SIEBZEHNTES KAPITEL

Nur das Freisein der Seele – kostbarster Schatz – ist Freiheit.
Denn sie erhebt uns alle Zeit
Zu unseres Schöpfers ewiger Herrlichkeit.
Einer zarten Blume gleicht sie, süß und schwer,
Und welkt dahin, wenn sie
Von heuchlerischen Worten frech betört
Der heiligen Wahrheit abschwört.
Die Freiheit der Seele ist das höchste Gut,
Ein ewiges Kleinod, das in uns ruht.
Doch wer ihr klares Wasser trübt,
Neid, Stolz hegt, Verrat und Rache übt,
Kennt weder Zuflucht, Heim noch Steg,
Verliert den rechten Lebensweg
Und irrt durch Raum und Zeit,
Das Herz voll Bitterkeit und Leid.

 

Deshalb, ihr Freunde, müsst ihr danach trachten,
Die Freiheit eurer Seele stets zu bewahren und zu achten.

 

Auszug aus einer Predigt der Kirche des Kreuzes, auf den Dünen der großen Wüste des Planeten Osgor gehalten.

Kleines Filmbuch, in der verbotenen Bibliothek des Bischofspalastes der Kirche des Kreuzes entdeckt.

 

Harkot, Pamynx’ ehemaliger Schüler und jetziger Experte, ließ die Kapuze seines purpurfarbenen Mantels langsam auf die Schultern gleiten und betrachtete sein Gesicht aufmerksam in dem spitzbogenförmigen Spiegel, der inmitten des mit irisierendem und parfümiertem Wasser gefüllten Bassins stand.

Sein Teint war von einem hässlichen Graugrün und seine Haut kam ihm im Gegensatz zu der der Menschen auf widerwärtige Weise rau, ja abstoßend vor. Die Form seines kahlen Schädels war nicht schöner: sein Kopf war von Furchen zerklüftet und mit Beulen übersät und er besaß eine vorspringende Stirn. Auch seine hervorquellenden, völlig schwarzen Augen weckten bei den Menschen keine Sympathien, insbesondere bei Frauen, da sie nie irgendeine Gefühlsregung verrieten. Alles in allem fanden sie ihn zutiefst abstoßend.

Harkot war kein geschlechtliches Wesen, sondern ein Scaythe, ein Keimling vom Planeten Hyponeros, der in einem Matrix-Bottich herangewachsen war. Die Meister-Creatoren hatten ihn Stück für Stück zusammengesetzt und ihn dann mit zehntausend anderen menschlichen Karikaturen auf die Planeten der bekannten Welten geschickt. Er gehörte zu jenen Wesen, die dem obskuren Eroberungsplan jener Gestirne am Rande der Milchstraße zugeordnet wurden. Allein Pamynx, der Scaythe mit dem höchsten Dienstrang, kannte alle Stufen dieses Plans.

Gefühle wie Zuneigung, Eifersucht, Neid oder Wut waren Harkot fremd – doch er gehorchte kollektiven, vom Hyponeriarchat beschlossenen Impulsen, die die Meister-Creatoren aussandten und die von Pamynx, ihrem Vorposten, weitergegeben wurden.

Doch Harkot litt unter seinem äußeren Erscheinungsbild, dem Abscheu, den er erregte, denn dieser Widerwille schuf unüberbrückbare Gräben zwischen ihm und den Syracusern. Natürlich hatte er darüber nie mit seinen Brüdern aus dem Matrix-Bottich gesprochen, weil sie für derartige Seelenzustände völlig unempfindlich waren. Denn sie besaßen keine Seele im menschlichen Sinn. Also ertrug er sein Leid, das sich manchmal in seiner inneren Stille zu einer wahren Qual auswuchs.

Funktionierten seine Synapsen nicht richtig? Oder waren seine Neurotransmitter gestört? Ein ganz gewöhnlicher Scaythe hätte sofort Pamynx informiert, der ihn umgehend auf Hyponeros zurückgeschickt hätte: Sein Körper wäre aufgelöst, sein Keimling eliminiert, untersucht und in einen neuen Körper injiziert worden.

Das monströse Aussehen Harkots – nur auf den bekannten Welten rief er diesen Eindruck hervor, auf anderen Welten war das vielleicht nicht so – war schuld daran, dass er von dieser oberflächlichen, höfischen Clique nicht anerkannt wurde. Und dieses Bedürfnis nach persönlicher Anerkennung war der Beweis, dass aus ihm ein atypischer Keimling, ein extravagantes und unkontrollierbares Wesen geworden war. Aber was spielte das schon für eine Rolle?

Harkot wollte, dass ihn diese Menschen, die sich auf schamlose Weise der Scaythen bedienten, um ihr Gehirn zu schützen oder die Gedanken anderer auszuforschen, an ihrem frivolen gesellschaftlichen Leben teilhaben ließen  – oder seine Rache (auch Rache war den Scaythen fremd) würde fürchterlich sein.

Denn dieselben ihn verachtenden Menschen mussten ihn von nun an aufs Äußerste fürchten. Sie wussten nicht, dass er über mentale Fähigkeiten verfügte, die anderen Scaythen nicht zu eigen waren. Und außerdem war er Pamynx’ Lieblingsschüler: Ihn hatte der Großkonnetabel mit den ersten Experimenten betraut, die zum mentalen Tod der Opfer geführt hatten. Er hatte den Seigneur Ranti Ang exekutiert und war nun zum Experten ernannt, und zum äußeren Zeichen war ihm feierlich der purpurfarbene Mantel übergeben worden. Die Menschen hatten keine Ahnung, wie bedeutend seine Stellung war, wenn sie ihm in einem der endlos langen Flure des neuen Kaiserpalastes begegneten und er sein Gesicht in der Kapuze seines Mantels verbarg, um nicht den Ekel in ihren Blicken sehen zu müssen.

Diese dummen und eitlen Hofschranzen hatten wiederum keine Ahnung, dass er nach Belieben ihre Spatzenhirne durchforschen konnte und dass die lächerlichen mentalen Sperren der Gedankenschützer für ihn nicht das geringste Problem darstellten. Hatte er sich zu ihren Gehirnen Zutritt verschafft, hätte ein winziger Impuls genügt, sie zu töten.

Doch Harkot hatte sich nicht damit zufrieden gegeben, ein hochbegabter Keimling zu bleiben. Den größten Teil seiner Freizeit, wenn er nicht für die Realisierung des Plans arbeiten musste, verbrachte er mit der Erforschung seines mentalen Potenzials und wagte sich in unerforschte Gebiete, die andere aus Furcht zu scheitern, unangetastet gelassen hätten. Auf diese Weise hatte er neue telepathische Wellen entwickelt, deren Frequenz so subtil war, dass sie selbst von seinen Brüdern nicht entdeckt werden konnten. Also bediente sich Harkot schamlos – Scham gehörte ebenfalls nicht zu den Eigenschaften der Scaythen – der Gehirne der Höflinge und experimentierte mit ihnen.

