ACHTES KAPITEL
Erobert die Festung der
Stille!
Niemand kämpft dort gegen die
Unendlichkeit.
Hier zählen weder Raum noch Zeit.
Niemand kann sie bezwingen,
Diese Quelle von allen Dingen.
Erobert die Festung der
Stille!
Denn jeder Kranke, der dort weilt,
Wird schnell geheilt.
Und jeder Tote zum Leben aufersteht,
Weil jeder Krieg zu Ende geht.
Erobert die Festung der
Stille!
Denn Liebe wird euer Schild sein
Und Licht euer Brot und Wein.
Erobert die Festung der
Stille!
Denn sie ist der Ort
Von Gottes Wort.
Mahdi Vetraysi,
direkter Nachfolger des Mahdi Naflin
Stille herrschte in dem nur schwach erleuchteten Haus. Der Ritter Long-Shu Pae hatte den UNRA-Sender (universales Radioprogramm) ausgeschaltet, der Tag und Nacht emphonische Musik, die nur von kurzen Nachrichten unterbrochen wurde, sendete. Auch das normalerweise ständig eingeschaltete holografische Visionsgerät lief nicht.
Im Lotussitz, wie man ihn auf Terra Mater nannte, saß er in dem abgelegensten Zimmer im zweiten Stock seines Hauses, im Strom seiner Gedanken versunken. Es war ein kleiner, quadratischer, fensterloser Raum, an dessen Wänden Regale mit Papierbüchern, Lichtbüchern, Holovideos und codierte Memodisketten standen. Er schätzte diesen Raum wegen seiner Schwingungen und nutzte ihn sowohl als Büro wie auch zum Meditieren.
Das fahle Licht einer vorbeischwebenden Kugel fiel durch die halb geöffnete Tür und warf Schatten auf das abgetretene Parkett.
Long-Shu Pae hatte seine alte abgetragene Kutte angelegt. Sie war von einem verwaschenen Grau und passte zu seinem grau melierten kurz geschnittenen Haar. Die kühn geschwungenen Brauen über haselnussbraunen Augen, hohe Wangenknochen und ein schmaler Mund verliehen seinem Gesicht ein asketisches Aussehen.
Die Kutte bestand aus einer weit geschnittenen Jacke, die auf der Seite mit einer Kordel zusammengehalten wurde, und einer um die Fesseln eng anliegenden Pluderhose. Sechs, im Futter eingenähte Haken und Ösen verbanden die beiden Kleidungsstücke miteinander. Dieses auf den ersten Blick plump wirkende Gewand war sehr praktisch. Denn sein Träger konnte sich frei darin bewegen, ohne dass die Blutzirkulation oder energetischen Strömungen behindert wurden.
So spürte Long-Shu Pae den geringen Lufthauch an Ellbogen und Knien, dort, wo der raue Stoff vom langen Tragen im Kloster Selp Dik abgenutzt war. Die Ritter des Ordens der Absolution waren im Allgemeinen sehr stolz, wenn ihr klösterliches Gewand Spuren der Abnutzung trug, waren sie doch der offensichtliche Beweis ihrer langen Zugehörigkeit zu dem Orden und ihrer Erfahrung. Und oft hielten die Novizen und die künftigen Krieger des Ordens den Träger einer fadenscheinigen Kutte für einen verdienstvollen Mann. Was nicht immer stimmte. Schein und Sein. Weil eine große Anzahl junger Ritter – die zum Zeichen ihrer Aufnahme die Tonsur tragen durften – versuchte, ihrem neuen Ordensgewand ein abgetragenes Aussehen zu geben, indem sie es häufig im nahe liegenden Meer der Feen von Albar wuschen oder es an den kantigen Riffen aufrieben.
Ein paar Stunden zuvor hatte Long-Shu Pae eine verschlüsselte Nachricht auf seinem Tabernakel empfangen. Er war erstaunt gewesen, dass sich der Orden der Absolution überhaupt an ihn erinnerte. Die Nachricht war direkt von Selp Dik abgesandt worden, ohne Umwege über die gewohnten Zwischenstationen, was ihre Bedeutung und Dringlichkeit betonte.
Er hatte sich kurz mit dem für die Übertragung der Nachricht zuständigen Ritter in Verbindung gesetzt und danach seine alte, sorgsam in einer Truhe verwahrte Kutte hervorgeholt und sie mit fast religiöser Andacht angelegt.
Jetzt wartete er. Er bemühte sich, durch völlige Ruhe und gleichmäßige Zwerchfellatmung die Lebensenergie des Xui in sich zu sammeln. Denn er ahnte, dass er noch heute Nacht den Klang des Todes werde anwenden müssen.
Nachdem der Orden ihn vor unendlich langer Zeit zurückgewiesen und vergessen hatte, schickte er ihm nun einen Gesandten. Dieser geheimnisvolle Kurier, dessen Namen, Alter, Grad, Kompetenz er nicht kannte, ebenso wenig wie den Hintergrund seiner Mission, würde vom Chef der hiesigen Informanten zu ihm gebracht werden. Der Mann war ein alter Mestize – der Nachkomme eines prougischen und eines neoropäischen Elternteils – namens Kraouphas. Er hatte einen Laden gemietet, in dem er Memodisketten verkaufte, und im Keller dieses Geschäfts stand der Deremat-Apparat des Ordens.
Durch das kurze Gespräch mit dem Krieger, der für die Nachrichtenübermittlung zuständig war, hatte Long-Shu Pae nicht viel Neues erfahren. Alle Informationen, die aus anderen Welten gesammelt worden waren, ließen darauf schließen, dass ein unmittelbarer Krieg zwischen dem Orden und einer Koalition bevorstehe, die von einem Clan, der die Welten des Zentrums beherrschte, angeführt wurde. Überall gebe es alarmierende Gerüchte, und auf vielen Planeten sei bereits Panik ausgebrochen. Es wurde berichtet, die Herren der Konföderation von Naflin, ihre Minister und die Smellas der Kongregation seien im großen Saal des Palasts der Ratsversammlung in Venicia, der Hauptstadt Syracusas eingesperrt und hingerichtet worden. Handelsreisende behaupteten, dass Monster, die aus einem unbekannten Universum plötzlich aufgetaucht wären, die Fähigkeit hätten, mit Blicken töten zu können. Und dass diese Monster innerhalb weniger Standardstunden alle bisher als uneinnehmbar betrachteten Stützpunkte besetzt hätten und dass sie von nun an alles kontrollierten: die Bewohner, die Kommunikationswege und die Medien aller Planeten.
Es hieß außerdem, dass die Herrscherfamilien unvorstellbare Folterungen erlitten hätten, und dass Tausende von Scheiterhaufen der Kirche des Kreuzes auf allen öffentlichen Plätzen loderten.
