DRITTES KAPITEL
Erster Morgen, Rubinrote
Sonne.
Erster Stern, rosafarbene Wonne.
Erste Nacht, Weißer
Stein.
Erster Mond, silberner Schein.
Zweiter Morgen, Saphirblaue
Sonne.
Zweiter Stern, hellblaue Wonne.
Zweite Nacht, Hand ganz
bleich.
Zweiter Mond, im Totenreich.
Syracusa, o Syracusa,
Ich beweine deine Pracht.
Syracusa, o Syracusa,
Ich lebe, fern der Heimat, in der Nacht.
Volkslied aus der Naflin-Periode
Die zweite Sonne, die Saphir-Sonne, verließ das Himmelszelt inmitten hell funkelnder blauvioletter Farbtöne.
Die Lichtkugeln entzündeten sich und flogen wie kleine Feuerfackeln über die breiten Avenuen und die engen Gassen Venicias, der herrschaftlichen Stadt.
»Seht nur, mein Onkel!«, rief List Wortling, der junge Herr des Marquisats.
Der Regent, Stry Wortling, nickte und begnügte sich mit einem Lächeln.
Einige der kleinen schwebenden Leuchtkugeln blieben an den Ästen der Büsche und Bäume hängen und ergossen ihr weißes Licht über die durchsichtigen Blätter und Früchte. Jetzt sahen sie wie prächtige, in Gold getauchte Gebilde aus, die sich leicht in der nächtlichen Brise wiegten.
»Das ist fantastisch!«, rief List begeistert und beugte sich über das fein ziselierte Geländer des Balkons.
Die Syracuser genossen die Frische der zweiten großen Dämmerung und bevölkerten die schnurgeraden Hauptverkehrsstraßen Venicias. Die meisten strebten auf den kreisrunden Platz inmitten der Stadt zu, in dessen Zentrum sich ein Brunnen aus rosafarbenem Optalium befand. Die grünen Münder einiger Fabelwesen – Skulpturen, die dem Bestiarium der Kirche des Kreuzes entlehnt waren, wie Drachen, Greife, Teufel und Schlangen – spien irisierende Wasserfontänen in das ovale Becken. Um den Brunnen herum unterhielten alle möglichen Gaukler, Tänzer und Jongleure die Müßiggänger. Doch so sehr sie sich auch anstrengten, die Syracuser reagierten selbst auf die ausgefallensten Darbietungen nur mit blasierter Gleichgültigkeit.
Doch der Regent des Marquisats und sein Neffe List bewunderten das Spektakel, das sich anläßlich der Asma ihren Augen darbot und viele Artisten aus den Welten des Zentrums in die syracusische Hauptstadt gelockt hatte.
Sie standen auf einem Balkon des Palastes Ferkti Ang, den die Herrscherfamilie auf einem Hügel im Stadtviertel Romantigua, dem ältesten Teil der Stadt, errichtet hatte. Durch Romantigua schlängelte sich träge der Fluss Tiber Augustus, den elegante Brücken aus Turcomarmor überspannten. Auch auf dem Fluss herrschte reges Treiben: Galeassen mit Heißluftsegeln und teilweise verglasten Böden, die den Blick auf den Flussgrund freigaben, tummelten sich auf dem Wasser. Über ihre mobilen Anlegepontons ergossen sich Ströme lärmender und begeisterter Touristen.
»Man kann die Leute, die nicht hier geboren sind, sofort erkennen«, sagte List Wortling und seufzte.
»Ihr seid noch immer sehr naiv, List«, erklärte der Regent, obwohl ihn die Verärgerung seines Neffens insgeheim freute. »Was habt Ihr Euch denn glauben gemacht, als Ihr hierherkamt? Für die Syracuser sind und bleiben wir immer Paritolen, was in den kostbaren Mündern der Syracuser stets etwas Abschätziges hat. Also ist es ein Fehler, das nachahmen zu wollen, was sich nicht nachahmen lässt. Ihr seid Marquisatiner, also grundverschieden von diesen Leuten. Deshalb solltet Ihr besser Eure Begabungen vervollkommnen, anstatt andere nachzuahmen, denkt Ihr nicht?«
»Aber sogar die Halbtiermenschen vom Planeten Getablan wollen die Syracuser imitieren«, erwiderte List gekränkt, denn er hatte die Anspielung seines Onkels verstanden.
»Sie sind so grazil und elegant. Alles an ihnen ist harmonisch. Ihr ganzes Leben dreht sich um die Ästhetik. Aus dem Ideal der Schönheit haben sie einen wahren Kult gemacht …«
Stry Wortling trat ein paar Schritte zurück und musterte seinen sechzehnjährigen Neffen. Der junge Seigneur List verschlang die unter ihm liegende Stadt mit Blicken. Wie die meisten Jugendlichen seines Alters hatte er sich von der syracusischen Krankheit anstecken lassen, eine endemische Seuche, die sich schnell auf allen Hauptplaneten der Konföderation von Naflin ausbreitete. Unter seinem traditionellen Gewand des Marquisats – einem Überwurf aus schwarzem Wollstoff, der mit weißen Optalium-und Goldfäden bestickt und auf dessen Saum Diamanten genäht waren – trug er einen purpurfarbenen, mit einer grauen Borte gesäumten Colancor. Dieses überflüssige und unbequeme Trikot fand der Regent abscheulich, vor allem diese Kopfbedeckung, weil sie das üppig gelockte Haar Lists verbarg und ihn wie eine Statue oder Mumie aussehen lies. Und in dem Maße, in dem der Colancor an einem Syracuser relativ elegant und natürlich aussah, wirkte er an einem Paritolen deplatziert und völlig lächerlich. Aber Stry Wortling wusste, dass er seinen Neffen davon nicht abbringen konnte. Der Hof des Marquisats hatte sich der syracusischen Kultur verschrieben; und niemand anders als Lists Mutter, Dame Armina, hatte diese Mode eingeführt. Um ihren Sohn auf den Geschmack zu bringen, hatte sie ihn nach Syracusa geschickt. Doch der künftige Seigneur des Marquisats spürte bereits jetzt, welcher Abgrund ihn von seinen Gastgebern und Vorbildern trennte.
Aber dieser erbittert geführte Kampf zwischen dem Regenten und seiner Schwägerin um die Einflussnahme auf List war eher nebensächlich. Weitaus wichtigere Angelegenheiten belasteten Stry Wortling. Vor einem Monat hatte er eine verschlüsselte Botschaft auf seinem Tabernakel empfangen: Die Kongregation der Smellas teilte ihm mit, dass ein Brand das Kongressgebäude auf Issigor verwüstet habe. Wegen des Feuers und aus Gründen der Sicherheit habe die Kongregation beschlossen, die alle fünf Jahre stattfindende Asma auf Syracusa – der Königin der schönen Künste – abzuhalten. Anfänglich hatte der Regent diesen Beschluss mit einer gewissen Erleichterung aufgenommen, auch weil er wegen seines fortgeschrittenen Alters nur schwer die Nebel, den Eisregen und die Schneestürme auf Issigor ertrug. Auch wenn der Klan von Mo Qulaquin, dem Seigneur auf Issigor, kaum darüber erfreut gewesen sein dürfte, war die Entscheidung für die anderen Staatsoberhäupter der Konföderation wohl eher eine angenehme Überraschung gewesen. Das Unglück des Einen …
Doch je mehr Zeit verstrich, umso mehr hatte den von Natur aus argwöhnischen Stry Wortling eine finstere Vorahnung beschlichen. Denn normalerweise neigten die Smellas – diese weisen und eifrigen Hüter des Gleichgewichts der Mächte – weder zu voreiligen noch zu autoritären Entscheidungen. Doch bei diesem Beschluss hatten die Staatsoberhäupter nicht einmal ihr Veto einlegen können, stattdessen hatte man sie vor vollendete Tatsachen gestellt. Und der Regent das Marquisats fürchtete das unverhüllte Machtstreben der Dynastie Ang auf Syracusa und das ihrer Gefolgsleute, der Scaythen von Hyponeros. Also hatte er sich seinen Beratern anvertraut, seine Botschafter angehört und sich mit zwei Smellas beraten, die er persönlich kannte. Außerdem hatte er mit den Herrschern von Camalot und Grit Britën gesprochen, den dem seinen am nächsten gelegenen Planeten. Doch seine Bemühungen hatten nichts Konkretes ergeben. Aber in allen Rapporten wurde von dem enormen Einfluss der Scaythen am syracusischen Hof, der trotz des geheimen Widerstands der Traditionalisten weiter zunahm, und von den häufigen Kontakten des derzeitigen Oberbefehlshabers der Armee, Menati Ang, zu den Pritiv-Söldnern, berichtet. Aber es wurde nichts gefunden, was auf geheime Ränke schließen ließ. Denn es war allgemein bekannt, dass die Mächtigen der verschiedenen Welten diese Renegaten als berufsmäßige Mörder anheuerten, wenn sie sich selbst die Hände nicht schmutzig machen wollten.
