ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL
Habe ich dir schon gesagt,
Geliebter mein,
Wie dankbar ich dir bin, weil du
geöffnet
Die Türen meines Herzens, nicht immer
rein?
Wusstest du, dass ich ohne dich,
Geliebter mein,
Mein Leben gelebt hätte im Kerker
Meines Verstandes, eng und klein?
Darf ich dich erinnern, Geliebter
mein,
Du besiegtest das Ungeheuer in mir;
Es war grausam und gemein.
Ist dir bewusst, Geliebter
mein,
Dass ich dank dir kann trennen
Die Wahrheit vom schönen Schein?
Habe ich dir jemals, Geliebter
mein,
Das Lied deiner Unschuld gesungen?
Ohne sie wäre mein Herz zersprungen.
Kennst du, Geliebter
mein,
Die Kraft meiner Liebe? Unendlich groß
Ergießt sie sich in des ewigen Meeres
Schoß.
Habe ich dir, Geliebter mein, dieses Lied jemals gesungen?
Naïa Phykit zugeschriebenes Gedicht
Auf der Insel der Monager hatte Tixu nach und nach jedes Zeitgefühl verloren. Nachdem Kwen Daël die Rückfahrt angetreten hatte, war er außerstande zu sagen, wie viele Tage und Nächte seitdem vergangen waren …
So wie er es geahnt und auch dem Fischer gesagt hatte, war im offenen Meer ein Monager aufgetaucht. Der Wal hatte sich zu seiner ganzen Größe vor der Ozeankugel aufgerichtet und war majestätisch in sein Element zurückgeglitten. Kwen Daël hatte seine Angst vor dem Riesen trotz Tixus guten Zuredens nicht überwinden können.
»Folgen Sie ihm!«, hatte Tixu befohlen.
Der Fischer hatte gehorcht und nach zwei Tagen und Nächten hatte sich der über dem Meer liegende Nebel gelichtet und die gezackten Umrisse der Insel waren in Sicht gekommen.
Kwen Daëls Furcht hatte sich erst in Entsetzen, dann in Panik verwandelt, als sie der Insel immer näher kamen und sie erkennen konnten, dass an dem von Felsen umgebenen Sandstrand eine ganze Herde Monager ruhte – sie sahen wie eine Flotte auf Grund gelaufener Schiffe aus. Einige unter ihnen hatten die winzigen Besucher bemerkt, sich ins Wasser gleiten lassen und berührten jetzt mit ihren mächtigen Flossen und spitzen Hörnern die Nussschale. Kwen Daël hatte um sein Boot gefürchtet und am ganzen Leib zitternd die Hilfe der Feen von Albar herbeigefleht.
Tixu hatte überhaupt keine Angst gehabt, vielleicht weil er so lange Stunden auf dem Rücken eines Monagers verbracht hatte, oder aber weil er auf Zwei-Jahreszeiten in den Fluss der Riesenechsen gefallen war. Ihn quälte vielmehr die Sorge um Aphykits sich rapide verschlechternden Gesundheitszustand. Sie war sehr blass, atmete nur noch keuchend. Während der langen Fahrt hatte sie zusammengekrümmt auf dem Boden der Aquakugel gelegen und jede Nahrung und sogar jedes Getränk verweigert …
Kwen Daël kann nur mit Mühe ein Zittern unterdrücken, als er seine Nussschale zwischen den Riesenleibern der Meeressäuger, deren Schwimmbewegungen starke Wellen auslösen, hindurchsteuert, bis ihr Kiel sich in den feinen grauen Sand bohrt. Ein Schwarm auffliegender Gelbmöwen begrüßt die Neuankömmlinge mit ihrem Kreischen.
Am Strand sehen die Monager noch eindrucksvoller aus. Die Kleinsten messen zehn Meter, die größten dreißig bis vierzig Meter. Ihre schwarzen glänzenden Körper scheinen das Tageslicht zu absorbieren, und mit ihren massigen Leibern graben sie Furchen so groß wie Bach-oder Flussläufe in den Sand.
»Das ist das Land der Ager! Jetzt sind wir verloren!«, jammert der Fischer.
»Aber nein«, widerspricht Tixu. »Sie sind uns freundlich gesonnen. Hätten sie uns sonst an Land gehen lassen? Helfen Sie mir lieber, Aphykit von Bord zu bringen.«
Sehr vorsichtig, um die neugierigen Riesen nicht zu stören, tragen die beiden die junge Frau und den luftdicht verschlossenen Behälter mit Lebensmitteln an Land und weiter auf einen grasbewachsenen Hügel über dem Strand. Tixu fällt auf, dass einer der größten Monager, der sie hierher geführt hat, ihm, so gut es geht, folgt und ihn nicht aus den Augen lässt. Er weiß plötzlich intuitiv, dass dieses Tier ihm das Leben gerettet hat.
Die Insel besteht hauptsächlich aus zerklüftetem Felsgestein. Eine Vegetation existiert praktisch nicht. Nur an manchen windgeschützten Stellen wachsen spärlich harte, dürre Kräuter. Auch ist das Eiland sehr klein. Von der Düne aus kann man in alle Richtungen das von einem dichten Nebelgürtel umgebene Meer sehen. Lange Stunden beobachten die beiden Männer die Monager. Wenn sie ausgeruht sind, robben sie ins Wasser und schwimmen davon, während sich die Jungen mit übermütigen Spielen im seichten Meer vergnügen.
Aphykit liegt regungslos in einer kleinen Vertiefung der Düne. Es scheint ihr sehr schlecht zu gehen. Aus ihrem Mund rinnt ein rosa gefärbter Speichelfaden.
»Was wollen Sie jetzt mit ihr machen?«, fragt der Fischer.