Die Würdenträger am Hofe Venicias glaubten sich ausnahmsweise vor Indiskretionen geschützt und hatten nicht die leiseste Ahnung, dass Harkot ihnen von Zeit zu Zeit insgeheim Besuche abstattete. Es bereitete ihm ein diebisches Vergnügen, ihre verborgenen Gedanken zu lesen, die sie hinter ihren undurchdringlichen Mienen versteckten. Er wusste fast alles über sie, was niemand hätte wissen dürfen.

Natürlich bedeuteten Harkots geheime Aktivitäten einen Bruch des Ehrencodes des Mentalen Schutzes, aber dieser Code war – wie die geniale Impulsion der Meister-Creatoren, Gedankenschützer zu etablieren – auch eine Anweisung vom Planeten Hyponeros, nichts als ein Täuschungsmanöver, um die Menschen in Sicherheit zu wiegen. Der Ehrencode war also ein rein fiktives Konstrukt, das er außer Acht lassen konnte.

Harkot faszinierten vor allem die verschlungenen Wege des menschlichen Geistes, diese außergewöhnliche Komplexität, die sie gleich Memodisketten voller Daten überlasteten oder unterforderten, oder die Art und Weise, wie sie sich je nach Gelegenheit öffentlich und auch privat gaben. Obwohl die Menschen allen anderen Kreaturen des bekannten Universums überlegen waren, nutzten sie nur einen Bruchteil ihres intellektuellen Potenzials und zogen es vor, ihre Sinne zu befriedigen und sich primitiven Vergnügungen hinzugeben, um sich nicht mit sich selbst auseinandersetzen zu müssen. Es wäre ein Kinderspiel, diese Spezies zu zerstören, überlegte Harkot. Nur zehntausend Scaythen beherrschten bereits jetzt einen großen Teil der Milchstraße. Zwar wusste er nicht genau, was die Meister-Creatoren planten, aber er nahm an, dass sie auf jedem Planeten Vorposten installieren und die Herrschaft der Scaythen ausdehnen würden. Jetzt, da er die Dinge aus persönlicher Sicht betrachtete, fragte er sich, welche Stellung für ihn in diesem Plan vorgesehen war. Er hatte keine Lust, zurückgerufen und mit anderen Keimlingen verschmolzen zu werden, sobald er seine Rolle gespielt hatte. Deshalb suchte er nach einem Weg, um das mentale Band zum Hyponeriarchat zu kappen, denn er wollte von nun an autark sein.

Im Laufe der Zeit war er tollkühn geworden und sogar widerrechtlich in die Köpfe der höchsten Würdenträger am Hof Menati Angs eingedrungen und das in Gegenwart Pamynx’, eines hochrangigen Scaythen, der trotzdem nicht in der Lage gewesen war, Harkots subtile investigative Wellen zu erkennen.

Von seinem Erfolg berauscht, war Harkot zu dem Schluss gelangt, dass nun nichts mehr seinen Aufstieg bremsen könne und dass er bald über das gesamte Universum herrschen werde. Kein Hindernis schien ihm jetzt noch unüberwindbar.

So hatte er sich an jenem Abend gefühlt. Der Kaiser hatte ihn zu sich befohlen, damit er eine Pro-forma-Erklärung wegen des mentalen Todes eines hochgestellten Höflings abgebe. Harkot hatte sich etwas gegönnt: Als Zeichen äußerster Kühnheit war er in das Gehirn seines, von vier erlesenen Gedankenhütern geschützten Herrschers eingedrungen. Das war eine Herausforderung, sowohl der Menschen als auch der Scaythen. Denn er war weder das eine noch das andere. Er war ein Mutant, das erste Exemplar einer neuen Spezies.

Mit einer geradezu genießerischen und perversen Langsamkeit hatte er seine Tentakel in die Windungen des Gehirns des Kaisers geschoben, doch die weißroten Kapuzenmänner, seine Matrix-Brüder, hatten nicht reagiert. Und der blau gekleidete Pamynx war ebenfalls regungslos geblieben.

Und was entdeckte Harkot, der unangreifbare flüchtige Eroberer – natürlich vergaß er während seines Ausforschens nicht, über Banalitäten zu plaudern – bei seiner mentalen Erkundung von Menati Angs Gehirn?

Maßloses Erstaunen ergreift den Mutanten, denn er erfährt Dinge, die gewiss bei Bekanntwerden den gesamten Hof in Aufruhr versetzen würden …

Als Erstes und allgegenwärtig ist der Körper von Dame Sibrit, der Witwe Seigneur Rantis – den er ermordet hat, welche Ironie des Schicksals! Der Kaiser ist derart von Dame Sibrit besessen, dass seine Begierde neurotische Züge annimmt. Scaythen kennen kein sexuelles Begehren noch verstehen sie, dass sich ein Herrscher – wenn auch ein illusorischer Herrscher – über Milliarden Menschen freiwillig in die Abhängigkeit von einem weiblichen Körper begeben kann. Er möchte Dame Sibrit gewalttätig besitzen, aber nur unter der Bedingung, dass sie seine Neigung teilt und er sie weder bedroht noch zwingt. Also muss er seine animalischen Gefühle verbergen, was ihm auch meistens dank mentaler Kontrolle gelingt, aber jeden Moment können sie in ihm wie die Lava eines aktiven Vulkans ausbrechen.

Dieser Schwachpunkt in Menati Angs Charakter beeindruckt Harkot zutiefst, und er sagt sich, dass er ihn für sich ausnutzen könne. Er vergleicht das Leiden des Kaisers mit dem seinen. Denn wie er, wird Menati Ang von allen verachtet. Dabei wünschen sich beide nichts sehnlicher als Anerkennung.

Die zweite Hauptbeschäftigung und Sorge Angs gilt dem Konnetabel Pamynx. Der Kaiser, der wie alle Menschen, unbewusst sein psychisches Potenzial nicht ausschöpft, misstraut Pamynx. Und dieses Misstrauen grenzt an eine Paranoia. Ohne die Machenschaften des Konnetabels zum Sturz der Konföderation wäre Menati nie an die Macht gelangt. Doch jetzt fürchtet er den skrupellosen Pamynx und hat Angst, der Scaythe könne ihn stürzen, so wie er seinen Bruder Ranti eliminiert hat. Und diese Angst treibt ihn dazu, insgeheim nach einem Mittel zu suchen, sich dieses allgegenwärtigen lästigen Schattens zu entledigen. Doch im Moment sind dem Kaiser die Hände gebunden, denn Pamynx würde sofort von jeder Intrige gegen ihn erfahren. Also ist der Kaiser nichts anderes als eine Marionette der Scaythen, genau das, was für die fünfte Stufe des Plans vorgesehen war.

»Wir haben unsere Unterredung beendet, aber Ihr könnt bleiben, Sieur Harkot«, sagt der Kaiser.

