SECHSTES KAPITEL

Jener Tag – oder jene Nacht, je nach den Welten –, als die Syracuser und ihre Verbündeten die Herrschaft über die Planeten der Konföderation von Naflin antraten, hat sich in das kollektive Bewusstsein als die Große Umwälzung eingeschrieben oder wird auch mehr oder weniger populistisch als Mentaler Staatsstreich, der Beginn der Schreckensherrschaft, der Terror der Inquisition, die Öffnung der Gehirne bezeichnet … Es gibt unendlich viele aufschlussreiche Bezeichnungen. Allen gemeinsam ist die Benennung des ungeheuren Drucks, den die Scaythen von Hyponeros auf den Zeitgeist ausgeübt haben …

Der Umsturz war mit größter Sorgfalt vorbereitet worden. Von Syracusa aus waren die die scaythischen Inquisitoren, die Mörder der Pritiv-Sekte, die Offiziere der konföderalen Polizei und die Kardinäle der Kirche des Kreuzes mittels der Deremats der InTra, der größten Transportgesellschaft des bekannten und unbekannten Universums, an alle neuralgischen Punkte der Mitgliedsstaaten entsandt worden …

In jeder Hauptstadt, in jedem Palast hatte man zuvor einen Einheimischen – oft ein Mitglied der Herrscherfamilie – damit beauftragt, die Invasion vorzubereiten, die Wachen kampfunfähig zu machen, die Pforten zu öffnen … Das Erfolgsgeheimnis lag in der Präzision und der Schnelligkeit ihrer Operationen …

Die Zelebranten der lokalen Kulte, die Priester des Neunten Siegels, die Druiden, die Imas, die Kleriker, die Seher, die Feen und viele andere wurden auf öffentlichen Plätzen an Kreuze gebunden und bei lebendigem Leib langsam verbrannt.

Das Große Angreich wurde vom Großkonnetabel Pamynx, der durch ein in allen Welten verbreitetes Netzwerk in ständigem mentalen Kontakt mit seinen Untergebenen stand, von Venicia, der Hauptstadt Syracusas, aus geleitet, und von Seiner Heiligkeit, dem Muffi der Kirche des Kreuzes, der das Oberhaupt einer ungeheuer fanatischen Armee von Missionaren war. Sie hatten alles bedacht und waren auf alles vorbereitet … Auf alles?

Geschichte des Großen Ang-Reichs,
Unimentale Enzyklopädie

Dame Armina Wortling betrachtete vom Fenster des herrschaftlichen Schlafgemachs aus den fernen Horizont, an dem sich das fahle Licht der frühen Morgendämmerung abzeichnete. Darunter erhob sich die unendliche Gebirgskette des Planeten Marquisat, der die beiden Pole miteinander verband.

Die Hauptstadt Duptinat, ein rieser Ballungsraum mit zwanzig Millionen Einwohnern, war noch nicht erwacht. Noch schliefen sie alle in ihren um unzählige achteckige Plätze gruppierten Kuppelbauten, die ein monotones blaugraues Meer bildeten, aus dem nur die barocken vielfarbigen Turmspitzen der marquisatischen Tempel hervorragten.

»Madame, wenn Ihr Euch nicht erkälten wollt, kommt wieder zu mir ins Bett«, sagte Ariav Mohing plötzlich, und Dame Armina zuckte erschrocken zusammen. Sie drehte sich beschämt um.

Der Kommandant der mahortischen Phalanx, Ariav Mohing, saß aufrecht in dem antiken, aus Holz geschnitzten Himmelbett. Sein Lächeln entblößte lange weiße Zähne. Das mauvefarbene seidene Laken hatte er über seinen muskulösen, behaarten Oberkörper gezogen. Gegen die allgemein herrschende Mode trug er sein Haar lang. Schwarze Locken umrahmten sein fein geschnittenes, schönes Gesicht mit den haselnussbraunen Augen.

»Ich glaubte Euch schlafend«, flüsterte Armina ängstlich, als fürchte sie, den ganzen Palast zu wecken.

»Die Wärme Eures Körpers ist so beruhigend, dass ich nicht darauf verzichten möchte. Und Ihr habt nicht das Recht, mir diese Gunst zu verwehren.«

Er streckte die Arme einladend aus und das Bettlaken rutschte über seinen Bauch bis auf seine Oberschenkel.

»Wie mir scheint, Ariav, betrachtet Ihr bereits das als Geschenk, was für mich eine Ausnahme ist und auch eine bleiben soll«, murmelte Armina bedrückt.

»O nein. Das habe ich nicht vergessen. Gerade deswegen bitte ich Euch, mich zu wärmen. Denn diese Augenblicke sind zu selten und zu kostbar, um eine Sekunde davon zu vergeuden. Ich weiß, dass Ihr Euch um Euren Sohn Sorgen macht, aber er wird nicht schneller von Syracusa zurückkehren, wenn Ihr ihn am Fenster erwartet.«

Doch Dame Armina rührte sich nicht, obwohl die frühen Morgenstunden zu Beginn des Herbstes frisch waren und die Witwe des Seigneurs Abasky Wortling unter ihrem purpurfarbenen, mit goldenen Bordüren besetzten Morgenmantel fror. Sie hatte bereits den Knopf gedrückt, um die Atomkugelheizung in Gang zu setzen. Winzige Reproduktionen leuchtender Sterne sausten summend unter der goldverzierten Zimmerdecke umher und verbreiteten im Raum eine konstante, angenehme Wärme. Ein endloses Sternenballett, das während der ersten Minuten nervtötend war, an das man sich aber schnell gewöhnte.

Doch das Strahlen der Kügelchen wärmte Dame Armina nicht, denn sie fror innerlich. Dieses Frieren konnte keine äußere Wärmequelle lindern. Trotzdem zog sie mit einer automatischen Geste ihren Morgenmantel enger um sich.

»Wenn Ihr Euch entschieden habt, Madame, seid Ihr willkommen«, brummte Ariav Mohing und legte sich wieder hin. »Die Wärme hier bei mir unter der Decke ist viel angenehmer als die Wärme dieser schrecklichen Atomkügelchen.«

Dame Armina stellte sich wieder vor die Luftglasscheibe des Spitzbogenfensters ihres Schlafgemachs. Es befand sich unter der Kuppel des Krisit-Wortling-Turms. Er war der höchste der neun Türme des Runden Hauses der Herren des Marquisats. Und von dort aus konnte man die ganze Stadt überblicken. Duptinat war eine homogene Stadt. Wie ein ruhiger See lag sie da. Am Horizont leuchteten die beiden nächtlichen Gestirne nur noch schwach. Blauer Traum und Wind der Nacht versuchten ein letztes Mal den Morgennebel zu durchdringen, ehe sie hinter dem gezackten Kamm des Gebirges verschwanden.