»Ich weiß es nicht«, antwortet Tixu und zuckt mit den Schultern.
Offensichtlich ist Kwen Daël ein Gedanke gekommen. »Wir haben nicht mehr viele Lebensmittel«, sagt er schließlich. »Unsere Vorräte sind fast erschöpft. Wenn ich nun …«
Tixu begreift sofort, dass der Fischer nach einem Vorwand sucht, diese, ihm Angst einflößende Insel so schnell wie möglich verlassen zu können.
»Wenn ich zum Fischen rausfahren würde, könnte ich uns mit dem Nötigen versorgen … Hätten Sie etwas dagegen, Bilo?«
»Nein«, antwortet Tixu, denn er denkt, dass es nichts nützt, Kwen gegen seinen Willen auf dem Eiland festzuhalten. »Ich glaube, das ist eine gute Idee. Wie viel Zeit brauchen Sie dafür?«
»Ein paar Tage«, sagt der Fischer erleichtert. »Drei, höchstens vier. Ich lasse Ihnen alle Lebensmittel hier. Auf See brauche ich sie nicht.«
»Passen Sie gut auf, Kwen. Meiden Sie vor allem Houhatte. Wenn die Scaythen Sie entdecken, werden sie bald wissen, wo wir uns verstecken.«
»Machen Sie sich keine Sorgen. Ich bleibe auf See.«
Kwen Daël verabschiedet sich schnell und watet unendlich vorsichtig durch die im seichten Wasser liegenden Monager. Dann klettert er an Bord seiner Aquakugel, schaltet den Motor ein und fährt in weitem Bogen aufs Meer hinaus, um nicht den heimkehrenden Säugern zu begegnen. Schon bald verschwindet sein Boot hinter einer Nebelwand.
Tixu verbringt also die erste Nacht allein mit Aphykit. Die beiden liegen in dicke Wolldecken eingehüllt auf der Düne. Tixu hat sie in einem der wasserdichten, von dem Fischer zurückgelassenen Behälter gefunden. Beim Gekreische der Seemöwen und den rauen Schreien der Monager kann er nicht einschlafen. Der Lärm wird immer größer. Da steht er auf und sieht, wie zwei Wale am Strand heftig miteinander kämpfen. Die ganze Insel scheint beim Aufprallen ihrer massigen Leiber zu erbeben.
Beim Morgengrauen wird er von einer starken Migräne geplagt und von heftigen Rückenschmerzen. Tau hat die Decken durchweicht und von Nässe schwer gemacht.
Als er Aphykit ansieht, glaubt er, dass sie die Nacht nicht überlebt hat. Ihre Reglosigkeit und ihre wächserne Blässe lassen vermuten, dass der letzte Funke Leben aus ihr gewichen ist. Tixu beugt sich angsterfüllt über sie und legt sein Ohr auf ihre Brust. Ihr Herz schlägt, ab sehr schwach, der Puls ist unregelmäßig. Er legt seine Decke noch über die ihre, mehr kann er im Moment nicht tun. Ein unbändiger ohnmächtiger Zorn überkommt ihn.
Habe ich sie etwa aus dem Kloster gerettet, damit sie mir hier, an diesem von den Göttern verlassenen Ort, unter den Händen wegstirbt?, fragt er sich.
Er setzt sich auf die sandige Hügelkuppe und blickt auf den Strand hinunter, wo sich die Monager von ihren nächtlichen Spielen erholen. An manchen Stellen reißt die Wolkendecke über dem ruhigen Meer auf, und Strahlen einer bleichen Sonne fallen auf das Wasser. Friede herrscht über der Insel.
Er schließt die Augen und lässt sich ganz und gar von dieser magischen Atmosphäre durchdringen. Das subtile Vibrieren des Antra trägt ihn ins Zentrum der inneren Stille und erlaubt seiner Seele, mit der hier herrschenden Harmonie zu verschmelzen – mit einem Ort eins zu werden, der vom Universum isoliert ist. Die zehrenden Flammen seines ohnmächtigen Zorns erlöschen und lassen nichts als erkaltete Asche zurück. Aus der Stille erklingt die leise Stimme der Intuition. Und sie rät ihm, die Monager zu beobachten, wenn er ein Heilmittel für Aphykits Krankheit finden will.
Eine absurde Idee! Warum sollten diese prähistorischen Lebewesen den Heilern des Klosters überlegen sein?
Trotzdem verschließt sich Tixu diesem Gedanken nicht. Er kann es sich nicht leisten, auch nur die geringste Überlegung außer Betracht zu lassen. Deshalb beobachtet er den ganzen Tag die großen Meeressäuger.
Sie ernähren sich hauptsächlich von Braunalgen, die sie unter Wasser ›abweiden‹, aber nicht sofort hinunterschlucken, sondern an den Strand bringen und dort anhäufen, ehe sie die Pflanzen verzehren.
Oft unterbricht er seine Beobachtungen und kümmert sich um Aphykit. Trotz aller seiner Bemühungen will sie noch immer nichts zu sich nehmen und wird von Stunde zu Stunde schwächer.
Erst bei Anbruch der Dämmerung fällt Tixu das seltsame Gebaren eines großen Monagers auf, in dem er zum zweiten Mal seinen Retter zu erkennen glaubt. Der Wal hat eine große Menge smaragdgrüner transparenter Algen am Fuß ihrer Düne aufgehäuft. Ständig taucht er wieder ins Meer, um jedes Mal mit einer großen Menge dieser Pflanzen im Maul aufzutauchen, die er dann ablegt. Darauf starrt er Tixu mit seinen sechs runden und weißen Augen an, stößt klagende Schreie aus und peitscht, wie um Verständnis heischend, mit seiner riesigen Schwanzflosse auf den Sand.
