ELFTES KAPITEL
Eine mächtige Schattenmacht ist
der Tod,
Ein Sensenmann, der ohne Not
Sterbliche jeden Alters und Geschlechts
Niedermäht im Sturme des Gefechts.
Weil wir den Kampf verloren,
Wenn wir dem EINEN abgeschworen,
Zwingt er uns beim Verlassen unserer
Hülle
Zur Heimkehr in die ewige Stille …
Der Tod ist keine flüchtige
Welle
Noch Fluss, Bach oder Quelle,
Nein, er ist die immerwährende Flut,
Die Tränenströme gebiert aus Trauer und
Wut.
Der Tod ist das dunkle Antlitz der
Illusion,
Ein Magier der Finsternis, der ohne
Pardon
Uns in die Irre führt,
Damit wir den Weg beschreiten, der uns
gebührt …
Der Tod befreit den Irrenden aus
seines Stolzes Gefängnis,
Sprengt dessen Ketten, erlöst ihn aus seiner
Bedrängnis.
Er lässt ihn vergessen Raum und
Zeit
Bei seiner Reise in die Ewigkeit.
Wenn wir von den Flügeln der
Liebe getragen
An der Hand des Kreuzes uns in das Reich des
Friedens wagen.
Messaodyne Jhû-Piet
I m fahlen Licht des aufgehenden Gestirns Salom zeichneten sich die Umrisse der Gebirgskette Grand Erg Brûlé scharf vom Horizont ab. Am noch nächtlichen Himmel verblassten die Sterne.
Die Syracuserin schlief auf der Bank des Personenairs, sorgsam mit dem Jackett des Françao zugedeckt. Sie schlief friedlich. Glücklich und ängstlich zugleich, weil er einen neuen Fieberschub fürchtete, kniete Tixu vor ihr, eifersüchtig wie ein besessener Kunstsammler, der gerade ein begehrtes Objekt erworben hat, bewachte er die junge Frau, weil er ihre Schönheit mit niemandem teilen wollte. Diese Momente wollte er allein für sich haben, er gönnte den Wächtern keinen einzigen Blick.
Das Flugzeug setzte allmählich zur Landung an, wie Tixu mit einem Blick durchs Bullauge feststellte, denn er erkannte das Dach der unterirdischen Basis der Françaos wieder.
Bilo Maïtrelly überwachte das Landemanöver. Die Blinklichter des Instrumentenbretts tauchten Zorthias’ krause Löwenmähne in flammendes Orange, während er – sie waren jetzt nur noch in fünf Metern Höhe – die Koordinaten zur Landung eingab. Doch die automatischen Abdeckplatten öffneten sich nicht.
»Was soll das?«, murrte der Prouge. »Dieser Mist funktioniert nicht.«
»Probier’s noch mal!«, befahl Bilo Maïtrelly.
Zorthias hämmerte wütend auf die Tastatur ein, und als das nichts nützte, schlug er verzweifelt auf seinen Oberschenkel.
»Nichts zu machen. Das Scheißding funktioniert nicht. Und das gerade jetzt!«
»Seltsam«, murmelte der Françao finster, griff nach seinem Fernglas und suchte die metallene Oberfläche ab. Da entdeckte er winzige Splitter um ein Relais, das in einem der Scharniere der automatischen Abdeckplatten versteckt war.
»Steig auf! Steig auf! Das ist kein Defekt. Das ist eine Falle! Verdammt, steig auf!«
Zorthias legte einen Hebel um, und die Motoren heulten auf. Ein brutaler Ruck ging durch die Maschine, und die Wächter verloren das Gleichgewicht. Sie fielen von der Bank auf Tixu, rollten durcheinander und stießen sich an der Trennwand zwischen Kabine und Cockpit. Tixu hatte sich auf die Zunge gebissen, sein Mund war voller Blut. Er warf einen Blick über die Schulter. Die Syracuserin war wach und sah ihn aus großen Augen verstört an.
Der Personenair gewann endlich an Höhe. In der Kabine roch es brenzlig. Als er schneller wurde, schoss aus dem Dach der Basis ein grellgrüner Blitz hervor und traf die Pilotenkanzel. Sofort stank es überall verbrannt.
»Scheiße! Dieser Mistkerl hat unsere zentrale Steuerung zerstört!«, schrie Zorthias.
»Das kommt von unten rechts«, rief einer der Wächter.
Die Motoren spien jetzt schwarzen Rauch aus, fingen an zu stottern und setzten nach einem letzten Röcheln komplett aus. In Schweiß gebadet und außer sich vor Wut betätigte Zorthias den Hebel für die automatische Landung.
»Zieht eure Waffen!«, befahl Bilo Maïtrelly seinen Leuten. »Sowie ihr auf dem Dach gelandet seid, blende ich diese kleinen Spaßvögel mit meiner Laserlampe … Tixu, du bleibst mit dem Mädchen in der Maschine, bis wir diese Typen erledigt haben.«
Der Personenair senkte sich langsam. Der Françao und Zorthias postierten sich – jeder in Begleitung von zwei Wachen – rechts und links von der Tür, die sich jetzt ebenso langsam öffnete. Der Prouge umklammerte seinen Bauchbrenner, Bilo Maïtrelly seinen Laser. Der Boden kam immer näher, und die Anspannung wuchs ins schier Unerträgliche. Die Männer hatten nicht die geringste Ahnung, mit welchen Gegnern sie es zu tun bekommen würden.
Sie hatten nur eine Gewissheit: Die wollten das Mädchen haben, lebend oder tot. Aphykit war nicht wieder eingeschlafen. Mit halb geschlossenen Augen wimmerte sie leise vor sich hin. Ihr Gesicht war bleich, und sie klammerte sich an der Bank fest.
Plötzlich hatte Tixu Angst, sie zu verlieren. Er umfasste ihr Handgelenk, so fest, als wollte er sie für ewig an sich binden. Er fühlte ihren schnellen Puls unter ihrer zarten, glühend heißen Haut. Er spürte auch das Rasen seines Herzens. Ihre blaugrünen Augen mit den goldenen Sprenkeln sahen ihn an. Sie glichen Schmetterlingen.
Ein zweiter grüner Blitz schoss durch die Kanzel und hinterließ zwei kreisrunde schwarze Löcher in der Bordwand, nachdem das grelle, drohende Licht erloschen war.
»Davon lässt man sich besser nicht erwischen«, murmelte Bilo Maïtrelly. Dann sah er Tixu an und sagte, wie von einer dunklen Vorahnung ergriffen: »In der dritten Etage von Sar Bilo steht ein Deremat. Der Transfercode lautet: Vieil-Ange, eine Zusammenfassung der Worte ›Vieulinn‹ und ›Orange‹. Das bedeutet ›Alter Engel‹ und ist gleichzeitig eine sentimentale Erinnerung an unsere Heimat. Merk dir das! Vieil-Ange, und vergiss den Bindestrich nicht. Alles andere musst du alleine erledigen. Du bist doch Spezialist für Transfers, oder?«
»Aber warum wollen Sie nicht …«, stammelte Tixu besorgt, weil der Françao plötzlich so ernst war.