So wird er als interessierter Zuschauer Zeuge eines nicht enden wollenden Defilees aufgeblasener Hofschranzen, die einzig und allein um einen Empfang bei dem Herrscher betteln, damit sie in den Augen anderer Höflinge mehr Renommee gewinnen. Harkot amüsieren die wahren Gefühle, die sie Menati entgegenbringen: Hass, Neid, Missgunst, und wie sie auf kleinliche Weise berechnend taktieren, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Alle diese Gedanken bewegen sich hinter ihren lächelnden Masken wie ein Knäuel zischender Vipern – wie lächerlich doch diese berühmte autopsychische Selbstverteidigung ist, auf die die Syracuser so stolz sind!

Zwar findet der Herrscher seine Untertanen anmaßend, dumm und eitel, doch er verbirgt seinerseits seine Verachtung hinter einem süßlichen Lächeln. So funktioniert das Ego, denkt Harkot. Man legt innerhalb der Gesellschaft bestimmte Verhaltensweisen an den Tag, damit man maximal von ihnen profitieren kann.

Er hat ebenfalls Gelegenheit, Zeuge des wöchentlich stattfindenden Höflichkeitsbesuchs des Muffis zu sein, des Unfehlbaren Hirten der Kirche des Kreuzes. Die dreifache Persönlichkeit dieses Greises fasziniert ihn: sein schmales kantiges, in die Haube des weißen Colancors eingezwängtes Gesicht strahlt pure Scheinheiligkeit aus. Barrofill XXIV. weiß genau, dass sowohl Menati Ang als auch Pamynx ihn und seine Kirche mit ihren hierarchischen Strukturen brauchen, um diese furchtbare Tyrannei auszuüben. Und deswegen ist der Muffi eine Schlüsselfigur auf dem Schachbrett Menati Angs. Aber da der Geistliche keine Skrupel kennt, ist er nicht zimperlich, wenn er sein Ziel erreichen will – ein Ziel sehr persönlicher Natur. Dieses mit diplomatischem Geschick begabte Monster kultiviert die Kunst höfischer Etikette bis zur Perfektion, hüllt sich in den schützenden Mantel der Heiligkeit und legt bereits jetzt den Grundstein für seine Heiligsprechung, während er sich gleichzeitig den widerwärtigsten Ausschweifungen hingibt. Harkot bewundert die Virtuosität dieses Mannes, andere zu täuschen. Sogar Pamynx. Diese theatralische Bescheidenheit, diese Fistelstimme, dieser asketische Körper, diese kleinen dunklen und funkelnden Augen, diese sorgsam inszenierte Zurschaustellung, nichts anderes als das Wohl der Kirche im Sinn zu haben, das umgibt ihn wie ein Priestergewand – nur Schein, nicht Sein. Denn in der Nachwelt will er fortleben, das ist sein Ziel. Antrieb seines Handelns aber ist die Gier nach Macht und nach Befriedigung seiner Lüste …

 

Die ganze Woche nach jenem lehrreichen Abend zwang sich Harkot, der Experte und mentale Terminator, alle mentalen Mitteilungen zwischen Pamynx und dessen verschiedenen Informanten abzuhören. Auf diese Weise erfuhr er sehr interessante Dinge, unter anderem, dass Menati Ang und der Konnetabel ein Komplott gegen den Muffi schmiedeten. Sie hatten beschlossen, den unnachgiebigen Barrofill XXIV. zu eliminieren und ihn durch einen willfährigeren Kardinal zu ersetzen, eine Marionette, die sie nach Belieben manipulieren konnten. Sie hatten bereits insgeheim Kontakt zu mehreren Kardinälen aufgenommen, sie durch Bestechung gewonnen und sich ihrer Unterstützung während der zu erwartenden Turbulenzen nach dem Ableben des Kirchenfürsten versichert. Sie hatten ebenfalls beschlossen, dass Pamynx den Gedankenschützern des Unfehlbaren Hirten befehle, ihren Eid zu brechen und dass ein Scaythe den Muffi in seinen Gemächern in den Tod befördern solle. Sein plötzliches Ableben werde man durch eine plötzliche tödliche Krankheit  – wie schon bei Ranti Ang – erklären. Und natürlich werde man Harkot, den Experten, mit dieser Drecksarbeit beauftragen.

Aber Harkot hatte sofort begriffen, welchen Vorteil er aus dieser Situation ziehen konnte. Ohne auf Pamynx’ Vorladung zu warten, war er sofort zum bischöflichen Palast geeilt, zu Fuß und über verschlungene Gassen, ein purpurfarbener Schatten in der von drei nächtlichen Gestirnen erhellten Nacht.

Seine Schwierigkeiten hatten vor dem Portal des Palastes begonnen. Es wurde von den ganz in Schwarz gekleideten Vikaren bewacht, den Fundamentalisten der Kirche des Kreuzes.

Die erste Bedingung zur Aufnahme in dieses Elitecorps bestand darin, dass sich der Aspirant freiwillig während einer feierlichen Zeremonie kastrieren ließ. Seine Sexualorgane wurden hinterher in eine Luftkugel eingeschlossen und in einem Saal, die Gruft der Kastrierten genannt, ausgestellt. Um die Vikare lächerlich zu machen, nannten die anderen Mitglieder der Geistlichkeit sie die Eunuchen des Großen Schafstalls, aber sie fürchteten sie wie die atomare Pest, denn die Vikare gehörten zum inneren Zirkel des Muffis und nahmen eine bedeutende Stellung innerhalb der Kirchenhierarchie ein.

Harkot war zuerst von einem jungen Vikar mit blaurotem Gesicht und starrem Blick empfangen worden, der ihn mit stupiden Fragen bombardiert und stundenlang in einem düsteren Wartezimmer hatte schmoren lassen. Schließlich war ein anderer aufgetaucht, doch nur um ihm mitzuteilen, dass er heute Abend nicht empfangen werden könne. Wolle man eine Audienz, müsse man dieses Begehren Monate vorher einreichen.

»Der Muffi ist mit Arbeit überlastet, Sieur! Seine Zeit ist kostbar. Das Prozedere ist wie folgt: Ihr tragt Euch in eine Warteliste ein, und dann kann Euch vielleicht einer der Sekretäre Seiner Unfehlbaren Heiligkeit empfangen.«

Nur mühsam hatte Harkot der Versuchung widerstanden, seinen arroganten Gesprächspartner zu töten, stattdessen erklärte er ihm in ruhigem Ton, dass er eine überaus wichtige Information für den Muffi habe, die er ihm nur persönlich mitteilen könne und die für den Status der Kirche von großer Bedeutung sei. Und dass der Vikar es bitter bereuen werde, sollte er ihm nicht helfen. Der Vikar hatte wieder nach Ausflüchten gesucht, aber Harkot hatte einen solchen Krach geschlagen, dass eine dieser anderen tristen schwarzen Kerle – wohl ein Vorgesetzter – aus dem Schlaf gerissen wurde und missgelaunt gefragt hatte, was der Lärm zu bedeuten habe.

Als man dem Eunuchen erklärte, ein Scaythe wünsche in seiner Naivität Seine Heiligkeit um diese nächtliche Stunde zu sprechen, hatte der Vorgesetzte grausam gelächelt.

