig kalt. Sie entledigte sich ihrer Angst und ihres Hasses wie eines Kleidungsstücks. Sie fing nicht nur die Gedankenströme ihrer Schwestern und Brüder im Exil auf, sondern auch die Energie der nahen Erde. Beides erfüllte sie mit ungeheurer Kraft.

Primas Kwin und die Vigilanten wurden plötzlich ihre Kreaturen, Bruchstücke ihrer selbst, Spiegelbilder ihrer geheimen Wünsche. Also hörte sie auf, sich auf das Niveau ihrer Feinde zu begeben, sie zu bekämpfen, sondern sie bezog sie mit ein und zwang die Männer, sich in einem Spiegel zu betrachten.

»Ich biete Ihnen ein letztes Mal die Möglichkeit, sich uns anzuschließen, Primas Kwin«, sagte sie mit ruhiger Stimme. »Die Rückkehr zur Erde bedeutet nicht eine Rückkehr zu alten Werten, eben jenen Werten, die uns ins Exil getrieben haben. Sollten Sie das nicht verstehen, werden Sie und Ihre Komplizen wie Staub hinweggefegt werden.«

Ghës Worte wurden von den Vigilanten mit höhnischem Lachen quittiert. Sie starrten die junge Frau mit dem gierigen Blick von Raubtieren an, die ihre Beute umzingelt hatten. Nur das fehlende Signal des Primas hielt sie davon ab, sich sofort auf Ghë zu stürzen.

»Du kannst mir nicht drohen, du kleine Hure!«, zischte Kwin. »Hättest du dich mir zu Füßen geworfen, deinen Betrug gestanden und mich um Verzeihung angefleht, hätte ich dir vielleicht die Qualen erspart. Aber deine Unverschämtheit verdient kein Mitleid!« Er wandte sich an die Vigilanten. »Führt sie ab! Macht mit ihr, was ihr wollt!«

Die Männer packten sie an den Armen und schleiften sie aus der Kabine. Ghë wehrte sich nicht. Sie zwang sich nur, tief zu atmen und keine Panik in sich aufkommen zu lassen.

Sie liefen über schmale Gänge, die mal in Sonnenlicht, mal in tiefe Dunkelheit getaucht waren.

Aus der Ferne hörte Ghë Kwins Stimme: »Und grüße Mâa von mir, wenn du durch das Höllentor gehst.«

Sein Lachen hallte an den Metallwänden wider, ehe es verklang und wieder Stille herrschte.

Da spürte Ghë eine radikale Änderung in den Gedankenströmen ihrer Schwestern und Brüder im Exil: Sie waren voller Empörung und Hass. Sie sah die Vigilanten an. Doch die Männer schienen das drohende Unheil nicht zu bemerken. Die Psyche anderer Menschen interessierte sie nicht. Und Ghë erkannte, dass sich das außersinnliche Wahrnehmungsvermögen der Vigilanten – und wahrscheinlich ebenso das aller herrschenden Kasten – im Laufe der Zeit verändert hatte und sich diese Leute bei ihren Entscheidungen ausschließlich auf das Urteil der Warner stützten, wenn sie die Bewohner des Weltraumzuges kontrollierten. Daraus schloss sie, dass nur die Kastenlosen noch fähig waren, mentale Ströme aufzufangen.

Zwar hatten die Warner ihre telepathischen Fähigkeiten weiterentwickelt, aber da sie sich ausschließlich auf die Kommunikation und die Überwachung anderer konzentrierten, nahmen sie nie an dieser rein gefühlsmäßigen Vereinigung einer Gruppe teil. Und wahrscheinlich hatte diese natürliche Veranlagung der Kastenlosen zur Zusammenarbeit alle herrschenden Kasten verunsichert und sie veranlasst, den Sauerstoff für die Kastenlosen zu rationieren.

»Nur mangelhaft mit Sauerstoff versorgte Gehirne planen keinen Aufstand«, hatte Gil gesagt.

