ZEHNTES KAPITEL

Gewählt habe ich des Schutzes heiligen Pfad.
Nie könnt’ ich ihn verlassen, auch gegen jeden Rat.

 

Bei Tag, bei Nacht, zu jeder Stunde
Schütz’ ich die Gedanken meines Herrn,
Geb’ niemandem Kunde,
Denn er allein soll Herrscher seiner Gedanken sein.

 

Sollt’ ich das Gebot des Stillschweigens brechen,
Sollt’ ich die Gedanken meines Herrn nicht für immer vergessen,
Soll ohne Verweilen der Tod mich ereilen.

 

Das schwöre ich bei meiner Seele,
Denn ehrlos wär’ ich, wenn ich fehle.

 

Aus den Archiven der Kongregation der Smellas:
Der heilige Pfad des Beschützers
Auszug aus dem Ehrencode des Mentalen Schutzes

 

Mit nervösen, hastigen Schritten marschierte Artuir Boismanl durch die Zweite syracusische Nacht, wie stets von seinem Gedankenschützer gefolgt.

Die fünf am dunklen Himmel verbliebenen Gestirne markierten ihre Bahn mit langen kometenhaften Lichtstreifen, deren Spektrum von Türkisgrün über Tiefrot reichte. Sie spiegelten sich in den durchsichtigen Blättern und Früchten der sich in einer leichten Brise wiegenden Büsche und Bäume wider.

Artuir Boismanl hatte den Eindruck, dass der Rhythmus seiner Schritte auf der mit Marmor gepflasterten Allee einen ohrenbetäubenden Lärm machte, obwohl seine Schuhe aus Seide waren. Und er fürchtete, in dem um diese Stunde menschenleeren Viertel die Aufmerksamkeit einer der vielen Trupps der Purpur-Garde zu erregen, die unablässig durch Venicia patrouillierten … Wahnsinn! Sein Entschluss war nichts als der reine Wahnsinn!

Er versuchte, seinem Schritt die Leichtigkeit eines Vogels zu verleihen, was einem Mann seiner Statur nicht leichtfiel, denn er hatte kurze, stämmige Beine und einen gedrungenen Körper. So ähnelten seine Bemühungen eher dem Gang eines Roboters als dem mühelosen Dahinschweben einer Kreatur der Lüfte.

Sein Gedankenschützer hingegen folgte ihm in drei Schritten Entfernung so lautlos wie ein Gespenst. Artuir Boismanl konnte nur das leise Rascheln der weißen Kutte des Scaythen über den Marmor hören. Ohne dessen – ach, so beruhigende – Anwesenheit wäre er schon längst wieder umgekehrt. Eigentlich war er seit dem Moment, als er seinen Fuß vor die Tür gesetzt hatte, von Schrecken erfüllt. Denn die Grundelemente mentaler Kontrolle, die ihn ein Experte der APS – der autopsychischen Selbstkontrolle  – für ein horrendes Honorar gelehrt hatte, hatten sich im Angesicht der Ängste und Befürchtungen, die ihn ereilten, völlig in Luft aufgelöst.

Innerlich verfluchte er die Kugeltaxi-Chauffeure, diese verabscheuungswürdige Paritolenbrut, die nie da waren, wenn man sie brauchte. Er hatte ein Fluggerät angefordert, ihm war jedoch mitgeteilt worden, dass die BISS – die Behörde für die interne Sicherheit Syracusas – alle Flugzeuge und Deremats in Venicia beschlagnahmt habe. Also hatte er keine Wahl gehabt und zu Fuß gehen müssen.

Sein rundes Gesicht verschwand im hochgeschlagenen Kragen seines nachtblauen Capes, mit dem er ansprechend gekleidet war und überdies in der Dunkelheit der ihn umgebenden Nacht nahezu unsichtbar wurde – nicht auffälliger als ein winzig kleiner Schatten im großen Schatten. Eine lächerliche Maßnahme allerdings, denn das strahlende Weiß der Kleidung seines Gedankenschützers war umso auffälliger. Manchmal glaubte er, diffuse Geräusche in den Nebenstraßen zu hören. Dann blieb er klopfenden Herzens stehen, hielt den Atem an und starrte mit kurzsichtigen Augen (seine Frau war gegen jegliche Organtransplantation) in die rußschwarze Nacht, wo er vage die Umrisse hochherrschaftlicher Häuser inmitten ihrer ruhig daliegenden Parkanlagen ausmachen konnte.