Diese Gerüchte – wie alle Gerüchte wahrscheinlich übertrieben – hatten Long-Shu Pae nicht wirklich überrascht, bestätigten sie doch seine eigenen, durch sein Agentennetz gewonnenen Erkenntnisse. Daher hatte er bereits vor dem Empfang dieser Nachricht vermutet, dass der Orden der Absolution nach jahrhundertelanger geheimer Aktivitäten unter dem Schutz der Konföderierten und der Kongregation der Smellas nun zum offenen Kampf antreten würde.
Doch Long-Shu Pae fürchtete, dass diese bevorstehende Schlacht gleichzeitig die erste und die letzte des Ordens sein werde. Ein Beginn, der das Ende bedeutete. Denn sie bedeutete einen unüberwindlichen Bruch mit den Ordensregeln. Doch war dieser Bruch unausweichlich? Der Ritter erinnerte sich an eine Maxime des Mahdi Vetraysi, den direkten Nachfolger des Mahdi Naflin, den Gründer des Ordens: Sähe er sich eines Tages gezwungen, einem Feind auf dem Gebiet der Materie entgegenzutreten, habe er den Kampf bereits verloren …
Vor vielen Jahren hatte das Kloster den jungen Ritter Long-Shu Pae mit einer Reihe von Friedensmissionen auf unbedeutenderen, nicht zu der Konföderation gehörende Planeten betraut, und ihn dann wieder nach Selp Dik zurückberufen, wo das Entscheidungsgremium – eine aus vier ruhmreichen und hochbetagten Rittern bestehende Institution – ihn für würdig befunden hatte, das Amt eines Ausbilders zu bekleiden. Eine ehrenvolle Aufgabe, der er sich mit Energie und jener flammenden Begeisterung gewidmet hatte, die ihn damals auszeichnete. Und mit seinem beißenden Humor, der wiederum seine Schüler begeisterte. Jedoch hatte er nach und nach feststellen müssen, dass die Entscheidungen des Gremiums immer häufiger seiner tiefsten Überzeugung zuwiderliefen. Über diesen Gewissenskonflikt verstört, hatte er sich dem Großmeister des Ordens, Mahdi Seqoram anvertrauen wollen, doch das Gremium hatte sein Anliegen missbilligt.
»Der Mahdi Seqoram ist sehr beschäftigt. Ihr könnt ihn nicht mit derartigen Lappalien belästigen!«
»Tugenden wie Demut und Gehorsam werden oft auf die Probe gestellt, Ritter. Sucht die Antworten auf Eure Fragen in Euch selbst …«
Doch Long-Shu Pae blieb hartnäckig. Ihn trieb das drängende Bedürfnis zu verstehen. In seinen Mußestunden hatte er jeden Winkel des Klosters erforscht und war schließlich auf eine Treppe unterhalb des äußeren Befestigungswalls um das Kloster gestoßen, die zu dem Geheimarchiv führte. Diese Treppe war als solche kaum erkennbar gewesen, die Stufen verfallen, von Moos überwuchert, glitschig und nahezu unpassierbar.
Da man Long-Shu Pae verboten hatte, den Mahdi um Rat zu fragen, maßte er sich das Recht an – ein Entschluss, der der Ketzerei gleichkam –, die Mahdis der Vergangenheit um Auskunft zu bitten. Standen sie nicht alle in ein und derselben Tradition?
Im Innern des unterirdischen Gewölbes ist es dunkel. Es riecht stark nach Jod und Moder. Der Ritter lässt den Strahl seiner Laserlampe über die gemauerten Regalwände wandern, auf denen sich unzählige Dokumente aller Art türmen, die mit grünlichem Schimmer überzogen sind: antike Papierbücher, mit zusammengeklebten, unlesbaren Seiten; Holovideos, die bereits über eine Schutzschicht verfügen.
In einer Ecke entdeckt Long-Shu Pae ein holografisches Lesegerät, das noch aus der pränaflinischen Zeit stammt. Er untersucht es genau: Das Meersalz hat die elektronischen Chips zerfressen, und das Prisma für die dreidimensionale Projektion ist zerkratzt. Er sieht sich weiter um, und sein Blick fällt auf einen Wandschrank aus Dural. Den Code hat er schnell entziffert, die Türen gleiten zur Seite. In den Fächern liegen noch mehr Filme, codierte Schlüssel, und – brauchbare Ersatzchips. Im Licht der Laserlampe repariert er das Lesegerät. Dann stellt er es auf einen Felsvorsprung und legt mit vor Aufregung zitternden Händen einen Film ein. Das Gerät summt, rauscht, leuchtet auf; dann geschieht ein Wunder: Dreidimensionale, leicht verzerrte, jedoch vertonte Bilder erscheinen auf der gegenüberliegenden Wand: die im Zeitraffer gefilmte Errichtung des Klosters Selp Dik.
Long-Shu Pae sieht zuerst, wie riesige Flächen für die Fundamente ausgehoben werden; dann mächtige, zubehauene Steinquader, die einfach aus dem Boden auftauchen und übereinander getürmt werden, sodass sie Mauern, Schutzwälle und Brüstungen bilden; Pechnasen an den Brüstungen, Schießscharten. Er sieht, wie Zisternen gegraben werden, das Entstehen der Innenhöfe, das Emporwachsen der Bergfriede und wie die einzelnen Gebäudekomplexe mit unterirdischen Gängen und Treppen verbunden wurden.
Arbeiter gibt es keine: Unsichtbare, vorprogrammierte Kräfte auf Wellenbasis bauen das alles. Dann ist das Werk vollendet. Ein einziger winziger Mann geht auf das monumentale Eingangsportal zu, und Long-Shu Pae glaubt in der Gestalt Mahdi Naflin wiederzuerkennen.
Fast außer sich vor Erregung schaut er sich andere Filme an. Die meisten behandeln nur ein Thema: die Eroberung der Festung der Stille.
Dann sieht er das schöne und ernste Gesicht des Mahdi Vetraysi. Er hört diese seit Jahrhunderten erloschene, doch in diesem Gewölbe noch immer kräftige und gleichzeitig sanft klingende Stimme. Seine Worte besänftigen den inneren Schmerz Long-Shu Paes. Und plötzlich wird er von einer überwältigenden, geradezu ekstatischen Freude ergriffen. Mit seinem ganzen Sein wirft er sich in den leuchtenden Strom, der aus dem Mund des Mahdi sprudelt, und Tränen der Dankbarkeit strömen über sein Gesicht. Er öffnet sein Herz, ohne sich von seinem Denken beeinflussen zu lassen. Selbst nach diesen langen Stunden in dem feuchten, finsteren Archiv verspürt er keine Müdigkeit, in dieser Zeit hat er sich regeneriert.