»Unmöglich! Unmöglich!«, hatte er mit seltsam hoher Stimme erklärt. »Ein anderes Mal! Ein anderes Mal! Sucht um eine Audienz nach! Eine Audienz!«

Die Vikare hatten den mentalen Terminator mit bösen Blicken bombardiert, ohne auch nur eine Sekunde zu ahnen, dass ihr Starrsinn sie in tödliche Gefahr brachte. Denn Harkot war mit seiner Geduld am Ende und wollte grade seine fürchterlichen Fähigkeiten einsetzen, als das Erscheinen eines Kardinals in Purpur, von seinen zwei Gedankenschützern begleitet, sie vor dem sicheren Tod rettete.

»Was ist hier los?«, hatte Kardinal Frajius Molanaliphül getönt, ein selbstgefälliger feister Mann, die graue Eminenz und der Intimfreund des Muffis. Die Vertrautheit ging so weit, dass er dem Unfehlbaren Hirten die unschuldigen Opfer zur Befriedigung seiner pädophilen Gelüste lieferte – das hatte Harkot anlässlich eines Empfangs am Hof im Kopf des Kardinals gelesen.

Frajius Molanaliphül hatte außerdem entscheidend mit zu der Ermordung Ranti Angs beigetragen. Deshalb erkannte er jetzt den mentalen Terminator, obwohl dessen Gesicht unter der Kapuze verborgen war.

»Ich kümmere mich um den Mann!«, hatte er den Vikaren erklärt. »Und übernehme persönlich die Verantwortung dafür.«

Die schwarzen geschwätzigen Vikare hatten sich enttäuscht zurückgezogen und wieder ihren stupiden Verwaltungsaufgaben zugewandt, worauf Harkot dem Kardinal eine vage, weitschweifige Erklärung zur Rechtfertigung seiner Anwesenheit zu so später Stunde im bischöflichen Palast gegeben hatte. Doch seine hohlen Worte hatten Seine Eminenz überzeugt. Er versprach dem Scaythen, ihn in seinem Anliegen zu unterstützen – natürlich im Interesse der Kirche –, was auch stimmte, wie Harkot trotz der Gedankenschützer des Kardinals sofort feststellte.

Dann wurde er durch ein Labyrinth dunkler Flure in einen kleinen hellen Raum mit einem wunderschönen Bassin und dem davorstehenden Wasserspiegel geführt, wo man ihn bat, zu warten.

Zwei Stunden vergingen. Harkot zog sich tief die Kapuze in die Stirn, er konnte den Anblick seines Gesichts in den irisierenden Tropfen des Spiegels nicht mehr ertragen.

Obwohl er ein paar Asse im Ärmel hatte, war sein Spiel noch nicht gewonnen. Er musste geschickt taktieren. Der Muffi ließ sich nicht leicht bluffen. Aber wenn sich alles wie vorgesehen entwickelte, würde er – Harkot – endlich die ihm gebührende Wertschätzung erfahren, und sich an den Menschen, die ihn bisher gedemütigt und verachtet hatten, rächen können. Schon jetzt freute er sich über diese Kehrtwende, er stellte sich ihre entsetzten Gesichter vor und wie sie einer nach dem anderen angekrochen kommen würden, um sich ihm zu Füßen zu werfen.

Die einzige große Unbekannte in diesem Spiel war die Reaktion der Meister-Creatoren. Würde das Hyponeriarchat versuchen, ihn zu eliminieren? Und wenn ja, auf welche Weise? Durch einen Impuls oder durch Auflösen?

Harkot entdeckte die Anwesenheit Barrofills XXIV. eine ganze Weile bevor der Muffi den Raum betrat. Der Unfehlbare Hirte beobachtete ihn mit seinen kleinen Wieselaugen durch einen Spion, um sich persönlich der Identität seines nächtlichen Besuchers zu vergewissern.

Der mentale Terminator war also nicht überrascht, Seiner  – in einen flaschengrünen Colancor und goldfarbenen mit Optaliumsteinen besetzten Morgenrock gekleideten Heiligkeit plötzlich gegenüberzustehen. Der Greis verbarg seine üble Laune nicht, denn man hatte ihn bei seinen unmoralischen nächtlichen Aktivitäten gestört. Und trotz der unnützen Barrieren der Gedankenschützer, die sich in einem Nachbarzimmer aufhielten, war Harkot in das Gehirn des Muffis eingedrungen und hatte dort die zarten und parfümierten nackten Körper der Knaben und Mädchen entdeckt, die das Episkopat zu Fantasiepreisen auf dem Schwarzmarkt gekauft hatte. Bei Morgengrauen erwartete diese Kinder ein furchtbares Schicksal: Denn wenn sie die Wollust des Pontifex’ befriedigt hatten, wurden sie gefährlich, weil diese unschuldigen Wesen dann von seinen geheimen Lüsten am eigenen Leib erfahren hatten. Außerdem konnten die Mediziner des bischöflichen Palastes ihre Organe, ihre Haare und ihr Rückenmark für Verjüngungskuren verwenden.

Harkot erkannte außerdem, dass der Unfehlbare Hirte außerordentlich misstrauisch war. Er hatte diesen ungelegenen Besucher nur empfangen, weil er geradezu krankhaft neugierig war und wissen wollte, was für eine neue Falle man ihm stellte. Harkots Plan aber setzte gerade bei diesem an Paranoia grenzenden Argwohn an.

Der Muffi hingegen gaukelte ihm vor, ihn allein, ohne Gedankenschützer zu empfangen. Dieser Taktik bediente er sich immer, um die Wachsamkeit seiner Besucher einzulullen und seinen Gedankenschützern die Arbeit zu erleichtern; ein Prozedere, über das sich Harkot köstlich amüsierte.

Offensichtlich hatte der Unfehlbare Hirte nicht genügend Zeit gehabt, um sich wie üblich für eine Audienz herauszuputzen; sein Aussehen konnte er nicht beschönigen. Seine schlaffe, von Altersflecken übersäte Haut war von tiefen Falten durchzogen, und die Tränensäcke unter seinen stechenden kleinen Augen verrieten ein nahezu biblisches Alter.

Jetzt richtete er seine Augen auf den mentalen Terminator. Harkot nahm keinen Anstoß daran, war er doch überzeugt, dass das Oberhaupt der Kirche des Kreuzes ihn nach dieser Unterredung mit ganz anderen Augen betrachten würde.

»Wer seid Ihr, und was wollt Ihr?«, fragte der Muffi unhöflich, aber doch begierig zu erfahren, aus welchem Grund dieser Mann ihn aufsuchte.

»Ich bin Harkot, ein Scaythe vom Planeten Hyponeros, ein mentaler Terminator, der zum Experten ernannt wurde, Eure Heiligkeit«, antwortet sein Gegenüber kühl und gelassen, in einem dunklen, metallisch klingenden Timbre, das einen starken Kontrast zu der kindlich hohen Stimme des Muffis bildete.