»Der kleine Artuir Boismanl gibt als Verschwörer eine jämmerliche Figur ab!«, hatte seine Frau eines Abends ironisch bemerkt.

Leider hatte er ihr recht geben müssen. Jedenfalls in diesem Punkt. Seit er die Botschaft des hochgestellten Tist d’Argolon empfangen hatte, war er von einem permanenten Angstgefühl umgeben, ganz gleich, wo er sich gerade befand: in seinem Laden, in seiner Wohnung und im Palast, wohin er sich oft aus geschäftlichen Gründen begeben musste. Eine schreckliche Furcht beherrschte ihn nun täglich: Sollte es Tist d’Argolon und dessen Freunden gelungen sein, die von seinem – Artuirs – Gedankenschützer errichtete mentale Barriere zu durchdringen, seine innersten Gedanken lesen zu können, dann wären auch andere, ihm weniger wohlgesonnene Leute dazu in der Lage. Daher seine ständige Angst vor dem plötzlichen Auftauchen der Purpur-Garde. Angst, in eins der finsteren Verließe am Brolly-Ang-Platz geworfen zu werden. Angst vor den argwöhnischen Blicken der Vikare und Bischöfe der Kirche des Kreuzes während der Messen im Tempel. Angst vor jedem … Angst vor allem …

Und trotz der Qualen, die Artuir Boismanl wegen seiner Ängste durchlitt, hatte er beschlossen, an dem von Tist d’Argolon einberufenen Geheimtreffen teilzunehmen. Denn er betrachtete seine Seelenqualen als eine Art Prüfung, bei der er beweisen müsse, dass sein erkaufter Adelstitel dem der von Geburt an Adeligen gleichwertig sei.

»Du bist verrückt, mein armer Artuir. Du kannst in der Öffentlichkeit nicht einmal zwei zusammenhängende Sätze sprechen«, hatte seine Frau moniert.

Frauen im Allgemeinen und meine insbesondere, haben die ekelhafte Angewohnheit, immer alles kritisieren zu müssen, hatte Artuir gedacht.

Da er von der Annahme ausging, dass der hoch geschätzte Tist d’Argolon die Elite des syracusischen Hofes zu dieser Versammlung gebeten hatte, war seine Entscheidung daran teilzunehmen, positiv ausgefallen. Ohne es sich offen einzugestehen, fand er es schmeichelhaft, als kleiner Adeliger und Abkömmling einer Familie von Tuchhändlern, der seinen Aufstieg nur jenen von den Höflingen begehrten Textilien verdankte, von diesem bedeutenden Mann, dem Apologeten syracusischer Eleganz und Lebensart, zu diesem Treffen gebeten worden zu sein. Obwohl er sich eingestehen musste, dass der große Tist ihn nicht einmal eines Blickes würdigte, geschweige denn grüßte, wenn sie einander zufällig im Herrschaftspalast begegneten. Eines Tages hatte Artuir den fatalen Fehler gemacht, sich darüber bei seiner Frau zu beklagen.

»Wir sind nur Händler!«, hatte sie gegiftet. »Dein Vater hat seinen Adelstitel wie ein gewöhnliches Stück Stoff gekauft. Glaubst du wirklich, dass so etwas als Eintrittskarte in die große Welt genügt? Du mit deiner lächerlichen mentalen Kontrolle und deinem dämlichen Gedankenschützer … Was du auch tust oder sagst, die Adeligen werden dich immer wie einen Paritolen behandeln, mein armer Artuir …«

Er hasste es, wenn sie ihn ›mein armer Artuir‹ nannte. Die meiste Zeit verbrachte sie damit, ihn zu erniedrigen. Doch da sie pragmatisch veranlagt war und meistens recht hatte, musste er zwangsläufig ihre Ratschläge befolgen und sorgfältig darauf achten, nicht die eng gesetzten Grenzen seiner sozialen Stellung zu überschreiten.

Und nun hatte er diese Nachricht bekommen: Die große Welt bat ihn in ihren illustren Kreis! Welch unverhoffte Gelegenheit, ein Mitglied der Elite zu werden.

»Hast du etwa auch daran etwas auszusetzen, liebe Frau?«

»Mir kommt das Ganze ziemlich dubios vor. Wenn sie dich einladen, mein guter Boismanl, dann wollen sie etwas von dir. Wahrscheinlich dein Geld. Oder sie wollen sich die Unterstützung der Gilde der Kaufleute sichern. Schließlich bist du einer ihrer Repräsentanten. Jedenfalls haben sie dich nicht eingeladen, weil sie dich als Persönlichkeit schätzen, mein armer Artuir.«

Wie sollte er weiter mit einer Frau diskutieren, die ihn ständig ›mein armer Artuir‹ oder ›mein guter Boismanl‹ nannte?