Endlich hat Tixu begriffen. Er stürmt die Düne hinunter, greift trotz seines Widerwillens in den glibbrigen Tang, rennt zu den Felsen, stopft die Masse in eine Aushöhlung und zerstößt sie mit einem Stein zu Brei. Und während er hektisch arbeitet, wird sein Tun von Lauten des Monagers begleitet, die jetzt wie Freudenschreie klingen.
Dann füllt Tixu den Brei in ein Gefäß und bringt es voller Hoffnung Aphykit. Und dieses Mal wehrt sie sich nicht. Sie öffnet den Mund und lässt sich mit der wenig appetitlichen Speise füttern.
Im Laufe der nächsten Tage kommt Aphykit durch die Verabreichung dieser eigenartigen heilsamen Nahrung immer mehr zu Kräften. Da Tixus Lebensmittelvorrat erschöpft ist, beschließt er, ebenfalls diese Algen zu essen, die der große Monager ihm täglich liefert. Wenn er nicht die junge Frau pflegt, beobachtet er weiter die Wale und kann sie bald unterscheiden. Also gibt er ihnen Namen. Seinen Retter, den großen Monager, der ihn jetzt täglich mit den lebensspendenden Algen versorgt, nennt er Kacho Marum, weil er ihn an den Ima auf Zwei-Jahreszeiten mit seiner angeborenen Würde und seinen Kenntnissen der Natur erinnert.
Wenn Aphykit schläft, spaziert Tixu inmitten der Monager am Strand umher. Manchmal streichelt er die weiche Haut der Kleinen. Er tauft sie Zweihorn, Kleiner Grauling oder Stanislav, und wenn er sie berührt, durchläuft ein langes, wohliges Schaudern ihre Körper. Wann immer er sich ihnen nähert, bleiben sie ohne sich zu rühren liegen, als fürchteten sie, dass sie durch ihre Bewegungen ihrem Zwergenfreund gefährlich werden könnten.
Durch den Genuss der anfangs bitter schmeckenden Algen wird er von Tag zu Tag kräftiger, und wenn er jetzt nach nur ein paar Stunden Schlaf aufsteht, fühlt er sich ausgeruht und stark.
Bei Sonnenaufgang sitzt er auf einem Felsen, in das Antra vertieft, in die Stille seiner Seele versunken …
Als an diesem Morgen ein silbriger Schein durch den Frühnebel drang, erlebte Tixus seine Geburt mit schmerzhafter Intensität. Dieses quälende Hinausgleiten aus dem warmen mütterlichen Leib in die Kälte einer unbekannten Welt; diese plötzliche grelle Helligkeit, die seinen Augen wehtat; dieses Ringen nach Luft, das in einem Schrei endete; dieses Durchtrennen der Nabelschnur, die ihn mit der Ewigkeit verband. In Schweiß gebadet und keuchend erwachte er aus diesem visionären Traum und war einem Nervenzusammenbruch nahe. Er litt und fühlte sich gleichzeitig frei.
Auch an den folgenden Morgen wurde er von visionären Träumen heimgesucht. Sie stammten aus unbekannten Welten längst untergegangener Zivilisationen, doch ihm schien, dass er einer ihrer Zeitzeugen gewesen sei. Denn sie riefen bisher verschüttete Erinnerungen in ihm wach, an einst gelebte Leben und gemachte Erfahrungen, die ihn zu dem Mann geformt hatten, der er nun war.
Aphykits Genesung machte spektakuläre Fortschritte. Sie war nicht mehr so blass, und ihre Augen strahlten wie früher. Sie konnte sogar schon aufstehen und ein paar Schritte gehen.
Im Gegensatz zu ihrer physischen Gesundung verhielt sie sich Tixu gegenüber kühl und mit leiser Verachtung, die in dem Maße zunahm wie ihre Kräfte wuchsen. Wenn er von seinen Meditationen zurückkehrte, fand er sie oft sitzend vor, eine Decke über ihre Schultern gelegt und fast wütend ihre Algen kauend. Dann glaubte er ein zorniges Funkeln in ihren Augen zu erkennen. Was warf sie ihm vor? Dass er sie trotz ihres Widerstands aus dem Kloster entführt und auf diese einsame, von Monstern bewachte Insel gebracht hatte?
Eines Abends, als er sich gerade zum Schlafen niederlegen wollte, stand sie auf und ging mit unsicheren Schritten zu einer etwa hundert Meter entfernten Felshöhle. Nachdem er die halbe Nacht darüber nachgedacht hatte, was er tun sollte, ging er bei Tagesanbruch zu ihr. Sie saß da, an die Wand gelehnt, und wirkte gedankenverloren.
Als sie ihn bemerkte, richtete sie sich wütend auf, als fühlte sie sich auf ihrem Territorium bedroht. Nur mit dem blauen Hemd bekleidet und ihrem langen glänzenden Haar sah sie sehr schön aus.
»Ich wollte mich nur vergewissern, ob es Ihnen gut geht«, sagte er vorsichtig.
»Machen Sie sich um mich keine Sorgen«, antwortete sie mit schwacher Stimme.
Es war das erste Mal seit ihrer Begegnung auf Zwei-Jahreszeiten, dass sie einen zusammenhängenden Satz sprach.
»Wie es scheint, geht es Ihnen besser …«
»Warum haben Sie mich entführt?«, fragte sie mit einem aggressiven, fast arroganten Unterton.
»Weil der Orden kurz vor dem Untergang stand und Sie dann unweigerlich in die Hände des neuen Herrschers gefallen wären«, antwortete er ruhig.