»Seht nur, Onkel! Was für seltsame Gestalten!«, rief List und riss den Regenten aus seinen Gedanken.
Sein Neffe deutete auf eine Allee am Fuße des Hügels. Dort ging ein in eine prächtige, mitternachtsblaue und mit glitzernden Applikationen verzierte Dschellaba gehüllter Syracuser in Begleitung zweier in lange weiße Kapuzenmäntel gekleidete Gestalten. Aus der Ferne wirkten diese Personen, als würden sie ein perfekt choreografiertes Ballett aufführen.
»Wenn Ihr tatsächich wie ein Einheimischer wirken wollt, lieber Neffe, solltet Ihr wissen, dass es von außerordentlich schlechtem Geschmack zeugt, laut zu sprechen, sich zu törichten Begeisterungsstürmen hinreißen zu lassen und mit dem Finger auf etwas zu zeigen«, sagte Stry Wortling ironisch. »Im Gegenteil, die Kontrolle aller Emotionen ist angezeigt. Ich habe naiverweise angenommen, dass Euch Euer Lehrer, Jahal von Rawalpundi, in den Grundregeln dieses Verhaltens unterrichtet hat … Eure teure Mutter hat doch eine astronomische Summe bezahlt, um ihn kommen zu lassen. Ich weiß nicht, ob sie mit dem Ergebnis zufrieden wäre …«
Lists noch kindliches Gesicht sah verwirrt aus. Wütend auf sich, biss er auf seine Unterlippe.
»Die beiden mysteriösen Gestalten, die hinter diesem Würdenträger hergehen, sind Scaythen von Hyponeros«, fuhr der Regent in belehrendem Tonfall fort.
»Und ihre weißen Kutten nennt man Kapuzenmäntel. Sie gehören einer besonderen Rasse an und verfügen über telepathische Kräfte. Niemand weiß, woher die Scaythen eigentlich stammen. Einige behaupten, sie kamen aus einem uns unbekannten Universum, andere wiederum halten sie für Geschöpfe dunkler Mächte, Geschöpfe des Teufels, wenn Ihr wollt. Sie sind in der Verwaltung tätig. Und ein Scaythe namens Pamynx wurde sogar von Arghetti Ang, dem Vater des jetzigen Seigneurs von Syracusa, zum Großkonnetabel ernannt. Das ist eine sehr bedeutende Position, der unseres Dayt-Generals vergleichbar. Und die beiden Kapuzenmänner sind offensichtlich nichts anderes als Gedankenhüter.«
Obwohl List noch immer beleidigt war und sich geschworen hatte, zu schweigen, siegte seine Neugierde.
»Gedankenhüter?«
»Dieser Scharlatan Jahal hat Euch wohl gar nichts beigebracht!«, sagte der Regent empört. »Auch wenn diese arroganten Syracuser sich für etwas Besonderes halten, so müssen sie doch ständig ihre eigenen Gedanken schützen. Und diese scaythischen Wächter richten eine Art mentale Sperre auf, die dazu dient, dem Handeln der Gedankenleser zuvorzukommen.«
»Gedankenleser?«
»Das sind andere Scaythen, ebenfalls Söldner oder auch Inquisitoren genannt. Man zahlt ihnen viel Geld, um an vertrauliche Informationen zu kommen, das heißt direkt aus den Gehirnen der Beobachteten. Ich muss gestehen, dass mir diese Leute etwas Angst einflößen, denn es ist ihnen gelungen, sich unentbehrlich zu machen. Einerseits, weil sie Gedanken stehlen, und andererseits, weil sie vor Gedankendiebstahl schützen.«
»Ihr habt Angst, mein Onkel?«, fragte List ungläubig und lachte. Von der hohen Warte seiner sechzehn Jahre war es ihm unvorstellbar, dass der Regent des Marquisats, der jüngere Bruder seines verstorbenen Vaters, sich vor etwas fürchten könnte.
»Nicht in dem Sinne, wie Ihr es jetzt auffasst, List. Diese Leute sind Intriganten. Wir müssen aufpassen, dass sie ihre telepathischen Kräfte nicht dazu benutzen, das Gleichgewicht der Mächte innerhalb der Konföderation zu zerstören. Meiner Meinung nach spielen die Scaythen eine zu große Rolle bei den syracusischen Staatsgeschäften, und die Syracuser wiederum nehmen innerhalb der Konföderation eine zu bedeutende Stellung ein … Stellt Euch nur einmal vor, dass die Inquisitoren in Euch oder in mir so deutlich lesen würden wie in einem der alten Lichtbücher.«
Noch während der Regent diese Worte aussprach, wurde ihm bewusst, dass er eine solche Möglichkeit bisher noch nie in Betracht gezogen hatte. Niemals hatte er sich gefragt, ob die Scaythen – Gedankenschützer oder Gedankenleser – sich an dem von den Smellas vorgegebenen strengen Ehrenkodex hielten und ihre Aktivitäten nur auf den Planeten Syracusa und dessen Kolonial-Planeten beschränkten. Denn das strikte Befolgen dieser Regel war ihm stets als gegeben erschienen. Doch plötzlich hatte er auf diesem von dunklen Schatten umgebenen Balkon ein unheimliches Gefühl, so, als würden sich unsichtbare Tentakel unter seiner Schädeldecke in sein Gehirn vortasten.
Es drängte ihn, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Noch in dieser Nacht hoffte er, Antworten auf Fragen zu finden, die ihn quälten und ihm den Schlaf raubten. Und deshalb musste er um jeden Preis allein mit seinem alten Freund, dem Syracuser Sri Alexu, sprechen. Als Erstes musste er eine Möglichkeit finden, den von den konföderierten Sicherheitskräften streng bewachten Palast Ferkti Ang ungesehen zu verlassen.
»Und der Mann da!«, rief List, aufs Neue begeistert und voll unbändiger Neugier. »Wisst Ihr, was er repräsentiert?«
»Ihr meint den Mann mit dem purpurfarbenen Chorhemd über dem safranfarbenen Colancor? Er trägt das Priestergewand der Missionare der Kirche des Kreuzes.«
»Ach ja! Hier wird der Religion viel Bedeutung beigemessen«, murmelte der junge Mann enttäuscht.
»Wie ich höre, habt Ihr nicht alles aus Eurem Unterricht vergessen. Der Kreuzianismus ist tatsächlich die … die offizielle Religion auf Syracusa.«
»Ihr scheint sie nicht besonders zu schätzen«, bemerkte List, dem der verächtliche Ton seines Onkels nicht entgangen war.
»Der Terminus ›offiziell‹ ist eigentlich nicht zutreffend. Es müsste vielmehr ›obligatorisch‹ heißen. Denn ich bin der Überzeugung, dass jedes Wesen das Recht hat, frei seinen Glauben zu wählen. Aber kommt … wir wollen im Park spazieren gehen. Es wäre schade, sich diesen herrlichen Anblick entgehen zu lassen.«
Doch List beugte sich noch immer über den Balkon. Er war derart fasziniert von dem Geschehen dort unten, dass er den Blick nicht abwenden konnte. Der Regent hingegen betrat seine luxuriöse Suite und setzte sich an den Tisch aus parfümiertem Holz, der ihm als Schreibtisch diente. Er drückte auf ein kleines schwarzes Kästchen, das einen kurzen Moment von einer blauen Aureole umgeben war: ein zellularer Transmitter, der mit den Okular-Rezeptoren seiner Dayts in Verbindung stand.
Nur widerwillig folgte List seinem Onkel in den großen Salon. Er betrachtete den alternden Mann. Seit dem Tod seines ältesten Bruders, Abasky Wortling, dem einhundertsiebenundzwanzigsten Seigneur der Dynastie Wort-Mahort, führte er die Regierungsgeschäfte, weil List noch zu jung war, und er hatte sich als äußerst fähiger, ja gerissener Regent erwiesen, der geschickt die territorialen und kommerziellen Ansprüche seines Planeten anderen Staaten gegenüber vertreten hatte. Deshalb wurde er allgemein geachtet, und es gab viele Herrscher, die ihn um Rat angingen.