»Es hat mich glücklich gemacht, dich kennengelernt zu haben, mein Sohn …«, antwortete Maïtrelly.
Er warf dem Jüngeren noch einen liebevollen Blick zu, dann drehte er sich abrupt um, weil er sich seine Rührung nicht anmerken lassen wollte.
In dem Moment setzte der Personenair dank seines Luftschildes geräuschlos auf.
»Jetzt!«, flüsterte der Françao.
Die sechs Männer sprangen gleichzeitig. Der weiße Strahl der Laserlampe glitt hektisch über Boden und Fassaden, bis er schließlich vier grau gekleidete, weiß maskierte Männer und eine Gestalt in einem weit geschnittenen grünen Gewand erfasste. Weder Zorthias noch seine Wachen hatten Zeit, auf den Abzug ihrer Bauchbrenner zu drücken. Runde Scheiben zischten sirrend durch die Nacht und schlitzten ihnen die Kehlen auf. Dann war ein dumpfer Aufprall zu hören, als ihre Körper auf den metallenen Boden fielen.
Tixu hatte alles beobachtet. Er stellte sich schützend vor die Syracuserin und rief dem Françao zu: »Kommen Sie zurück! Gehen Sie in Deckung!«
Das war ein nutzloser Rat, weil von überall her diese grässlichen grünen Blitze aufzuckten. Aber ein anderer Gedanke kam ihm nicht.
Bilo Maïtrelly warf seine Laserlampe weg und griff nach Zorthias’ blutgetränktem Bauchbrenner. Sie hatten nicht die geringstes Chance gehabt. Ihm fielen Tixus Worte während ihres Essens gestern Abend ein: »Man ist gegen diese Typen machtlos, denn sie wissen im Voraus, was man plant …«
Eine Scheibe bohrte sich in seine Schulter. Die Beine gaben unter ihm nach, und er fiel auf die Knie. Trotz seiner unerträglichen Schmerzen gelang es ihm, wieder aufzustehen. Sein Überlebenswille trieb ihn an. Er machte noch ein paar Schritte, taumelte und öffnete den Mund. Ein Blutstrom quoll hervor. Trotzdem schrie er.
»Tixu! Tixu Oty! Du musst leben! Für mich! Für Orange!«
Eine zweite Scheibe traf ihn am Schädel und trennte fast seinen Kopf vom Rumpf. Er stolperte gegen den enthaupteten Zorthias, seinen einzigen Vertrauten seit Sif Kérouiqs Tod. Nie wieder würde er seine Heimat, das Grüne Vieulinn sehen, doch sein langjähriges und oft unerträgliches Exil war nun zu Ende.
Tixu war von Entsetzen und Panik ergriffen. Wie sollte er allein und ohne Waffen diesen fürchterlichen Gegnern entgegentreten? Die Syracuserin murmelte Unverständliches. Schweigen gebietend legte er ihr die Hand auf den Mund. Eine unnütze Geste, denn die grün gekleidete Gestalt wusste dank ihrer telepathischen Fähigkeiten, dass sie an Bord war. Ihr warmer Atem war wie eine Liebkosung seiner Hand. Tixu hätte sie am liebsten in die Arme genommen und geküsst, denn sie würden beide bald sterben. Doch sie ahnte nichts davon, sie sah ihn nicht einmal.
Die weiß maskierten Männer liefen jetzt am Flugzeug entlang. Tixu konnte deutlich ihre Schritte auf dem metallenen Dach hören.
Fast hätte er sich vor Angst in die Hosen gemacht. Er fühlte sich ohnmächtig und nicht in der Lage, das Rad des Schicksals noch einmal zu seinen Gunsten zu wenden. Der Echsengott hatte ihm einmal geholfen, doch nun schien er ihn verlassen zu haben.
Warum hast du mir geholfen, das Mädchen zu retten, wenn du sie mir kurz darauf wieder nimmst?, fragte er sich. Ist das nicht noch grausamer?
Ein heller Fleck wurde in der ovalen Türöffnung sichtbar. Eine Maske, ein grauer Overall … Vor den schmalen ovalen Bullaugen flammten Feuer auf. Am Ende des ausgestreckten Arms funkelten zwei Schienen: das tödliche Wurfgerät.
Tixus Gedanken überschlugen sich. Er hätte gegen den Eindringling kämpfen müssen, aber er war wie gelähmt. Er versuchte verzweifelt, sich die Worte Kacho Marums ins Gedächtnis zurückzurufen: … die Kraft, die Unbesiegbarkeit … Sein Kopf war benommen, und kalter Schweiß brach ihm aus allen Poren.
Der Mann mit der weißen Maske streckte den Arm nach Tixu aus. Der drückte die Hand der Bewusstlosen und sah sie ein letztes Mal an. Gleich würde er mit Bilo Maïtrelly im Jenseits vereint sein. Erst gestern hatten sich die beiden Oranger kennengelernt, und nun würden sie in derselben Nacht getötet werden, in der auf ihrem Planeten die zweitausendjährige Unabhängigkeit gefeiert wurde. Wegen einer Syracuserin, einer Unbekannten … Was für ein seltsames Schicksal!
Er schloss die Augen und sofort fühlte er sich erleichtert. Er hatte das Gefühl, als ob nichts mehr von Bedeutung wäre. Er hörte einen längeren Pfeifton über seinem Kopf und machte sich darauf gefasst, dass ihm jede Sekunde eine dieser Scheiben die Kehle durchschneiden würde. Nichts geschah. Er öffnete erstaunt die Augen. Der weiß maskierte Mörder war verschwunden. Und die Syracuserin lag noch immer auf der Bank. Auch sie lebte!
Tixu fragte sich, ob er nicht träume. Vage nahm er draußen Bewegungen wahr, kroch zur Tür.
Die kleine Gruppe der Weißmaskierten hatte sich in ein paar Metern Entfernung um den grünen Kapuzenmann geschart. Und dann streiften die weichen Saugnäpfe einer ohne Licht fliegenden Taxikugel das Dach des Personenairs. Die Pilotenkanzel wurde von einem grünen Blitz getroffen, der in der kleinen Maschine ein faustgroßes Loch hinterließ.
Zwei Männer ließen sich aus der Taxikugel fallen und landeten auf dem Dach des Personenairs. Das kleine wendige Luftfahrzeug gewann unter dem Dröhnen wütend aufröhrender Motoren sofort wieder an Höhe und verschwand in der schwindenden Nacht, die bereits vom fahlen Licht des aufgehenden Gestirns Grünes Feuer schwach erhellt wurde.
Plötzlich wurde der Personenair von dumpfen Schlägen erschüttert. Tixu schaute nach oben und sah, dass die beiden Gestalten ein seltsames Ballett über seinem Kopf aufführten. Sie hatten Overalls aus grobem Stoff an, der eine grau, der andere bronzefarben, die aus einer weit geschnittenen Jacke und Pumphosen bestanden. Der Ältere trug zudem darüber noch eine kurze blaue Weste und hatte eine weiße Mütze auf.