»Neuen Herrschers?«
»Seit Sie mit diesem Virus infiziert wurden, ist viel geschehen. Sie können sich wahrscheinlich an gewisse Einzelheiten erinnern, aber ich bezweifle, dass Sie von den Ereignissen wissen, die das Gleichgewicht des gesamten Universums zerstört haben. Der Orden wurde …«
»Das glaube ich Ihnen nicht! Das hätte der Mahdi Seqoram niemals zugelassen! Sri Mitsu hat mich zu ihm geschickt …«
»Der Mahdi ist seit über vierzig Jahren tot!«, sagte Tixu langsam. »Er wurde von einigen alten Rittern ermordet … Und diesen machtgierigen Alten ist es gelungen, seinen Tod zu verschleiern.«
»Sie lügen!«, schrie Aphykit. Ihre Augen blitzten wütend auf. Sie hatte ihre Emotionen nicht mehr so gut wie auf Zwei-Jahreszeiten unter Kontrolle.
»Sie lügen«, wiederholte die junge Frau. »Wäre der Mahdi ermordet worden, hätte Sri Mitsu davon erfahren und meinen Vater davon in Kenntnis gesetzt. Sie haben das alles nur erfunden, weil Sie nicht zugeben wollen, dass Sie eifersüchtig sind.«
Tixu wurde blass, beherrschte sich aber.
»Es stimmt, ich war eifersüchtig«, murmelte er. »Aber nicht aus diesem Grund habe ich …«
Als hätte Aphykit plötzlich eine dunkle Vorahnung, fragte sie: »Was ist mit dem Krieger Filp Asmussa geschehen?«
»Es gibt eine geringe Hoffnung, dass er die Schlacht zwischen dem Orden und der kaiserlichen Armee überlebt hat …«
»Nein! Das stimmt nicht. Sie lügen!«
Erschöpft ließ sie sich gegen die Felswand sinken und fing zu weinen an. Für sie, die immer so stolz auf ihre emotionale Kontrolle gewesen war, ja, jeden Gefühlsausbruch verachtet hatte, waren diese Tränen der Beweis einer bitteren Niederlage. Vergeblich versuchte sie, sich vom Gegenteil zu überzeugen, sie fühlte, dass der Reisebüroangestellte die Wahrheit gesagt hatte. Nie würde sie Filp wiedersehen, den Mann, für den ihr Herz geschlagen hatte. Und was ihre lange Jahre mühsam erworbene emotionale Kontrolle betraf, so war sie wie ein Kartenhaus in sich zusammengestürzt, und allein würde sie nicht die Kraft haben, diese Fähigkeit wiederzuerlangen. Von jetzt an war sie dazu verdammt zu leiden. Ihre Gefühle und diese Krankheit hatten ihre Willenskraft besiegt, diese Kraft, die sie für unzerstörbar gehalten hatte. Sie war zu einem ganz gewöhnlichen menschlichen Wesen geworden und hatte niemandem mehr, an dessen Schulter sie sich ausruhen konnte.
Verbittert fragte sich Aphykit, warum sie jetzt gesund geworden war, wenn sie doch so verletzbar war.
»Kann ich etwas für Sie tun?«, fragte Tixu schüchtern. Noch immer war er gekränkt, trotzdem hätte er Aphykit am liebsten in die Arme genommen, um sie zu trösten.
»Lassen Sie mich allein! Gehen Sie … bitte …«
Tixu erfüllte die Bitte der jungen Frau. Zutiefst betrübt marschierte er lange Zeit über den Felsengrund der Insel, bis er ganz erschöpft war. Inzwischen war ein Sturm aufgekommen und schaumgekrönte Wellen bildeten sich auf der aufgepeitschten Oberfläche des Meeres. Das Unwetter erregte die Monager. Sie blieben nicht länger faul am Strand liegen, sondern stürzten sich mit Freudenschreien in die aufgewühlte See und spielten ohne zu ermüden in den entfesselten Elementen.
Von jenem Tag an entwickelte sich eine seltsame Beziehung zwischen Tixu und Aphykit. Nachdem der Monager Kacho Marum Tixu morgens die Algen gebracht hatte, trug der Oranger eine Portion der kräftigenden Pflanzen zum Eingang der Höhle und stellte sie dort ab. Dann kletterte er über die Felsen und streckte sich auf einem Vorsprung aus, den die junge Frau nicht einsehen konnte.
Eine Weile später erschien Aphykit. Nachdem sie sich schnell umgeschaut hatte, nahm sie das Gefäß und verschwand wieder im Halbdunkel ihres Zufluchtsorts. Beruhigt über ihr Wohlergehen spazierte Tixu dann zum Strand, wo er die Monager begrüßte und jeden mit Namen nannte. Dieses Ritual freute die Wale, denn sie beantworteten seine Begrüßung mit melodiösen heiteren Gesängen.
Daraufhin suchte er sich eine abgelegene Stelle, um zu meditieren. Er war immer nüchtern, wenn er sich in das Antra vertiefte, weil er aus Erfahrung wusste, dass seine Reisen ins Innere auf diese Weise intensiver war.
Es konnte geschehen, dass er einen ganzen Tag in diesem Stadium verharrte, auf einem Felsen, dem Ozean der Feen von Albar gegenübersitzend. Manchmal öffnete er – durch den Schrei oder den Gesang eines Monagers gestört – plötzlich die Augen und sah dann flüchtig die Gestalt Aphykits, die ebenfalls überrascht, hastig wieder Zuflucht in ihrer Höhle suchte.