List musterte amüsiert und gleichzeitig beschämt über sich die unmodische Kleidung seines Onkels. Welchen Kontrast sie doch zu den glänzenden und schillernden Stoffen der Einheimischen bildete! Er brannte vor Verlangen, zum ersten Mal am Hof von Ranti Ang zu erscheinen, weil er mit eigenen Augen all den Luxus sehen wollte, den ihm die wenigen Notabeln des Marquisats, die bisher das Privileg genossen hatten, dort erscheinen zu dürfen, geschildert hatten. Für ihn bedeutete eine solche Einladung nicht nur das Betreten des Allerheiligsten – den Tempel der Anmut und der Eleganz selbst –, er könnte bei seiner Rückkehr auch vor seinen Freunden groß damit prahlen. Aber je mehr Zeit verging, umso ferner schien dieser ersehnte Augenblick. Denn er musste seine Ungeduld noch bis zum Ende der Asma zähmen, und unzählige langweilige Reden über sich ergehen lassen, die so nervtötende Themen wie Währungsparitäten, Handelsbilanzen, ethische Gesichtspunkte hinsichtlich dem Status der Nichtmenschen und der Forschung mit ihnen, kurzum die ganz gewöhnliche Agenda einer Asma behandelten.
Und trotz des Respekts und der aufrichtigen Zuneigung, die List seinem Onkel entgegenbrachte, hielt er ihn für ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit. Zwar war der Regent zu einem der einflussreichsten Männer der Konföderation aufgestiegen, doch seine lange braune Kutte aus Wolle, sein wirres graues Haar, das ihm in üppigen Locken bis auf die gekrümmten Schultern fiel, und seine hohen, abgetragenen Lederstiefel ließen kaum auf einen Mann seines Rangs schließen.
Wenn der Himmel es eines Tages zuließ, dass er, List Wortling, der einzige Sohn von Abasky Wortling, Seigneur der Welten des Wort-Mahort würde, dann würde er an seinem Hof eine von Kunst und Schönheit geprägte Etikette etablieren.
Die unsichtbaren Luftlifte setzten die Delegation des Marquisats samt ihrer imposanten Eskorte auf einem kleinen kreisförmigen Platz ab, von dem strahlenförmig geradlinige, hell erleuchtete Alleen abgingen. Die Umrisse des Parks verschwanden in der zweiten Nacht, der Nacht der Ruhe und der Erholung und der unterschiedlichsten Vergnügungen.
»Wie angenehm es ist, hier spazieren zu gehen«, erklärte Jasp Harnet, der Dayt-General. »Und wie schade, dass wir nicht dasselbe Klima auf unserem Planeten haben.«
»Unser Marquisat hat andere Annehmlichkeiten zu bieten, auch wenn das Klima, wie ich zugebe, etwas rauer ist«, entgegnete Stry Wortling. »Aber wir haben sechs Jahreszeiten, und jede besitzt ihren ganz eigenen Zauber.«
List ging hinter der Gruppe der Dayts und Botschafter, die sich um den Regenten scharten, her. Der Dayt-General, ein kleiner kahlköpfiger Mann, der immer mit einer grauen Kutte bekleidet war, langweilte ihn unsäglich. Eine sanfte Brise, »Liebkosung« genannt, durchzog die laue Luft mit ihren feinen Düften. Am dunkelblauen Himmel glänzten ferne Sterne. Drei der fünf nächtlichen Satelliten mit ihren orangeroten Schweifen waren am Horizont sichtbar geworden. Ein Schwarm von Lichtkugeln schwebte über dem Park und beleuchtete flüchtig die Alleen, deren Belag aus Steinsalz für einen kurzen Augenblick funkelnd auf blitzte, bis sie weiterschweiften und ihr Licht über die weitläufigen Weiden ergossen.
An einer Wegkreuzung traf die Delegation des Marquisats auf eine andere. Stry Wortling erkannte den Seigneur Dons Asmussa, den Herrscher von Sbarao und den Elf Ringen, sofort an seiner charakteristischen Gestalt.
Die beiden Eskorten und die Garden stellten sich am Rand der Alleen auf, während sich der Seigneur von Sbarao und der Regent des Marquisats auf traditionelle Weise begrüßten: Sie legten ihre Hände auf Augenhöhe aneinander und verneigten sich dreimal, wie es das Protokoll vorschrieb.
Auf Dons Asmussas weit geschnittenem schwarzen Cape funkelten kostbare Edelsteine: Rubine, Smaragde und Saphire. Eine fein ziselierte Krone aus Altgold schmückte sein Haupt. Sein üppiges braunes Haar war in der Mitte gescheitelt, eingeölt und zu zwei Zöpfen geflochten.
Für List war dieser Mann ein Paradebeispiel schlechten Geschmacks.
»Regent Stry Wortling! Es ist mir immer eine Ehre und ein Vergnügen, Euch zu sehen!«, erklärte Dons Asmussa mit Donnerstimme. »Wenn ich mich recht erinnere, haben wir uns zum letzten Mal vor fünf Jahren anlässlich der Asma auf Dalomip getroffen. Damals hat es derart geregnet, dass wir alle froh waren, als wir wieder in unsere eigenen Welten zurückkehren konnten.«
Seine launigen Worte wurden von seiner Delegation pflichtschuldig mit einem Lachen quittiert.
»In der Tat, Seigneur Asmussa, weder Ihr noch ich sind für ein feuchtkaltes Klima geschaffen, nicht wahr?«, entgegnete Stry Wortling. »Aber lassen wir die Erinnerungen ruhen. Ich bin sehr froh, mit Euch ein wenig vor dem offiziellen Beginn der Asma plaudern zu können. Es gibt da gewisse … Zufälle, die mir zu denken geben und über die ich mit Euch sprechen möchte.«
Der Regent wusste, dass Dons Asmussa trotz seines bizarren, ja nahezu vulgären Aussehens – das alle Bewohner des Planeten Elf Ringe kennzeichnete – ein sehr erfahrener Staatsmann war. Denn es war ihm gelungen, seine Dynastie, die ihren Aufstieg einer Verschwörung verdankte, fest zu etablieren, ohne mit den Gesetzen der Konföderation in Konflikt zu geraten. Die ehemaligen Sklaven des Ersten Rings, jene, die einst seinen Urahn auf den Thron von Sbarao gesetzt hatten, waren bei sieben Putschversuchen erfolglos geblieben. Außerdem hatte er viele Attentate überlebt; und beim letzten hatte er durch eine Leuchtbombe einen Arm verloren. Doch an allen Kämpfen war er gewachsen und hatte weiter an Autorität gewonnen.
Jetzt bildeten die Garden einen Kreis um die beiden Herrscher. Stry Wortling warf einen Blick in die Runde und fragte sich, ob darunter nicht vielleicht Leute waren, die geheime Lautverstärker in den Ohrmuscheln trugen oder von den Lippen ablesen konnten.
»Wenn Ihr nichts dagegen habt, unterhalten wir uns mittels unseres Codeurs«, sagte Stry Wortling leise.
»Verdächtig Ihr jemanden aus Eurer Entourage?«, fragte Dons Asmussa.
»Ach, man kann nie wissen«, antwortete der Regent vage.
Aus einer Tasche seiner Kutte nahm er einen kleinen Codeur und befestigte ihn an seiner Unterlippe. Sein Mund war nun in einen milchig trüben Nebel gehüllt. Der Seigneur von Sbarao zuckte mit den Schultern und tat es ihm nach. Jetzt konnte niemand ihre Unterhaltung belauschen.
List entdeckte einen Pfau, der unter dem warmen Schein einer Lichtkugel paradierte und seine bunt schillernden Federn spreizte.
»Das so plötzliche Verlegen der Asma hierher wird von einer ganzen Reihe besorgniserregender Ereignisse begleitet«, fuhr Stry Wortling fort, »die mir nicht mehr als bloße Zufälle erscheinen.«
Der Codeur verzerrte seine Stimme. Er hatte das Gefühl, durch einen Wasserfall hindurch zu sprechen.