Wieder und wieder sieht er sich den Film an, prägt sich jedes Wort ein. Und er zieht daraus den Schluss, dass der Orden einen falschen Weg einschlägt und sich langsam, aber unerbittlich von den ursprünglichen Maximen, die so greifbar nahe hier unter dem Kloster Zeugnis ablegen, entfernt.
Nachdem Long-Shu Pae mehrere Wochen regelmäßig seine Studien im Archiv fortgesetzt hatte, wurde sein Bedürfnis, einige seiner Freunde an seinen Erkenntnissen teilhaben zu lassen, immer größer. Er tat es. Doch sie reagierten mit Schweigen und Misstrauen darauf. Manchmal sogar mit Verachtung. Sie wollten, weder direkt noch indirekt, mit einem Dissidenten in Verbindung gebracht werden.
Ein paar Monate später unterzogen die Wächter der Reinheit Long-Shu Pae aufgrund einer anonymen Denunzierung einer Anhörung. Die Ritter, die mit der Überwachung der Orthodoxie ihrer Lehre betraut waren, schlossen den Lehrer daraufhin von ihrer Klostergemeinschaft aus und verbannten ihn als Raskatta auf den Planeten Roter-Punkt. Er hatte seinerzeit um einen Schiedsspruch des Großmeister Mahdi Seqoram gebeten, was von den Wächtern jedoch kategorisch abgelehnt worden war.
»Glaubt Ihr etwa, Ritter, dass der Mahdi seine Zeit mit einem Aufsässigen, einem Rebellen verschwendet?«
Um seine Demütigung noch zu steigern, war das Urteil im großen Innenhof vor allen Klosterinsassen verkündet worden. Auch vor seinen Schülern, die ihm zornige, fast hasserfüllte Blicke zugeworfen hatten.
Von Roter-Punkt aus hatte Long-Shu Pae unzählige Nachrichten an den Mahdi Seqoram gesandt, ohne jedoch jemals eine Antwort zu bekommen. Wahrscheinlich hatte das Entscheidungsgremium sie abgefangen, weil es Probleme fürchtete.
So waren die Jahre vergangen und hatten Long-Shu Pae einsam und verbittert zurückgelassen. Er hatte in dieser Zeit ein Informationsnetz aufgebaut, um sich von seiner Verzweiflung und Enttäuschung abzulenken.
Daher rührte auch sein grenzenloses Erstaunen, als er das charakteristische Rauschen seines Empfangstabernakels gehört hatte, das er aus Prinzip immer eingeschaltet ließ. Einen kuzen Augenblick war er allein durch die Tatsache, dass sich der Orden nach langen Jahren noch an seine Existenz erinnerte, glücklich, ja fast euphorisch. Doch dann wirkte der Wortlaut der Botschaft wie eine kalte Dusche: Das Entscheidungsgremium hatte ihn nur kontaktiert, um die Arbeit eines mit einer Mission betrauten Abgesandten zu erleichtern.
Natürlich war er enttäuscht gewesen, aber er hatte sich gezwungen, seine Kränkung zu ignorieren, weil er derartige Gefühle noch immer für einen Ritter unwürdig hielt. Denn in seinem tiefsten Innern fühlte er sich weiterhin dem Orden zugehörig und dessen Grundregeln, Gehorsam und Demut, verpflichtet. Deshalb hatte er beschlossen, den Gesandten rückhaltlos zu unterstützen.
Trotzdem fragte er sich noch immer, ob es nicht besser sei, der Stimme seines Gewissens zu folgen, und ob seine Pflicht nicht darin bestehe, laut die Wahrheit zu verkünden. Seine Wahrheit. Und er fragte sich, ob die Leidenschaft, die ihn in seiner Jugend im Kloster erfüllt und ihn dazu getrieben hatte, nach Erkenntnis zu suchen, nicht durch seine Schwäche erloschen war.
Plötzlich leuchtete die zwischen zwei Büchern in einem Regal stehende rote Lampe auf. Automatisch zählte Long-Shu Pae die Impulse: sechs kurze und drei lange. Der Code seines Informanten Kraouphas.
Der Ritter erhob sich und stieg ohne Hast die Wendeltreppe ins Erdgeschoss hinunter. Dann durchschritt er einen langen schmalen Gang, dessen Schiebetür durch eine Trompe-l’œil-Malerei kaschiert war. Am Ende des Gangs gab es eine zweite, dieses Mal gepolsterte Stahltür, die absoluten Schall- und Schwingungsschutz gewährte. Long-Shu Pae legte großen Wert auf Schutzvorrichtungen in seinem Haus.
Aus einer Innentasche seiner Kutte nahm er eine Fernbedienung und tippte den Öffnungscode ein. Die Tür schwang geräuschlos auf. Davor stand Kraouphas, er war in ein weites prougisches Cape, Gubiane genannt, gehüllt. Salom stand bereits hoch am Himmel, doch das spärliche Licht des Gestirns verlieh der Umgebung ein gespenstisches Aussehen.
»Bist du allein?«, fragte Long-Shu Pae leise.
Kraouphas antwortete nicht. Er steckte zwei Finger in den Mund und stieß zwei kurze Pfiffe aus. Gleich darauf tauchte aus den Schatten eine ebenfalls in eine graue Gubiane gekleidete Gestalt auf.
»Ist er das?«
Kraouphas nickte.
»Tretet ein!«
Mit einer Geste bat Long-Shu Pae seine Besucher ins Haus. Er schloss die Tür hinter ihnen und wechselte sofort den Code, eine Vorsichtsmaßnahme, die er automatisch für jeden der sieben Eingänge seines Domizils ergriff.
»Hier entlang.«
Die drei Männer stiegen hintereinander die Wendeltreppe empor. Der Ritter brannte vor Ungeduld. Er wollte wissen, wer sich unter dem grauen Kapuzenmantel verbarg. Vielleicht sogar einer seiner ehemaligen Freunde … Er geleitete die beiden in den quadratischen Raum im zweiten Stock und drückte auf den Wandschalter für die Schwebelampe, die sofort ein warmes goldenes Licht verbreitete.
»Nehmt Platz«, sagte Long-Shu Pae freundlich. »Seid willkommen auf Roter-Punkt. Ich bin Long-Shu Pae.«
Er legte die Hand auf seine Stirn und verneigte sich. Der Gesandte des Ordens erwiderte den Gruß auf dieselbe Weise, gemäß den Regeln der Ritterschaft. Dann entledigte er sich seiner Gubiane.
Long-Shu Pae erstarrte, so sehr war er überrascht. Er hatte sich auf den Besuch eines Ritters, eines Vertrauten des Mahdi, eines Experten der mentalen und sonografischen Wissenschaften vorbereitet und stand vor einem jungen Krieger, der noch nicht sein Noviziat beendet hatte. Fassungslos starrte er in das fein geschnittene Gesicht dieses jungen Mannes, musterte dessen volles braunes lockiges Haar und den athletischen Körper unter dem bronzefarbenen Gewand.