Tixu sah, dass sie jetzt die tödlichen Wurfscheiben mit erstaunlicher Geschwindigkeit ablenkten. Und das mit bloßen Händen, ohne verletzt zu werden. Die ihrer ursprünglichen Flugbahn beraubten Geschosse krachten auf das Metalldach und verschwanden in einem Funkenregen im Dunkeln.
Und während die beiden Männer die Geschosse unschädlich machten, stießen sie lange schrille Schreie aus. Tixu begriff, dass sie sich ihrer Stimmen wie Waffen bedienten. Die weiß maskierten Mörder sackten einer nach dem anderen zusammen.
Allein die rätselhafte Gestalt in Grün blieb unbeweglich auf dem Dach stehen. Unter der Kapuze glühten böse zwei energiegeladene gelbe Augen.
Der Ritter Long-Shu Pae konzentrierte sich lange auf das Xui, denn er ahnte, dass er es nicht mit einem gewöhnlichen Gegner zu tun hatte. Wahrscheinlich mit einem Scaythen vom Planeten Hyponeros … Er hatte das Gefühl, am Rand eines bodenlosen Abgrunds zu stehen.
»Ritter! Ich bitte Euch, ihn mir zu überlassen!«, brüllte Filp Asmussa wütend. »Darf ich Euch daran erinnern, es geht um meine Mission! Meine Mission!«
Diese Anmaßung war fehl am Platz, lächerlich, und unverschämt. Übertriebener Stolz verleitete den Krieger zu unvorsichtigem Handeln, doch Long-Shu Pae fand es im Augenblick besser, nicht auf seiner Forderung zu bestehen. Das Xui war derart flüchtig und subtil, dass es beim kleinsten Ärgernis in sich zusammenbrechen konnte. Er nickte und machte sich darauf gefasst, bei der geringsten Schwäche des jüngeren Mannes einzuschreiten.
Filp Asmussa legte seine ganze mentale Energie in seinen Todesschrei. Die grüne Gestalt wurde von heftigen Krämpfen geschüttelt. Sie schwankte, aber sie stürzte nicht. Schweiß rann in Bächen von der Stirn des Kriegers. Die Zähigkeit seines Gegners ließ ihn ermüden.
Long-Shu Pae sah, dass Filp Asmussa Probleme hatte. Also stieg er in Gedanken in die Tiefen des Xui-Sees hinab, dorthin, wo sich die vitalen Energien auf einen Punkt konzentrierten.
Doch er musste nicht intervenieren und seinen eigenen Schrei ausstoßen: Endlich wankte die Gestalt und brach auf dem metallenen Boden inmitten der maskierten Mörder zusammen.
Filp Asmussa konnte zu Long-Shu Paes Erstaunen ein triumphierendes Lächeln nicht unterdrücken.
Der Ritter betrat die Kabine des Personenairs und starrte Tixu mit durchdringendem Blick an. Der arme verwirrte Oranger hatte große Mühe, die Intensität dieser Augen, die seltsamerweise gleichzeitig wie erloschen wirkten, ertragen zu können.
»Wo ist das Mädchen?«, fragte der Ritter, Autorität gebietend.
»Da drüben«, antwortete Tixu und deutete auf die Bank.
»Sie lebt?«
Seine Fragen klangen wie Peitschenhiebe. Tixu richtete sich mühsam auf und wischte sich automatisch das getrocknete Blut von Mund und Kinn. Seine verletzte Zunge schmerzte und er konnte sich nur undeutlich artikulieren.
»Ja … aber es geht ihr nicht gut. Sie hat Fieber … das Virus. Wer … wer sind Sie?«
»Das ist nicht wichtig«, antwortete Long-Shu Pae. »Wir wollen nur das Mädchen. Doch Sie brauchen keine Angst zu haben, wir wollen sie nicht verkaufen. Wir brauchen sie nur, weil sie über ein besonderes Wissen verfügt …«
Jetzt betrat auch Filp Asmussa die Kabine. Sein schwarzes gelocktes Haar klebte schweißnass an Stirn und Schläfen. Seine kohlschwarzen Augen waren weit aufgerissen, und in ihnen glänzte noch immer der Stolz über den Sieg. Ein schöner Mann!, dachte Tixu. Ein Mann, dessen Gesten allein seine adelige Herkunft verraten. Ein Mann aus derselben sozialen Schicht wie die Syracuserin. Und diesem Mann, dem wird sie vielleicht einen Blick schenken …
»Seht her, Krieger! Da ist sie, die junge Frau. Und sie lebt!«, verkündete Long-Shu Pae. »Sie haben sich gegenseitig umgebracht, weil sie sie haben wollten. Und jetzt brauchen wir sie nur noch mitzunehmen.«
»Wollt Ihr etwa, dass ich Euch dazu beglückwünsche, Ritter? Dann tue ich das hiermit«, entgegnete Filp Asmussa verächtlich.
Tixu hatte sofort durch die Anrede der beiden Männer begriffen, dass es sich um zwei Mitglieder des Ordens der Absolution handelte. Und ebenso hatte er erkannt, dass die beiden nicht eben Freunde waren. Alle mit der Konföderation von Naflin verbündete Staaten und deren Einwohner wussten um die Verdienste dieses Ordens. Er war so hoch angesehen, dass seine Geschichte seit drei Jahrhunderten sogar zum Lehrprogramm der Schulen gehörte. Und das erklärte ihre effiziente Intervention.
»Seit Jahrzehnten schon strebe ich nicht mehr nach Anerkennung, Ritter!«, wies Long-Shu Pae den Krieger zurecht. »Ich stelle nur fest, dass Euch mein Plan nicht gefiel. Und um das Kapitel der Glückwünsche ein für alle Mal abzuschließen, zu Eurer Leistung kann ich Euch wahrhaftig nicht beglückwünschen. Denn Eurem Todesschrei mangelte es an Kohärenz. Stellt Euch nur einmal vor, Euer Gegner wäre bewaffnet gewesen … Die Konsequenzen daraus könnt Ihr selber ziehen.«
»Ich habe ihn besiegt. Das allein zählt!«, erwiderte Filp Asmussa zutiefst gekränkt.
»Es ist wesentlich, das Xui nicht zu verraten!«
»Ich möchte mich nicht um jeden Preis rechtfertigen«, sagte der Krieger nachdenklich und rieb sich die Wange. »Aber dieser … dieser Mann befand sich in einer ungewöhnlichen geistigen Verfassung … Und ich gestehe, dass er mich in mentaler Hinsicht destabilisiert hat. Mein Schrei wurde etwas kraftlos … so als … so als verlöre er sich im Nichts, in einem Vakuum, das auf jeden Fall viel größer als die Kraft des Xui ist. Ich war sogar überrascht, als ich sah, dass er fiel …«
»Ich mache Euch keine Vorwürfe«, sagte Long-Shu Pae. »Ich möchte Euch nur darauf hinweisen, dass es manchmal richtig ist, den Ratschlägen anderer zu folgen, die erfahrener als Ihr sind … Aber wir schweben noch immer in Gefahr. Kraouphas Laden wurde heute Nacht zerstört. Das habe ich soeben per Funkphon in der Taxikugel erfahren. Der Deremat des Ordens funktioniert nicht mehr.«
»Und Ihr kennt niemanden, der uns aushelfen könnte?«
»Leider nein«, antwortete der Ritter und zuckte mit den Schultern.