Nach und nach gelangte Tixu zu der Überzeugung, seine Existenz einer komplexen Evolution zu verdanken und dass ihn sinnliche Wahrnehmungen daran hinderten, zu den Wurzeln seines Seins zurückzufinden. Während langer Stunden der Meditation tauchten bruchstückhaft Erinnerungen in ihm auf und Fragmente jenes unerlässlichen Leitfadens, der ihn mit der Ewigkeit verband. Während jener zwischen Zeit und Raum schwebenden Momente war er mit allen Elementen verbunden, aus denen sich das Universum zusammensetzt.
Er war gleichzeitig alles und nichts, das Zentrum und der Kreis, der Handelnde und der Zuschauer. Sein gesamtes Wesen veränderte sich, sein Wahrnehmungsvermögen wurde größer. Und er begriff, dass seine Erkenntnisse im Augenblick noch zu spärlich waren, um ihm eine umfassende, universale Vision zu gestatten und dass er mehr Zeit brauchte, um jene Rolle spielen zu können, die die Schöpfung für ihn vorgesehen hatte.
Kehrte er von seinen langen inneren Entdeckungsreisen zurück, badete er in Gesellschaft der Wale im Meer. Sie rührten sich nicht, weil sie ihn durch eine mehr oder weniger heftige Bewegung hätten verletzen können. Das eisige Wasser prickelte auf seiner Haut, und er musste an den Fluss denken, in den Stanislav Nolustrist ihn lachend gestoßen hatte. Manchmal konnten sich die jungen Monager nicht mehr bremsen. Sie tauchten unerwartet unter ihm auf und trugen ihn auf ihren gewaltigen Rücken davon, weit aufs Meer hinaus, ohne sich um Kacho Marums empörtes Rufen zu kümmern. Doch sie übertrieben den Spaß nie, sondern brachten den Oranger unter spöttisch klingenden Schreien an den Strand zurück.
Noch immer war von Kwen Daël kein Lebenszeichen zu sehen, und diese lange Abwesenheit beunruhigte Tixu immer mehr. Aphykits ausgedehnten Spaziergängen rund um die Insel nach zu urteilen, ging es ihr immer besser. Er sah sie nur aus der Ferne, denn seit ihrem letzten Gespräch in der Höhle ließ er sie allein und begnügte sich damit, täglich eine Schüssel voller Algen vor ihr Refugium zu stellen.
Zeit hatte keine Bedeutung mehr, und ihm war, als würde er schon seit Jahrhunderten auf dieser Insel leben.
Als Tixu an diesem Morgen durch das Antra die Stille erreicht hatte, schlug er einen ihm bisher unbekannten Pfad ein.
Plötzlich stand er im Reisebüro auf Zwei-Jahreszeiten, im Deremat-Raum, vor dem runden schwarzen Apparat. Ohne Zögern stieg er hinein und löste sich sofort auf. Dann erreichte er den Kern der Materie, die Leere, die unendliche Weite, die Geburtsstätte aller Atome, Moleküle und komplexeren Gebilde. Ein ungeheurer, fast unerträglicher Energiestrom durchfuhr ihn. Davon erwachte er.
Er saß nicht mehr auf dem Felsen wie kurz zuvor, sondern am Strand, zwischen den Monagern. Zuerst glaubte er zu träumen, doch das seltsame Gebaren der Meeressäuger zeigte ihm, dass seine Freunde gerade etwas Ungewöhnliches erlebt haben mussten.
Sofort schloss er wieder die Augen und begab sich in die heilige Festung der Stille. Aufs Neue öffnete sich ihm ein Pfad. Ein heller Schein am Ende rief ihn dieses Mal. Er beschritt ihn und wurde sofort wieder vor den alten Deremat der InTra gebracht. Noch einmal verschmolz er mit der Maschine, gab rein gedanklich die nötigen Anweisungen. Ein Energiestoß durchfuhr ihn. Er öffnete die Augen und stellte fest, dass er wieder auf dem Felsen saß, von panisch auffliegenden und kreischenden Gelbmöwen umgeben.
Außer der hektischen Reaktion der Vögel ließ nichts vermuten, dass es ihm allein durch die Kraft seiner Gedanken gelungen war, von einem Ort der Insel zu einem anderen zu gelangen. Nur wurde er jetzt von einer ungewöhnlichen Müdigkeit ergriffen, denn normalerweise fühlte er sich nach seinen Antra-Übungen zu dieser frühen Stunde stark und ausgeruht.
Deshalb wollte er dieses Experiment wiederholen, aber das Antra schwieg. Da begriff er, dass er sich ausruhen müsse. Er nahm ein belebendes Bad im Meer, und die jungen Monager waren heute besonders fröhlich. Sie peitschten das Wasser mit ihren Flossen und stritten darum, wer ihn auf seinem Rücken tragen dürfe. Erst ein Machtwort Kacho Marums konnte ihre Begeisterung dämpfen.
Nach dem Bad legte sich Tixu, in seine Decke gehüllt, auf eine Düne und schlief den ganzen Tag tief und fest.
Ein pestilenzartiger Gestank entströmte seinem roten, dreckigen Overall. Halbherzige Versuche, das Kleidungsstück im Meer zu waschen hatten den Geruch noch unerträglicher gemacht. Jetzt zog er das Ding nicht mehr an. Auch auf seine Stiefel verzichtete er und spazierte völlig nackt über die Insel. Es war ihm egal, was Aphykit von ihm dachte, sollte sie ihn überraschen. Sein Körper gewöhnte sich ungewöhnlich schnell an den ungeschützten Aufenthalt im Freien, und die Wolldecke genügte, ihn vor der feuchten nächtlichen Kälte zu schützen.
Seine Nacht war voller Albträume. Es schien, als hätten alle Schattenwesen seiner Seele ihre Schlupfwinkel auf einmal verlassen, weil das Licht der Erleuchtung sie gestreift hatte.