Sie hörte an Ariav Mohings regelmäßigen, tiefen Atemzügen, dass ihr Geliebter wieder eingeschlafen war. Trotz ihrer geheimen Ängste war sie das Risiko eingegangen. Seit dem plötzlichen Tod ihres edlen Gatten, Abasky Wortling, einhundertsiebenundzwanzigster Herrscher der Dynastie der Wort-Mahor, hatte sie zum ersten Mal mit einem Mann ihr Bett geteilt. Ein Wahnsinn, denn der Brauch auf Marquisat verurteilte die Witwen der Herrscher zu lebenslanger Keuschheit. Diese Tradition war derart tief verwurzelt, dass sie mittlerweile als ein ungeschriebenes Gesetz galt.

Also riskierte Dame Armina nicht nur ihre Ächtung, sondern auch Verbannung oder gar Folter, je nach Richterspruch.

Doch sie hatte davon profitiert, dass sie durch ihren Schwager und Sohn im Augenblick nicht überwacht werden konnte, da die beiden sowie der Dayt-General verreist waren. Eine persönliche Revanche, ein Drahtseilakt zwischen Provokation und Leichtsinn. Sie wollte beweisen, dass sie noch frei war, dass sie – wenn auch nur vorübergehend  – ausbrechen, aus diesem Gefängnis der Witwenschaft fliehen konnte.

Ihre Liaison mit dem jungen und attraktiven Kommandanten der mahortischen Phalanx dauerte jetzt seit zwei Standardjahren. Das Geheimnis wurde streng gehütet: Nur ihre Gesellschafterin hatte davon Kenntnis. Doch nun hatte Armina wagemutig damit begonnen, ihren Geliebten im ehelichen Schlafgemach zu empfangen, in demselben Zimmer, wo der Seigneur Abasky sie geliebt hatte. Obwohl sie wusste, dass das Runde Haus – die Hochburg der Wortlings – voller geheimer Gänge und Türen war, aus denen jederzeit unerwartet ein Wächter, ein Diener oder eine Kammerzofe auftauchen konnte. Das Personal des Palastes war ihr nicht besonders zugetan, einige Dienstboten waren ihr sogar feindlich gesinnt; und der erste, der sie in den Armen Ariav Mohings überraschte, würde nicht zögern, sie zu denunzieren.

Deshalb hielt sie bei jeden Schritt und jedem Türschlagen den Atem an. Doch dieses amouröse Abenteuer und ihre ausschließliche Liebe zu ihrem Sohn List waren das Einzige, das ihr noch das Gefühl gab, lebendig zu sein.

Als Armina nach der Befriedigung ihrer sinnlichen Bedürfnisse nicht hatte einschlafen können, hatte eine wachsende Angst sie aus dem Bett getrieben. Sie hatte sich vor das Fenster gestellt, als ob der Anblick der nächtlichen, wie in Tinte getauchten Hauptstadt ihre finsteren Gedanken etwas aufhellen könnte.

Denn sie ängstigte sich nicht nur über ihre eigene maßlose Kühnheit, sondern ebenso schwer wogen die Sorgen der Mutter um ihren Sohn. Seit drei Standardtagen hatte sie keine Nachricht vom Planeten Syracusa mehr erhalten  – keine Nachricht von List. Obwohl sie einen ihr ergebenen Dayt damit beauftragt hatte, ihr täglich über den Verlauf der Asma und das Betragen ihres Sohnes zu berichten.

Da die marquisatische Delegation in großer Zahl vertreten war, hatte der Regent aus Zeitgründen entschieden, dass die Mitglieder die Dienste der InTra in Anspruch nehmen, der größten Gesellschaft für intergalaktische und zellulare Transporte, und nicht wie gewöhnlich mit einem der privaten Deremats reisten.

Als sie den ersten Bericht auf dem Empfangs-Tabernakel las, hatte sie lachen müssen. Der Dayt-General Jasp Harnet war durch den Fehler eines Angestellten falsch programmiert worden und hatte sich allein auf einem unzivilisierten, barbarischen Planeten wiedergefunden. Nur unter Aufbietung ihres gesamten Einfallsreichtums war es der InTra gelungen, den armen Mann an seinen Bestimmungsort zu bringen.

Am zweiten Tag hatte sie erfahren, wie beeindruckt List vom strahlenden Glanz Venicias und dem Prunk der Syracuser war. Sie war gerührt gewesen, weil ihr Sohn seine Emotionen so schnell kontrolliert hatte. Auch von der gedrückten Stimmung des Regenten hatte man sie in Kenntnis gesetzt – in ihren Augen ein schweigsamer, undurchsichtiger Mann, dessen Gesellschaft sie wie die nukleare Pest floh. Vor allem deswegen, weil sich Stry Wortling allen ihren Bemühungen widersetzte, dem marquisatischen Hof etwas Raffinement zu verleihen.

Doch seit drei Tagen blieb der Bildschirm des Empfangs-Tabernakels auf der Konsole neben dem Fenster leer. Grau, leer und stumm. Sie hatte mehrmals das Funktionieren der Parabolantennen auf dem Dach überprüfen lassen. Die Ingenieure hatten ihr jedoch versichert, dass sie intakt seien.

Da Armina jetzt noch immer ohne Nachrichten war, hatte sie angefangen sich das Schlimmste auszumalen. Und die Angst, dieser immer gegenwärtige, stumm über ihr kreisende erbarmungslose Raubvogel, war zu ihrem ständigen Begleiter geworden. Sie war verspannt und reagierte auf Ariavs Zärtlichkeiten mit einer fieberhaften, fast brutalen Hektik, so als wollte sie ihre Ängste durch diese kurzen, heftigen Umarmungen beschwichtigen. Doch der Raubvogel ließ nicht von seiner Beute ab: Armina spürte weiterhin seine eisigen Klauen in ihrem Leib, ihrer Brust und ihrer Kehle.

Ihr Blick wanderte wieder zum ruhig flimmernden Bildschirm des Tabernakels. Sie flehte innerlich, er möge sich beleben und ihr jene kleinen codierten Zeichen senden, die sie mit List verbanden. Jetzt bedauerte sie bitterlich, ihrem Sohn diese Reise erlaubt zu haben. Aus dummem mütterlichem Ehrgeiz!

Denn sie hatte den Plan, List für einen kurzen Aufenthalt nach Venicia zu schicken, mit Begeisterung aufgenommen. Jetzt konnte er seine Bildung in der Hochburg der Anmut und des guten Geschmacks vervollkommnen. Auch der Regent hatte trotz ihrer Befürchtungen nichts dagegen gehabt, seinen jungen Neffen mitzunehmen. Im Gegenteil, er hatte fast zufrieden gewirkt. Aber seine Reaktion war ihr nach wie vor ein Rätsel. Was wollte ihr Schwager? Wollte er sie jetzt bestrafen, indem er die Kommunikation unterbrach?