Nein, Artuir Boismanl sah die Dinge ganz anders, aber er behielt seine Meinung für sich: Eine einflussreiche Gruppe Höflinge suchte nach Möglichkeiten, die Macht der Scaythen und vor allem die des Großkonnetabels Pamynx einzudämmen. Niemand fühlte sich in Venicia mehr sicher. Adelige und Bürger stritten um die Dienste der Gedankenhüter, weil es viel zu wenige gab. Und ohne Gedankenschützer kamen sich alle nackt vor, quasi ohne Haut und Haar, der mentalen Inquisition der Vertreter der Kirche des Kreuzes oder der BISS ausgeliefert. Auf Venicias Plätzen der Reue brannten ständig Feuer, in denen Häretiker und andere Ketzer unter unvorstellbaren Qualen ihr Leben ließen.

Und wenn es – wie im Fall Artuir Boismanl – gelungen war, einen oder mehrere der kostbaren Gedankenschützer anzuheuern, so wurde doch ihre ständige Gegenwart vor allem in den intimsten Momenten allmählich immer irritierender, wenn nicht unerträglich.

»Mein guter Boismanl, ich verbitte es mir, dass du meinen Körper unter den Augen dieses … dieses Monsters streichelst!«, wies Dame Boismanl ihren Gatten zurück, als dieser seine Sinne nicht mehr unter Kontrolle hatte und einmal zutraulich wurde.

Also hatte er einen Vorhang zwischen dem Ehebett und dem Gedankenschützer anbringen lassen. Aber selbst hinter diesem Paravent aus Stoff gab sich Dame Boismanl den sinnlichen Freuden nicht hin, sondern ertrug die hektischen Attacken ihres Gemahls nur widerwillig und mit einer Kälte, die auf eine zunehmende eheliche Abstinenz hinauslief.

Und nicht nur das: Artuir Boismanl hatte immer stärker das unangenehme Gefühl, nicht mehr er selbst zu sein. Ein Gefühl, als ob sein Gedankenschützer – der nie schlief, nie aß, sich nie ausruhte – jeden Tag etwas tiefer in das Territorium seines innersten Wesens eindringen würde, so als ob der wachsame Geist des Scaythen sich allmählich seines eigenen Geistes bemächtigte, ein heimtückischer Eindringling, der ihn bald völlig vereinnahmen würde.

Dame Boismanl hatte keinen Gedankenschützer haben wollen. »Die Kirche des Kreuzes bewahre mich davor! Lieber sterbe ich, als dass ständig ein Schutzengel an meinem Hintern klebt.«

Die Metapher war von zweifelhaftem Geschmack, sogar etwas vulgär, aber im Kern war sie richtig. Im Übrigen bewies allein die Tatsache, dass während der von Tist d’Argolon einberufenen Versammlung Gedankenhüter anwesend zu sein hatten, während das Ziel gerade dieser Zusammenkunft darin bestand, sich von ihnen zu befreien, welchen Grad der Absurdität das Handeln der syracusischen Würdenträger inzwischen erreicht hatte.

Da Artuir Boismanl manchmal ein durchaus hellsichtiger Zeuge höfischer Riten und Intrigen gewesen war, wusste er sehr wohl, dass es Tist d’Argolons Ziel war, die Privilegien wiederzuerlangen, deren er sich beraubt glaubte. Trotz seiner bisher geschickten Winkelzüge war es dem Großkonnetabel Pamynx gelungen, ihn aus seiner Favoritenstellung bei Ranti Ang zu verdrängen. Wenn Tist nun den Widerstand organisierte, geschah das einmal, um dem Adel wieder seine Vorrechte zu sichern und gleichzeitig wieder die Zügel der Macht fest in den Händen zu halten, die ihm momentan zu entgleiten drohten. Dieses politische Kalkül störte Artuir keineswegs, weil es im öffentlichen Interesse lag. Und würde Tist Großkonnetabel von Syracusa werden, würde sich ebenfalls die Stellung des kleinen Tuchhändlers verbessern, und er könnte dann vielleicht sogar seinen Traum verwirklichen und zum Stammvater einer Dynastie avancieren, nach deren Ursprüngen niemand mehr fragte. Auch wenn seine Frau ganz anderer Meinung war.