Nachdem er Aphykit ihre Portion Algen gebracht hatte, suchte er in aller Eile – er vergaß sogar seinen Freunden, den Monagern, einen Guten Morgen zu wünschen – nach einem abgelegenen Ort, um sich in das Antra zu versenken. In der kleinen Bucht erreichte er sofort das Zentrum der Stille, gelangte von dort aus wieder in den Deremat-Raum auf Zwei-Jahreszeiten und fand sich plötzlich inmitten der Riesensäuger am Strand wieder, die sein Erscheinen mit lauten Gesängen begrüßten. Er winkte ihnen zu, schloss die Augen und erreichte nochmals das Zentrum der Stille. Dann beschritt er den zum Deremat führenden Pfad, verschmolz mit ihm und trat eine neue Reise an.
Tixu hatte erwartet, in der kleinen, nebelverhangenen Bucht aufzuwachen, stattdessen hatte er sich in eine der gewundenen, steilen Gassen Houhattes transferiert. Er erkannte sie sofort an ihren weißen Häusern mit den roten Dächern und schmiedeeisernen Balkonen wieder.
Er saß völlig nackt auf dem Kopfsteinpflaster. Zum Glück war die Straße menschenleer. Nachdem er sich von seinem Erstaunen erholt hatte, stand er auf und stellte sich an die Wand eines niedrigen Hauses. In dem kleinen, von einer Mauer umgebenen Innenhof trocknete Wäsche auf der Leine. Vorsichtig schlich er näher, denn er fürchtete, jede Sekunde von den Bewohnern überrascht zu werden. Er zog einen ihm ungefähr passenden blauen Fischeranzug an, der noch etwas feucht war. Dann ging er durch die Stadt, die wie ausgestorben dalag. Bald hatte er den Hafen erreicht.
Dort hatten sich alle Selpdiker versammelt. Auf einem Podium vor der Mole standen vier Pritiv-Mörder, zwei Scaythen in schwarzen Kapuzenmänteln und ein Kardinal der Kirche des Kreuzes. Der Geistliche, ein kleiner, magerer Mann in rotem Colancor und violettem Chorhemd hielt eine Ansprache. Beim Näherkommen sah Tixu, dass zwischen den Pritiv-Söldnern ein an Händen und Füßen gefesselter Mann stand: Kwen Daël.
Jeder Zweifel war ausgeschlossen. Da stand sein Freund im roten Overall mit gelben Stiefeln, die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen und am ganzen Leibe zitternd. Rechts und links von dem Podium verbrannten die Körper zweier Priester der Magie an den Feuerkreuzen.
Also hatten sie Kwen Daël gefangen genommen. Der Fischer musste trotz seines Versprechens Kurs auf seinen Heimathafen genommen haben. Und da er sich gegen die mentale Inquisition der Scaythen nicht wehren konnte, mussten sie jetzt wissen, dass sich die Fliehenden auf der Insel der Monager befanden. Also waren sie in großer Gefahr.
Tixu stellte diskret Nachforschungen in den Köpfen der Selpdiker an. Sie wirkten niedergeschlagen, resigniert. Nichts war von ihrer unbändigen Lebenslust übrig geblieben, seit sie Zeugen grausamer Massaker geworden waren und vor allem, seit der Stolz ihres Planeten, der Orden der Absolution besiegt worden war.
Obwohl Tixu barfuß lief, achtete niemand auf ihn, als er sich unter die Leute mischte. Der Kardinal hatte seine Rede beendet, und Tixu suchte verzweifelt nach einem Mittel, seinem Freund helfen zu können. Im Augenblick gab es keins, denn sollte er die Aufmerksamkeit der Scaythen erregen, würden die Pritiv-Mörder ihn sofort mit ihren rotierenden Scheiben töten.
Ein dritter Scaythe näherte sich jetzt dem Gefangenen. Kwen Daël wollte sich von seinen magnetischen Fesseln befreien, aber der Scaythe stieß einen gutturalen Schrei aus, worauf sich die Fesseln noch enger um seine Glieder und seinen Hals legten. Der Fischer wurde aschfahl und atmete nur noch keuchend.
»Was wollen die mit dem Mann machen, Papa?«, fragte ein Kind.
»Sie werden ihn mit ihren Gedanken töten«, antwortete der Vater.
»Warum? Was hat er denn getan?«
»Sei still. Das geht uns nichts an.«
Tixu durfte nicht zulassen, dass sein Lebensretter in seiner Gegenwart ermordet wurde. Er rief das Antra zu Hilfe. Als sich der Klang des Lebens vibrierend entfaltete, bat er ihn, einen Schutzwall um Kwen Daëls Geist zu errichten. Sofort verließ das Antra Tixu – und er war schutzlos. Eine gefährliche Situation, denn einer mentalen Inquisition war er nun hilflos ausgeliefert.
Etwas Seltsames geschah jetzt auf dem Podium: Zuerst hatte Kwen Daël seine Hände gegen die Schläfen gepresst, wie um einen unerträglichen Schmerz zu verjagen, nun entspannte er sich plötzlich und sah völlig gelöst aus.