Barrofill XXIV. umrundete das Bassin und stellte sich vor den Scaythen. »Ach, wie schön! Noch befinden wir uns ja auf einem uns beiden wohlbekannten Terrain! Wie könnte ich nicht – jedenfalls dem Renommee nach – jenen Mann kennen, der auf derart effiziente Weise Ranti Ang hingerichtet hat? Eure Kollegen halten Euch für hochbegabt, sehr vielversprechend, Sieur Experte. Den ersten Teil meiner Frage habt Ihr zufriedenstellend beantwortet. Nun müsst Ihr mir nur noch verraten, warum Ihr mich aufgesucht habt. Hat Euch der Kaiser geschickt? Oder der Konnetabel? Sprecht. Ich bitte Euch, sprecht ohne Vorbehalt. Weder Ihr noch ich haben Zeit genug, sie mit überflüssigem Geplänkel zu vergeuden …«

»Ich bin ganz Eurer Meinung, Eure Heiligkeit«, entgegnete Harkot. »Doch weder der Kaiser noch der Konnetabel haben mich geschickt, wenn Ihr das auch zu glauben scheint. Mein Entschluss, bei Euch vorzusprechen, ist rein persönlicher Natur. Nur zufällig habe ich … sagen wir, auf indiskrete Weise eine Unterredung belauscht, die Euch besonders am Herzen liegen muss, da sie Euch betrifft. Eine Unterredung, die auf höchster Ebene stattfand …«

Barrofill XXIV. brach in schallendes Gelächter aus. »Gütiger Himmel! Ein Enthüllung von größter Bedeutung!«

Dann setzte er sich vorsichtig auf den Rand des Rundbeckens und kicherte, ein schrilles Kichern, das an dem Nervensystem des Scaythen sägte.

»Also habt Ihr Euren Treueeid gegenüber dem Konnetabel gebrochen, und Ihr habt die Kühnheit besessen, in aller Eile halb Venicia zu durchqueren, Euch mit den Vikaren zu streiten und das allein um mir mitzuteilen, dass sich diese Herren in ungebührlicher Form über meine Wenigkeit geäußert haben? Das nächste Mal, werter Experte, bittet besser vorher die Kirche des Kreuzes um Erleuchtung! Ich fürchte, Ihr habt Euch viel Mühe ganz umsonst gemacht, denn schon seit Jahren werde ich verleumdet. Ohne dass ich dabei zu Schaden käme, wie Ihr selbst seht. Ich habe mir längst angewöhnt, diesem leeren Gerede, das diese dummen Klatschmäuler von sich geben, keinen Glauben zu schenken. Ach, mein guter Sieur Harkot, diese Mühe hättet Ihr Euch wahrlich ersparen können und mir ebenso.«

Diese betont herzliche und gleichzeitig bissige Tirade kaschierte die Besorgnis des Muffis. In seinem rechten Ohr klebte ein winziges, mit seinen Gedankenlesern verbundenes Mikrofon, über das er sofort alle im Kopf des Besuchers eingefangenen Gedanken erfahren sollte. Aber im Moment hörte er nichts anderes als den Atem seiner Gedankenleser. Das Terrain war also noch nicht markiert, und er musste Zeit gewinnen. Harkot unterdrückte das Verlangen, den Greis zu züchtigen. Jetzt brauchte er ihn noch, aber später würde er es ihm heimzahlen.

»Gewiss, Eure Heiligkeit!«, fuhr er gelassen fort, »ist es nicht das erste Mal, dass Ihr die Zielscheibe übler Verleumdungen seid, und ich hätte mir nie erlaubt, Euch wegen solcher Lappalien zu stören. Es wäre mir unerträglich, würdet Ihr mich weiterhin als einen Dummkopf betrachten … Tatsächlich liegt es jedoch durchaus im Bereich des Möglichen, dass diese Verleumdungen auf negative Resonanz stoßen: So haben sich der Kaiser und der Konnetabel während ihrer Unterredung dahingehend geäußert … und das taten sie auf sehr überzeugende Weise –, dass … nun, über Euren Tod, Eure Heiligkeit … Ja, über Euren Tod …«

Harkot schwieg und beobachtete die Wirkung seiner Worte auf den Unfehlbaren Hirten. Er bewunderte die mentale Kontrolle des Mannes. Bei ihm war sie effizient. Seine Gesichtszüge blieben völlig unbeweglich, während sich in seinem Kopf die düsteren Gedanken nur so überschlugen … Und die Gedankenleser manifestierten sich immer noch nicht, weil sie außerstande waren, die wahren Absichten des Besuchers zu erkennen. Das Mikrofon blieb stumm. Der mental abgeschirmte Harkot kostete das momentane Chaos im Kopf des Greises genießerisch aus.

»Sie wollen mich töten? Mich töten?«, wiederholte der Muffi. »Aber welches Interesse hätten sie daran, Sieur Experte? Ihr habt sie wahrscheinlich missverstanden …«

»Nein«, erklärte der Scaythe bestimmt.

»Aber wie seid Ihr zu dieser Information gekommen? Wie habt Ihr es erfahren? Und versucht mir nicht weiszumachen, dass der Kaiser und der Konnetabel eine solche Unterredung geführt haben, ohne zuvor ein Höchstmaß an Vorsichtsmaßnahmen getroffen zu haben!«, sagte der Muffi, gleichzeitig ängstlich und verärgert. Sein Ton hatte jede Arroganz verloren.

»Ich weiß es. Das ist alles«, erklärte Harkot, der sich bewusst geheimnisvoll gab. »Ich weiß auch, dass der mentale Terminator derselbe sein soll, wie derjenige, der bereits Ranti Ang exekutiert hat. Das heißt, ich selbst. Daran kann man nichts ändern, meine Dienste sind sehr begehrt, denn ich bin der einzige Experte in Venicia … Und glaubt Euch nicht vor allem Unbill durch Eure Gedankenhüter geschützt, Eure Heiligkeit. Denkt nur daran, dass sich der Seigneur Ranti Ang auch für unantastbar hielt … Sollte Pamynx ihnen befehlen, Euch nicht mehr zu schützen, werden sie das ohne Zögern tun«, sagte Harkot, und hütete sich, dem Muffi zu erklären, dass die Gedankenschützer längst kein Hindernis mehr für ihn darstellten.

»Und was Eure Garde betrifft, diese kastrierten Vikare, sollten diese Eunuchen auf den lächerlichen Gedanken kommen, auch nur den geringsten Widerstand zu leisten, würden sie sofort von den Pritiv-Mördern ausgelöscht. Außerden sind schon etliche Kardinäle in diesen Plan eingeweiht, denn sie sollen Eure Nachfolge vorbereiten. Den Gläubigen wird man erklären, Ihr seid von einer plötzlich aufgetretenen heftigen Krankheit dahingerafft worden. Ihr wisst so gut wie ich, dass der mentale Tod keine Spuren hinterlässt.«

Harkot entging während des Redens nicht, mit welch übergroßer Willensanstrengung der Muffi versuchte, die Kontrolle über sich wiederzugewinnen und wie er verzweifelt überlegte, wie er diese neue Situation am besten zu seinen Gunsten nutzen könne. Das Ego trieb ihn dazu an, dieses menschliche Bedürfnis, sich als einzigartig zu betrachten und komme was da wolle, an der Macht zu bleiben.