Die Vigilanten zerrten ihre Gefangene in einen Seitengang, noch enger als die Hauptgänge, und drängten sie vor eine runde, mit einer Querstrebe gesicherte Tür.

Ghë begriff, dass die Männer sie zu einer der Todesschleusen gebracht hatten. Doch trotz der bedrückenden Atmosphäre in diesem Teil des Zugs blieb sie furchtlos. Denn Angst würde sie eines Großteils ihrer Kräfte berauben.

Die Tür knirschte entsetzlich beim Öffnen. Die Männer packten Ghë bei den Schultern und stießen sie grob in den langgestreckten Raum, an dessen Ende eine zweite Schleusentür zu erkennen war. Wenn die Vigilanten mit ihr fertig waren, würden sie den Raum verlassen und per Fernbedienung die Außentür öffnen. Ghë würde im All verschwinden.

Jetzt drängten sich die Vergewaltiger in den Raum, umringten die junge Frau, zückten ihre Dolche und begannen, ihr Kleid aufzuschlitzen. Ihre Griffe zeugten von kalter Entschlossenheit, während das zerschlitzte Kleid zu Boden fiel. Ghë fror, und einen kurzen Moment drohte sie Panik zu überwältigen.

Eine scharfe Klinge fuhr über ihre Brüste, eine zweite strich über ihren Rücken, eine dritte berührte ihren Hals. Noch ritzten die Männer ihre Haut nicht auf; nicht, weil sie es nicht gern getan hätten, aber die stoische Ruhe ihres Opfers irritierte sie. Ghës Gleichgültigkeit beunruhigte und schüchterte die Männer derart ein, dass sie plötzlich keiner Grausamkeit fähig waren.

Nach einiger Zeit kamen sie sich mit ihren Waffen dumm vor, ihren jetzt nutzlos gewordenen Instrumenten der Macht. Sie waren so enttäuscht, dass sie nicht bemerkt hatten, wie sich leise Gestalten in den Raum geschlichen hatten. Noch weniger war ihnen Zeit zu reagieren geblieben.

Drei von ihnen wurden mit derartiger Kraft enthauptet, dass ihre Köpfe durch die Luft flogen, an der Wand abprallten und über den Boden rollten. Zwei wurden erstochen und brachen wimmernd zusammen. Der Letzte ließ seinen Dolch fallen, noch ehe ihn die Spitze eines zweischneidigen Säbels ins Herz traf.

Vom Blut der Getöteten besudelt, stand Ghë da.

»Wurdest du verletzt, Schwester Ghë?«

Sie schüttelte den Kopf. Unter den Frauen und Männern, die sie umringten, erkannte sie einige, denen sie oft begegnet war, mit denen sie aber nie gesprochen hatte. Die Leute sahen die junge Frau mit fast ängstlicher Ehrerbietung an. Die Frauen trugen keine Kleider, sondern weit geschnittene Westen und Hosen. Die meisten waren mit zweischneidigen, selbst gefertigten Säbeln bewaffnet.

»Wer hat euch Bescheid gegeben?«, fragte sie.

»Ein Bote, der von einem Freund aus der Kaste der Herrschenden zu uns geschickt wurde«, antwortete einer der Männer. »Dann folgten wir den Vigilanten. Die Stunde des Kampfes ist gekommen, Schwester Ghë.«

»Kann ich eine Waffe haben?«

Überrascht sah der Mann seine Mitstreiter an.

»Du … du bist doch die Erwählte, Schwester Ghë …«

»Wenn ihr mich als solche anerkennt, müsst ihr mir gehorchen. Gib mir eine Waffe!«, befahl sie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

Der Mann seufzte und reichte ihr seinen Säbel. »Hoffentlich muss ich das nicht eines Tages bereuen.«

Als Ghë die Waffe ergriff, durchströmte sie eine ungeahnte Kraft, eine Energie, gepaart mit wilder Entschlossenheit. Im Namen El Guazers und Mâas würde sie an der Spitze ihrer Gefolgsleute kämpfen. In ihren Adern pulsierte die Kraft der Erde, und in ihr brannte das Feuer des Krieges. Und dieses geschmiedete Eisen würde ihr zum Sieg verhelfen.