»Madame, es führt zu nichts, wenn Ihr weiterhin vor dem Tabernakel grübelt«, sagte Ariav Mohing plötzlich. »In den Welten des Zentrums kommt es nicht zum ersten Mal zu Kommunikationsstörungen. Meteorenregen, Sternengewitter, Magnetturbulenzen, es gibt genug Gründe für solche Pannen. Kommt zu mir …«

Armina war müde. Und den Argumenten des Kommandanten der Phalanx hatte sie nichts entgegenzusetzen.

»Ihr habt recht. Ich bin dumm. Schließlich werden anlässlich einer Asma immer derart viele Sicherheitskräfte zusammengezogen, dass ich mich frage, ob es überhaupt zu einem gravierenden Zwischenfall kommen kann«, entgegnete Armina in dem Versuch, sich selbst zu beruhigen. Doch sie glaubte nicht eine Sekunde an ihre Worte.

»Kommt schnell! Habt Erbarmen mit mir«, flehte Ariav Mohing. »Der Tag bricht bald an, und dann muss ich gehen.«

»Nein!«, rief Armina. Und das Wort klang eher wie ein Verzweiflungsschrei als wie ein Befehl.

Ariav Mohing richtete sich auf, die Augen groß vor Verwunderung.

»Heute Morgen möchte ich, dass Ihr bei mir bleibt«, fügte sie sanft hinzu. »Ich weiß, dass Ihr keinen Dienst habt.«

»Das ist riskant!«, wandte er ein. »Eine Eurer Kammerzofen könnte Euch überraschen …«

»Sie betreten mein Schlafgemach erst, nachdem ich es verlassen habe. Meine Gesellschaftsdame zeigt Euch später eine Geheimtür.«

Kommandant Mohing war wegen des kühnen Liebesbeweises seiner Herzensdame derart geschmeichelt – oder vielmehr aus männlicher Eitelkeit –, dass er sofort die Waffen streckte.

Armina ging langsam auf das Bett zu und löste den Gürtel ihres Morgenmantels. Er glitt mit leisem Rascheln auf den Marmorboden. Ariav betrachtete ihren Körper; das lange, volle schwarze Haar, die üppigen reifen Formen, die breiten, runden Hüften, die makellose weiße Haut. Einen Körper, den er bis ins Letzte erforscht hatte, aber dessen er noch lange nicht überdrüssig war.

Armina glitt zwischen die Laken, legte die Hände um den Hals ihres Geliebten und presste seinen Kopf fest an ihre Brust, so als würde sie ein Kind trösten. Doch sie war es, die Trost brauchte. Heiße, salzige, bittere Tränen flossen aus ihren grünen Augen und liefen über ihre von Müdigkeit gezeichneten Wangen. Und Ariav spürte die abgrundtiefe Traurigkeit dieser Umarmung ebenso stark, als hätte sie ihn selbst ergriffen. Jetzt begriff er, dass Arminas Sorgen nicht einer krankhaften Vorstellungskraft entsprangen, und ihn fröstelte.

Draußen begrüßten die Vögel den beginnenden Tag mit ihrem Gesang, und die Liebenden schliefen eng umschlungen ein.

 

Ein Strahl des Tagesgestirns Silberkönig weckte Armina zwei Stunden später.

Eine ungewöhnliche Stille lastete über dem Runden Haus der Wortling-Dynastie. Schwer und drückend. Kein Ruf, kein Schrei, kein Lachen war vom Hof in der Mitte des Palastes zu hören, wo zu dieser Stunde gewöhnlich Lieferanten und Händler ihre Waren brachten. Sogar die Singvögel unter den Kuppeln waren verstummt. Armina hörte auch die Kammerzofen nicht schwatzen und über die anzüglichen Bemerkungen der Wachen, die in regelmäßigen Abständen auf den Fluren postiert waren, lachen, wie sie es normalerweise taten.

Nur das sonore Hupen der Ovalibusse – der automatischen Pendelflieger in Duptinat – unterbrach die Stille. Das Runde Haus schien wie ausgestorben.

Irritiert rüttelte Armina ihren Geliebten an der Schulter. Ariav brummte und öffnete ein Auge.

»Ariav! Ariav! Wacht auf!«

Sie hatte das Gefühl, dass sich in der Stille verbergende Schatten jeder ihrer Worte und jeder ihrer Gedanken bemächtigten und dass sich etwas eiskaltes, eckelerregendes in ihren Mund, in ihre Ohren und in ihr Gehirn schlängelte.

»Hört …«

»Was soll ich denn hören?«, murrte Mohing verschlafen. »Ich höre nichts.«

»Das ist es ja gerade! Silberkönig steht schon ziemlich hoch am Himmel, und alles ist still … Nicht einmal die Vögel singen … Man könnte meinen … das Ende der Welt sei gekommen … Ich habe Angst, Ariav …«

Er richtete sich im Bett auf, legte den Arm um Arminas Taille und lauschte.

Plötzliche sprangen die Riegel aus den codierten Schlössern der Tür und fielen auf den Marmorboden. Dame Arminas Herzschlag setzte aus. Eine Flügeltür aus massivem Holz wurde mit brutalem Krachen aufgestoßen. Sechs in graue Uniformen gekleidete und weiß maskierte Männer mit drei ineinander verschlungenen glänzenden Dreiecken auf der Brust stürmten in das Schlafgemach und postierten sich zu beiden Seiten des Himmelbetts. Dann deuteten sie mit ihren ausgestreckten rechten Armen auf das wie erstarrt daliegende Liebespaar. Aus ihren Ärmeln blitzten die Metallschienen der Wurfgeräte für die runden Scheiben hervor.

Kommandant Mohing tastete unter der Matratze nach seiner Dienstwaffe. Die scharf geschliffenen Scheiben glitten über die Metallschienen.

»Keine Bewegung!«, schrie einer der Pritiv-Söldner mit einer näselnd klingenden Stimme. »Sonst bist du tot. Und du, Frau, ich rate dir, dich ebenfalls nicht zu rühren!«

Armina war so verwirrt, dass sie keinen anderen Gedanken fassen konnte, als das Laken über ihrer Brust zusammenzuraffen und zu stammeln: »Sie … Sie haben hier nichts zu suchen … Verlassen Sie augenblicklich mein Schlafgemach … oder … oder Sie bekommen es mit der mahortinischen Phalanx zu tun …«

Zynisches Gelächter war die einzige Reaktion auf ihre Worte. Sie suchte fieberhaft nach einer Erklärung für das Eindringen dieser Uniformierten. Hatte ihr Schwager, der Regent, sie geschickt, um ihrer skandalösen Affäre mit dem Kommandanten Mohing ein Ende zu bereiten? Wohl kaum. Stry Wortling bediente sich nicht solcher Methoden. Hatten diese Männer etwas mit der fehlenden Nachrichtenübermittlung zu tun? Und herrschte ihretwegen diese bedrückende Stille über dem Runden Haus?