»Erster Zufall: Der Brand im Palast der Asma auf Issigor. Es ist doch sehr merkwürdig, dass ein Feuer ein Gebäude dieser Größe innerhalb von zwei Tagen zerstören konnte und das genau einen Monat vor unserer dort geplanten Zusammenkunft. Zweiter Zufall: der Prozess gegen Sri Mitsu, einen der fünf großen Smellas der Kongregation. Er wurde auf Lebenszeit verbannt; und das wohl eher, weil er durch seine Fähigkeiten die Machenschaften gewisser Elemente hätte durchkreuzen können und nicht, wie vorgegeben, weil man ihn wegen angeblicher religiöser Verfehlungen verurteilt hat …«
»Das ist doch eine ganz banale und traurige Geschichte!«, wandte Dons Asmussa ein. »Euch ist doch wohl die Unnachgiebigkeit dieser fanatischen Kreuzler bekannt!«
»Genau. Aber wie erklärt Ihr Euch, dass diese Unnachgiebigkeit nicht für gewisse hochgestellte Persönlichkeiten gilt, deren Sitten ebenfalls gegen den Kodex der Kirche verstoßen?«
»Das hat politische Gründe«, antwortete Dons Asmussa. Er wusste, worauf sein Gesprächspartner anspielte. »Indem der Muffi eine bedeutende Persönlichkeit verurteilte, stärkte er seine Autorität gegenüber den Syracusern. Und Ihr wisst genauso gut wie ich, dass ein Smella aus der Kongregation ausgeschlossen wird, sobald er gegen die Gesetze seines Heimatstaates verstoßen hat. Die Gesetzestexte sind in diesem Punkt eindeutig.«
»Die Gesetzestexte beinhalten nichts weiter als strikte Vorgaben; sie sind völlig sinnentleert. Was ist ein Gesetzestext ohne geistigen Inhalt? Und ich bin der festen Überzeugung, dass Sri Mitsu nicht wegen einer Gesetzesübertretung verurteilt wurde, sondern wegen seiner Geisteshaltung.«
»Verflucht noch mal, Regent Stry Wortling! Es ist doch nicht das erste Mal in der Geschichte der Konföderation, dass eine Asma in letzter Minute auf einem anderen Planeten stattfindet. Dafür gibt es einige Beispiele. Und unter uns gesagt«, fügte Dons Asmussa verschmitzt hinzu, »wärmt Ihr nicht lieber Eure alten Knochen in diesem herrlichen Klima als sie den eiskalten Winden auf Issigor auszusetzen? Auf Syracusa wird diese lästige Pflicht doch zu einem Vergnügen.«
Er schwieg und deutete mit einer Kinnbewegung auf List, der in der Nähe des Pfaus auf dem lilafarbenen Rasen kauerte.
»Ich hoffe doch, dass Ihr alles tut, um Eurem Neffen, dem künftigen Herrscher des Marquisats, den Aufenthalt in Venicia so angenehm wie möglich zu machen. Denn hinter der unterkühlten Art der Syracuserinnen verbirgt sich ihr ausgesprochen feuriges Temperament. Und wenn er die Damen so gut wie Pfaue zu zähmen weiß …«
Er brach in ein so dröhnendes Gelächter aus, dass Stry Wortling die Ohren wehtaten. Doch der Regent ließ sich von der Fröhlichkeit seines Gegenübers nicht anstecken, sondern nahm seine Überlegungen wieder auf.
»Dritter Zufall: Der jüngere Bruder des Seigneurs von Syracusa, Menati Ang, ist momentan der Oberbefehlshaber der Armee. In letzter Zeit ist er viel gereist und hat Kontakte zu hohen Offizieren geknüpft, auch zu den Pritiv-Söldnern …«
»Wer hat denn nicht schon diese Mörder für sich arbeiten lassen. Sie sind zwar teuer, aber effizient und diskret. Und wenn Menati Ang die Pritiv-Söldner zu Hilfe gerufen hat, geschah es, um eifersüchtige Ehemänner aus dem Weg räumen zu lassen, damit er deren Frauen nach Belieben ficken kann. Dieser Mann denkt mit seinem Schwanz. Außerdem wird nach Beendigung der Asma ein neuer Oberbefehlshaber ernannt. Aber in einem Punkt stimme ich mit Euch überein, Regent Wortling: Mir gehen diese Syracuser mit ihrem Getue und ihre Affen, diese Gedankenwächter, auch entsetzlich auf die Nerven. Doch glaubt mir, sollte es jemandem einfallen, die Grundfesten der Konföderation erschüttern zu wollen, braucht er dazu mehr als die Unterstützung der Armee und der Pritiv-Söldner. Denn diese Leute würden sich bald mit den Mitgliedern des Ordens der Absolution konfrontiert sehen. Schließlich ist der Ritterorden das letzte Bollwerk, das seinerzeit von der Konföderation Naflin installiert wurde.«
»Für mich ist dieser Orden völlig undurchschaubar. Ein Mysterium. Seit dem Bestehen der Konföderation hat er nicht ein einziges Mal interveniert. Wären die Ritter überhaupt in der Lage, sie im Fall einer Bedrohung zu verteidigen?«
Strahlend weiße Zähne blitzten in Dons Asmussas dunkelbraunem Gesicht auf, als er lächelte. »Ich versichere Euch, sie sind gewappnet.«
»Woher nehmt Ihr diese Gewissheit, Seigneur Asmussa?«
»Ich weiß es von einer Person, die mir sehr nahesteht: meinem dritten Sohn, Filp. Vor drei Jahren trat er in den Ritterorden ein und lebt seitdem im Kloster Selp Dik. Vor kurzem wurde er in den Rang eines Kriegers erhoben. Der Unterricht im Kloster ist streng geheim. Doch das Wenige, das er mir darüber erzählt hat, reicht mir, um von der Schlagkraft der Ritter überzeugt zu sein. Ich weiß, dass Ihr ein misstrauischer und vorsichtiger Mann seid, Regent Wortling, aber ich beschwöre Euch zum zweiten Mal: Genießt vorbehaltslos Euren Aufenthalt auf diesem herrlichen Planeten!«
»Ich danke Euch, mir ein paar Minuten Eurer Zeit geschenkt zu haben, Seigneur Asmussa. Wir sehen uns dann morgen, bei der Eröffnung der Asma. Mögen die Götter Euch recht geben, und mögen meine Vorahnungen nichts als die Hirngespinste eines alten Mannes sein.«
Der Regent nahm seinen Codeur ab, ließ ihn in eine Tasche seiner Kutte gleiten und verneigte sich dreimal.
»Regent Wortling, Ihr seid munterer und vitaler denn je. Mögt Ihr eine angenehme Nacht verbringen, aber treibt es nicht zu toll mit den Frauen. Diese Kreaturen des Teufels sind gefährlich, denn sie können einem die letzte Kraft rauben.«
Die Eskorten und Garden formierten sich aufs Neue. Mit großem Bedauern schloss sich List wieder seiner Gruppe an. Der Pfau stolzierte ein Stück des Wegs hinter ihm her, drehte sich schließlich um und hüpfte unter einer Lichtkugel davon.
Dann entfernten sich die beiden Männer samt ihrem Gefolge in entgegengesetzte Richtungen.
»Der Seigneur Asmussa schien guter Laune«, bemerkte Jasp Harnet, der Dayt-General. »Obwohl Sbarao und die Elf Ringe nicht einfach zu regieren sind.«
»Ich nehme an, dass er vor allem froh ist, noch immer am Leben zu sein«, antwortete der Regent zerstreut.
Bei dieser zufälligen Begegnung hatte er nichts Neues erfahren, doch sie hatte ihn in seinem Wunsch bestärkt, mit Sri Alexu zu sprechen. Die Scharfsichtigkeit des Syracusers half ihm vielleicht, etwas Ordnung in seine wirren Gedanken zu bringen.
Jasp Harnet trat in das Konversationszimmer, dessen Wände aus grünen Wasserteppichen bestanden, in denen sich winzige Fisch-Schmetterlinge tummelten.
»Jasp, ich vertraue Euch heute Abend List an«, sagte Stry Wortling. Er saß in einem Luftsessel, dessen Konturen man nur erahnen konnte, sodass der Dayt-General den Eindruck hatte, die Beine und der Rücken des Regenten würden von dem Nichts gestützt.
»Unser Sire Regent begleitet uns nicht?«
»Nein. Ich möchte allein sein, weil ich nachdenken muss. Aber List soll sich heute Abend amüsieren, also bitte ich Euch, ihn zu begleiten, wohin er will: ins Deremat-Theater, zum Fliegende-Steine-Rennen, den Ekstatischen Gesängen …«
»Seigneur List schätzt meine Gesellschaft nicht besonders«, wandte der kleine Mann ein.
»Ein Grund mehr, ihm nichts abzuschlagen! Ehm … Jasp … wir sind weit von unserer Heimat entfernt, und wenn es auch meiner Schwägerin missfällt, so ist es doch höchste Zeit, List mit … mit gewissen Aspekten des Lebens vertraut zu machen … Mir wurde gesagt, dass die syracusischen Kokotten die besten Lehrerinnen für … na ja, Ihr wisst schon, was ich meine. Aber seid vor allem diskret! Ach, und vergesst nicht, ihn mit der lokalen Küche bekannt zu machen: Sie ist wirklich vorzüglich.«
»Seigneur List wird Eure Abwesenheit bedauern, Sire Regent«, protestierte Jasp Harnet lahm, aber insgeheim hocherfreut, mit einer solchen ehrenvollen Aufgabe betraut zu werden.