»Ich bin der Krieger Filp Asmussa, der dritte Sohn Dons Asmussas, Seigneur von Sbarao und der Elf Ringe«, verkündete der junge Gesandte mit jenem nur Adeligen eigenen Stolz in der Stimme und blitzenden schwarzen Augen.
Obwohl nicht groß gewachsen, war er eine stattliche Erscheinung und versuchte nun, steif und förmlich, dem eiskalten Blick Long-Shu Paes standzuhalten.
Doch der Ritter spürte hinter diesem Schutzpanzer die verborgene Aggressivität des Kriegers. Und er erkannte, dass das Entscheidungsgremium in seiner fanatischen Rigorosität ihm – dem noch immer als subversiv angesehenen Abtrünnigen, der unschuldige Seelen vom rechten Weg abbringen könnte – in der Person Filp Asmussas eine Warnung zukommen ließ. Ebenso offensichtlich war aber auch, dass das Gremium ihn um Hilfe bat, weil es sich in einer verzweifelten Lage befand und nicht wusste, an wen es sich sonst hätte wenden können. Auf keinen Fall aber würden sie ihn wieder in ihre Gemeinschaft aufnehmen, noch ihm eine späte Anerkennung zollen, wie er insgeheim gehofft hatte. Mit einer ungeheuren Willensanstrengung gelang es ihm, seine Enttäuschung zu verbergen, denn alle seine Illusionen waren jetzt verflogen.
»Nun gut, Krieger Filp Asmussa, ich freue mich, Euch helfen zu können.«
»Tausend Dank, Ritter«, stieß der Krieger mühsam hervor. Er bemühte sich gelassen zu wirken, konnte aber seine Anspannung nicht verbergen.
Kraouphas saß auf einem schwebenden Kissen und betrachtete gedankenverloren die Buchrücken.
Eine Frage brannte Long-Shu Pae auf der Zunge: »Habt Ihr in letzter Zeit den Mahdi Seqoram gesehen?«
»Ihr wisst doch nur zu gut, Ritter, dass der Mahdi mir erst die Ehre eines Treffens erweist, nachdem ich die Kutte anlegen und die Tonsur tragen darf«, antwortete Filp Asmussa in spöttischem Ton. »Wie könnte ich es wagen, ihn zu stören? Er hat, weiß Gott, Wichtigeres zu tun.«
Long-Shu Pae fand die Überheblichkeit des jungen Mannes widerwärtig. Er hatte den Eindruck, nicht der Krieger spreche zu ihm, sondern durch ihn eine der Stimmen des Entscheidungsgremiums. Sie hatten ihm diesen Novizen geschickt, weil es ihnen leichtgefallen war, diesen Mann durch Indoktrination zu fanatisieren. Aber was fürchtete der Orden, wenn er es nötig hatte, seine jüngsten Mitglieder auf diese Weise zu manipulieren?
»Vor nicht allzu langer Zeit noch konnte man den Mahdi jederzeit sprechen. Sogar jeden Tag …«, sagte Long-Shu Pae und seufzte.
»Die Zeiten ändern sich«, entgegnete Filp Asmussa. »Da müssen wir uns eben anpassen. Wenn sich der Mahdi Seqoram nicht mehr um die Angelegenheiten des Klosters kümmert und die Leitung in die Hände des Entscheidungsgremiums gelegt hat, wird er seine Gründe dafür haben. Und gute Gründe. Zweifelt Ihr etwa daran, Ritter?«
»Meine Zweifel dürften Euch hinreichend bekannt sein, nicht wahr? Ihr habt hier einen Paria vor Euch, einen Mann, der wegen seiner Neigung gewisse Dinge anzuzweifeln, ins Exil geschickt wurde …«
»Warum? Was werft Ihr der von uns vertretenen Lehre vor?«, stieß der Krieger mit Vehemenz hervor.
»Der Lehre werfe ich nichts vor. Im Gegenteil«, antwortete der Ritter ruhig. »Aber sprechen wir von denselben Dingen? Mir scheint, dass wir sie beide, jeder auf seine Art, interpretieren und für sich beanspruchen. Und ich war einfach nicht damit einverstanden, wie das Kollegium sich ihrer bemächtigte …«
»Auf was sonst bezieht sich das Gremium Eurer Meinung nach? Wer oder was leitet und berät es? Was repräsentiert es? Sollte es sich etwa den Anordnungen des Mahdi widersetzen? Das hieße, sich ihm zu widersetzen!«, stieß Filp Asmussa wütend hervor. Obwohl Wut oder Zorn nicht zu den Tugenden des Ordens gehörte.
»Ich weiß, das Gremium behauptet, in seinem Namen zu handeln. Doch lassen wir das. Ich werde mich mit Euch nicht auf ein überflüssiges Rededuell einlassen, auf das Ihr mir wahrhaftig gut vorbereitet scheint. Doch da Ihr mich um meine Meinung gefragt habt, habe ich sie Euch gesagt. Als ich noch im Kloster lebte, hatte ich Zugang zu dessen Geheimarchiv. Nach ausgedehnten Recherchen darin, kam ich zu dem Schluss, dass der Orden dabei war seine Spiritualität zu verlieren, sein Wesen … und dass er allem den Rücken gekehrt hatte, was einst zu seiner Gründung führte.«
»Die Regeln haben sich nicht geändert!«, sagte Filp Asmussa mürrisch.
Long-Shu Pae ließ sich in einen Sessel sinken und verlor sich einen Moment in der Betrachtung des schwebenden Lichts.
»Nun setzt Euch endlich, Ritter … Ihr sagtet, die Regeln hätten sich nicht geändert … Aber wisst Ihr denn, dass der Klang – unser berühmter Klang des Todes – ursprünglich der Verinnerlichung diente? … Wollt Ihr Euch wirklich nicht setzen?«
Doch Filp Asmussa blieb stehen, mit schräg geneigtem Kopf, die Hände in die Hüften gestemmt. Eine Pose der Herausforderung.