Sie wurde von einem derartigen Entsetzen ergriffen, dass ihr übel wurde. Sie hatte das Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen.

Ariav Mohing hatte die Maskierten sofort als Pritiv-Söldner, als professionelle Mörder erkannt. Sie standen bewegungslos da, wie in Erwartung eines Befehls. Der Kommandant beobachtete sie, er hoffte auf ein Nachlassen ihrer Wachsamkeit, aber die Söldner gaben sich keine Blöße.

Ein anderer Mann betrat den Raum. Als Armina ihn erkannte, wuchs ihr Entsetzen so sehr, dass sie fast die Kontrolle über ihre Körperfunktionen verloren hätte.

Dieser Mann war kein anderer als Pultry Wortling, der Drittgeborene der Herrscherfamilie, ein Wahnsinniger, den ihr verstorbener Gemahl auf den Planeten Comptat, einen Satelliten des Marquisats verbannt hatte.

Er war klein, hatte scharf geschnittene Gesichtszüge, und sein graues Haar war militärisch kurz geschnitten. Er trug eine viel zu enge pompöse Uniform in Marineblau mit lächerlichen Pumphosen. Jetzt trat er ans Fußende des Betts und musterte seine Schwägerin mit bösen Blicken.

»Ich hätte mir gleich denken können, dass Ihr für diese Maskerade verantwortlich seid, Pultry Wortling!«, fauchte Armina.

»Zügelt Eure Zunge, teure Schwägerin!«, konterte der kleine Mann in hohem Falsett, aber eisig im Ton. »Wie ich sehe, sind die Gerüchte einiger auf der Durchreise befindlicher Kurtisanen also wahr. Nur mein idiotischer Bruder war nicht informiert.«

»Dann hat Euch also nicht der Regent mit dieser widerwärtigen Aufgabe betraut? Im Übrigen ist dies die einzige Arbeit, für die Ihr ein gewisses Talent besitzt.«

»Ausgerechnet dieser Mann?«, entgegnete Pultry Wortling und lachte hämisch. »Glaubt Ihr im Ernst, dass sich der tugendhafte Stry Wortling mit den Pritiv-Söldnern verbünden würde? Da kennt Ihr ihn aber schlecht. Und Ihr, meine teure Armina, seid nichts anderes als eine billige Hure. Ihr, die allen Leuten mit diesem syracusischen Bildungsmodell auf den Geist geht, benehmt Euch gleichzeitig wie eine Schlampe. Und das in dem Bett, in dem Euch der große Abasky geschwängert hat!«

»Das nehmt Ihr sofort zurück, Pultry Wortling!«, brüllte Ariav Mohing. »Befehlt diesen Dämonen den Raum zu verlassen, dann stopfe ich Euch das Maul.«

»O nein, Kommandant Mohing! Euer ritterliches Geschwafel interessiert mich keinen Deut, diese Überreste der einstigen dämlichen Kultur Naflins. Behaltet also Euren Blödsinn für Euch. Und es interessiert mich ebenfalls nicht im Geringsten, ob Ihr den Hengst spielt und meine Schwägerin, diese Stute, besteigt. Gott sei Dank verfolge ich einen Plan, der weitaus bedeutender ist.«

»Was wollt Ihr dann?«, flüsterte Armina, zu Tode erschrocken. »Geld?«

Pultry Wortling verzog den schmalen Mund zu einem verächtlichen Lächeln. Mit einer Hand umklammerte er eine der geschnitzten Säulen des Himmelbetts, während sein ruheloser Blick duch den Raum schweifte. Schließlich ließ er sich zu einer Antwort herab.

»Ihr begreift überhaupt nichts, teure Schwägerin«, begann er gelassen, und mit leiser Stimme, die indessen immer lauter wurde, so als schöpfe er aus seinen Worten Energie. »Denn Ihr seid nicht mehr in der Lage, mir irgendwelche Angebote zu machen. Heute Nacht, als Ihr Euch Eurer Lust hingegeben habt, wurden die Machtverhältnisse des Universums geändert. Doch weil Ihr keuchend unter diesem Mann lagt, der wie Ihr nur an sinnliche Vergnügungen zu denken vermag, habt Ihr nichts davon gemerkt. Und allein jene, die diesen Umsturz vorbereitet haben, können jetzt eine Machtposition in der neuen Organisation einnehmen. Ihr seid jetzt ein Nichts, Dame Armina. Euer Name wird aus dem Buch der Geschichte gelöscht, wie schon die Namen meiner Brüder Abasky und Stry. Ach, übrigens: Wusstet Ihr schon, dass der Letztere – dieser Tugendhafteste unter den Tugendhaften – nackt und von Sinnen im Dirnenviertel Venicias aufgegriffen wurde? Ganz offensichtlich ist sein desolater Zustand ein Resultat seiner exzessiven sexuellen Ausschweifungen. Wer hätte das gedacht, nicht wahr? Jetzt ruht also auf Eurem über alles geliebten Sohn List die schwere Verantwortung, das Marquisat während der Asma zu vertreten. Wie er das mit der erbärmlichen Unterstützung Jasp Harnets schaffen soll, ist mir ein Rätsel. Deshalb fürchte ich, dass …«

»Was ist mit List geschehen?«, fragte Armina, leichenblass geworden. »Sprecht, ich flehe Euch an.«

»Ach, wie rührend doch mütterliche Sorge ist. Wirklich. Eure Fürsorglichkeit für meinen Neffen, diesen charmanten jungen Mann, berührt mich zutiefst, teure Schwägerin.«

Pultry Wortling schwieg lange, um seine Revanche bis zum Letzten auszukosten. Seine eigene Familie hatte ihn verachtet, ausgestoßen und ihn schließlich mit Hilfe korrupter Mediziner als unzurechnungsfähig erklären lassen und ihn dann auf den Satelliten Comptat – ein unbedeutendes Agrar-Gestirn, wo nichts los war –, verbannt. Der Wortling-Clan hatte ihn enterbt und ihn vom Spiel um Liebe und Macht ausgeschlossen, während er sich insgeheim am Umsturz der Herrschenden beteiligt hatte. Jetzt war die Stunde gekommen, seinen Verwandten die erlittene Schmach mit tausendfacher Münze heimzuzahlen. Und der Anblick seiner gedemütigten Schwägerin, die nur mühsam ihre Blöße mit einem Zipfel des Bettlakens bedecken konnte, bereitete ihm nun ein nahezu ekstatisches Vergnügen.