Sie dachte nicht einmal daran, ihren Körper zu verhüllen. Nackt schritt sie in den Gang hinaus, gefolgt von ihren begeisterten Mitstreitern.

 

Im Weltraumzug El Guazer wurde bereits überall gekämpft. Die Kastenlosen, die die Mehrheit der Anhänger der Einzigen Erwählten stellten, hatten mit den Auseinandersetzungen am Ende des Zuges begonnen und sich – mit Säbeln und Lanzen bewaffnet – schon bis zu den Verbindungsbrücken vorgekämpft. Von dort aus waren sie ins Innere des jeweiligen Raumschiffs vorgestoßen und hatten die Vigilanten, die Warner, die Techniker, die Recycler und Priester, die sich ihnen in den Weg stellten, niedergemetzelt. Auf diese Weise hatten sie die Hälfte der zweiundzwanzig Raumschiffe des Zuges erobert und ihr erstes Ziel erreicht: Sie hatten keinen Angriff von hinten mehr zu fürchten; vor allem, weil sich die meisten Passagiere ihnen angeschlossen hatten.

Die von den Warnern alarmierten Vigilanten hatten sich im Großen Saal versammelt. Sie hatten erkannt, dass ihre einzige Chance, diesen Kampf zu gewinnen, darin bestand, ihre kryptogenen Killerwaffen in einem offenen Raum einzusetzen. Also hatten sie sich auf den oberen Rängen des Saals verteilt, über den beiden seitwärts gelegenen der vier Eingangstüren. Denn die von der Erwählten angeführten feindlichen Kräfte mussten durch diese beiden Türen den Großen Saal durchqueren, wollten sie ihren Siegeszug fortsetzen und die Kontrolle über El Guazer an der Spitze des Raumfahrtzuges gewinnen.

Da die Aufständischen nur über primitive Waffen und Schilde verfügten, hatten sie den technisch hochgerüsteten Vigilanten so gut wie nichts entgegenzusetzen.

»Ihr habt uns doch versichert, dass dieses Mädchen tot sei!«, sagte die Vigilantin Nata mit schneidender Stimme.

Sie gehörte wie Kwin und Paol dem Triumvirat an. Die drei hatten sich zusammen mit den Technikern War’n und Riq in der Kabine des Flugkapitäns von El Guazer versammelt. Das sechs Meter hohe Aussichtsfenster bot einen fantastischen Blick auf die von einem leichten Nebelschleier verhüllte Erde, die zum Greifen nahe schien.

Durch die halb offen stehende Tür konnten sie die Erwählten sehen, die Virnâ-Priester und die Techniker. Sie alle hatten sich in den Großen Saal geflüchtet. Die anderen Kasten, die Warner, Erinnerungshüter, Astronomen und Kryptologen drängten sich in den drei dahinter liegenden Raumschiffen. Doch eine große Anzahl Medizinalassistenten, Nutritionisten, Recycler und Externe hatten nicht rechtzeitig benachrichtigt werden können und waren von den Kämpfern der Einzigen Erwählten bei der Arbeit oder anderswo überrascht worden.