»Ganz wie Ihr wollt! Ich sagte bereits, dass hinter dem Ton, dem Klang, die Stille herrscht – das Xui –, und diese Stille errichtet einen unüberwindbaren Schutzwall. Der Klang allein erlaubt es, die Festung der Stille zu errichten – ein uneinnehmbares Bauwerk, vor dem der Feind seine Waffen niederlegt, ehe er anfängt zu kämpfen. In seinen Anfängen kam der Orden kriegerischen Auseinandersetzungen zuvor, ehe sie aufflammen konnten. Der Orden war eine Institution des Friedens.«
»Das ist er noch immer!«
»Sagen wir lieber, Ihr haltet ihn dafür. Im Laufe der Jahre hat sich der Klang draußen manifestiert. Er ist zu einer Waffe geworden, und dient wie alle Waffen der Zerstörung. Der Orden selbst hat seinen Schutzwall zerstört. Kennt Ihr die uralte Legende von den Trompeten Jerichos? Nein? Das macht nichts. Der Orden hat die Festung verlassen und sich leichtsinnigerweise auf das Gebiet der Materie begeben. Er mischt sich in weltliche Angelegenheiten und ist zu einer Waffe des Krieges geworden. Er riskiert, früher oder später vor einer anderen stärkeren Kriegswaffe kapitulieren zu müssen. Und eine Waffe des Friedens gibt als Waffe des Kriegs ein ziemlich jämmerliches Bild ab, findet Ihr nicht? Und was die Festung der Stille betrifft, da sie jetzt verlassen ist, wird sie wahrscheinlich bereits belagert oder wurde vielleicht sogar schon eingenommen. Denn wie alle gewöhnlichen Kriegsarmeen hat der Orden im Laufe der Jahrhunderte durch seine straffe Organisation sein eigentliches Wesen eingebüßt. Die Hierarchie hat das Leben vergiftet. Doch Leben heißt permanente Evolution, nicht wahr? Müssten sich die Strukturen nicht der Evolution beugen? Was ist die Tradition noch wert, wenn sie nicht viel mehr als eine leere Hülse ist?«
Long-Shu Pae schwieg. Ein bedrückendes Gefühl tiefer Verzweiflung überkam ihn. Früher einmal hatte er die Möglichkeit gehabt, Himmel und Erde zu bewegen, Götter und Dämonen herauszufordern, seine Überzeugungen in den Sturmwind hinauszuschreien. Doch das hatte er aus Feigheit nie getan. Jetzt blieb ihm nichts mehr, als sich einem lauen Anflug des Bedauerns zu stellen.
»Dieser Fanatismus ist eine Krankheit, eine Seuche«, fuhr er müde fort. »Sie macht herzlos und kalt. Sie verwandelt ein fruchtbares Tal in eine Wüste und einen gesunden jungen Mann in einen Heuchler. Sie beutet schamlos Idealisten aus. Sie trübt den Blick und lähmt den Fortschritt … Doch das Leben sprengt eines Tages diese Fesseln und kommt wieder zu seinem Recht … Das sind einige der Gründe, die mich … zweifeln lassen, Krieger. Diese Erstarrung ist vielleicht nichts anderes als eine unabwendbare Erscheinung dieser Zeit, das zwangsläufige Ende eines Zyklus … Wie auch immer: Durch meine Feigheit habe ich mich selbst dazu verurteilt, zum machtlosen Zeugen des Niedergangs einer Welt zu werden. Doch genug von mir! Durch mein Gerede verliert Ihr kostbare Zeit. Wenn Ihr auf diesen Planeten der Verdammten gereist seid, habt Ihr eine Mission zu erfüllen, und seid nicht gekommen, um Euch das wirre Gerede eines alten Abtrünnigen anzuhören.«
Obwohl die vier Weisen des Gremiums Filp Asmussa indoktriniert hatten, erwies sich dieser mentale Schutz als ziemlich erbärmlich, denn in den Worten des Ritters Long-Shu Pae lag eine solche Kraft, dass seine tiefsten Überzeugungen ins Wanken gerieten. Seine Schwäche erschreckte ihn zutiefst, und gleichzeitig wurde ihm bewusst, wie weit er noch vom Wissensstand der Ritter des Ordens entfernt war, in deren Kreis er baldmöglichst aufgenommen zu werden hoffte.
Sogar Kraouphas war den Ausführungen Long-Shu Paes aufmerksam gefolgt. Der Prouge kannte den Ritter seit mehr als zwanzig Jahren und jetzt beobachtete er ihn, die schweren Lider seiner Augen halb geschlossen.
Filp Asmussa indessen gab sich Mühe, seine Haltung wiederzufinden. Dieser Versuch, ihn ins Schwanken zu bringen, war eine Prüfung. Vielleicht war dies die letzte vom Kollegium auferlegte Prüfung, um seine Eignung zum Ritter festzustellen. Also straffte er die Schultern, richtete sich kerzengerade auf und sah Long-Shu Pae entschlossen in die Augen; Augen, die jetzt erloschenen Sternen glichen.
»Die Vergangenheit ist tot!«, verkündete er mit tönender Stimme, in der sein Gesprächspartner trotz ihrer Lautstärke die Brüchigkeit wahrnahm. »Ihr scheint diese Devise vergessen zu haben: Allein der Anwesende lebt. Ihr sprecht von einer permanenten Evolution, nicht wahr? Ihr selbst habt Euch nicht mit dem Orden weiterentwickelt! Ihr gehört nicht mehr dazu. Ihr habt das Vertrauen des Ordens verloren. Ihr seid nichts als ein parasitäres Element. Ihr habt mit der Tradition gebrochen, und Euer Meister hat sich von Euch losgesagt …«, endete Filp Asmussa im Ton verächtlicher Überlegenheit.
Dieses unwiderlegbare Argument benutzten die vier Weisen des Gremiums immer, wenn sie einer Diskussion ein Ende machen wollten.
»Ein Meister sagt sich niemals von einem Schüler los … Sprechen wir lieber über die aktuelle Lage. Über Fakten«, sagte Long-Shu Pae ironisch. »Habt Ihr die Erlaubnis, mich über den Grund Eures Besuchs auf diesem Planeten in Kenntnis zu setzen?«
»Ich bin auf der Suche nach einem jungen Mädchen hier«, erklärte Filp Asmussa, sichtlich irritiert über den ironischen Ton des Ritters. »Es handelt sich um die Tochter des Syracusers Sri Alexu. Nach unseren letzten Informationen muss sie sich auf Roter-Punkt aufhalten. Ihr Vater hat ihr den Auftrag erteilt, sich mit dem ehemaligen Smella Sri Mitsu in Verbindung zu setzen. Das Kollegium wiederum hat mich angewiesen, sie so schnell wie möglich ins Kloster Selp Dik zu bringen.«
»Sri Mitsu starb, als Rotes Feuer im Zenit stand«, sagte Long-Shu Pae. »Er wurde von den Pritiv-Söldnern exekutiert. Das weiß ich von einem meiner Spitzel. Er hat gesehen, wie sie seinen Körper mit diesen mumifizierenden Strahlen verbrannt haben. Einem jungen Prougen, der sich bei ihm aufhielt, gelang die Flucht.«
»Und das Mädchen? Wisst Ihr, wo das Mädchen ist?«
An Kraouphas gewandt, sagte der Ritter: »Sag mal, wird heute auf dem Sklavenmarkt nicht eine junge Syracuserin versteigert?«
Der Prouge fuhr sich nervös durch sein dicht gelocktes rotes Haar.