»Ich bin der Meinung, dass die Liebe, ganz gleich, in welcher Form sie sich manifestiert, nichts als ein Hemmnis für die Evolution bedeutet«, fuhr er mit hämischem Grinsen fort. »Die Liebe stört nur, wenn man sein Leben in den Dienst des Gemeinwohls stellen will. Und was Euch betrifft, Kommandant Mohing, Ihr seid nur noch das Phantom eines Offiziers. Denn unsere Freunde, die Pritiv-Söldner, haben gerade die mahortische Phalanx zu Staub reduziert, im wörtlichen und nicht im übertragenen Sinn. Wärt Ihr ein gewissenhafter Befehlshaber und nicht ein erbärmlicher Versager, hättet Ihr bereits das Schicksal Eurer Männer geteilt.«

»Ist … ist List … ist er …?«

Armina hatte nicht mehr die Kraft, ihren Satz zu beenden. Sie schluchzte und barg ihr Gesicht in den zitternden Händen über die ihr üppiges schwarzes Haar fiel.

»Ist das etwa ein Benehmen, wie es am Hofe Syracusas gepflegt wird?«, sagte Pultry Wortling ironisch. »Solltet Ihr Eure Emotionen nicht besser unter Kontrolle haben?«

In diesem Augenblick betraten weitere Personen das Schlafgemach. Angeführt wurden sie von einem geheimnisvollen Individuum, das in einen weit geschnittenen schwarzen Kapuzenmantel gekleidet war, und einem Kardinal der Kreuzler, der über seinem purpurfarbenen Colancor ein violettes Chorhemd trug. Seine weichen Gesichtszüge wirkten durch das vierkantige Birett auf seinem Kopf noch schwammiger. Seine kleinen, eng stehenden grauen Augen funkelten feindselig. Ein paar Schritte hinter ihm ging ein Polizist der Konföderation, ein Mann von immenser Größe mit einem eckigem Kinn, der eine beigefarbene Uniform mit Hologrammen an den Ärmeln trug. Ein Offizier der Pritiv-Söldner, erkenntlich an seiner Maske und seinem mattschwarzen Overall, bildete das Schlusslicht der kleinen Prozession.

Sofort verwandelte sich Pultry Wortlings höhnisches Grinsen in ein breites serviles Lächeln.

Er verneigte sich vor der Gestalt im schwarzen Kapuzenmantel und sagte: »Ist nicht alles so verlaufen, wie ich vorhergesagt habe, Sieur Assistent?«

»Ihr habt gute Arbeit geleistet, Sieur Wortling«, antwortete der Scaythe mit metallischer, unpersönlich klingender Stimme.

Wie immer bekam Pultry Wortling beim schneidenden Klang der Stimme eine Gänsehaut.

»Wurde die Armee der Wort-Mahort ausgeschaltet?«, fragte der Scaythe.

»Ihre Magnetschilder konnten unseren Desintegrationsstrahlen keinerlei Widerstand bieten«, antwortete der Pritiv-Offizier. »Wir allein beherrschen zur Stunde das Runde Haus. Jetzt müssen wir nur noch jene Phalangisten eliminieren, die dienstfrei hatten.«

»Dann können Sie gleich bei ihrem Kommandanten anfangen«, sagte Pultry Wortling und deutete auf Ariav Mohing.

»Meine Männer haben bereits die Kontrollzentren in Duptinat besetzt«, verkündete der grauhaarige Riese. »Sie sind also darauf vorbereitet, einen eventuellen Aufstand der einheimischen Bevölkerung sofort niederzuschlagen.«

»Sehr gut«, entgegnete der Scaythe. »Schweigt jetzt, damit ich mental mit dem Oberkommando in Verbindung treten und es über unsere gelungene Operation informieren kann.«

Während dieses Wortwechsels hatte Ariav Mohing berechnet, wie viel Zeit er brauchen würde, um zum Erker zu laufen, auf den Schalter zu drücken, der die Luftfensterscheibe versenkte und auf den zehn Meter tiefer liegenden Rundweg, der den Turm umgab, zu springen. Die Luftfensterscheibe war zu kompakt, als dass er sich einfach hätte dagegen werfen können. Was ihn eine Sekunde mehr kosten würde.

Er beobachtete die Söldner. Seit die vier Neuankömmlinge den Raum betreten hatten, waren sie weniger wachsam. Seine Chance, fliehen zu können, war minimal. Trotzdem musste er einen Versuch wagen und das, ohne das Leben Dame Arminas zu gefährden.

Zentimeter für Zentimeter schob er sich an den Bettrand. Das Laken klebte an seinen schweißnassen Beinen, aber es gelang ihm, die Füße auf den Boden zu stellen.

In dem Augenblick, als alle in respektvollem Schweigen verharrten, weil sie dem Befehl des Scaythen gehorchten, stürzte er aus dem Bett und sprang mit drei raubtierhaften Sätzen zum Erker. Er drückte hektisch auf den Schalter. Die Luft entwich mit einem leisen Zischen aus dem Fenster.

Er rannte weiter. Und hörte ein Sirren. Zwei Wurfgeräte spien gleichzeitig ihre Projektile aus. Eins traf den Nacken des Kommandanten, das andere bohrte sich in seine Seite. Blut spritzte bis zur stuckverzierten Decke, an die Wände, ergoss sich auf den Marmorboden. Die noch immer kreisenden Bewegungen der runden Metallscheibe, die weiter Haut und Knochen durchschnitt, waren als einziges in dieser jetzt tödlichen Stille zu hören.

Ariavs Kopf wurde vom Torso getrennt und fiel ins Leere. Gedärm quoll aus der großen Schnittwunde an seiner Seite. Sein enthaupteter Körper schwankte, ehe er schwer zu Boden stürzte.

»Was für ein Idiot! So eine Sauerei! Hier muss sofort geputzt werden«, sagte Pultry Wortling empört.

Und das waren die einzigen Worte, die über Ariav Mohings Tod fielen, die Grabrede für einen Mann, der oberster Kommandant der ruhmreichen mahortinischen Phalanx gewesen war.

Außer sich vor Entsetzen stieß Armina einen markerschütternden Schrei aus und stürzte rücklings quer über das Bett. Ihr nur unzureichend bedeckter Körper wurde von krampfartigen Zuckungen geschüttelt.

Einer der Pritiv-Söldner ging zu der Leiche und entnahm einer Tasche seines Overalls einen Desintegrator. Der Lauf des Geräts spie einen grünen Feuerstrahl aus, der sofort den Leichnam umzüngelte. Der Gestank nach verbranntem Fleisch vermischte sich mit dem faden Geruch des Bluts.

»Beweint nicht die Seele eines Mannes, der der Verdammnis anheimfällt«, tönte der Kardinal. »Sie zu beweinen, bedeutet, um sie zu trauern, und sie zu betrauern, bedeutet, wie sie im Fegefeuer zu schmoren. So lauten die Gebote der Kreuz-Kirche. Doch Eurer Kleidung nach zu urteilen … vielmehr Eurer Nacktheit nach, bezweifle ich zutiefst, dass Euch solche Regeln bedeutsam erscheinen, meine Dame.«

Hinter der sanften Stimme des Kirchenfürsten verbarg sich die Entschlossenheit eines erbarmungslosen Fanatikers  – eine rasiermesserscharfe Klinge, in Honig getaucht.