»Ich habe Ghë sechs Vigilanten in einer der Außenschleusen überlassen«, entgegnete Kwin, »und konnte doch nicht wissen, dass …«

»Ein guter Herrscher muss mit allem rechnen und auf alles vorbereitet sein!«, sagte Nata zornig. »Wir wussten doch, dass Mâas Anhänger einen Angriff planten. Ihr hättet diese Hure eigenhändig umbringen müssen! Sie ist die Seele des Aufstands! Ohne sie hätten die Kastenlosen sich nie zusammengerottet und ihr Handicap aufgrund mangelnder Sauerstoffversorgung kompensieren können.«

»Ich bin kein Henker!«, protestierte Kwin. »Und vergesst eins nicht, Nata. Wir hatten vereinbart, dieses Mädchen am Leben zu lassen, damit sie uns Einzelheiten über ihren Trancezustand erzählt. Außerdem haben einige unserer Leute uns verraten. Sie öffneten die Sauerstoffventile …«

Nata, die Älteste des Triumvirats, runzelte die Stirn. »Die übertriebenen Forderungen der Vigilanten müssen wir jetzt teuer bezahlen!«, rügte sie. »Ihr habt deren Machtgelüste noch unterstützt und uns damit in eine prekäre Lage gebracht.«

»Diesem Anspruch musste ich nachgeben«, rechtfertigte sich Kwin. »Nur auf diese Weise konnten wir das Unrecht wiedergutmachen, weil wir die sechs Kämpfer töten ließen, die Ghë missbraucht haben.«

»Diese verfluchte Kastenlose hat uns alle an der Nase herumgeführt. Wir haben nichts von ihr erfahren, was wir nicht bereits wussten.«

»Ein Streitgespräch bringt uns nicht weiter«, mischte sich Paol ein, ein fülliger Fünfzigjähriger. »Ob die Vigilanten nun mit uns versöhnt sind oder nicht, jedenfalls werden sie kämpfen. Und sie verteidigen nicht nur unsere Interessen, sondern vor allem sich selbst! Wir müssen nur Ruhe bewahren und geduldig warten. Sie werden die Aufständischen wie Ungeziefer zertreten!«

Schleppenden Schritts ging Nata zu dem großen Fenster und betrachtete den Himmel. Ihr kahler Schädel war von Altersflecken übersät und ragte aus einer weißen, gerade geschnittenen Robe hervor, die bis auf den Boden reichte.

»Es ist nicht verwunderlich, dass Ihr außerstande seid, die mentalen Ströme der Kastenlosen zu empfangen, Paol«, sagte sie leise. »Die herrschenden Kasten haben sich aus eben diesem Grund zusammengeschlossen. Nur auf diese Weise konnten sie die Kontrolle über El Guazer behalten. Doch als Mitglied des Triumvirats müsstet Ihr über ein Minimum an Urteilsvermögen verfügen.«

»Wollt Ihr damit sagen, dass die Vigilanten von den Gefolgsleuten der Erwählten besiegt werden könnten?«

Nata drehte sich abrupt um und sah den dicken Mann eindringlich an, während den beiden Technikern kein Wort von der Unterhaltung entging, obwohl sie ständig das Armaturenbrett überwachten. Vor ein paar Stunden hatte Nata ihnen befohlen, die Pendelraumflugzeuge an die Schleusen anzudocken. Daraus schlossen sie, dass die Landung eher als vorgesehen stattfinden würde.

»Ja. Genau das wollte ich damit sagen«, entgegnete Nata langsam und deutlich. »Ghë kann im Augenblick mit etwa fünfzig- bis sechzigtausend Anhängern rechnen. Vielleicht gelingt es den Vigilanten, fünf- oder zehntausend zu töten. Doch früher oder später werden sie von den Aufständischen überrannt.«

»Aber unsere Leute sind ihnen waffentechnisch gesehen weit überlegen …«

»Selbst hoch perfektionierte Waffen können gegen eine wütende Masse nichts ausrichten. Der wachsende Hass wird sie wie ein Tsunami hinwegschwemmen.«

Paols rundes Gesicht wurde aschfahl. Er musste sich an einem Schalthebel festhalten, sonst wäre er gestürzt. Er öffnete den Mund und rang nach Luft.