»Ja … Menschenware. Sie gehört dem dicken Glaktus.«
»Also, dann handelt es sich wahrscheinlich um die junge Frau, die Ihr sucht, Krieger. Syracuserinnen sind so selten auf Roter-Punkt, dass sie sofort auffallen. Gäbe es noch eine, wir wüssten es. Warum sollt Ihr diese Person ins Kloster bringen? Ein weibliches Wesen in Selp Dik, das bedeutet doch einen Verstoß gegen eine der wichtigsten Regeln, habe ich nicht recht?«
»Es steht mir nicht zu, eine solche Frage zu beantworten, Ritter!«, entgegnete Filp Asmussa. »Meine Aufgabe besteht allein darin, sie dorthin zu bringen. Das Übrige geht mich nichts an.«
»Natürlich … Aber Ihr seid etwas zu spät gekommen. Denn sie wird im Mittelpunkt dieser Versteigerung stehen, und das wird Eure Aufgabe kaum erleichtern. Dort tummeln sich alle Françaos der Camorre samt ihrer Leute, die Händler und ihre Killerbanden, die Käufer mit ihren Eskorten … Doch wenigstens gibt es etwas Positives: Denn die Versteigerungen der begehrtesten Objekte finden erst zum Schluss statt. Da bleibt uns Zeit, ein paar Vorbereitungen zu treffen …«
Long-Shu Pae biss sich auf die Unterlippe und verneigte sich.
»Verzeiht, Krieger. Es steht mir nicht an, Euch Befehle zu erteilen. Ich bin Eurer Diener. Befehlt, und ich gehorche.«
Filp Asmussa durchbohrte den Ritter mit Blicken, sagte aber nichts dazu. Er hatte beschlossen, den Sarkasmus des Ritters zu ignorieren, weil er sich von ihm nicht mehr provozieren lassen wollte. Sonst wäre er vor Wut explodiert. Aber er musste sich auf seine Mission konzentrieren und durfte seine Energie nicht mit nutzlosen Wortgefechten verschwenden. Deshalb begnügte er sich mit einer wegwerfenden Handbewegung.
»Ah! Wie ich sehe, übt Ihr Euch in der Tugend der Selbstkontrolle«, stellte Long-Shu Pae fest. »Ihr habt recht, Krieger. Man muss die Wut unter Kontrolle halten. Sie kontrollieren und nicht versuchen, sie zu dämpfen. Darin liegt vielleicht das Geheimnis …«
»Könnt Ihr mich zu dem Ort bringen, wo … wo diese Versteigerung stattfindet?«
»Vermutlich suchen die Pritiv-Mörder, die Sri Mitsu getötet haben, ebenfalls nach diesem Mädchen. Wenn wir ihrer habhaft werden wollen, dürfen wir keine Zeit verlieren. Habt Ihr Euer Kompaktluftschild dabei?«
»Ich trenne mich nie von meinem Schild.«
»Eine weise Vorsichtsmaßnahme … Doch müsst Ihr hier nicht in dieser lächerlichen Verkleidung umherlaufen, Krieger. Die Prougen schätzen es nicht, wenn Fremde ihre traditionelle Kleidung anlegen. Außerdem behindert sie die Bewegungsfreiheit. Und da den Einheimischen der Orden der Absolution völlig gleichgültig ist, solltet Ihr Eure Kutte anziehen …«
Kraouphas stand auf und hüllte sich in seinen grauen Umhang. Er zog die Kapuze tief in die Stirn, sodass man weder seine scharf geschnittenen Gesichtszüge mit der Adlernase noch sein üppiges flammendrotes Haar sehen konnte. Long-Shu Pae schlüpfte in eine mitternachtsblaue Jacke und setzte sich eine weiße Baumwollmütze auf.
»Schämt Ihr Euch etwa Eurer Tonsur?«, fragte Filp Asmussa giftig. Seine guten Vorsätze schien er vergessen zu haben.
Der Ritter maß ihn mit einem langen eiskalten Blick. Allein aus ästhetischen Gründen bedeckte er sein Haupt. Doch er zweifelte daran – schon wieder dieser Zweifel! –, dass sich dieser junge Hitzkopf davon überzeugen lassen würde.
Die drei Männer tauchten im Gewirr der dunklen und verlassenen Gassen unter. Nur ein paar Lichtblasen, die von der nächtlichen Brise dahingetrieben wurden, schwebten über ihren Köpfen. Oft mussten sie über die Körper der Junkies hinwegsteigen, die auf den Trottoirs lagen, und von denen wohl einige Grünes Feuer nicht mehr aufgehen sehen würden. Bald hatten sie den großen rechteckigen Platz erreicht, der das Dach des Sklavenmarktes bildete.
Der Platz war belebt. Es herrschte eine geradezu elektrisch aufgeladene Atmosphäre. Gaffer und Müßiggänger drängelten sich auf den schnurgeraden und gut beleuchteten Alleen. Sie alle wollten Zeuge des Spektakels werden, das sich unter ihnen in dem überfüllten Saal abspielte. Und sie begleiteten das Geschehen mit Aus- und Zwischenrufen und Kommentaren, die Qualität der armen Nackten betreffend, die in Käfigen mit Luftgittern exotischen Tieren gleich zur Schau gestellt wurden.
Long-Shu Pae, Flip Asmussa und Kraouphas kämpften sich durch eine Gruppe zerlumpter Gestalten und kauerten sich an den Rand eines Dachfensters, worauf die anderen in empörtes Geschrei ausbrachen und wütende Drohungen ausriefen. Doch nachdem der Ritter einen einschüchternden Blick in die Runde geworfen hatte, beruhigten sich die Bettler wieder. Alle starrten – so gut es eben ging – durch das Fenster.
Long-Shu Pae und Flip Asmussa richteten ihre Aufmerksamkeit zuerst auf das Zentrum des Geschehens, auf ein rundes, von Scheinwerfern in grelles Licht getauchtes Podium. Doch selbst diesen sich kreuzenden Lichtbündeln gelang es nicht, den gesamten Saal zu erleuchten. In manche Luftkäfige konnte man nicht hineinsehen. In einigen Ecken wurden die Gefangenen partieweise verkauft. Da es auf ihr Aussehen nicht ankam – weil der Käufer ja die ganze Partie nehmen musste –, hatten die Verkäufer es nicht einmal für nötig gehalten, sie zu waschen oder ihnen ihre stinkenden Lumpen auszuziehen, die ihnen als Kleider dienten.