Diese Reaktion verwirrte den Kardinal beträchtlich. Er schoss der Gestalt im schwarzen Kapuzenmantel wütende Blicke zu. Und während durch die Menge ein Raunen ging, trat der Scaythe auf den Geistlichen zu und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
Der Kardinal erhob seine Stimme: »Aus … aus gewissen Gründen wurde beschlossen, die Exekution zu verschieben. Aber glaubt ja nicht, dass dieser Mann seiner gerechten Strafe entgeht! Denn er hat sowohl die kaiserlichen Gesetze als auch die heiligen Gebote der Kirche gebrochen, deren demütiger Vertreter ich bin. Dieser Mann wird dazu verurteilt, den langsamen Feuertod zu sterben. Und nun kehrt nach Hause zurück und geht euren Beschäftigungen nach!«
Langsam zerstreute sich die Menge. Die Selpdiker waren davon überzeugt, dass die Feen einem der ihren zu Hilfe gekommen waren. Also hatten die Feen sie nicht völlig im Stich gelassen. Wieder mischte sich Tixu unter die Leute. Vor allem jetzt durfte er nicht auffallen. Und ebenso unerwartet wie das Antra ihn verlassen hatte, kehrte es zu ihm zurück.
Dass er mit seinem Antra einen Menschen vor dem Tode retten konnte, brachte ihn in eine gefährliche Lage. Dieses Mal war er durch die Umstände gezwungen gewesen, auf diese Weise zu handeln. Aber er hatte nicht das Recht, sein Leben in Gefahr zu bringen, um nur ein Leben zu retten. Es wäre viel besser, wenn er in der Lage wäre, den Klang des Lebens einer großen Anzahl Menschen zu vermitteln, so wie Aphykit es bei ihm auf Roter-Punkt getan hatte.
Denn die junge Frau und er waren die Einzigen, die im Besitz der Flamme der Hoffnung des gesamten Universums waren – das hatte ihm die Syracuserin jedenfalls an jenem Tag erklärt, als sie plötzlich stolz und unnahbar in seinem schäbigen Reisebüro auf Zwei-Jahreszeiten erschienen war. Und sollte es den Scaythen gelingen, dieses flackernde Licht auszulöschen, würden die bekannten Welten wahrscheinlich in einem unumkehrbaren Chaos versinken.
Und während Tixu langsam über Houhattes Straßen schlenderte, fielen ihm wieder die Worte des irrsinnig gewordenen Ritters in der Krypta des Klosters ein.
Er sagte: Geh! Es kommt jemand, der mit seinen Schülern ein neues Werk beginnt. Such diesen Mann … Wenn du ihn mit deinem Herzen suchst, wirst du ihn finden …
Diese Worte begleiteten Tixu bis zum Wald der Magier. Ohne sich dessen bewusst zu sein, stand er jetzt dort auf der Lichtung. Und die Worte hallten in ihm wider gleich einem machtvollen Appell.
Geh! Es kommt jemand, der mit seinen Schülern … Dein Schicksal erfüllen … Deinen Weg gehen … Ein anderes Werk …
Er setzte sich gedankenverloren zwischen das im Halbschatten wachsende große Farnkraut und lehnte sich gegen eine Eichenpinie. Noch immer hallten die Worte in ihm wider, bis sie zu einem harmonischen Akkord wurden, der zu einer himmlischen Symphonie anschwoll, die ihn mit glückseliger Freude erfüllte.
Er schloss die Augen und gelangte ins Zentrum der Stille. Am Ende des Weges stand der alte vertraute Apparat des Reisebüros auf Zwei-Jahreszeiten.
Ohne die Augen wieder zu öffnen wusste Tixu, dass er wieder auf der Insel war. Er konnte es riechen. Es roch nach Jod, Algen und Monagern. Sein innerer Deremat hatte ihn auf die hohe Düne inmitten der Insel transportiert. Die Meeressäuger waren sehr aufgeregt. Sie schlugen mit ihren Flossen auf den Sand und stießen entsetzte Schreie aus. Manche stürzten sich in die Wellen und brachten das Meer zum Überschäumen. Kacho Marum, Tixus großer Freund, lag am Fuß der Düne und sah den Oranger aus großen Augen unverwandt an, während er ein Klagelied sang.
Tixu dachte an Kwen Daël und war bekümmert. Noch war der Fischer nicht in Sicherheit.
»Sie brauchen nicht traurig zu sein«, sagte plötzlich jemand hinter ihm.
Er drehte sich um. Aphykits schlanke Gestalt zeichnete sich vor dem silbernen Nebel ab. Er war derart verblüfft, dass er stumm blieb.
»Ich habe mir erlaubt, Ihnen in Gedanken zu folgen«, sprach sie weiter. »Ich weiß, was Ihrem Freund, dem Fischer, passiert ist. Aber ob Sie mir nun glauben oder nicht, ich weiß, dass es ihm gut geht. Sie haben ihm ein wertvolles Geschenk gemacht: Selbst wenn das Antra nicht mehr in ihm ist, so wird es immer über ihn wachen. Also müssen Sie sich keine Sorgen mehr machen …«
Der immer stärker auffrischende Wind vom Meer her spielte mit Aphykits Haar und ihrem weiten blauen Kittel. Ein zauberhaftes Lächeln brachte ihr schönes Gesicht zum Strahlen.
»Ich … ich muss Ihnen so viel erklären«, fuhr sie fort. »Es ist der derart viel, dass ich nicht weiß, wo ich anfangen soll …«
Sie setzte sich neben ihn, und er atmete den süßen Duft ihrer Haut ein. Er war noch immer wie vom Donner gerührt und starrte sie fassungslos mit offenem Mund an. Sie musste lachen. Und als sie sich wieder beruhigt hatte, sagte sie: »Nur fürchte ich, dass wir heute nicht viel Zeit zum Reden haben, denn wir sind in Gefahr. Ich habe mit großem Interesse Ihre Fortschritte auf dem Gebiet des Reisens verfolgt und viel dabei gelernt. Sie sind mir deswegen doch nicht böse?«
»Warum sollte ich Ihnen böse sein?«, murmelte Tixu verlegen. Er konnte noch immer nicht fassen, wie sich das Benehmen der jungen Frau geändert hatte.