»Ihr scheint Euch sehr sicher zu sein, Sieur Experte. Eine solche Entwicklung habe ich bereits vorhergesehen, denn Ihr müsst wissen, dass mir die Mechanismen der menschlichen Natur recht geläufig sind. Und solltet Ihr recht haben, so habe ich schon eine adäquate Antwort auf eine derartige Attacke parat …«

Barrofill XXIV. erhob sich und tippelte mit nervösen Schritten in dem Zimmer hin und her. Er hatte sehr viel Überzeugungskraft in seine Worte gelegt, aber Harkot wusste, dass der Muffi nie mit einer derartigen Möglichkeit gerechnet hatte. In seiner Hybris hatte er sich immer als unangreifbar betrachtet und geglaubt, dass nichts und niemand seiner Kontrolle entgehen könne und dass die herausragende Stellung und das Gewicht der Kirche innerhalb des Staatsgefüges ihn vor jeder Palastintrige schütze. Trotzdem kämpfte er jetzt instinktiv und von einem ungeheuren Überlebenswillen beseelt mit einem ihm allmählich unheimlich werdenden Scaythen, dessen eigentliche Absichten er noch immer nicht durchschaute.

Doch das längere Schweigen nach seiner Rede war bereits ein Geständnis seiner Ohnmacht.

»Eure Heiligkeit«, sagte Harkot schließlich, »bedenkt, dass in der Vergangenheit geleistete Dienste nicht mehr zählen, wenn sie gegenwärtigen Interessen als kontraproduktiv erscheinen. Wenn eine Person zwei anderen Personen im Wege steht, verbünden sie sich normalerweise und beschließen, diese Person zu eliminieren, um sie durch eine gefügigere zu ersetzen. Die Kirche des Kreuzes stellt einen erheblichen Machtfaktor innerhalb des neuen Imperiums dar, über den man natürlich ohne Einschränkungen verfügen will …«

»In wessen Namen sollte ich Euch glauben, Sieur Harkot? Vielleicht wollt Ihr mir genau das antun, was Ihr von dem Konnetabel behauptet? Seid Ihr vielleicht geschickt worden, um mich auszuspionieren?«, fragte der Muffi, obwohl er intuitiv wusste, dass die Informationen des Scaythen stimmten. Da er von seinen Gedankenlesern keine Unterstützung mehr zu erwarten hatte, versuchte er selbst, das Terrain zu erforschen.

»Sollte das der Fall sein, Eure Heiligkeit, hätte ich Mittel und Wege gefunden, Euer Misstrauen zu zerstreuen. Also müsst Ihr mir glauben. Das alles ist nichts als die reine Wahrheit.«

»Gut. Betrachten wir Eure Hypothese also als wahr. Und weil Ihr glaubt, diese Wahrheit laut herausschreien zu müssen, verratet mir doch, welches persönliche Interesse Ihr an diesen Vorgängen habt, Sieur Experte! Denn offensichtlich wollt Ihr doch einen Vorteil aus Eurem nächtlichen Besuch ziehen, nicht wahr? Oder seid Ihr etwa nur gekommen, mir eine stützende Hand zu reichen?«

Der Scaythe antwortete nicht sofort. Er überlegte und wählte seine Worte sorgfältig.

»Bei mehreren Gelegenheiten fiel mir bereits auf, dass der Konnetabel Pamynx nicht über die geistigen Fähigkeiten verfügt, das Imperium kompetent zu leiten. Noch existieren im Untergrund operierende Netzwerke, die, sollten wir sie nicht zerschlagen, in der Lage wären, die Basis dieses neuen Reiches zu zerstören, ehe wir Zeit hätten, es zu etablieren. Daraus müssen wir Konsequenzen ziehen und schnell handeln, um diesen Zustand in den Griff zu bekommen, sonst wird der Konnetabel uns alle ins Verderben führen. Ihr seid nicht der Erste auf dieser Liste, Eure Heiligkeit …«

»Auf welchem Weg habt Ihr diese Erkenntnisse gewonnen?«, fragte der Muffi skeptisch. »Verfügt Ihr etwa über ein Netzwerk?«, fügte er, mit plötzlich aufgebrachter Stimme, hinzu.

»Der Konnetabel hat manchmal äußerst fahrlässig gehandelt«, antwortete Harkot ruhig.

Diese plötzlichen Wutanfälle beeindruckten ihn keineswegs, umso weniger, weil er jede Reaktion des Kirchenmannes voraussah, während sein Gegner im Dunkeln tappte.

»Diese Nachlässigkeit versetzte mich in die Lage, Dinge aufzudecken, die ich niemals hätte erfahren dürfen … Jenen Plan zum Beispiel, Euch betreffend …«

»Und der Kaiser?«

»Der Kaiser? Er wartet nur auf eine Gelegenheit, sich Pamynx’ zu entledigen. Er lebt in ständiger Furcht vor dem mächtigen Konnetabel, vor einem Verrat. Es würde genügen, könnte jemand Dame Sibrit, die Witwe seines Bruders dazu zu bewegen, mit ihm das Bett zu teilen, dann würde der Kaiser ihn als Freund betrachten.«

Die Hände hinter seinem gekrümmten Rücken verschränkt, pflanzte sich der Muffi vor Harkot auf. Er erforschte mit seinem durchdringenden Blick die tiefschwarzen undurchsichtigen Augen seines Gesprächspartners.

»Ich frage Euch noch einmal, Sieur Harkot, welche widerwärtigen Indiskretionen habt Ihr begangen, um das alles in Erfahrung zu bringen?«

»Und ich wiederhole, es spielt keine Rolle, Eure Heiligkeit. Allein zählt, dass ich Euch diese Informationen zur Verfügung stelle. Es ist nun an Euch, davon Gebrauch zu machen. Zu Eurem Wohle, wie ich hoffe. Natürlich könnt Ihr diesen Rat auch ausschlagen, doch dann werdet Ihr bald ein toter Mann sein, und die Kirche des Kreuzes wird in Hände gegeben, die unfähig sind, Euer Erbe zu bewahren. Das müsst Ihr mir glauben.«

»Euch glauben?«, schimpfte der Muffi. »Euch zu glauben, ist nicht leicht, ja schier unmöglich, Sieur Harkot! Ihr weckt mich aus tiefem Schlaf, um mir eiskalt meine baldige Ermordung zu verkünden. Ich soll von meinen engsten Verbündeten aufs Schafott geschickt werden; dem einen habe ich geholfen, den Thron zu besteigen, und den anderen habe ich bei den Regierungsgeschäften fast bedingungslos unterstützt. Wir drei sind durch den Erfolg aufs Innigste verbunden … Und Eure Rede scheint mir eine Falle zu sein, vor der Ihr mich angeblich warnt. Wahrscheinlich seid Ihr der Abgesandte hoher Würdenträger, die hinter den Kulissen agieren, mächtige Höflinge, wie der zu Ausschweifungen neigende verstorbene Tist d’Argolon oder eine Clique intriganter Kardinäle. Eine ganze Reihe dieser Herrschaften ist bestrebt, mich vom Thron des Pontifex maximus zu stoßen … Deshalb fordere ich Euch jetzt auf, Sieur Experte, mir die Wahrheit zu sagen und nicht Eure Wahrheit.«

Zwar kannte der Muffi diese Wahrheit schon, doch weil seine Gedankenleser schwiegen, brauchte er einen unwiderlegbaren Beweis für Harkots Behauptungen. Obwohl der mentale Terminator geglaubt hatte, nicht so weit gehen zu müssen, entschloss er sich, einen Teil seiner Geheimnisse preiszugeben, denn einen Weg zurück gab es nicht mehr.