»Jetzt erst wird mir bewusst, mit welchen Schwierigkeiten unsere armen Missionare in jenen heidnischen Welten zu kämpfen haben werden. Wenn sich schon Angehörige der Herrscherhäuser wie Freudenmädchen aufführen, wie mögen sich dann die Frauen des einfachen Volkes benehmen? Es ist höchste Zeit, dass wir unsere Heilsbotschaft bis in die entferntesten Winkel des Universums tragen …«

Der schwarz gekleidete Kapuzenmann bewegte sich kaum merklich und unterbrach den Kardinal mit schneidender Stimme.

»Ihr seid ziemlich geschwätzig, Euer Eminenz! Geduldet Euch noch etwas. Die zweite Phase unserer Operation steht unmittelbar bevor. In wenigen Stunden werden die Missionare der Kreuz-Kirche in Begleitung der Scaythen der heiligen Inquisition sowie der Scaythen der Administration transferiert.«

»Und welche Rolle habt Ihr für mich während dieser zweiten Phase vorgesehen, Sieur Assistent?«, fragte Pultry Wortling. »Vergesst nicht, Ihr habt mir bereits den Posten des Generalgouverneurs des Marquisats und seiner Satelliten versprochen.«

Mit einer betont langsamen und feierlichen Geste schob der Scaythe seine Kapuze zurück und enthüllte sein grünliches Gesicht und einen länglichen, mit Schorf bedeckten Schädel. Sein Mund war ein schwarz umrandeter Schlitz, seine Nase ein unförmiges, mit zwei unterschiedlich großen Löchern versehenes Gebilde: ein Antlitz von grotesker Hässlichkeit, die Karikatur eines menschlichen Gesichts.

Jetzt richtete er seine pupillenlosen gelben hervorquellenden Augen auf Pultry Wortling.

Ganz plötzlich fröstelte der Marquisaner. Und er hatte das Gefühl, in ein unsichtbares Netz eingeschnürt zu sein. Dann spürte er, wie ein schleimiger, kalter Tentakel in sein Gehirn kroch. Von einer schrecklichen Vorahnung ergriffen, öffnete er den Mund. Er wollte erklären, dass es ein Missverständnis gegeben haben müsse und dass er seinen neuen Herren treu gedient habe.

So viel Zeit blieb ihm jedoch nicht: Ein schwarzer Schleier raubte ihm die Sicht, ein entsetzlicher Schmerz zerriss ihm das Gehirn, seine Beine knickten ein. Er prallte gegen eine Säule des Himmelbetts. Nase und Mund rissen durch den Aufprall auf. Dann sank er zu Boden und blieb dort nach einem letzten Aufbäumen mit gekreuzten Armen und Beinen regungslos liegen.

»Er hat bereits einmal Verrat geübt, also wird er wieder Verrat üben«, erklärte der Scaythe emotionslos.

»Ihr … Ihr habt zweifellos recht«, stimmte ihm der Kardinal zu, wobei er es möglichst vermied, das Entsetzen zu verbergen, das diese mentale Exekution in ihm ausgelöst hatte.

Zwar hatte er von dieser neuen Fähigkeit der Scaythen gehört, jedoch noch nie eine Demonstration erlebt.

»In … in der Tat, es ist alles andere als wünschenswert, eine neue Welt auf Hinterlist, Falschheit und Verweichlichung aufzubauen«, blökte er und versuchte vergebens, seine Emotionen zu kontrollieren. »Die Kirche billigt Euer Vorgehen, denn wir brauchten diesen … dieses Individuum, um größeres Blutvergießen zu vermeiden. Er musste diese Rolle dem göttlichen Plan gemäß spielen, doch er hätte sich sicher eines Tages gegen die heilige Kirche aufgelehnt … hm … hätte er uns nicht noch im Hinblick auf die Strukturen seines Planeten nützlich sein können?«

»Verzeiht, Eminenz, aber der Konnetabel und seine Wissenschaftler, vor allem die Ethnologen, erforschen seit langem alle Strukturen anderer Welten, aus denen sich das uns bekannte Universum zusammensetzt. Auf diese Weise können wir auf jedem Planeten und den ihm zugehörigen Satelliten eine jeweils perfekt angepasste Regierung errichten. Wir haben uns dieses Marquisaners bedient, um unnötiges Blutvergießen zu vermeiden, wie Ihr bereits richtig bemerkt habt. Dabei haben wir uns seines Hasses und seines Rachedurstes bedient. Und in Zukunft wäre er uns eher lästig geworden als nützlich zu sein.«

Nach diesen Worten bedeutete der Scaythe den beiden Söldnern, den Leichnam in schwarze Asche zu verwandeln.

Voller Unbehagen ging der Kardinal zum blutbespritzten Erker. Er vermied es sorgfältig, in einen der purpurfarbenen Flecke auf dem Marmorboden zu treten. Dann ließ er den Blick über die runden Kuppeln und spitzen Türme der Metropole Duptinat schweifen und weiter über die gezackte Gebirgskette des Marquisats, deren verschneite Gipfel etwas aus dem Morgennebel emporragten. Sie glitzerten unter den Strahlen des Silberkönigs. Schließlich betrachtete er die barocken Säulen der Tempel, die in ihrer Farbigkeit eine willkommene Abwechslung zum überwiegend monotonen Graublau des Panoramas bildeten.

Verängstigt versuchte er, seine Befürchtungen zurückzudrängen. Trotz inständiger Bitten war es ihm nicht gelungen, seine Gedankenhüter in die Vorhut der Besatzungsmacht zu integrieren. Alle Deremats seien ausgebucht. Es gebe Dringenderes zu erledigen, hatte man ihm beschieden. Später, Eminenz. Und dieser Bescheid bedeutete, dass er gegenüber dem Scaythen eine untergeordnete Stellung einnahm. Zwar verbot der Ehrencode den Scaythen, in den Köpfen syracusischer Würdenträger zu lesen, aber dennoch hätte er sich mit seinen gewohnten Gedankenschützern viel wohlergefühlt.

Da das unablässige Weinen Arminas ihn daran hinderte, sich zu konzentrieren, damit er seine mentale Kontrolle wiederherstellen konnte, schimpfte er: »Kann denn niemand diese Schlampe zum Schweigen bringen?«

Der Scaythe ging zum Bett, packte Armina brutal an den Haaren, riss sie hoch und schlug ihr mehrmals auf die Brüste und den Hals. Als er sie losließ, fiel sie keuchend aufs Bett zurück.

Der Kardinal bedankte sich mürrisch. Er hatte das entsetzliche Gefühl, dass seine Gedanken jederzeit zugänglich waren, dass sie sozusagen öffentlich geworden waren. Und die Rolle, die er in diesem Stück spielte, war eher beklagenswert.