Die beiden Männer hatten Tixu nicht beachtet und so hatte er die ganze Zeit geschwiegen.
Jetzt wagte er sich schüchtern hervor. »Ich kenne einen.«
»Sie?«, rief Long-Shu Pae erstaunt.
Auch Filp Asmussa schien den Oranger erst jetzt zu bemerken. »Wer sind Sie eigentlich?«, fragte er fast drohend.
»Tixu Oty, vom Planeten Orange. Der Françao Maïtrelly war ein Landsmann und ein Freund von mir. Kurz vor seinem Tod hat er mir die Koordinaten seines privaten Deremats mitgeteilt …«
»Woher kennen Sie dieses Mädchen? Und woher wussten Sie, dass die junge Frau von den Pritiv-Mördern verfolgt wurde?«, fragte Long-Shu Pae.
»Ganz einfach: Ich habe ihr erlaubt, vom Planeten Zwei-Jahreszeiten zum Planeten Roter-Punkt zu reisen«, antwortete Tixu. »Danach bekam ich es mit ihren Verfolgern zu tun … Und … hm … durch ziemlich sonderbare Ereignisse wurde mir bewusst, dass … dass sie eine sehr wichtige Persönlichkeit ist … Für das gesamte Universum … und mir ist sie auch sehr wichtig …«
»Was reden Sie da für dummes Zeug!«, sagte Filp Asmussa verärgert und mit demselben argwöhnischen Unterton wie bei seiner ersten Begegnung mit dem Ritter.
»Bringt man Euch im Kloster nicht mehr bei, die Sprache der Wahrheit zu erkennen?«, sagte Long-Shu Pae mit eisiger Stimme. »Hört endlich auf, alle Welt zu verdächtigen! Niemand denkt auch nur im Traum daran, Euch Eurer kostbaren Wahrheit zu berauben, Krieger.«
Gereizt über die Zurechtweisung beugte sich Filp Asmussa über Aphykit, die inzwischen wieder eingeschlafen war.
»Aus der Nähe ist sie noch viel schöner als von Weitem«, entfuhr es dem Krieger.
Obwohl er leise gesprochen hatte, war Tixu dieser Satz nicht entgangen. Bittere Eifersucht griff mit stählerner Klaue in sein Herz. Er fühlte sich diesem gut aussehenden Krieger in jeder Hinsicht unterlegen. Wieder einmal war er der arme Sterbliche: Tixu der Versager vom Planeten Zwei-Jahreszeiten, der sein Elend in Mumbë ertränkte.
»Können Sie uns zum Deremat des Françao bringen?«, bat der Ritter höflich. »Der Personenair ist nicht flugtüchtig …«
Tixu bedauerte es, den Deremat erwähnt zu haben. Selbst wenn die Syracuserin für den Orden und die Konföderation von höchster Bedeutung sein sollte, wollte er nicht, dass sie aus seinem Leben verschwand. Das war ein irrationales, egoistisches Gefühl, das überdies kleinlich war, aber andere Gefühle konnte er in diesem Moment nicht aufbringen. In nur etwas mehr als einem Tag hatte sie einen so wichtigen Platz in seinem Leben eingenommen, dass er die Leere, die durch eine erneute Trennung entstehen würde, nicht würde ertragen können.
»Schauen wir einmal nach, ob die Taxikugel noch flugtüchtig ist«, sagte Long-Shu Pae und verließ den Personenair. Draußen sandte er mit seinem Lichtcode ein Signal an die in der Luft stehende Taxikugel, die einige Minuten später geräuschlos auf dem Dach der Basis aufsetzte.
Als Kraouphas aus der Pilotenkanzel stieg, wurden seine Augen beim Anblick der am Boden liegenden Toten vor Entsetzen ganz groß.
»Ist alles in Ordnung, Ritter?«, fragte er besorgt.
Long-Shu Pae lächelte. Der gute Kraouphas! Hinter dem Ausdruck ständiger Besorgnis verbarg er den Mut eines Löwen.
»Wir brauchen die Taxikugel. Kann sie die Last von fünf Personen tragen?«
»Sie wurde zwar von einem dieser verfluchten Strahlen getroffen, aber sie müsste halten«, antwortete Kraouphas, den Blick auf das fahle Gesicht eines anderen Prougen gerichtet. Der Tote lag in einer Blutlache. Wieder hatte einer der Seinen heute Nacht das Leben verloren. Das allein war ihm wichtig. Wichtiger als die Probleme der Konföderation oder der Abflug der Raskattas. Roter-Punkt hätte ein friedlicher kleine Planet sein sollen.
»Krieger, wir gehen an Bord. Kümmert Euch um das Mädchen!«, befahl Long-Shu Pae.
Sie quetschten sich so gut es ging in das kleine runde Fluggerät. Tixu beobachtete den Krieger: Filp Asmussa hatte einen Arm um die junge Frau geschlungen und hielt sie fest an sich gepresst.
Die Taxikugel hob ab und gewann schnell an Höhe. Tixu warf einen Blick nach unten. Er sah die Leiche Bilo Maïtrellys, und Bitterkeit stieg in ihm auf. Er hatte den Mann nur ein paar Stunden gekannt, einen Françao, einen Raskatta, einen Kriminellen, aber für Tixu war er auch ein Freund und ein Waffenbruder gewesen. Tränen traten ihm in die Augen, und eine ungeheure Müdigkeit überkam ihn. Sein Kopf sank zur Seite.
Die Dämmerung brach an. Die Sterne erloschen einer nach dem anderen, so als würde ein unsichtbarer Mund sie ausblasen. Grünliches Licht ergoss sich über den Horizont und umspielte die gezackte Stadtmauer Matanas.
»Bald geht Grünes Feuer auf«, murmelte Long-Shu Pae. »Hoffentlich erreichen wir Maïtrellys Residenz, ehe seine Leute seine Leiche entdecken …«
Die Straßen der verbotenen Viertel belebten sich. Nachtschwärmer, Diebe, Drogenabhängige, Bettler und anderes Gesindel durchstöbertern die Abfalleimer auf der Suche nach Essensresten. Prostituierte in durchsichtigen Gewändern verließen in kleinen Gruppen die Bordelle, und Reinigungsroboter ratterten durch die Straßen und sammelten mit ihren geschmeidigen Tentakeln den Unrat auf.
Geräuschlos setzten sie auf dem verbrannten Rasen des Parks auf. Sar Bilo lag noch im Halbschlaf, doch kaum war die Taxikugel zum Stillstand gekommen, schoss eine riesige Löwenhündin aus einem Gebüsch hervor und umkreiste das Fluggerät mit gefletschten Zähnen. Dann erschienen drei Wächter in gelben Uniformen. Zwei waren mit Bauchbrennern bewaffnet, der dritte war der Löwenhund-Führer.