»Im Gegenteil, er wird sich unbändig darüber freuen«, sagte der Regent und lachte schallend. »Als ich jung war, hasste ich es, mit alten Männern auszugehen. Ich gebe Euch eine Eskorte mit, bitte Euch aber trotzdem, über Lists Sicherheit zu wachen. Eine Asma zieht immer eine Menge Betrüger an: professionelle Spieler, Magier, Illusionisten, Drogenhändler … Ich möchte auf keinen Fall, dass er auf irgendeine Weise in eine Intrige verwickelt wird … Zwar ist hier alles extrem teuer, aber macht Euch keine Sorgen um die Kosten. Gebt aus, was nötig ist. Und List sagt Ihr, dass ich mich nicht wohlfühle. Geht jetzt, sofort. Dank Euch, Jasp.«
»Euer Wunsch sei mir Befehl, Sire Regent.«
Die schwarzen Augen des Dayt-Generals glühten wie Kohlen. Er legte die Hände in Augenhöhe zusammen, verneigte sich und ging.
Sofort hing Stry Wortling wieder seinen betrüblichen Gedanken nach, doch die Umstände zwangen ihn, sich ganz und gar auf seine Berater zu verlassen. Während seiner fünfunddreißig Jahre im Dienst der Dynastie der Wort-Mahort hatte Jasp Harnet nie das Vertrauen seiner Herren enttäuscht. Doch da der Regent im Augenblick von großen Zweifeln geplagt wurde, misstraute er manchmal sogar seinem Dayt-General, dem Treuesten unter seinen Getreuen.
Etwas später erhob sich Stry Wortling und ging in sein Schlafzimmer, ein geräumiges Gemach, ganz in grünen, blauen und violetten Farbtönen gehalten, und aktivierte sein persönliches Holofon, das auf einem schwebenden Regal stand. Der Kopf von Licius, dem Diener, der für diese Suite des Palastes verantwortlich war, erschien auf dem wabenförmigen Bildschirm.
»Monseigneur?«
»Könnten Sie mir unauffällig ein Cape oder etwas … Ähnliches besorgen?«
Licius verzog den Mund zu einem komplizenhaften Lächeln.
»Monseigneur möchten vielleicht anonym einen ganz bestimmten Ort in Venicia aufsuchen?«
»Ja … in gewisser Weise schon«, antwortete Stry Wortling.
»Dann möge Monseigneur sein Holofon deaktivieren. Die Mauern des Palastes haben manchmal Ohren, die …«
Zwei Minuten später betrat der Diener, in grauem Colancor und roter Weste, das Gemach. Über dem Arm drapiert trug er ein schwarzes Tuch.
»Gibt es irgendwelche unauffällige Ausgänge im Palast?«, fragte Stry Wortling.
»Es existieren vielleicht einige verborgene Türen«, antwortete Licius ausweichend.
»Aber Sie wissen doch sicher, wie man diese Suite verlassen kann, ohne die Aufmerksamkeit der Garde zu erregen?«
Es war ziemlich wahrscheinlich, dass der Diener gleichzeitig ein Agent des syracusischen Sicherheitsdienstes war. Also ging Stry Wortling ein großes Risiko ein, wenn er sich von ihm helfen ließ. Aber er hatte keine andere Wahl.
»Alles ist möglich, wenn man es wirklich will«, murmelte der Diener.
Der Regent entnahm einer Tasche seiner Kutte eine kleine silberfarbene Platte, das Äquivalent von zehntausend Standardeinheiten, und reichte sie Licius.
»Das Glück wollte es, dass ich in diesem Palast bereits seit acht Jahren arbeite«, sagte der Diener mit plötzlich strahlenden blauen Augen. »Und deshalb kenne ich die Örtlichkeiten wie meinen Dienstcolancor. Jede Suite besitzt einen geheimen Eingang, der auch als Notausgang im Falle irgendeiner Gefahr dient. Und dieser Eingang wird nur von einem einzigen Mann bewacht, mit dem man sich immer irgendwie arrangieren kann. Monseigneur möge mir folgen und vorher das Cape anlegen, damit ihn niemand erkennen kann! Auch ich muss diese Vorsichtsmaßnahme treffen, denn ich gehe ein sehr großes Risiko ein.«
»Das war nur eine Anzahlung. Der Rest der Belohnung wird sich nach der Höhe des Risikos richten«, sagte Stry Wortling.
Licius reichte dem Regenten das schwarze Cape. Das silberfarbene Plättchen steckte er in eine Tasche seiner Weste, dann verbeugte er sich und ging in das Konversationszimmer. Der Regent legte das schwarze Cape mit der weiten Kapuze an und folgte ihm. Der Diener griff nach dem Saum eines der grünen Wasservorhänge und schob ihn beiseite, als handele es sich um einen ganz gewöhnlichen Vorhang aus Stoff. Die Fische-Schmetterlinge flohen erschreckt und versteckten sich in Mikroalgen.
Auf der dahinter liegenden kahlen Wand aus weißem Marmor zeichnete sich eine gepanzerte runde Schleusenkammer ab. Licius kratzte mit einem seiner spitzen Fingernägel an dem nassen Stahl. Ein ähnliches, aber gedämpftes Geräusch war von der anderen Seite zu hören. Dann knirschte es laut, so als würde ein Metallriegel zurückgeschoben. Die Schleusenkammer öffnete sich, und Stry Wortling konnte einen Kopf mit einem grauen Helm und weißem Federbusch erkennen.
Der Wächter und der Diener begannen eine lebhafte Diskussion in einer Mischung aus interplanetarischem Nafle und altem Syracusisch. Stry Wortling konnte das Gespräch nur bruchstückhaft verstehen.
Später, in dem unterirdischen Gang, berichtete Licius ihm, dass er die Hälfte seiner Belohnung dem Wächter versprochen habe. Der Regent glaubt ihm kein Wort, doch er äußerte sich nicht dazu. Aus langjähriger Erfahrung wusste er, dass Bestechung der einzige Schlüssel war, der alle Türen dieses Universums öffnete.
Sie durchschritten ein Labyrinth aus finsteren Gängen, die durch verwinkelte Treppen und Gravitationsplattformen miteinander verbunden waren. Der Diener musste mit weiteren Wächtern verhandeln und verkündete anschließend, dass ihm kaum noch etwas von seiner Belohnung übrig bleiben würde. Schließlich erreichten sie die Basis des Hügels, auf dem der Palast stand, und gelangten bald darauf in eine kleine dunkle Nebenstraße. Stry Wortling zog sich die Kapuze seines Capes über den Kopf und gab Licius das zweite silberfarbene Plättchen.
»Sollte jemand nach mir verlangen, sagen Sie, dass ich auf keinen Fall gestört werden dürfe. Wenn Sie den Mund halten, gibt es noch einmal dieselbe Summe. Doch wenn Sie schwatzen, ergeht es Ihnen schlecht.«
»Monseigneur brauchen sich keine Sorgen zu machen, ich habe bereits alles vergessen.«
Der Diener steckte das Plättchen ein und verschwand. In der Ferne konnte Stry Wortling die hohen weißen Mauern des Palastes erkennen. Er ging die schmale Gasse entlang und stand bald auf einer großen, hell erleuchteten Avenue. Jugendliche auf fliegenden Stühlen lieferten sich ein Rennen über die breiten Trottoirs. Stry Wortling ging zu einem Stand der Taxikugeln, die regungslos in der Luft verharrten. Er nahm auf dem Rücksitz einer Taxikugel Platz.
»Wohin soll ich Sie bringen, mein Herr?«, fragte der Chauffeur, der trotz seiner Bemühungen als Syracuser zu erscheinen, offensichtlich keiner war.
»In die Nähe des alten Museums, in den Norden der Stadt, dort, wo der Tiber Augustus fließt.«
»Ich weiß, wo das Museum ist. Ich kenne mich gut in Venicia aus.«
»Worauf warten Sie dann noch? Ich habe es eilig!«
»Sie sind der Kunde, mein Herr!«, knurrte der Chauffeur.
Die Taxikugel stieg geräuschlos in den Himmel empor, bis sie in einen Geschwindigkeitskorridor einbog, der von Sicherheitspflöcken markiert war. Sie entfernten sich schnell vom belebten Stadtzentrum und tauchten in die Nacht ein, bis sie einen riesigen schwarzen Graben überflogen, in dem sich unzählige weiße Lichter, nicht größer als Leuchtkäfer, bewegten.
Der Chauffeur hätte gerne ein Schwätzchen gehalten und ergriff die Gelegenheit, als er den überraschten Blick seines Fahrgasts bemerkte.