»Ihr, ein Ritter, habt Ihr denn nie etwas getan, um diesem erbärmlichen Spektakel Einhalt zu gebieten?«, murmelte Filp Asmussa leise, aber mit vor unterdrückter Empörung zitternder Stimme. »Das alles hat sich doch praktisch unter Euren Augen abgespielt.«
»Lasst endlich davon ab, über alles zu richten, Krieger!«, entgegnete Long-Shu Pae. »Derlei Verurteilungen trüben den Geist und verhindern ein freies, intuitives Handeln … Ihr solltet lieber versuchen, die Kräfteverhältnisse, die da unten vorherrschen, abzuschätzen.«
Die Szenerie in der Halle wurde immer turbulenter, die Menge immer aufgeregter. Eine bunte Mischung aus verschiedensten Ständen und Bevölkerungsgruppen hatte sich hier getroffen: Individuen aus allen Welten. Wohlhabende Bürger, die leicht an ihren luxuriösen Kleidern zu erkennen waren, Polizisten in blauen Uniformen, die eigentlich für Ordnung sorgen sollten, aber von der Camorre bestochen worden waren, ihr nicht in die Quere zu kommen, Aussätzige, Bettler, nervös herumzappelnde Drogenabhängige.
»Heute Abend haben sie sich wirklich alle hier versammelt«, sagte Long-Shu Pae. »Seht Ihr den Dicken da unten? Das ist Glaktus, der Händler. Der momentane Besitzer der Syracuserin …«
Ein Fettsack. Eine unförmige, schwabbelige Körpermasse, die in ein neoropäisches, pflaumenblaues und mit goldenen Pailletten besticktes Gewand gehüllt war. Sein halsloser Kopf schien direkt mit dem enormen Brustkorb verschmolzen, unter dem sich die Speckfalten seines Bauchs wölbten. Er saß auf drei nebeneinanderstehenden Stühlen.
Glaktus jubilierte, lächelte affektiert und wedelte mit seinen weißen Wurstfingern, an denen Optalium-Ringe steckten. Seine Schminke war geschmolzen und floss in kleinen Bächen über sein Dreifachkinn. Ölige Schweißtropfen rannen aus seinem angeklatschten blonden Haar über Stirn, Schläfen und seine Hängebacken.
Hinter ihm hatte sich seine Leibgarde aufgepflanzt: brutale Kerle, die Brustpanzer, Arm- und Beinschienen angelegt hatten.
»Das sind ganz üble Burschen«, sagte Long-Shu Pae, »richtige Galgenvögel! Jederzeit bereit, auch Kinder aufzuschlitzen, wenn es darum geht, an Drogen zu kommen. Sie sind extrem gefährlich, weil sie unberechenbar sind. Keine normalen Gegner, weil die Droge ihre physische Kraft verzehnfacht und sie gegen Schmerzen immun macht. Die Gefolgsleute der Françaos, kampferprobte Männer, fürchten sie wie die atomare Pest …«
Ein durchdringender schriller Schrei war zu hören. In einer Loge stand der Auktionator – ein Strohmann der Camorre – mit einem Mikrofon in der Hand und verkündete, dass nun die zweite Auktion der Spitzensklaven beginne. Die Strahlen der Scheinwerfer richteten sich auf das Podium in der Mitte des Saals, während das Gedränge hinter der magnetischen Absperrung noch größer wurde.
Im gleißenden Licht wurde jetzt ein etwa fünfzehnjähriger Junge mit weißer Haut und seltsam erschlaffter Muskulatur sichtbar.
»Ein Knabe vom Planeten Camalot. Besitzer ist der Françao von Doncq!«, rief der Auktionator. »Wer bietet als Erster?«
Offensichtlich hatte man dem Jugendlichen eine Dosis »Gefügigmacher« injiziert.
»Das kann man sofort an den violetten Schatten unter seinen Augen erkennen«, erklärte Long-Shu Pae. »Das Virus hat ihn sehr geschwächt, aber die im Käfig herrschenden Druckverhältnisse zwingen ihn, aufrecht stehen zu bleiben. Würde er vor den Käufern zusammenbrechen, es wäre verheerend für den zu erzielenden Preis.«
»Und warum wird er dann mit diesem Virus infiziert?«, fragte Filp Asmussa.
»Weil es ihn willenlos macht und verhindert, dass er Selbstmord begeht. Für die Françaos und die Händler ist es profitabler, infizierte Menschenware lebend und im Ganzen zu verkaufen als die einzelnen Organe von den Toten. Vor allem, weil die Käufer meistens nichts davon wissen.«
Reiche Bürger und Adelige machten sich den jungen Camaloter streitig. Sie schrien und wedelten bei jedem neuen Gebot hektisch mit den Armen, um die Aufmerksamkeit des Auktionators auf sich zu ziehen. Ein alter Adeliger aus Issigor, ein Mann mit schlohweißem Haar, der trotz vieler Schönheitsoperationen und kosmetischer Tricks keineswegs jung wirkte, trug endlich den Sieg davon. Seine mumienhaften Gesichtszüge verzerrten sich zu einem triumphierenden Grinsen. Ein Exekutor bahnte sich mühsam einen Weg durch die Menge zu dem Adeligen und nahm ihm mittels seines tragbaren Analysegeräts die Bankdaten ab.
Die Bettler neben den drei Männern kommentierten das Geschehen auf ihre Weise.
»Ist doch klar, was dieser vor Geld stinkende alte Sack mit dem Kleinen vorhat. Den hat er sich für sein Bett gekauft!«, murmelte eine Frau.
»Diese Scheißer mit ihrem Geld glauben wohl, sie könnten sich alles erlauben«, schimpfte ein Mann.
»Der lebt nicht mehr lange, der Junge … Die haben ihm ne Spritze verpasst … Der rührt sich eh schon nicht mehr …«
»Der Alte lebt auch nicht mehr lange. Der hat doch mindestens schon hundertfünfzig Jahre auf dem Buckel …«
Im Lauf der Versteigerung heizte sich die Atmosphäre immer mehr auf. Jeder kämpfte gegen jeden. Zuerst mit Worten, dann mit Fäusten. Messer blitzten auf.
Erst als der Auktionator drohte, den Saal räumen zu lassen und die Versteigerung abzubrechen, trat nach und nach wieder Ruhe ein.
Glaktus tupfte sich die Stirn mit einem rosafarbenen bestickten Taschentuch ab. Nur die Françaos wirkten wie versteinert. Im Gegensatz zu ihren nervösen Leibwächtern, die beim kleinsten Zwischenfall ihre Waffen ziehen würden, ließen sie sich von der fieberhaften Hektik nicht anstecken.
Ein junger, ganz in Weiß gekleideter Mann erregte Long-Shu Paes Aufmerksamkeit. Er saß neben dem Françao Métarelly und wirkte äußerst beunruhigt. Ständig drehte er sich um und warf flüchtige Blicke über seine Schulter, als ob er sich beobachtet oder verfolgt fühlte. Bald schon hatte der Ritter entdeckt, wem diese Blicke galten: etwa ein Dutzend schwarz gekleideter Gestalten mit ebensolchen Masken, die wie erstarrt in dieser turbulenten Menge verharrten, und in ihrer Mitte eine ebenso starre geheimnisvolle Gestalt, deren Gesicht unter einer lindgrünen Kapuze verborgen war.