»Ich sondiere das Terrain … Wartet, bis ich Euch ein Zeichen gebe«, sagte Tixu zu dem Ritter.
Long-Shu Pae nickte.
Tixu stieg aus. Die Löwenhündin kam sofort angerannt und beschnupperte seine Waden. Ihre Schulterhöhe betrug etwa einen Meter zehn, und unter ihren hochgezogenen schwarzen Lefzen entblößte sie lange spitze Reißzähne.
Als die Wächter Tixu erblickten, entspannten sie sich. Sie waren noch müde vom Nachtdienst.
»Ach, Sie sind es. Wir hatten Angst, dass Glaktus’ Männer … Und wie ist es gelaufen?«
Der Löwenhund-Führer gab dem Tier ein paar kurze gutturale Befehle, und die Hündin ließ von Tixu ab.
»Es ist vorbei. Wir haben das Mädchen«, antwortete Tixu.
»Und der Françao ist nicht bei Ihnen?«
»Nein. Er ist mit Zorthias zum Sitz der Camorre geflogen … Wohl wegen einer eilig einberufenen Versammlung …«
Der Löwenhund-Führer musterte die Taxikugel neugierig.
»Diese Leute haben uns geholfen«, erklärte Tixu schnell. »Der Françao hat mir aufgetragen, sie hierherzubringen und auf ihn zu warten …«
Der Wächter gähnte, als wollte er sich den Kiefer ausrenken. Seine Kollegen hatten bereits ihre Waffen wieder eingesteckt.
»Gut. Dann gehen Sie rein. Ich begleite sie nicht. Sie kennen ja den Weg. Ich sage dem Mann an der Bildschirmüberwachung Bescheid.«
»Danke.«
Der Löwenhund-Führer gab dem Tier ein paar Befehle, und die Hündin verkroch sich in dem Gebüsch. Die drei Wächter verschwanden in ihrem Bunker.
Ehe sie außer Sichtweite waren, hörte Tixu, wie der Löwenhund-Führer sagte: »Ich muss demnächst eine Jagd auf diese Drecksäcke vom Hang organisieren. Die Löwenhündin langweilt sich, die Arme … Sie braucht Bewegung und frisches Blut, damit sie in Form bleibt.«
Von der Pilotenkanzel aus winkte Kraouphas der kleinen Gruppe zu. Dann hob die Taxikugel ab und war bald nur noch ein kleiner glänzender Punkt am blassgrünen Himmel.
Tixu, Long-Shu Pae und Filp Asmussa – der Aphykit trug – gingen zum Haus. Der weiße und rosafarbene Verputz sowie der Säulengang und das mit weißen Ziegeln gedeckte Dach im reinsten vieulinnischen Stil erinnerten Tixu an das Haus seines Onkels: dieselben Farben, dieselbe Harmonie. Es gab nur einen einzigen Unterschied, das Haus eines Onkels war viel kleiner als Sar Bilo, ein großes Gebäude mit drei Etagen und zahlreichen Dependancen. Bei dem Anblick erinnerte er sich wieder an die Düfte seiner Kindheit, die betörenden Aromen der Gärten auf Orange, die süßen und berauschenden Parfüms der Blumen und Früchte.
Sie begegneten niemandem, wurden aber, wie angekündigt, von kleinen schwebenden Mikroobjektiven über ihren Köpfen bis zum Eingang überwacht.
Als sie die Treppe zum Portal hochgingen, stieß die Syracuserin Klagelaute aus. Dann wurde sie plötzlich von einem heftigen Fieberkrampf geschüttelt und schlug um sich. Filp Asmussa geriet aus dem Gleichgewicht und wäre fast gestürzt.
Long-Shu Pae musterte den jungen Oranger, der neben ihm ging, verstohlen. Das getrocknete Blut auf seiner weißen Tunika sagte ihm, dass der junge Mann gekämpft hatte. Dem Ritter entging auch nicht, dass Tixu eifersüchtig wirkte, wenn er sich von Zeit zu Zeit nach dem Krieger umdrehte, der die junge Frau trug.
Der Ritter spürte es intuitiv: Dieser junge Mann war ein Gesandter des Schicksals und würde eine wesentliche Rolle im Verlauf der kommenden Ereignisse spielen. Eine Rolle, deren er sich nicht im Geringsten bewusste war und die unbegreiflich erschien angesichts der kleinlichen Reaktionen des Orangers. Wie konnte die Zukunft der Menschenrassen und die der Mutanten bekannter Welten im Wesentlichen von einem solchen Mann abhängen, der sich vornehmlich von seinen Gefühlen leiten ließ?
Aber habe ich darüber zu richten?, fragte sich Long-Shu Pae. Bin ich nicht gescheitert, weil ich mich den mir gestellten Herausforderungen verweigert habe?
Die Tür stand bereits offen. Im großen Salon des Erdgeschosses herrschte peinliche Ordnung: Die Luftbänke waren zusammengerollt; die Wassertapeten wurden schwach beleuchtet und boten das faszinierende Spektakel exotischer phosphoreszierender Fische, die ihre arabeskenhaften Tänze vollführten; Tisch und Stühle waren mit durchsichtigen Überwürfen bedeckt … Nichts deutete mehr auf das Bankett am letzten Abend hin.
Sie durchschritten den Salon und gingen dann die Treppe hoch, die zum Mezzanin der ersten Etage führte. Filp Asmussa legte eine Hand auf den Mund der noch immer stöhnenden Syracuserin. Sie hatte die Augen wieder geöffnet. In ihren schönen, jetzt aber trüben Augen leuchtete manchmal ein klares Bewusstsein auf. Offensichtlich versuchte sie zu begreifen, wer sie trug und ihr den Mund zuhielt.
Die zwei Schwestern des Dritten Rings – dieselben, die Tixu massiert hatten – waren durch die Ankunft der kleinen Gruppe aufmerksam geworden. Sie traten aus ihrem Zimmer, in lange nachtblaue Tuniken gekleidet, über die ihr langes, glänzendes schwarzes Haar fiel. Tixu begrüßten sie mit einem strahlenden Lächeln; das an Filp Asmussa gerichtete Lächeln war schüchtern, denn sie hatten in ihm sofort den dritten Sohn Dons Asmussas, den Seigneur von Sbarao und den Ringen erkannt, weil sie ihn oft in Sendungen über die Herrscherfamilie gesehen hatten. Dann verschwanden sie wieder, ätherische, leise Geschöpfe der Nacht.
Tixu und Long-Shu Pae brauchten lange, um die dritte Etage zu entdecken. Denn das, was Bilo Maïtrelly in seinem letzten Gespräch mit Tixu als dritte Etage bezeichnet hatte, war nichts anderes als eine winzige Kammer auf dem Dachboden, in die man nur mittels einer Gravitationsplattform gelangen konnte. Und während sie nach oben fuhren, nahm Aphykit Filp Asmussas Hand und entfernte sie von ihrem Mund. Der Krieger schenkte ihr sein schönstes Lächeln – meine Güte, was hatte er für ein bezauberndes Lächeln! –, was Tixu in völlige Verzweiflung stürzte.