»Mein kleiner Boismanl, unbedeutende Krämer werden nicht durch das Berühren mit einem Zauberstab zu großen Herren. Du solltest deine Nase nicht in ihre Angelegenheiten stecken. Das bringt nichts Gutes. Bescheide dich damit, gut in deinem Beruf zu sein und danke der Kirche des Kreuzes für dein Wohlergehen.«

Kein aufrechter Mann kann einer Megäre Paroli bieten, die nur Stoffe und Zahlen im Kopf hat und einen den lieben langen Tag mit der Kirche in den Ohren liegt, damit man zur Demut zurückfindet.

Also hatte Artuir Boismanl beim Verlassen des Hauses die Tür fest zugeschlagen, um seiner Missbilligung Ausdruck zu verleihen. Noch in seinem Garten hatte er gespürt, wie ihn dieser Temperamentsausbruch beflügelte. Leider wurde er von seinem Angstgefühl wieder auf den Boden zurückgeholt, sobald er das Gartentor hinter sich geschlossen hatte.

Die Kapuze des Gedankenhüters konnte nur teilweise sein hässliches Gesicht verdecken. Sie gingen an einem riesigen Gelände vorbei, dem Stadiom, dessen Wände so hoch waren, dass sie einen Teil des sternenbedeckten Himmels verdeckten. Wehmütig dachte Artuir Boismanl an seine Kindheit zurück, als er inmitten einer begeisterten aber schweigenden Menge einem der Schigalin-Turniere zugeschaut hatte. Er sah sie vor sich, die stolzen Reiter auf ihren gehörnten Schigalin, wie sie versuchten, durch geschickte Manöver den fliegenden Steinen der gegnerischen Mannschaft auszuweichen. Er hörte den dumpfen Aufschlag der Steine, sah das Blut aus den Flanken der Reittiere strömen, roch den Schweiß der Tiere und beobachtete namhafte Kämpfer wie Kalul de Merone, Hercles Trismegar oder Paulun Saint-Fiac. Und er erinnerte sich, welche Bewunderung er und alle Syracuser damals diesen Helden gezollt hatten … Doch dann hatte der Seigneur Arghetti Ang unter dem Einfluss der Kirche des Kreuzes die Schigalin-Turniere verboten. Man könne nicht das Kreuz anbeten und gleichzeitig Wesen aus Fleisch und Blut vergöttern … Einen ganzen Tag hatte er damals geweint, als sein Vater ihm diese schreckliche Nachricht mitgeteilt hatte.

Endlich kam das prächtige Anwesen Tist d’Argolons in Sicht, ein kleines Schloss mit kegelförmigem Dach, das von eleganten Türmchen umgeben war, deren mit Optalium gedeckte Turmspitzen einen hellen Kontrast zum dunklen Himmel bildeten. Im Park mit den jahrhundertealten Bäumen herrschte das angenehme Zwielicht der von den fünf Satelliten erhellten Zweiten Nacht.

Die Hauptallee führte zu einer imposanten Freitreppe, von der aus man zu dem von rosa und weißen Säulen flankierten Portal gelangte. Die Farben der Nacht spiegelten sich in den stillen Wassern ovaler Becken wider und in den kunstvollen Statuen aus Optalium, die in perfekter Symmetrie darum angeordnet waren.

Artuir Boismanl bewunderte die majestätische Harmonie der Anlage, doch gleichzeitig fragte er sich, ob dieser Ort für eine derartige Zusammenkunft geeignet sei, weil das Gerücht umging, es herrsche ein latenter Krieg zwischen dem Großkonnetabel Pamynx und Tist d’Argolon. Es war daher anzunehmen, dass das Anwesen des Höflings verstärkt überwacht wurde. Doch so sehr er sich auch anstrengte, der Tuchhändler konnte keine verdächtigen Bewegungen oder Geräusche in dem Park ausmachen.

Kein Licht war hinter den ovalen Fenstern des kleinen Schlosses zu sehen. Es wirkte wie erstarrt, ohne Leben. Eine innere Stimme sagte Artuir Boismanl, es wäre besser, so schnell wie möglich umzukehren. Doch sein aufwallender Stolz erstickte diese Stimme. Eine solche Niederlage durfte er seiner Frau nie und nimmer eingestehen! Noch in zehn Jahren würde sie ihm vorhalten, wieder einmal recht gehabt zu haben. Also stieß er vorsichtig den angelehnten Flügel des imposanten Portals auf.