»Niemand weiß, was das da unten ist. Wahrscheinlich wird ein neuer Palast gebaut. Als ob es in Venicia nicht schon genug davon gäbe! Und die Lichter, das sind Arbeiter in Lichtoveralls. Damit können sie auch nachts arbeiten. Sie kommen von Satellitenstaaten, vor allem vom Planeten Julius, und glauben, dass sie hier ihr Glück machen …«
»So wie Sie vielleicht?«, unterbrach ihn der Regent.
Die Taxikugel begann ihren rasanten Steilflug über den Fluss, auf dem noch ein paar schwach erleuchtete Galeoten kreuzten. Auf dem gegenüberliegenden Flussufer wurde das imposante Gebäude des Museums immer größer, ein beeindruckendes Zeugnis der Baukunst aus pränaflinischer Zeit.
»Soll ich Sie wirklich auf dieser Seite des Tiber Augustus absetzen, mein Herr? Hier gibt es nichts zu sehen … Ich kenne viel interessantere …«
»Ich will hier aussteigen! Das ist alles, was ich verlange!«, unterbrach Stry Wortling den Chauffeur mit schneidender Stimme.
»Sehr wohl, mein Herr. Sie sind der Kunde …«
Die Taxikugel flog dicht über dem Fluss und landete sanft auf einem Kai, nahe einiger verlassener Lagerhäuser. Stry Wortling bezahlte den Flug und stieg aus. In der nächtlichen Stille waren nur das leise Rauschen des Flusses und ein diffuses Raunen der Stadt zu hören.
Die Taxikugel erhob sich in die Lüfte und verschwand in Richtung des hell erleuchteten Zentrums. Der Regent zögerte. Er hatte Sri Alexu nicht über sein Kommen informiert, da der holografische Kanal auf Syracusa wahrscheinlich abgehört wurde. Leider hatte er nur eine vage Erinnerung daran, wo sein alter Freund wohnte, außer dass sich sein Anwesen in der Nähe des Tiber Augustus und des Museums befand. Denn beides konnte man von seinem Garten aus sehen.
Schließlich entschloss sich Stry Wortling, den Kai in Richtung Museum entlangzugehen. Die beiden letzten Satelliten der zweiten Nacht schmückten den Horizont mit grünen und mauvefarbenen Streifen. Der Regent gelangte auf einen Platz, der von Zwergbäumen und hohen Häusern mit grauen Fassaden gesäumt war. Der Platz kam ihm vage bekannt vor. Er überquerte ihn, und als er an den Grünanlagen vorbeiging, hörte er furchterregende Schreie. Sein Blut gefror, und er umklammerte den Griff seiner alten Pistole. Mit gespreizten Federn stürzte ein Pfau aus den Büschen hervor und trippelte, so schnell er konnte, unter die schützenden Äste eines Dornenstrauchs.
»Große Götter! Jetzt habe ich schon Angst vor einem Federball«, murmelte der Regent.
Er wartete, bis sein Herz wieder normal schlug. Obwohl die Nacht so friedlich wirkte, schien sie eine Menge unsichtbare Gefahren zu bergen.
Endlich stand er vor Sri Alexus Haus. Er erkannte es sofort an den harmonischen Proportionen, den Mauern aus Elfenbein und dem pyramidenförmigen Dach wieder. Kein Licht schimmerte hinter den großen spitzbogigen Glasfenstern. Sie sahen wie leere schwarze Augenhöhlen aus. Der Regent ging zum Portal, das zu den im Erdgeschoss gelegenen Gärten führte. Die weißen, von braunen Adern durchzogenen Luftstufen wiegten sich leicht in der Brise. Zwischen ihnen verströmten Blumen in Rabatten betörende Düfte. In der Mitte des hexagonalen Brunnens sang die Fontäne in Form eines Dreizacks nicht ihr übliches Willkommenslied.
Im Garten herrschte eine seltsame Stimmung, finster und bedrückend, ja eisig. Stry Wortling hatte das Gefühl, als ob jegliche Wärme aus diesem Ort entwichen wäre. Ihn schauderte, und er zögerte, seinen Weg fortzusetzen. Denn Sri Alexu schien nicht zu Hause zu sein, was dem Regenten merkwürdig vorkam, weil sein Freund Witwer war und nur eine Tochter hatte. Er verließ praktisch nie Venicia.
Doch seine Neugier überwog die Angst. Er warf einen schnellen Blick auf die Straße und stieß das Portal auf. Dann betrat er den Garten. Das war reiner Wahnsinn, denn höchstwahrscheinlich würde jetzt jemand – ein Nachbar, ein Passant, ein Sicherheitsbeamter oder ein Spion – Alarm schlagen. Wie sollte er dann seine Anwesenheit erklären? Und mit seinem schwarzen Cape sah er eher wie ein gewöhnlicher Dieb als wie ein bedeutendes Mitglied der Konföderation von Naflin aus.
Stry Wortling hatte das Gefühl, jeder seiner Schritte auf dem rosafarbenen Steinsalz der Allee würde die Stille schrill durchschneiden. Vor sieben Jahren hatte er Sri Alexu das letzte Mal besucht, das war anlässlich eines Empfangs, den sein alter Freund zum fünfzehnten Geburtstag seiner Tochter Aphykit gegeben hatte. Er erinnerte sich noch an die Pracht der Gärten und die unvergleichbare Schönheit der Heranwachsenden mit ihren grünblauen, goldgesprenkelten Augen. Dieses Mädchen war zweifelsohne das Kleinod in der Residenz des Syracuser gewesen.
Da sich die schwere Haustür aus parfümiertem Holz nicht öffnen ließ, ging er um die Villa herum. Ihm war eingefallen, dass es noch eine versteckte Hintertür gab. Plötzlich glaubte er, Geräusche gehört zu haben und blieb stehen. Lauschte. Nichts. Er bahnte sich weiter seinen Weg durch dichtes Gebüsch, dessen stachelige Äste ihm die Hände und Unterarme zerkratzten.
Schließlich stand er vor der niedrigen Tür. Sie ließ sich mühelos öffnen, nur die Türangeln knirschten leise. Dann betrat er einen schmalen Gang, über den sich eine nicht enden wollende Fontäne aus schwarzer zähflüssiger Tinte ergoss.
Er inspizierte flüchtig die beiden ersten Etagen: den großen, mit sternenförmigen Luftskulpturen geschmückten Salon; das ordentliche Arbeitszimmer, in dem es nach Weihrauch und parfümiertem Holz roch; die Schlafzimmer, deren Balkone auf den Tiber Augustus hinausgingen; die Küche, voller Kräuterdüfte; die Empfangsräume und das Sprechzimmer für private Konsultationen …
Das diffuse Licht der beiden Satelliten, das durch die Spitzbogenfenster fiel, wies ihm den Weg.
Und wieder überkam ihn dieses beklemmende Gefühl. Die Atmosphäre im Haus war so unheimlich, dass ihm fast übel wurde.
Dann betrat er das kleine Deremat-Zimmer und überprüfte das weiße längliche Gerät, über dem eine leuchtende holografische Karte angebracht war – ein kleines Meisterwerk der Technik, das Sri Alexu nicht oft benutzte, weil er das Reisen verabscheute.
Stry Wortling öffnete automatisch die Einstiegsluke. Phosphoreszierende Chiffren glänzten auf dem Monitor über der Liege. Der letzte Benutzer hatte sich nicht die Zeit genommen, seine Reisedaten zu löschen.
Phy-Kontrolle: genehmigt. Datum: 13. Syracusischer Frascius. Bestimmungsort: Zwei-Jahreszeiten. Abreise: 17 Uhr Ortszeit. Lokale Ankunftszeit: 7 Uhr 42. Anzahl der Passagiere: 1.
Der Regent rechnete das syracusische Datum in das Standarddatum um. Die Reise hatte bereits stattgefunden! Die holografische Karte zeigte nur einen kleinen Ausschnitt des Universums zwischen den Welten des Zentrums und den Planeten der Marken. Er gab den Namen des Reiseziels in den Rechner ein. Ein roter Punkt blinkte inmitten Hunderter Sternensysteme auf: Zwei-Jahreszeiten war vierzig Lichtjahre von Syracusa und sieben Lichtjahre von dem Planeten Roter-Punkt, dem Planeten der Verbannten und Raskattas, entfernt. Vierzig Lichtjahre galt auch als die maximale Reichweite dieses Deremats, was dennoch für ein privates Gerät eine außerordentliche Leistung war.