Die Plattform hielt vor einer massiven Stahltür. In einer Mauernische daneben leuchtete die Tastatur einer Fernbedienung. Die junge Frau war wieder bei vollem Bewusstsein und verfolgte, in die Arme des Kriegers geschmiegt, aufmerksam das Geschehen. Ihr Körper wurde vom Fieber gequält, und manchmal wanderte ihr Blick zu Tixu.
Schweren Herzens gab Tixu den Code ein. Er hörte noch die Stimme des Françao: »Vieil-Ange, wie Vieulinn und Orange … Vergiss den Bindestrich nicht …«
Sie sind umsonst gestorben, Françao Maïtrelly. Ich werde sie verlieren … Sie war eine Reisende, und ich bin bloß ein Angestellter, ein Techniker, für Transfers zuständig, ein Mann, der Reisenden den Weg durch Raum und Zeit bahnt … Und das zum zweiten Mal innerhalb von zwei Tagen, auf zwei verschiedenen Welten … Eine fatale Situation.
Die gepanzerte Tür drehte sich langsam um ihre Angeln. Dahinter lag der Salon der Transfers, eine in blaues Licht getauchte Mansarde. In der Mitte thronte auf ihrem ovalen Sockel die längliche schwarze Maschine. Darüber waren zwei horizontale Kabinen angebracht. Ein teures Gerät mit zwei Plätzen, dachte Tixu der Kenner.
Tixu bediente den Öffnungsmechanismus, und die Lamellen der Sichtfenster glitten auseinander. Er las mit halblauter Stimme den auf der erleuchteten Anzeigetafel an ihm vorbeigleitenden Text.
Teleträger der Marke Telvite. Aktionsradius: zwanzig Lichtjahre. Dauer des Transports: drei Standardsekunden pro Lichtjahr. Während des Transfers sind alle auf dem Bildschirm der Kabine gegebenen Anweisungen peinlich genau zu befolgen … Telvite ist ein Fabrikat der Firma Goudda & Brüder von Straggion, Planet Issigor …
Er sagte, an Long-Shu Pae gewandt: »Die Dematerialisation beträgt zwanzig Lichtjahre …«
»Das genügt!«, mischte sich Filp Asmussa sofort ein. »Perfekt. Auf diese Weise könen wir eine Relaisstation mit einem Deremat des Ordens erreichen. Kann dieser Apparat zwei Personen gleichzeitig transferieren?«
»Natürlich!«, antwortete Tixu. Langsam ging ihm der befehlshaberische Ton des Kriegers auf die Nerven. »Wenn man für zwei Personen dieselben Koordinaten einprogrammiert, werden sie sich auch am selben Ort rematerialisieren.«
»Sie kennen sich offensichtlich mit Technik aus, ich aber nicht. Kann man diese Koordinaten beeinflussen oder stören?«
»Dieser Typus ist mit einem automatischen Löschungsmechanismus ausgestattet …«
Tixu hatte das Gefühl, mit jeder seiner Auskünfte sein eigenes Grab zu schaufeln. Doch ob er nun kooperativ war oder nicht, änderte nichts an seiner Situation. Die Ordensmitglieder würden auch ohne ihn zurechtkommen. Die Syracuserin würden sie ihm nicht anvertrauen. Und ohne es sich einzugestehen, wusste er doch, dass sie bei diesen Männern in besseren Händen war, als bei ihm.
»Entfernen Sie sich jetzt!«, befahl Filp Asmussa in herrischem Ton. »Wir müssen die geheimen Koordinaten des Relais-Deremats eingeben. Ohne dass Sie zugegen sind. Sollten Sie sich widersetzen, muss ich Sie auf der Stelle töten. Ist es nicht so, Ritter?«
Long-Shu Pae zögerte lange, ehe er antwortete: »Tatsächlich, so lautet eine der Ordensregeln.«
»Wie schön, dass wir endlich einmal einer Meinung sind. Schließlich kommt das nicht oft vor. Ich nenne Euch jetzt die Koordinaten, Ritter, und Ihr programmiert sie ein. Dabei erinnere ich Euch an Euer Schweigegelübde. Noch einmal, mein Herr, verlassen Sie uns jetzt! Ein drittes Mal werde ich Sie nicht bitten.«
Tixu war wie versteinert. Er sah Aphykit lange an und stammelte: »Und sie? Was geschieht mit ihr?«
»Vergessen Sie diese junge Frau!«, sagte Filp Asmussa gereizt. »Sie haben hier nichts mehr zu suchen. Und ich bin Ihnen keine Erklärungen schuldig.«
Tixu blieb neben dem Deremat stehen. Er hatte keine Zeit gehabt, Aphykit kennenzulernen, ihr zu beweisen, dass er mehr wert war, als es den Anschein hatte. Aus den Klauen zweier Monster hatte er sie befreit – Glaktus und Abeer Mitzo –, und wenigstens das sollte sie wissen. Schließlich gebührte auch ihm etwas Achtung und Dankbarkeit …
Da Tixu noch immer nicht auf Filp Asmussas Drohungen reagierte, legte der Krieger die junge Frau vorsichtig auf den Sockel des Deremats, richtete sich auf und warf dem Oranger einen hasserfüllten Blick zu.
Long-Shu Pae hielt die Zeit für reif, einzuschreiten. Er stellte sich zwischen den Krieger und Tixu.
»Hört auf, ständig Euer Mundwerk aufzureißen, Krieger! Ihr könntet diesem jungen Mann etwas mehr Respekt erweisen. Habt Ihr vergessen, dass es er und seine Freunde waren, die die ganze Arbeit in Rajiatha-Na geleistet haben?«
»Aus dem Weg! Ihr seid nichts als ein Verbannter. Sonst könnte ich mich ebenfalls mit Euch anlegen.«
»Wenn Ihr Zwiesprache mit Eurer Seele haltet, dritter Sohn des Seigneurs Asmussa«, sagte der Ritter gelassen, »müsstet Ihr erkennen, dass Ihr nichts als das Produkt einer Ideologie seid. Ein Klon! In der Zeit erstarrt und bereits tot!«
Doch die Worte prallten an Filp Asmussa ab. Er stand da wie ein sprungbereites Raubtier.