»Weil ich, zum Beispiel, unberechtigterweise von Ihrem Unterricht profitiert habe, lieber Professor«, antwortete sie fröhlich. »Und es gibt noch eine Menge andere Gründe … Sie müssen mir viel verzeihen. Aber nicht jetzt. Denn wir müssen uns auf die Suche nach dem Mann machen, der uns irgendwo da draußen erwartet.« Sie deutete zum Himmel. »Und zu zweit verdoppeln wir unsere Chancen, ihn zu finden, glauben Sie nicht?«
Tixus Herz begann wild zu klopfen. Doch er nickte nur.
»Wenn es Ihnen … Wenn es dir nichts ausmacht«, korrigierte sich Aphykit – das erste Mal in ihrem Leben duzte sie jemanden, wohl aus dem spontanen Bedürfnis heraus, mit ihrer Vergangenheit zu brechen – und sprach schnell weiter: »… möchte ich vor dem Verlassen der Insel noch ein Bad im Meer nehmen. Immer, wenn ich dich mit deinen Freunden, den Walen, habe baden sehen, hatte ich wahnsinnige Lust dasselbe zu tun. Aber ich wagte es nicht, denn meine Haut ist noch nie mit Meerwasser in Kontakt gekommen. Das kommt dir sicher absurd vor, doch wenn ich diese Erfahrung jetzt nicht mache, kann ich mich auch nicht auf diese Reise begeben. Und dann könnte ich dich nicht begleiten. Verstehst du das?«
Aphykit ließ Tixu keine Zeit zu antworten. Sie stand auf und zog ihr Hemd aus. Dann lief sie nackt mit wehendem Haar aufs Wasser zu und wich geschickt den Flossenschlägen der noch immer aufgeregten Monager aus. Tixu entledigte sich schnell seines Overalls und rannte hinter ihr her. Kacho Marum, sein Beschützer, folgte ihm in einiger Entfernung.
Aphykit erschauderte, als ihre Füße das Wasser berührten. Sie wich zurück. Doch schon ergriff Tixu sie, umfasste ihre Taille und ihre Beine und hob sie hoch. Dieses Mal wehrte sie sich nicht. Er schritt weiter ins offene Meer hinaus und warf sie ohne Zögern ins eiskalte Wasser, so wie der Hirte Stanislav Nolustrist es mit ihm auf Marquisat gemacht hatte.
Im ersten Moment blieb Aphykit der Atem weg. Sie verschluckte sich, hustete und stieß kleine spitze Schreie aus. Doch dann ließ sie sich mit kindlichem Vergnügen von den Wellen wiegen, plantschte und lachte und genoss das Prickeln des Salzwassers auf ihrer Haut.
Nun begehrte Tixu sie nicht mehr auf diese rein sinnliche Weise wie er sie anfangs begehrt hatte. Denn das Bad im Ozean der Feen von Albar reinigte nicht nur ihre Körper, sondern auch ihre Seelen, befreite sie von den letzten Spuren eines früher gelebten Lebens.
Sie küsste ihn flüchtig und ungeschickt auf den Mund – ein geraubter Kuss. Und Tixu wünschte sich, Aphykit würde ihm noch mehr Küsse rauben.
»Weißt du, warum die Monager so aufgeregt sind?«, fragte die junge Frau.
»Ich glaube, sie wissen von einer drohenden Gefahr und wollen uns warnen«, antwortete er.
»Die Männer des neuen Imperiums«, sagte sie und ihre wunderschönen grüngoldenen Augen wurden ernst. »Bald werden sie auf der Insel sein. Sie haben Deremats nach Houhatte bringen lassen. Jetzt bin ich bereit.«
Die beiden liefen zur Düne, um ihre Kleider wieder anzuziehen. Kacho Marum begleitete sie im seichten Wasser.
Tixu drehte sich um und wartete, bis das riesige Maul des Monagers neben ihm war. Dann murmelte er: »Adieu, Kacho Marum. Ich werde dich nie vergessen.«
Der Wal stöhnte leise, und seine sechs runden, glänzenden Augen blickten unendlich traurig. Dann schwamm er zu seinen Artgenossen und fiel in den Chor ihres Gesangs ein.
»Wohin gehen wir?«, fragte Aphykit, die schon halb den Sandhügel erklommen hatte.
»Ich habe keine Ahnung«, antwortete Tixu. »Am besten, wir lassen uns von unserer Intuition leiten …«
Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als etwa ein Dutzend Männer plötzlich am Strand Gestalt annahmen: Pritiv-Söldner und zwei Scaythen. Die Monager waren offensichtlich auf ihr Erscheinen vorbereitet, sie stürzten sich auf die Neuankömmlinge.
»Überall tauchen sie auf!«, schrie Tixu.
Andere Pritiv-Mörder wurden zwischen den Felsen sichtbar und versuchten, den beiden den Weg abzuschneiden.
Tixu und Aphykit hatten keine Zeit mehr, sich anzukleiden. Sie setzten sich einander gegenüber und ergriffen sich spontan bei den Händen. So wurden sie eins – zu einem Wesen.
Am Strand richteten die Mörder mit ihren Wurfgeräten unter den Monagern ein Blutbad an. Strand und Wasser färbten sich rot.
Sie erstürmten, wüste Flüche ausstoßend, die Düne – und fanden nichts als ein zerrissenes blaues Hemd und einen noch feuchten Fischeranzug vor.
Auch nach gründlichem Absuchen der Insel entdeckten sie nicht den kleinsten Hinweis darauf, wohin sich die Flüchtenden gewandt haben könnten.
Da rächten sie sich in ohnmächtigem Zorn an den Monagern und töteten sie allesamt.