»Da! Direkt hinter den Käfigen mit Gitterstäben stehen die Pritiv-Sölder«, sagte Long-Shu Pae zu Flip Asmussa. »Sie haben Sri Mitsu ermordet. Und sie wollen auch das Mädchen haben. Und unter der grünen Kapuze steckt wahrscheinlich ein Scaythe vom Planeten Hyponeros. Denn wie ich von meinen Spionen hörte, sollen sich die Pritiv-Sektierer mit den Scaythen verbündet haben und gemeinsam für die Syracuser arbeiten …«
Plötzlich kam Long-Shu Pae ein erschreckender Gedanke. Er richtete sich auf und musterte das Profil des jungen Kriegers, das sich scharf vor der hellen Dachluke abzeichnete. In seinem üppigen gelockten Haar funkelten Lichter.
»Jetzt erst begreife ich, warum das Gremium unbedingt dieses Mädchens habhaft werden will«, sagte Long-Shu Pae. »Weil sie eine Quelle wertvoller Informationen ist und der Orden nicht weiß, welchen Feind er bekämpfen soll! Er weiß nicht einmal, mit welchen Mitteln, noch wo oder wann dieser Kampf stattfindet! Aber sie … sie weiß es vielleicht … Sollte ihr Vater noch Zeit gehabt haben, sie aufzuklären. Ist es nicht so?«
Flip Asmussa biss sich auf die Unterlippe. Er hatte zu viel geredet und auf diese Weise dem Ritter ermöglicht, scharfsinnig die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Diese Erkenntnis brachte ihn völlig durcheinander. Trotzdem raffte er sich mühsam zu einer Antwort auf.
»Es herrscht bald Krieg, Ritter«, sagte er leise, aber in schneidendem Ton. »Das Gremium und der Orden müssen alle Trümpfe in der Hand haben und dürfen sich nicht blindlings in ein solches Unternehmen stürzen!«
»Aber ja. Das ist mehr als verständlich, da der Orden bereits dabei überrascht wurde, sich außerhalb der Festung der Stille begeben zu haben, muss die Gefahr nun schnellstmöglich abgewendet werden, ganz gleich, auf welche Weise«, sagte Long-Shu Pae ironisch.
»Genug! Hätte ich nicht eine Mission zu erfüllen, würde ich Euch auf der Stelle für Eure Unverschämtheit züchtigen.«
Filp Asmussa hatte – ohne sich dessen bewusst zu sein – die Stimme erhoben. Die Bettler wichen automatisch zurück. Sie hatten Angst, in eine Schlägerei verwickelt zu werden. Das Einzige, was ihnen geblieben war, war ihr Leben, und das war ihnen wichtiger als das Spektakel unten im Saal. Also hielten sie Distanz. Nur Kraouphas, ein grauer gespenstischer Schatten, beugte sich noch über die Fensteröffnung.
»Kommt wieder zu Euch!«, befahl Long-Shu Pae. »Jetzt ist weder Zeit noch Ort, das Großmaul zu spielen. Ihr solltet Eure Energie auf das Handeln konzentrieren. Bald wird die Person versteigert, an der wir interessiert sind. Und die Kampftruppe des Käufers wird sich mit der unberechenbaren Leibgarde von Glaktus gegen uns verbünden. Deshalb scheint es mir ratsam, in dem Moment zu intervenieren, wenn die Geldübergabe stattfindet. Das geschieht normalerweise nicht im Sklavenmarkt, sondern oft in der Nähe des Deremats des Käufers, um das Risiko eventueller Überfälle zu minimalisieren. Wenn sich die Versteigerung ihrem Ende zuneigt, das heißt, wenn nur noch zwei oder drei Bieter mitsteigern, wird sich Kraouphas mit den Spitzeln meines Netzes in Verbindung setzen. Auf diese Weise können wir vor Glaktus und dem Käufer am Ort der Geldübergabe sein und unsere Operation vorbereiten. – Kraouphas, hast du deinen Kommunizierer dabei?«
Kraouphas deutete auf die Ausbuchtung in seiner Jacke unter seinem Umhang. Dann nickte er und ging an den verängstigten Bettlern vorbei zu der Treppe, die zum Sklavenmarkt hinunterführte.
»So gehen wir vor, es sei denn, Ihr habt einen besseren Vorschlag, Krieger …«, fügte Long-Shu Pae hinzu.
Filp Asmussa war zutiefst gekränkt. Er antwortete nicht, sondern bereute es bitterlich, seinen Zorn nicht unter Kontrolle gehabt zu haben. Er konnte den beißenden Hohn des Ritters kaum noch ertragen, kämpfte aber gegen die Wut an, die in seinem Inneren brannte und ihn schier zerreißen wollte. Auf keinen Fall durfte er diese Mission aus verletztem Stolz scheitern lassen. Long-Shu Pae, dieser kaltblütige, berechnende Kerl, manipulierte ihn wie ein Kind, wie einen Novizen, der er ja auch noch immer war. Er hatte noch einen langen Weg bis zur völligen Selbstbeherrschung vor sich, bis zum Xui, dem ruhigen See heiterer Gelassenheit. Vor lauter Ärger gruben sich seine Fingernägel in seine Handflächen, bis sie bluteten.
Die Bettler spürten, dass das Unwetter vorbeigezogen war und nahmen wieder ihre Plätze am Dachfenster ein. Doch sie warfen den beiden Männern ständig verstohlene Blicke zu, so als würden sie dem Frieden nicht trauen.
»Es gibt noch etwas, das ich nicht begreife«, murmelte Long-Shu Pae. »Seht Ihr den jungen, ganz in Weiß gekleideten Mann, der neben dem kahlköpfigen Françao sitzt? Sein Benehmen lässt vermuten, dass er das Bindeglied zwischen den Söldnern, dem Scaythen und Sri Alexus Tochter ist … Von ihm geht eine extrem große innere Spannung aus. Die Anspannung eines Mannes, der bereit ist, alles aufs Spiel zu setzen, um die Angst in seinem Innern nicht mehr spüren zu müssen …«
Der Ritter schwieg kurz und sprach dann, ohne sich um die neugierigen Bettler zu kümmern, mit halblauter Stimme weiter: »Ich habe diesen Mann noch nie gesehen. Woher kommt er? In welcher Beziehung steht er zu Métarelly? Ist er vielleicht das Sandkorn … der Sand im Getriebe …«
Filp Asmussa hörte nicht mehr zu. Er befolgte buchstabengetreu den Rat Long-Shu Paes: Er sparte seine Kraft fürs Handeln auf. Schließlich war er ein Mann der Tat. Diese Empfehlung schien ihm als einziges sinnvoll und mit diesem wirren Gerede konnte er nichts anfangen.