Long-Shu Pae begriff, dass nichts den blinden Fanatismus des Kriegers erschüttern konnte. Also wandte er sich an Tixu: »Tun Sie, was er sagt. Er wurde von dem Orden mit einer Mission betraut. Und nichts wird ihn von seinem Ziel abbringen. Gehen Sie auf den Flur. Wenn ich den Deremat programmiert habe, komme ich zu Ihnen.«
»Aber … ich kann sie nicht verlassen«, protestierte Tixu und deutete mit zitterndem Zeigefinger auf die Syracuserin. »Ich … ich habe auch eine Mission … meine Mission.«
Long-Shu Pae sah ihn lange an, dann flüsterte er: »Ich verlange nicht, dass Sie die junge Frau verlassen sollen. Auch Hindernisse, die das Schicksal errichtet, sind nicht unüberwindbar. Es wird eine Lösung geben. Aber später. Jetzt würden Sie getötet werden. Von allen Tugenden ist die Geduld eine der ehrenwertesten. Wenn es Ihre rota individua, Ihr Schicksal ist, Aphykit wieder zu begegnen, werden Sie sie wiedersehen …«
Er legte seine Hand auf Tixus Schulter und schob ihn sanft, aber bestimmt zur Tür. Tixu warf der Syracuserin einen letzten Blick zu. Sie erwiderte ihn mit fiebrigen Augen. Schon immer hatte er an eine Art Vorherbestimmung geglaubt, vor allem wenn er sein Versagen während seines Aufenthalts auf Zwei-Jahreszeiten vor sich rechtfertigte, wo der Alkohol und die Nässe aus ihm einen Mann mit quasi pathologischer Willensschwäche gemacht hatten. Und jetzt musste er sich wieder mit seinem Schicksal abfinden, seiner Mittelmäßigkeit. Tixu, der arme Sterbliche, fiel nach seinem Flug mit den Göttern hart auf den Boden zurück.
Als die beiden durch die Tür schritten, hob die Syracuserin den Arm und rief: »Wartet!«
Sie sprang auf, ohne dass Filp Asmussa reagieren konnte, und lief, nur mit ihrem schmutzigen Hemd bekleidet, auf die beiden Männer zu.
»Lasst mich einen Moment mit ihm allein, Ritter. Sagt Eurem Freund, dass ich gleich zu ihm komme.«
Long-Shu Pae erfüllte sofort ihre Bitte und ging zu dem sprachlosen Filp Asmussa.
Die Syracuserin sah Tixu lange unverwandt an. Ein strahlendes Lächeln erhellte ihr abgekämpftes Gesicht.
»Ich bin Aphykit, die Tochter Sir Alexus«, sagte sie, und ihre Stimme klang wie ein feines, melodisches Murmeln. »Sie haben mir zweimal das Leben gerettet. Einmal auf Zwei-Jahreszeiten. Ein zweites Mal hier, am Rande der Wüste. Doch jetzt muss ich mich nach Selp Dik begeben, weil ich dort nach dem Willen meines Vaters mit dem Mahdi Seqoram sprechen muss. Wie Sie sehen, habe ich Sie nicht angelogen, als ich von Ihnen auf Zwei-Jahreszeiten einen Transfer erbettelte. Doch ich habe Sie verachtet, und deswegen bitte ich Sie um … ich …«
Ihr schwindelte und sie schwankte. Tixu umfasste ihre Taille und presste sie an sich. Sie ließ sich auf seine Schulter sinken. Er atmete den Duft ihres Körpers, spürte die zarte Berührung ihres Haars an seinem Hals, fühlte ihre Brüste an seinem Oberkörper.
Sie richtete sich wieder auf, sah ihn an und sagte leise keuchend: »Doch ehe wir uns trennen, möchte ich Ihnen ein Geschenk machen …«
Aphykits Atem streifte seine Lippen, er atmete die Luft aus ihrem Mund. Ihm schien es die köstlichste Luft, die er jemals geatmet hatte.
»Das kostbarste Geschenk … Der Klang … die Antra … Weil Sie mir geholfen haben, werden sich diese Leute für immer an Ihre Fersen heften … Sie werden Jagd auf Sie machen … Die Scaythen … Die Antra wird Sie beschützen … vor den forschenden Gedanken … vor dem Tod …«
Aphykits Augen verschleierten sich.
»Schnell … Ich beherrsche die Kunst, Sie den Klang der Antra zu lehren … Wollen Sie?«
Aphykit konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten. Tixu hielt sie noch fester.
»Ich bin bereit«, flüsterte er.
Mit nahezu übermenschlicher Anstrengung gelang es ihr, bei vollem Bewusstsein zu bleiben und eine Reihe Namen mit verschiedenen seltsamen Klängen zu nennen.
»Jetzt komme ich zu Ihrem Klang, der Antra des Lebens … Sie brauchen sie nicht anzurufen. Sie kommt von allein und dient dem Shanyan, dem Eingeweihten … Doch nur unter der Bedingung, dass der Eingeweihte sie nicht für eigene Zwecke missbraucht … oder damit zerstören will … Es ist verpflichtend. Wie … wie ist Ihr Name?«
»Tixu Oty.«
»Shanyan Tixu Oty … von nun an sind Sie unlösbar mit dem folgenden Klang vereint …«
Aphykit schüttelte den Kopf, um nicht in Bewusstlosigkeit zu versinken. Dann stimmte sie einen Ton an, einen Laut, in dem die Klangfarben a und m dominierten. Dieser Ton schien nicht nur ihrem Mund zu entströmen, sondern Raum und Zeit zu durchqueren … Tixu wurde von einer derartigen Woge unbändiger Energie ergriffen, dass ihm Aphykit fast aus den Armen geglitten wäre, denn die junge Frau war inzwischen bewusstlos geworden. Ein glühendes Feuer breitete sich im Körper des jungen Orangers aus: vom Kopf über Bauch und in seine Glieder. Er fühlte sich wie zerstückelt, ganz ähnlich wie dem Zustand zu Beginn eines Zellentransfers. Doch mit dem Unterschied, dass dieses Gefühl jetzt unerträglich wurde und nicht aufzuhören schien. Schweißperlen brannten auf seiner Haut. Der Salon des Transfers verschwamm vor seinen Augen und verwandelte sich in einen Strudel umherwirbelnder Bilder.
Jemand trat auf ihn zu, entriss ihm die Syracuserin und trug sie zum Deremat. Er glaubte, braune, bronzefarbene, goldene und beige Flecken zu sehen. Der Klang bahnte sich, gleich einer Feuerschlange, unaufhaltsam seinen Weg. Eine Hand legte sich auf seine Schulter, und er ließ sich von Long-Shu Pae auf den Flur führen, wo er sich setzte. Die gepanzerte Tür wurde geschlossen.
Etwas später – er konnte noch immer nicht klar denken – setzte sich der Ritter neben ihn.
»Die beiden sind fort. Was haben Sie jetzt vor?«, fragte der Ritter, obwohl Tixu noch immer nicht klar denken konnte.
»Ich weiß es … nicht«, stammelte der Oranger. »Vielleicht … vielleicht suche ich nach ihr … Ich sehne mich so sehr nach ihr … Ich brauche sie.«
Long-Shu Pae nickte und sagte nachdenklich: »Sie brauchen diese junge Frau, weil sie Ihr Antrieb ist. Aber auch Aphykit braucht Sie, weil Sie ihr die Kraft der Unschuld geben. Mir scheint, Ihrer beide Schicksale sind untrennbar miteinander verbunden. Darüber hatte ich meine Zweifel, als ich Sie auf dem Sklavenmarkt sah. Doch jetzt bin ich mir dessen gewiss. Denn ich habe gesehen, dass Aphykit Ihnen ihre Kenntnisse übermittelt hat.«
»Woher wisst Ihr, was … was sie mir übermittelt hat?«, fragte Tixu, noch immer von dem gerade Erlebten zutiefst erschüttert. »Ihr konntet doch nicht hören, was …«
Die Feuerschlange hatte sich in seinem Körper niedergelassen. Er spürte ein kaum wahrnehmbares Vibrieren, etwas Undefinierbares, etwas wie das leise Rauschen einer Quelle oder vielmehr eine Art stummes Murmeln.