»Sie werden uns alle töten …«

»Nicht, wenn wir uns vorher absetzen. Wir verfügen über mehr als dreißig Pendelraumflugzeuge. Sie dürften für die Evakuierung der dreißigtausend Passagiere der vier ersten Raumschiffe genügend Platz bieten.«

Paol wischte sich den Schweiß von der Stirn und marschierte wie ein in eine Falle geratenes Tier auf und ab. »Das ist der reine Wahnsinn! Wir haben kein Vorauskommando auf die Erde geschickt und wissen nichts über die Veränderungen, die auf Terra Mater stattgefunden haben«, sagte er mit unangenehm schriller Stimme.

»Dann bleibt doch an Bord und schickt eine Abordnung Kastenloser zur Erkundung aus«, empfahl ihm Nata ironisch.

»Wir tun nichts, als das Problem zu verlagern«, wandte Kwin ein. »Die Aufständischen zählen Techniker zu ihren Verbündeten. Sollten sie die Vigilanten besiegen, werden sie mit den restlichen Pendelraumflugzeugen zur Erde fliegen. Und da diese Maschinen mit denselben Koordinaten wie die unseren vorprogammiert sind, werden sie uns dort verfolgen …«

»Jetzt kommt die Kaste der Techniker ins Spiel«, sagte sie lächelnd und deutete auf War’n und Riq.

Die beiden Männer sahen sich fragend an.

»Ich spreche von der Selbstzerstörung El Guazers«,präzisierte Nata. »Diese Apparatur wurde aus taktischen Gründen konzipiert. Im Fall einer drohenden Niederlage sollten die Piloten ihre Maschinen zur Explosion bringen, anstatt sie in die Hand des Feindes fallen zu lassen.«

»Die K-Funktion …«, murmelte War’n, ebenfalls bleich geworden.

»Richtig: Die K-Funktion!«, bestätigte Nata. »Wir brauchen nur eine Stunde zum Einschiffen und eine weitere, um uns ausreichend vom Explosionsherd zu entfernen.«

»Aber, Schwester Nata, dann liefern wir die jetzt kämpfenden Vigilanten, die unser Leben schützen, dem Tode aus!«, protestierte War’n.

»Sie sind bereits so gut wie tot! Dann hat ihr Leben wenigstens einen Sinn gehabt! Außerdem werden sie jeden Tag arroganter und stellen immer höhere Forderungen. Das kann Kwin nicht bestreiten. So nützlich sie uns im All waren, so schädlich könnten sie sich auf der Erde erweisen, wo sie unser Wissen und unsere Fähigkeiten nicht mehr brauchen.«

»Sollten wir die Zerstörung El Guazers programmieren und die Erde sich als unbewohnbar erweisen, können wir nicht ins All zurückkehren«, gab der Techniker Riq zu bedenken. »Niemand wird die K-Funktion auslösen.«

Nata durchbohrte den Mann mit ihrem Blick, bis er den Kopf senkte.

»Ich bin mir bewusst, was dieser Weltraumzug Eurer Kaste bedeutet, doch solltet Ihr nicht entsprechend handeln, bringt Ihr alles in Gefahr! Was ist Euch wichtiger? Die Existenz El Guazers oder Euer eigenes Leben? Dass dieser Eisenhaufen intakt bleibt oder das Leben Eurer Frauen und Kinder?«

Nata schwieg. Sie sah den Mann an und wollte wissen, welche Wirkung ihre Worte auf ihn gemacht hatten. Da er weiterhin mit gesenktem Kopf dastand, wusste sie, dass sie gewonnen hatte, und sie sagte sich, dass sie nach nunmehr sechzig Jahren Kampf gegen Mâa und deren Seherinnen endlich gesiegt habe.

Über Mâa, ihre eigene Schwester.

 

Eine halbe Stunde später programmierte die Kaste der Techniker auf den Befehl War’ns die K-Funktion ein – Riq hatte es nicht übers Herz bringen können, zur Zerstörung El Guazers beizutragen. Dann gingen sie an Bord der Pendelraumflugzeuge, wo ihre Familien bereits auf sie warteten.