Diese barbarische mentale Exekution vorhin verstärkte seine Befürchtungen. Und das Schlimmste war jene heimtückische, beunruhigende Frage, die er sich selbst stellte, wie eine blasphemische Schlange schlich sie sich immer öfter in den Sumpfs seines Gewissens. Überprüfte der Muffi Barrofill nicht gerade jetzt die Vertrauenswürdigkeit und Loyalität seiner Kardinäle, wo die Kirche des Kreuzes kurz davorstand, sich auf wunderbare Weise im gesamten Universum ausbreiten zu können und ihre Macht immens zu vergrößern? Hatte etwa der Muffi den Befehl erteilt, dass die Gedankenschützer auf Syracusa bleiben sollten?

Ein Schauder überlief den Kardinal, denn er vermutete, dass der Unfehlbare Hirte ein falsches Spiel spielte, den Klerus täuschte, und allein dieser gotteslästerliche Gedanke genügte, ihn am Kreuz den Feuertod erleiden zu lassen. Auch wenn er vor dieser Mörderbande von Pritiv-Söldnern und der interplanetarischen Polizei – eine stupide Soldateska, die leicht zu manipulieren war – nur wenig Angst hatte, fürchtete er umso mehr die Scaythen vom Planeten Hyponeros. Sie waren unergründliche Wesen, deren psychisches Potenzial dazu geführt hatte, dass die früher gültigen Spielregeln um die Macht nun keine Gültigkeit mehr hatten. Und niemand wusste, welche Pläne die Scaythen verfolgten.

Nach und nach gewann er die Kontrolle über seine Gedanken zurück und konzentrierte sich darauf, sich mit rein oberflächlichen Themen zu beschäftigen, in der Hoffnung, seine ketzerischen Überlegungen seien unentdeckt geblieben.

»Macht Euch die Bauweise dieser Tempel so viel Sorgen, Eminenz?«, ertönte in diesem Moment die metallisch klingende Stimme des Scaythen in seinem Rücken.

Der Kardinal fing an zu zittern. »Hm … ja. Auf gewisse Weise«, stammelte er. »Weil diese spitzen Türme Symbole der Häresie sind … Ich dachte an die schier nicht zu bewältigende Arbeit, die vor unseren Missionaren liegt … Die Marquisaner sind unverbesserliche Polytheisten, und wir werden große Schwierigkeiten haben, sie zum Monotheismus der Kirche des Kreuzes zu bekehren …«

»Darüber braucht Ihr Euch keine Sorgen zu machen, Eminenz. Sollten sich diese Ketzer als unbelehrbar erweisen, werden sie sicher beim Anblick der ersten Verbrennungen ihre Meinung ändern. Außerdem werdet Ihr Euch von der Glaubenstreue der Konvertierten sofort überzeugen können, weil sie alle einer Prüfung unserer mentalen Inquisitoren unterzogen werden.«

Die unpersönliche metallische Stimme nahm plötzlich einen leicht ironischen Ton an, als der Scaythe fortfuhr: »Könnte es sein, dass Ihr zu dem Schluss gekommen seid, Eminenz, die Scaythen nähmen eine überproportional wichtige Stellung in der neuen Ordnung des Universums ein? Doch auch Ihr werdet schnell zu der Überzeugung gelangen, dass Ihr davon nur profitiert, denn die Scaythen ersparen der Kirche eine Menge Unannehmlichkeiten: Rebellionen, Schismen, Apostasien …«

Scheinheilig stimmte der Kardinal zu: »Daran besteht kein Zweifel, Sieur Assistent.«

»Seine Heiligkeit, der Muffi, hat Euch damit beauftragt, auf diesem Planeten samt seiner Satelliten den Grundstein für die Kirche zu legen. Das ist ein großer Vertrauensbeweis. Und ich bin fest davon überzeugt, Eminenz, dass diese glorreiche Mission nur von Erfolg gekrönt sein wird, wenn zwischen Euch und den Scaythen eine aufrichtige und herzliche Beziehung besteht. Also, wenn wir völlig rückhaltlos miteinander verkehren. Und solltet Ihr Fragen hinsichtlich des weiteren Vorgehens haben oder irgendwelche Zweifel, werde ich sie jederzeit im Rahmen meiner bescheidenen Möglichkeiten beantworten.«

»Ausgezeichnet, ganz ausgezeichnet. Ich teile voll und ganz Euren Standpunkt«, entgegnete der Kardinal betont enthusiastisch.

»In der Tat, da gibt es etwas, das mir große Sorgen macht. Haben wir den Ritterorden der Absolution nicht unterschätzt? Müssen wir uns nicht mit ihm auseinandersetzen oder vielmehr ihn besiegen, ehe wir unser neues Regime errichten können?«

»Kümmert Euch nicht um den Orden!«, sagte der Scaythe mit einer Überzeugungskraft, die den Geistlichen verunsicherte. »Die Frage der Existenz dieser Ritter wird in naher Zukunft geregelt. Kümmert Euch vielmehr um Eure Aufgabe, den religiösen Bereich.«

Diese Impertinenz verletzte den Stolz des Kardinals. Bildete sich dieser Scaythe etwa ein, ihm, dem Mitglied einer der nobelsten Familien Syracusas, Befehle erteilen zu können?

»Man soll die Flinte nicht ins Korn werfen, so lautet ein altes Sprichwort, nicht wahr?«, sagte der Kapuzenmann. »Im Moment gewinnen wir nichts, wenn wir gegen den Ritterorden opponieren, Eminenz. Habt etwas Geduld. Schon bald wird Euch wieder die Unterstützung Eurer Gedankenhüter zuteil. Es ist in unser aller Interesse, Euren jungen Missionaren und den Scaythen der heiligen Inquisition Geschlossenheit zu demonstrieren. Jetzt müssen wir als Erstes mit der Requisition der Gebäude beginnen, damit wir alle diese Leute angemessen unterbringen können.«

»Ich möchte, dass die Polizei der Konföderation sofort die Priester der verschiedenen Kulte auf diesem Planeten interniert«, sagte der Kardinal.

Langsam begriff er, dass er kein Interesse daran haben konnte, seinen Gesprächspartner zu provozieren, sondern es besser war, den Rat des Scaythen zu befolgen und auf die Ankunft seiner Gedankenschützer zu warten.

»Ich möchte diese Leute sofort mit der neuen Situation konfrontieren und ihnen die Chance geben, sich der wahren und einzigen Lehre der Kirche des Kreuzes zuzuwenden, damit sie wiederum ihre Anhänger zu diesem Schritt bewegen können. Das allein würde viele Leben retten. Ist das Leben nicht die höchste Gabe unserer Kirche?«

»Diesen Wunsch erfülle ich Euch gern, Eminenz. Und was machen wir mit dieser Frau? Was habt Ihr beschlossen?«, fragte der Scaythe und deutete mit ausgestrecktem Arm auf das Bett, wo Armina jetzt leise weinte.