 

»Da Ihr meinen Worten nur wenig Glauben schenkt, Eure Heiligkeit, gebe ich Euch ein kleines Beispiel meiner … meiner indiskreten Aktionen. Hinter jener Tür …« Er deutete auf die Wasserschiebetür, durch die der Muffi den Raum betreten hatte » … habt ihr vier Gedankenhüter und zwei Gedankenleser positioniert. Die einen sollen Eure Gedanken schützen, die anderen versuchen, die meinen zu lesen. Aber das kleine Mikrofon in Eurem rechten Ohr bleibt zu Eurem Erstaunen stumm. Und solltet Ihr überzeugt sein, dass Eure mentalen Schutzschilder in der Lage sind, jede … Indiskretion zu verhindern, täuscht Ihr Euch gewaltig. Mein Eindringen hat Euch vor wenigen Minuten darin unterbrochen, Euch den erotischen Spielen mit Kindern hinzugeben, denen vorher Drogen verabreicht wurden. Trotz Eures Ärgers über diese Unterbrechung hat Euch der Kardinal Frajius Molanaliphül überzeugt, mich zu empfangen, denn er fürchtete eine Falle, deren Urheber nur Ihr allein mit Hilfe Eurer versteckten Inquisitoren aufzuspüren in der Lage wärt. Ihr wart also gegen Euren Willen gezwungen, diese Kinder vorzeitig den Medizinern des Palastes zu überlassen, damit die Ärze deren Organe entnehmen und für Verjüngungskuren benutzen können. Das alles erklärte Eure fortwährende Gereiztheit mir gegenüber. Doch seid ohne Sorge, Eure Heiligkeit, es ist nicht an mir, über Euch zu richten. Ich bin ein Scaythe, ein geschlechtsloses Wesen. Ich habe keinen Penis, und mir ist es vollkommen gleichgültig, wenn Ihr Euch der tyrannischen Herrschaft des Euren beugt. Ich habe auch kein Interesse daran, diesbezügliche Gerüchte in der Öffentlichkeit zu verbreiten. Wie Ihr feststellen könnt, Eure Heiligkeit, habe ich meine Karten auf den Tisch gelegt. Seid Ihr jetzt überzeugt?«

Der Muffi war derart bestürzt, dass er eine ganze Weile unter Schock stand. Blankes Entsetzen ergriff ihn. Das Blut in seinen Adern, die bläulich unter seiner fleckigen Haut hervortraten, gefror. Unter Aufbietung aller seiner Kräfte gelang es ihm, etwas Ordnung in seinen desaströsen Gemütszustand zu bringen.

»Aber was … was … was bedeutet das?«, stammelte er, von Panikattacken ergriffen. Seine mentalen Schutzmechanismen, die er bisher für undurchdringbar gehalten hatte, hatten versagt. Er hatte sich bisher immer absolut sicher geglaubt und sah sich jetzt unerwartet einer neuen Situation gegenüber, auf die er nicht vorbereitet war. Seine Gedankenschützer konnten ihn vor dem mentalen Terminator, der in seinem Purpur vor ihm stand, nicht schützen. Seine Beschützer, diese mentalen Krücken, waren obsolet, und schlimmer noch, dass nun der Schleier über sein geheimes Laster gelüftet worden war, erfüllte ihn mit grenzenlosem Entsetzen.

Er hatte noch die Kraft zu murmeln: »Aber der … der Ehrencode des Mentalen Schutzes?«

»Richtet Ihr Euch immer nach den Regeln des Codes, wenn Ihr Besucher empfangt?«, fragte Harkot, nicht ohne Süffisanz in der Stimme. Er war außerordentlich zufrieden damit, welche Wendung die Unterredung genommen hatte.

Der innere Aufruhr und der Schrecken des Muffis waren nur ein leiser Vorgeschmack auf die Revanche an den Syracusern. Er ließ dem Pontifex etwas Zeit sich zu fassen, ehe er fortfuhr: »Die Entscheidung duldet keinen Aufschub, Eure Heiligkeit. In zwei Tagen wird eine Armee aus mentalen Terminatoren und Pritiv-Söldnern mittels beschlagnahmter Deremats auf den Planeten Selp Dik geschickt. Dort sollen sie zur letzten Schlacht gegen den Orden der Absolution antreten. Nach dieser Schlacht hat der Konnetabel alle Zeit der Welt, seine Drohung in die Tat umzusetzen. Doch ich brauche Euch, Eure Heiligkeit. Profitiert von den Umständen, denn wir werden in eine neue Ära der Evolution eintreten, während der Konnetabel Pamynx Stillstand bedeutet. Sich mit ihm zu verbünden, heißt, sich mit dem Tod zu verbünden.«

»Was … was erwartet Ihr von mir, Sieur Harkot?«, fragte der Muffi, plötzlich voller Respekt.

Er kämpfte mit aller Kraft gegen die Gedankenströme in seinem Gehirn an. Schon bastelte er an einem Plan, um die in Purpur gekleidete Gestalt eliminieren zu können.

»Dass Ihr überlegt, wie ich zu Tode kommen könnte, ist eine ganz normale Reaktion«, sagte der Scaythe ruhig. Er genoss es, mit dem Greis zu spielen, war es doch ein Beweis für seine überragenden mentalen Fähigkeiten.

»Ich bin wie ein Berg, der sich nachts aus einer Ebene erhoben hat«, fuhr er in seiner Rede fort. »Die erste Reaktion ist unweigerlich, das Ungewohnte zu beseitigen, damit der freie Blick in die Weite nicht gestört wird. Deshalb bitte ich Euch, unterdrückt Eure spontanen Gedanken nicht, Eure Heiligkeit. Mich stören sie nicht … Was ich von Euch erwarte, ist Unterstützung. Wir schließen einen Pakt, wir, die wir von nun an die Pfeiler des Imperiums sind: Ihr, weil Ihr an der Spitze einer fantastischen Organisation steht, und weil Ihr bis ins kleinste Detail wisst, wie sie funktioniert. Und ich, weil ich der Meister der okkulten Macht bin, einer Kraft, die in der Stille, an den Grenzen des Geistigen wohnt. Es wird uns ein Leichtes sein, den Kaiser nach Belieben zu manipulieren, wenn wir folgenderweise vorgehen: Erstens müssen wir ihm Dame Sibrit zuführen und zweitens, ihn von Pamynx befreien. Dann wird er uns gern die Macht überlassen. Die Pritiv-Söldner und die Interlice sind eine berechenbare Größe, sie werden schnell Vernunft annehmen, denn sie sind nur Befehlsempfänger. Es ist ihnen gleich, wer sie kommandiert. Doch vielleicht wolltet Ihr nur so tun, als würdet Ihr meinen Plan akzeptieren und sobald ich gegangen bin, lauft Ihr zum Kaiser und berichtet ihm und dem Konnetabel von unserem kleinen Zwiegespräch …«

Der Pontifex zitterte, denn genau das hatte er vorgehabt. Er hatte vollständig vergessen, über welche Fähigkeiten sein Besucher verfügte. Jetzt begriff er, dass er sein mentales Verhalten radikal ändern musste. Denn der Purpurträger erwies sich als ein viel gefährlicherer Gegner als der Konnetabel Pamynx, dessen Schwächen er inzwischen kannte. Im Moment blieb ihm also nichts anderes übrig, als mit Harkot zusammenzuarbeiten, wenn auch nur, um Zeit zu gewinnen. Er musste jetzt in Ruhe nachdenken.