Ein Name tauchte plötzlich in Stry Wortlings Erinnerung auf: Sri Mitsu! Der Smella der Kongregation, den die Kirche des Kreuzes zum Exil auf Lebenszeit auf den Planeten Roter-Punkt verbannt hatte. Wahrscheinlich hatte Sri Alexu diese lange Reise unternommen, um Sri Mitsu, dem zweiten der drei Großmeister der Inddikischen Wissenschaft einen Besuch abzustatten. Doch da Zwei-Jahreszeiten ein Planet am Ende des Aktionsradius’ des Deremats war, hatte er sicher nur als Zwischenstation für die Fortsetzung der Reise gedient. Und weil der häusliche Gelehrte offensichtlich so überstürzt sein Domizil und seine Tochter verlassen hatte, musste die Lage ernst sein. Der Regent fühlte seine dunklen Vorahnungen bestätigt und spürte eine leichte Panik in sich aufsteigen.
In dem Moment hörte er Schritte und Stimmen. Er hatte gerade noch Zeit, auf den Balkon in der ersten Etage zu flüchten und sich unter der Brüstung zu verstecken. Von dort aus konnte er in den großen Salon im Erdgeschoss blicken, dessen Wasserlampen an den Wänden eine nach der anderen aufleuchteten.
Zwei weiß maskierte Pritiv-Söldner in grauen Uniformen mit silbern glänzenden Dreiecken auf der Brust betraten den Raum und inspizierten ihn. Andere Gestalten tauchten aus dem Halbdunkel auf – lautlos wie Gespenster.
Stry Wortling hielt den Atem an: Einer der Neuankömmlinge war niemand anders als Pamynx, der Konnetabel Syracusas. Er trug seinen traditionellen blauen Kapuzenmantel. Da er seine Kapuze zurückgeschlagen hatte, konnte der Regent seinen kahlen unförmigen Schädel, sein hässliches grünliches Gesicht und seine gelben pupillenlosen hervorquellenden Augen deutlich erkennen. Er wurde von zwei Gedankenlesern in ihren lindgrünen Kapuzenmänteln begleitet, sowie von einem Kardinal der Kirche des Kreuzes, erkennbar an dem violetten Chorhemd, das er über seinem purpurroten Colancor trug, und der Ordensspange hoher kirchlicher Würdenträger. Ihn begleiteten seine eigenen beiden Gedankenschützer in ihren weißen und roten Kapuzenmänteln. Drei weitere Pritiv-Söldner gehörten ebenfalls zu der Gruppe. Einer von ihnen trug eine schwarze Uniform und Maske.
»Dieser Mann hat viel mehr gewusst als wir vermutet haben«, erklärte der Konnetabel mit seiner metallischen, kalten Stimme. »Und seine Tochter?«
»Leider sind wir zu spät gekommen, Exzellenz«, antwortete der Söldner in Schwarz. »Sie konnte per Deremat fliehen, ehe wir …«
»Haben Sie die Koordinaten ihres Transfers?«
»Ihre Rematerialisation hat auf Zwei-Jahreszeiten stattgefunden, einem Planeten des Systems Drei Feuer.«
»Wahrscheinlich wird sie versuchen, auf Roter-Punkt mit dem Raskatta Sri Mitsu Kontakt aufzunehmen. Auch er ist ein Großmeister der Inddikischen Wissenschaft, wie ihr ketzerischer Vater.«
»Zwei unserer besten Leute sowie ein Scaythe, der Gedankenleser ist, verfolgen sie schon. Außerdem haben wir auf Roter-Punkt bereits eine Falle für sie aufgestellt.«
»Vorsicht! Sri Alexu hat seine Tochter sicher die Grundelemente der Inddikischen Wissenschaft gelehrt. Dann ist es dem Gedankenleser nicht möglich, sie zu lokalisieren.«
»Wir brauchen Euren Gedankenleser nicht. Dieses Mal versagen wir nicht, Exzellenz!«
»Was ich nur zu hoffen wage. Verwandelt diesen Körper jetzt zu Asche!«
Zwei Söldner gingen zu einer Stelle, wo eine Menge Decken und Kissen auf einem Haufen lagen. Dieses Durcheinander passte so gar nicht in das sonst sehr ordentliche Haus, und es war Stry Wortling bei seiner flüchtigen Inspektion der Räume völlig entgangen. Die Söldner zerrten einen leblosen Körper darunter hervor, den der Regent sofort erkannte; es war der Körper seines alten Freundes. Sri Alexu schien zu schlafen. Der Kardinal – ein dicker Mann mit rotem Gesicht – warf ständig nervöse Blicke auf seine Gedankenhüter, die wie Statuen hinter ihm standen.
Die Söldner trugen den Leichnam in die Eingangshalle. Und einer der Männer entnahm einem Beutel, den er am Gürtel trug, ein Gerät, das wie eine Birne aussah. Dann richtete er den Desintegrator auf das bleiche Gesicht Sri Alexus, worauf der runde Lauf der Waffe einen grell leuchtenden grünen Lichtstrahl ausspie.
Gesicht, Glieder und Kleidung des Syracusers verbogen sich und schrumpften zusammen, wie ein Blatt Papier, das von Flammen verzehrt wird. Von Sri Alexus Körper war bald nichts mehr übrig als eine amorphe graue Masse, die schnell zu einem Häufchen dunklen Staubs zerfiel. Der beißende Geruch verbrannten Fleisches verbreitete sich in der Luft.
Währenddessen durchsuchten die anderen Söldner das gesamte Erdgeschoss. Sie stapelten alte Bücher und Schriften von unschätzbarem Wert, 4-D-Filme aus der prä-naflinischen Periode und holografische Dokumente auf einem niedrigen Tisch.
»Sollen wir auch die Räume im ersten Stock überprüfen, Exzellenz?«, fragte der Söldner in Schwarz.
Stry Wortling krümmte sich in Todesangst zusammen, und ein klebriger Film aus kaltem Schweiß bedeckte seinen Körper wie ein Leichentuch.
»Das ist nicht nötig«, antwortete Pamynx nach einer Weile, die dem Regenten wie eine Ewigkeit erschienen war. »Da oben befinden sich nur die Schlafzimmer und der Deremat-Raum. Und es gehört nicht zu den Angewohnheiten der Syracuser, Arbeit und Muße miteinander zu verbinden, nicht wahr, Eure Eminenz?«
»Gewiss, gewiss«, stammelte der Kardinal, dem die Anwesenheit der Söldner sichtlich unangenehm war und den der bestialische Gestank störte.
»Gut. Dann zerstört auch diese Überbleibsel des Aberglaubens, damit sie dasselbe Schicksal wie ihren Besitzer ereilt. Diese Dinge müssen für immer vernichtet werden, nicht wahr, Eure Eminenz?«
Der Kardinal wurde aschfahl vor Wut und Empörung darüber, wie Pamynx ihn ständig zum Zeugen machte und ihm einen Teil der Verantwortung für diesen abscheulichen Mord auf bürdete. Er hatte das Gefühl, dass der Konnetabel ein perverses Vergnügen daran fand, doch er aktivierte seine mentale Kontrolle bis zum Maximum, um sich seine Aversion gegen diese Leute nicht anmerken zu lassen. Denn der Muffi Barrofill XXIV., Seine Unfehlbarkeit, hatte ihn mit einer geheimen Mission betraut, die, wenn sie auch unangenehme – um nicht zu sagen widerwärtige – Aspekte beinhaltete, erfüllt werden musste. Und das zum Ruhme der Kirche des Kreuzes. Und natürlich vor allem in Hinblick auf seine eigene Karriere innerhalb der Geistlichkeit.
»Natürlich, natürlich«, murmelte der Kardinal. »Möge das Kreuz immer seine heilige schützende Hand über uns halten …«
Einer der Gedankenleser setzte sich mental mit dem Konnetabel in Verbindung.