»Mit dieser Frau?«

Nachdenklich ließ der Kardinal wieder den Blick über das Panorama der langsam erwachenden Stadt schweifen, deren Bewohner noch nichts von den Ereignissen der Nacht ahnten. Der Silberkönig stieg langsam am Horizont empor und vertrieb den Morgennebel. Schon wurde es in dem Schlafgemach wärmer.

Der Kardinal drehte sich abrupt um und durchbohrte Armina mit seinen kleinen grausamen Augen. Verachtung und Hass drangen aus jeder Pore seines Körpers. Diese Frau bot ihm eine ausgezeichnete Gelegenheit, seine angekratzte Autorität wiederherzustellen und sich an dem impertinenten Scaythen zu rächen.

»Nieder mit deinem Kopf, Hure!«, schrie der Kardinal. »Deine Schamlosigkeit ist eine Beleidigung der heiligen Mutter unserer Kirche. Als Erstes werde ich dich diesen Männern ausliefern, damit sie dich dort bestrafen, wo du deine Sünden begangen hast.«

Die Worte dieses Geistlichen berührten Dame Armina nur noch wie ein schwacher Windhauch. Denn in ihrem Inneren war sie bereits tot. Ihre Vorahnungen in der vergangenen Nacht waren zur Gewissheit geworden: Niemals würde sie ihren Sohn wiedersehen, den einzigen Menschen, den sie liebte. Diese Verbrecher hatten List getötet. List … List …

Kraft zum Widerstand hatte sie nicht mehr.

Die Verwünschungen dieses vor Arroganz aufgeblähten Pfaffen bewiesen ihr, wie sehr sie sich geirrt hatte. List … o Götter, nicht mein Sohn, nicht List …

Ihre Illusionen zerbrachen an diesem violetten Chorhemd, diesem roten Colancor und diesem lächerlichen Birett. Blind vor Stolz, dem Stolz einer Mutter, hatte sie die Warnungen Stry Wortlings in den Wind geschlagen und ebenso die ihrer Berater, die sie vor den eitlen Trugbildern Syracusas gewarnt hatten.

»Wenn diese Männer mit dir fertig sind, wirst du dem Volk auf dieselbe Weise präsentiert, die du so liebst: nämlich nackt. Und das in einem Käfig. Ein paar Tage später wird dir dann die Ehre zuteil, als Erste am Kreuz verbrennen zu dürfen. Ganz langsam. Auf diese Weise hast du Zeit genug, dein schändliches Tun zu bereuen und somit als Vorbild für dein Volk zu dienen.«

Dann wandte sich der Kardinal an den Scaythen und sagte: »Findet Ihr nicht, dass die öffentliche Bestrafung einer ranghohen Person eine ausgezeichnete Demonstration der Lehren unserer heiligen Kirche darstellt?«

»Gewiss, Eminenz«, stimmte der Kapuzenmann zu.

Mit emotionsloser Grausamkeit betrachtete der Kardinal den zitternden Körper Arminas auf dem Bett. Ihre Schönheit löste keinerlei Begehren in ihm aus. Allein die zarten Körper unschuldiger Kinder – o Kirche, sei dieser armen Seele, der Seele deines treuen Dieners gnädig! – erregten ihn derart, dass er seine strengen, selbst auferlegten Prinzipien vergaß. Ein solches Tun sei nicht verwerflich, rechtfertigte er sich, nur eine Belohnung für die schwere Bürde eines Mannes der Kirche, eine Linderung seiner bedrückenden Einsamkeit.

Er spürte die Präsenz des Scaythen in seinem Rücken und verdrängte schnell, wenn auch mühsam, diese flüchtigen, so angenehmen Gedanken.

»Meine Herren Pritiv-Söldner, ich autorisiere Sie, eine Standardstunde lang mit dieser Schlampe zu machen, was Sie wollen. Machen Sie mit ihr, was Ihnen gefällt. Aber dabei zu Tode kommen darf sie nicht.«

Dann schritt er betont würdevoll aus dem Schlafgemach, gefolgt von dem Scaythen.

 

Zwei Stunden später trieben die Pritiv-Söldner und die interplanetarischen Polizisten alle tausend Bediensteten des Runden Hauses im Ehrenhof zusammen. In einem Käfig auf einem Podest saß eine an Händen und Füßen gefesselte Frau. Ihre weiße Haut war mit blauen Flecken übersät; ihr Bauch und ihre Oberschenkel waren mit Blut, Urin und Exkrementen verschmiert.

Als die Diener erkannten, dass diese Frau Dame Armina war, reagierten sie mit Entsetzen. Sie waren schockiert. Zwar hatten sie die Witwe ihres verstorbenen Herrschers nie besonders geliebt, doch diese Zurschaustellung empörte sie zutiefst.

Es gab Bedienstete, die ihrer Empörung wütend Ausdruck verliehen. Diese Leute wurden sofort eliminiert. Die rotierenden Scheiben der Pritiv-Söldner schnitten ihnen die Köpfe ab, und die weißen Bodenplatten des Ehrenhofs färbten sich blutrot.

In der ersten Reihe stand der fünfzehnjährige Fracist Bogh, der Sohn einer der Wäscherinnen des Palasts. Er liebte Dame Armina, ja, er betete sie geradezu an, weil er ihr als einer der Spielgefährten Lists oft begegnet war. Deshalb wollte er seinem unmäßigen Hass gegen diese Fremden mit ihren Masken spontan Ausdruck verleihen. Er wurde jedoch von dem rüden Stoß eines neben ihm stehenden alten Dieners in die Rippen davon abgehalten.

Da überfiel ihn ein eiskaltes Rieseln. Vom Nacken aus breitete es sich über seine Wirbelsäule aus. Er drehte sich um. Eine seltsame Gestalt stand auf dem Balkon, von dem aus man den Ehrenhof überblicken konnte.

Obwohl Fracist die Augen des Kapuzenmanns nicht sehen konnte, wusste er, dass dieser Mann ihn im Visier hatte, mehr noch, mit seinem Blick durchdrang und erforschte. Er wusste, dass dieser schwarze Unheimliche auch ohne Augen in sein tiefstes Inneres eindrang, in das Geheimnis seiner Persönlichkeit, das des Schweigens. Dieser Mann entweihte seine Seele. Da überkam ihn eine entsetzliche Angst, und er weinte.

Ein in Purpur und Violett gekleideter Kreuzler betrat den gegenüberliegenden Balkon, der sich direkt über dem Käfig befand. Mit tönender Stimme hielt er eine hohle Rede, von der Fracist kein einziges Wort verstand, weil das Grauen ihn taub gemacht hatte.