»Das alles erwarte ich von Euch«, sagte der Scaythe, der natürlich die Gedanken Barrofills XXIV. gelesen hatte. »Eine vorübergehende Allianz erlaubt Euch, am Leben zu bleiben und mir, dank Eurer Unterstützung, die Macht zu ergreifen. Es ist natürlich in unserem Interesse, dass nichts, was hier gesprochen wurde, nach außen dringt. Kein einziges Wort. Nicht einmal zu dem Euch ergebenen Frajius Molanaliphül. Bis zum Ende des Krieges gegen die Ritter der Absolution, an dem auch ich teilnehmen muss, bleibt diese Unterredung geheim.«

»Und wenn Ihr dem Orden unterlegen sein solltet?«, murmelte der Muffi.

»Das ist ausgeschlossen, Eure Heiligkeit. Diesen Krieg hat der Konnetabel sehr gut vorbereitet. Der Orden besteht nur noch aus hirnlosen Skeletten. Ein Hauch genügt, und er fällt der ewigen Vergessenheit anheim. Aber der Orden ist nicht mehr der eigentliche Feind des Imperiums.«

»Ach? Und wer soll es dann sein?«, fragte der Muffi mit tonloser Stimme.

»Unsere wahren Gegner verbergen sich in subtileren Regionen als in jenen, wo der Orden beheimatet ist. Sie sind derart subtil, dass sie der Scharfsichtigkeit des Konnetabels entgehen.«

»Besteht da etwa eine Verbindung zu der Tochter Sri Alexus? Wie ich hörte, soll sie mehrmals ihren Häschern entkommen sein?«

»Auch sie hätte eine Bedrohung darstellen können. Sie verfügt über rudimentäre Kenntnisse dieser Inddikischen Wissenschaft, die ihr Vater sie lehrte. Doch leider hat sie sich in die Höhle des Löwen begeben, nach Selp Dik, wo sie das Schicksal ihrer Freunde, der Ritter, teilen wird. Dann gibt es da noch einen sonderbaren Fall: ein kleiner Angestellter der InTra hat dieser jungen Frau geholfen, vom Planeten Zwei-Jahreszeiten zum Planeten Roter-Punkt zu reisen. Und dieser Angestellte hat sie später dort mithilfe eines Françao der Camorre und zwei Rittern des Ordens aus den Händen von Sklavenhändlern befreit. Dieser Mann ist uns auch jedes Mal entkommen, das letzte Mal erst kürzlich auf dem Marquisat. Aber das Erstaunlichste war, dass unsere Gedankenleser nicht mental in der Lage waren, seine Anwesenheit festzustellen. Doch der Inspobot der Gesellschaft hat seine Zellen- und Geruchskoordinaten, so werden wir ihn früher oder später ausfindig machen. Aber es existieren Menschen in diesem Universum, denen es gelingt, durch die engen Maschen unseres mentalen Netzes zu schlüpfen. Stellt Euch nur einmal vor, es gelänge ihnen, ihre Hexenkünste einer großen Anzahl von ihresgleichen zu vermitteln. Was würde dann aus dem Imperium und der Kirche werden?«

Von dem Horrorszenario, das der mentale Terminator entworfen hatte, ziemlich erschüttert, starrte der Muffi die irisierenden Tropfen des Spiegels in dem Bassin an. Er war tief in Gedanken versunken und versuchte, diese Neuigkeiten so schnell es ging zu verarbeiten.

»Lasst mir etwas Zeit«, sagte er müde. »Wir sehen uns nach Eurer Rückkehr von Selp Dik wieder. Dann erarbeiten wir einen Plan für unser gemeinsames Projekt …«

Harkot verneigte sich. »Eine weise Entscheidung, Eure Heiligkeit. Denn sie rettet nicht nur Euch das Leben, sondern auch den Fortbestand Eurer Kirche. Versucht nicht, mit mir Kontakt aufzunehmen. Ich werde die Initiative ergreifen. Und versucht ebenfalls nicht, mir außerhalb Eures Palastes irgendwelche Fallen zu stellen. Ich habe gewisse Vorkehrungen getroffen.«

Der Muffi verneigte sich ebenfalls, wenn auch widerwillig, und stieß zwischen knirschenden Zähnen hervor: »Dann warte ich, bis Ihr Euch meldet, Sieur Experte … Voller Ungeduld …«

Da wusste Harkot, dass der Unfehlbare Hirte, der uneingeschränkte Herrscher über diesen gigantischen Unterdrückungsapparat namens Kirche, definitiv in sein Lager übergewechselt war. Natürlich aus eigenem Interesse, aber das war besser so. Denn Berechnung schafft immer transparentere und konstantere Beziehungen als Begeisterung, weil Begeisterung als ein subjektives Empfinden immer den menschlichen Gefühlsschwankungen unterworfen ist.

»Es wurde alles gesagt. Ich wünsche Euch Frieden für den Rest der Nacht, Eure Heiligkeit.«

Der Muffi drückte auf die Fassung einer seiner protzigen Ringe. Zwei Minuten später betrat ein pausbäckiger Vikar das Empfangszimmer.

»Bitte begleiten Sie unseren Gast zu einer der Geheimtüren!«, befahl der Pontifex.

»Ganz wie Ihr wünscht, Eure Heiligkeit«, antwortete der Vikar, verneigte sich und küsste den päpstlichen Ring.

Die Schiebetür glitt zur Seite und gab den Weg auf einen dunklen schmalen Flur frei, der in regelmäßigen Abständen von purpurfarbenen Lichtsäulen gesäumt wurde, die Vitrinen mit sakralen Gegenständen beleuchteten.

 

Etwas später empfing der Scaythe Harkot, mentaler Terminator im Rang eines Experten, atypischer Keimling vom Planeten Hyponeros, einen sehr starken Impuls vom Hyponeriarchat in einer finsteren Seitengasse des Viertels Romantigua. So wurde er zu einem wichtigen Vorposten, zum ersten Glied in einer Evolutionskette, zur Ausgangsbasis der sechsten Phase des Plans. Die Meister-Creatoren hatten seine Mutation geplant, denn sie war notwendig, damit sie die Matrix erobern konnten.