Ein Lächeln glitt über das Gesicht des Ritters. »Ich erkenne eine Initiation.«
»Und warum habt Ihr dann der Trennung zugestimmt, wenn Ihr uns doch für untrennbar haltet?«
»Weil es momentan keine andere Möglichkeit gab«, sagte der Ritter und seufzte. »Was hätte es genützt, wenn ich mich mit dem Krieger Asmussa angelegt hätte? Steter Tropfen höhlt den Stein … Hätte ich das in jungen Jahren begriffen, viele Schwierigkeiten in meinem Leben wären mir erspart geblieben. Wenn der Wind weht, muss man sich ihm beugen, ohne sein Ziel aus den Augen zu verlieren. Doch ich habe das genaue Gegenteil gemacht: Ich habe dem Wind getrotzt, wurde entwurzelt und musste meine Existenz aufgeben!
Leider kann ich Ihnen nicht die geheimen Koordinaten der Relaisstation des Ordens geben, denn ich bin an das Gelübde des Schweigens gebunden. Aber ich kann Sie darauf hinweisen, dass Sie mit diesem Deremat hier zum Planeten Marquisat reisen können, der neunzehn Lichtjahre von Roter-Punkt entfernt ist. Dort müssten Sie einen Deremat finden, mit dem Sie direkt nach Selp Dik reisen könnten. Und da ich schon einmal bei diesem Thema bin, kann ich Ihnen auch den Namen eines sehr alten Freundes nennen, der auf seinem Dachboden einen geheimen Deremat hat. Eines der ersten Modelle für große Entfernungen, natürlich eine Antiquität, doch er funktioniert noch immer … Jedenfalls tat er das vor fünfzehn Jahren. Da hatten wir zum letzten Mal Kontakt. Damals wohnte er in Duptinat, der Hauptstadt, in der Straße Zur heiligen Goldschmiedekunst. Er selbst war Goldschmied und schuf Kunstwerke für die vielen Tempel der marquisatinischen Theogonie … Er war nach meinem Eintritt in den Orden mein erster weltlicher Gesprächspartner …«
Der Ritter nahm seine Baumwollkappe ab, neigte den Kopf und deutete auf die Tonsur inmitten seines grauen Haars.
»Sieht nicht besonders aus. Aber man gewöhnt sich daran … Der Mann heißt Geofo Anidoll. Er wohnt, wie gesagt, in der Straße Zur heiligen Goldschmiedekunst in Duptinat. Sagen Sie ihm, der Ritter Long-Shu Pae habe Sie geschickt … Er wird Ihnen zuhören … Long-Shu Pae … Adieu, und schöpfen Sie die ganze Kraft Ihrer Seele aus!«
Tixu entschied sich sofort. Long-Shu Pae half ihm aufzustehen. Die Tür war nur angelehnt, so brauchte der Oranger den Code nicht noch einmal einzugeben. Noch schwindelig im Kopf ging er schwankend auf die schwarze Maschine zu.
Der Ritter konnte problemlos Sar Bilo verlassen. Er traf in dem stillen Haus nur auf die beiden Frauen des Dritten Rings. Sie geleiteten ihn zu einer Geheimtür, die direkt auf die Straße führte. Die große Scheibe des Grünen Feuers stand bereits hoch am Himmel.
Er beschloss, zur unterirdischen Basis der Camorre zu gehen, dorthin, wo der Kampf gegen die Pritiv-Mörder und die Scaythen von Hyponeros stattgefunden hatte. Etwas machte ihm Sorgen: Er fand es seltsam, dass der Schrei, den Filp Asmussa ausgestoßen hatte – ein äußerst mittelmäßiger Schrei, den er als Lehrer im Kloster von Selp Dik nicht einmal bei einem Novizen geduldet hätte –, bei dem Scaythen gewirkt hatte. Er wusste nicht, warum es zu dieser Reaktion gekommen war, aber der gesamte Verlauf des Kampfes hatte etwas Unwahrscheinliches. Sofort hatte er die außergewöhnliche mentale Kraft des Scaythen erkannt, doch dass dieses übermenschliche Potenzial dem plötzlichen unkontrollierten, ja schwachen Angriff des Kriegers unterlegen war, blieb ihm ein Rätsel. Vielleicht konnte er dieses Rätsel lösen, wenn er den Leichnam untersuchte – falls die Leute von der Camorre ihn inzwischen nicht von dem Dach der Basis entfernt hatten.
Der Himmel erstrahlte jetzt in einem klaren, hellen Grün. Nur wenige Passanten kreuzten seinen Weg. Die Robotomaten waren fast mit der Straßenreinigung fertig. Er musste sich durch eine Gruppe von heruntergekommenen Prostituierten kämpfen, die ihm anzügliche Bemerkungen zuriefen.
Der Weg war weit, weil er alle verbotenen Viertel durchqueren musste, ehe er schließlich in eine schmale gepflasterte Straße einbiegen konnte, die direkt zum Dach der Basis führte. Hohl hallten seine Schritte in der engen Gasse wider.
Endlich stand er am Rand des großen Dachs aus Metall. Es roch nach getrocknetem Blut. Die Leichen lagen noch immer da, in einiger Entfernung. Vereinzelt entdeckte er abgetrennte Köpfe, die von großen roten summenden Schmeißfliegen umschwirrt wurden. Offensichtlich hatte noch niemand Alarm geschlagen. Er näherte sich den Toten und suchte nach der grünen Kutte. Er konnte sie nirgends entdecken.
Plötzlich spürte er das Brennen eines Blicks im Nacken. Er drehte sich um. Fünf Meter hinter ihm stand der gesuchte Scaythe, jener Mann, den Filp Asmussa zu töten geglaubt hatte.
Ein abgekartetes Spiel!, dachte Long-Shu Pae. Ihre Kriegsmaschinerie ist viel stärker als der Orden. Doch dieser Scaythe hatte die Rolle übernommen, das Entscheidungsgremium vom Gegenteil zu überzeugen. Die Scaythen haben uns manipuliert. Der Orden hat sein gesundes Misstrauen verloren. Das ist das Ende … das Ende.
Reflexartig konzentrierte er sich auf das Xui und öffnete den Mund, um seinen Todesschrei auszustoßen. Ein entsetzlicher Schmerz durchbohrte sein Gehirn.
Lebt der Mahdi Seqoram noch? O Götter, warum bin ich nicht in die Tiefe meiner Seele hinabgestiegen? Nicht bis ans Ende meiner Kräfte …
Er hatte nicht einmal Zeit, mit den Händen seine Schläfen zu berühren. Er stürzte zu Boden. Sein Kopf schlug hart auf und zerplatzte wie eine reife Frucht.