»Exzellenz, ich habe eine Person in der ersten Etage aufgespürt.«
»Idiot! Glauben Sie, ich brauche Sie, um das zu wissen? Warum habe ich den Söldnern wohl verboten, den ersten Stock zu durchsuchen? Stry Wortling, der Regent des Marquisats hält sich dort versteckt. Ich habe ihn beinahe erwartet, denn ich wusste, dass er heimlich den Palast verlassen hat. Ich wusste auch, dass er sich mit Sri Alexu treffen wollte. Jemand aus seiner Entourage hat mir mitgeteilt, dass der Regent argwöhnisch ist.«
»Aber warum habt Ihr ihn dann nicht schon vor Beginn der Asma eliminiert, Exzellenz?«
»Noch so ein dämlicher Vorschlag, und ich schicke Sie in die Matrizen-Tanks auf Hyponeros zurück. Der gewaltsame Tod einer der Herrscher wird sofort von der Kongregation untersucht. Dieses Risiko wäre viel zu groß gewesen.«
»Und was unternehmen wir jetzt?«
»Im Moment gar nichts. Sie können inzwischen in sein Denken eindringen, damit wir erfahren, was er wirklich über unser Projekt weiß. Unterdessen rede ich weiter mit dem Kardinal.«
»Sehr wohl, Exzellenz.«
»Ehm … Exzellenz«, begann der Kardinal vorsichtig und wählte mit Bedacht seine Worte, um auf das Problem hinzuweisen, das dem Muffi am Herzen lag. »Ihr wisst sicher, dass in der Folge von Sri Mitsus Prozess, den Ihr vorhin erwähntet … Ihr wisst sicher, wie ich schon sagte, dass gewisse … gewisse hochgestellte Persönlichkeiten unseres Planeten sich Ausschweifungen hingeben, die, sagen wir einmal, öffentlich bekannt werden und auf das syracusische Volk negative Auswirkungen haben könnten und, ehm … ebenso in Hinblick auf Eure Projekte sowie auf andere Völker der Konföderation …«
»Ihr sprecht sicher von diesen widernatürlichen sexuellen Praktiken«, unterbrach Pamynx den Kardinal, weil er wusste, worauf der Geistliche hinauswollte.
»Genau, Exzellenz. Genau. Wenn Euer Projekt gelingen soll; und es gelingt, weil auch die Kirche dafür ist, wäre es äußerst schädlich, dem Universum ein derart marodes Bild der syracusischen Zivilisation zu präsentieren …«
»Exzellenz, er weiß nicht mehr über unser Projekt als das, was bisher publik geworden ist.«
»Setzen Sie trotzdem Ihre Nachforschungen fort, und versuchen Sie herauszufinden, welche weiteren Pläne er hat. Währenddessen überlege ich, wie dieses Problem am besten zu lösen ist.«
»Seine Heiligkeit, Barrofill XXIV., brennt darauf, die Schar seiner Missionare ins Universum zu schicken. Diese Leute warten ungeduldig darauf, ihre in der Unwissenheit lebenden Brüder mit dem Feuer der Erlösung zu erleuchten. Jedoch hätte er gewisse Garantien …«
»Die Sorgen seiner Heiligkeit sind mir bekannt«, entgegnete Pamynx. Da er gerade auf telepathische Weise kommuniziert hatte, entglitt ihm kurz die Kontrolle über seine voluminöse Stimme. Der Kardinal zuckte erschrocken zusammen.
»Wir haben ebenso wenig wie die Kirche ein Interesse daran, dem Rest des Universums ein falsches Bild Syracusas zu vermitteln … Deshalb erscheint uns Menati Ang, der jüngere Bruder des jetzigen Seigneurs, der richtige Mann zu sein, die Nachfolge seines Vaters, des großen Arghetti Ang anzutreten. Menati Ang ist ein aufrechter Kreuzler von untadeligem Lebenswandel. Außerdem habe ich festgestellt, dass er in gewissen Situationen über ein bemerkenswertes politisches Geschick verfügt. Als Beispiel möchte ich nur erwähnen, dass es ihm gelungen ist, die militärischen Führungskräfte für unsere Sache zu gewinnen. Sollte uns Seine Heiligkeit in unseren Bemühungen unterstützen, entthronen wir Ranti Ang, damit Menati die Macht übernehmen kann.«
»Das ist auch der Wunsch Seiner Heiligkeit. Exzellenz …«
Der Kardinal verneigte sich steif, doch höchst erleichtert.
»Hier meine Anweisungen: Wir verlassen das Haus, als hätten wir von der Anwesenheit des Regenten nichts bemerkt, denn wir dürfen nicht vorzeitig sein Misstrauen erwecken. Die anderen Seigneurs wird er von hier aus nicht informieren, weil er weiß, dass der Sender in Sri Alexus Haus nicht sicher ist. Also muss er das Haus verlassen. Sobald er im Garten ist, sollen die Pritiv-Söldner seine Synapsen mit einem speziellen Strahl stören und ihn dann unauffällig nach Salaün, dem Dirnenviertel der Stadt, bringen und es so einrichten, dass er in der Morgendämmerung vor einem der berüchtigsten Bordelle aufgefunden wird. Dann wird es so aussehen, als hätte er sich heimlich aus dem Palast davongestohlen, um sich mit einer Dirne zu vergnügen, und man wird denken, dass er wegen seiner Ausschweifungen verrückt geworden ist.«
»Aber Exzellenz, ein solches Vorgehen wird zu einer Untersuchung führen und wahrscheinlich zu einem Aufschieben der Asma.«
»Nein, denn die Herrscherfamilie des Marquisats wird von dem legitimen Thronerben, List Wortling, repräsentiert. Glücklicherweise hat dieser alte Narr ihn mit hierher gebracht. Und da er anwesend ist und ebenfalls der Dayt-General, Jasp Harnet, wird List Wortling sofort die Regierungsgeschäfte übernehmen. Außerdem bleibt der Familie nichts anderes übrig, weil einer der ihren im Dirnenviertel aufgefunden wurde. Die Asma wird also eröffnet. Geben Sie meine Anweisungen an die Söldner weiter und überwachen Sie die gesamte Operation. Ich muss andere wichtige Dinge erledigen, die keinen Aufschub dulden. Solltet ihr scheitern, mache ich Sie persönlich dafür verantwortlich.«
»Sehr wohl, Exzellenz.«
»Noch etwas anderes: Unterziehen Sie alle Diener und Wächter des Palastes Ferkti Ang einer mentalen Überprüfung. Und bringen Sie mir jene Individuen, die dem Regenten geholfen haben. Diese Leute werden ihre Pflichtvergessenheit schwer bereuen. Gehen Sie, und vergessen Sie nicht: Ich dulde kein Versagen.«
Durch das lange Schweigen des Konnetabels ziemlich aus der Fassung gebracht, hüstelte der Kardinal zweimal und sagte: »Ist es wirklich nötig, Exzellenz, dass wir noch länger hierbleiben? Ich muss so schnell wie möglich Bericht erstatten …«
»Ich empfinde dieses Haus als ebenso unangenehm wie Ihr, Eminenz, und habe nur im Geist ein paar Dinge überprüft. Bitte, entschuldigt.«
Dann wandte sich Pamynx an die Söldner.
»Macht Ordnung. Überall!«
Nach und nach sah der Salon wieder wie vorher aus, elegant und aufgeräumt.
Von den Geschehnissen völlig niedergeschlagen und gleichzeitig erleichtert, unentdeckt geblieben zu sein, konnte Stry Wortling nicht umhin, die Geschicklichkeit der Pritiv-Söldner zu bestaunen, mit der sie ihre Aufgaben erledigten.
Diese Allianz zwischen dem Herrscherhaus der Ang von Syracusa, den Scaythen von Hyponeros, der Kirche des Kreuzes und den konföderierten Streitkräften stellte eine enorme Bedrohung für die Konföderation von Naflin dar.
Das, was der Regent des Marquisats dunkel geahnt hatte, war jetzt durch die Ereignisse im Hause Sri Alexus bestätigt worden. Und Stry Wortling hatte nur sehr wenig Zeit, um die anderen Herrscher der Welten des Zentrums und den Mahdi Seqoram, den Großmeister des Ordens der Absolution, zu informieren. Und er bedauerte zutiefst den Tod seines alten Freundes Sri Alexu. Er war das erste Opfer der Verschwörer geworden. Aber seine Tochter Aphykit hatte entkommen können. Nur für wie lange noch?
Die Wasserlampen erloschen eine nach der anderen und tauchten den Salon wieder in ein rußfarbenes Halbdunkel. Die Männer gingen, und ihre knirschenden Schritte auf den mit Steinsalz bestreuten Wegen des Gartens wurden immer leiser, bis sie einer fast greifbaren Stille wichen. Die Lichthöfe der Satelliten der zweiten Nacht sahen wie Narben am dunklen Himmel aus.
Ein alter Abzählreim kam dem Regenten in den Sinn:
Die schönsten Frauen streicheln die
Augen.
Die schönsten Frauen brechen das
Herz …
Er stand auf, lief die Lufttreppe hinunter und verließ das Haus. Draußen blieb er lauschend stehen und versuchte, die Dunkelheit mit seinen Blicken zu durchdringen. Doch er konnte nichts Verdächtiges hören oder sehen. Dann durchquerte er hastig und mit nervösen Schritten den Garten und ging auf die fernen Lichter Venicias zu, ohne auch nur eine einzige Sekunde daran zu denken, dass ihm jemand folgen könne.