Aus ihrem Schlaf aufgeschreckt, stießen die Pfaue plötzlich schrille Schreie aus und stoben mit wild schlagenden Flügeln in alle Richtungen davon. Artuir Boismanls Herz fing heftig zu schlagen an, und er musste seinen ganzen Mut zusammennehmen, um nicht Hals über Kopf zu fliehen. Langsam normalisierte sich sein Puls wieder; er gebot seiner inneren Stimme Schweigen – einer Stimme, die seltsamerweise der seiner Frau glich – und betrat, wie ihm geheißen, die Hauptallee.

Die weißen Steine knirschten unter seinen Schritten. Beunruhigt sah er sich um. Er wollte sich vergewissern, ob sein Gedankenhüter ihm noch folgte. Der weiße Kapuzenmantel war noch immer hinter ihm. Aber in diesem verlassenen Park, wo die Zeit stillzustehen schien, wurde er zu einer erschreckend bedrohlichen Erscheinung.

Artuir zuckte mit den Schultern und ging weiter. Doch anstatt das Schlösschen über die Freitreppe zu betreten, wandte er sich nach links, umrundete den Flügel des Gebäudes, vor dem flammend rote Leripas und Zwergbäume mit leuchtend gelben Blättern wuchsen, und schlug den Weg zu einer kleineren Allee ein, die von Büschen gesäumt war, an denen vielgestaltige Früchte hingen.

An einer Wegbiegung stürzten aus dem Dunkel knurrend und zähnefletschend zwei riesige Löwenhunde auf den Tuchhändler zu. Das Blut gefror ihm in den Adern, und er blieb abrupt stehen. Ihre Schnauzen berührten seine Waden. Er betete zu allen Heiligen, dass sie nicht ihre Fänge in sein weiches Fleisch bohrten. Sein Gebet wurde erhört: Die Bestien schüttelten ihre Mähnen und trollten sich, ohne den Gedankenschützer zu beschnüffeln.

Artuir Boismanl stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und setzte, noch immer etwas zitternd, seinen Weg fort. Endlich sah er die Bronzekuppel der exotischen Pagode mit dem anschaulichen Namen: Tempel der Liebe und der Sommerträume.

Als er vor der Tür stand, empfing ihn niemand. Er fragte sich, ob er sich im Datum geirrt haben könnte – unmöglich! Tausend Mal hatte er sich dessen vergewissert. Oder schlimmer noch, ob er nicht in eine von den Gefolgsleuten des Konnetabels gestellte Falle getappt sein könnte. Wieder meldete sich seine innere Stimme und flehte ihn an, sofort das Weite zu suchen. Aber so leicht wollte er nicht aufgeben. Vielleicht war diese Versammlung die Chance seines Lebens. Er hörte keinen Laut und wusste nicht, was er vor dieser verschlossenen Tür tun sollte, ob er sich auf irgendeine Weise bemerkbar machen sollte, klopfen, klingeln  – das ging nicht, denn es gab keine Klingel – oder rufen.

So allein gelassen in dem großen Park herumzustehen, hatte etwas Lächerliches. Nachdem er fünf lange Minuten gewartet hatte, beschloss er umzukehren. Dann würde seine Frau ihn eben verspotten. Und er würde behaupten, die Versammlung sei im letzten Moment abgesagt worden. Natürlich würde sie ihm nicht glauben, aber er hätte wenigstens seine Mannesehre gerettet … Er musste sich eingestehen, dass diese Entscheidung ihn zutiefst erleichterte.

Der Gedankenschützer wartete, unbeweglich. Plötzlich öffnete sich die Schiebetür, und grelles Licht fiel auf die Besucher. Artuir wurde von Panik ergriffen.

»Tretet ein, Sieur Boismanl«, sagte die Gestalt in der offen stehenden Tür.

Der Tuchhändler folgte der Aufforderung und erkannte Markus de Florenza, einen der getreuen Assistenten Tist d’Argolons. Der schlanke Mann war mit einem hellgelben changierenden Colancor bekleidet. Artuir grüßte ihn respektvoll, aber etwas ungelenk. Markus de Florenza musterte ihn, ernst und spöttisch zugleich.

»Wie kommt es, dass das Anwesen nicht überwacht wird?«, fragte Artuir. »Habt Ihr denn keine Angst, dass Unbefugte sich hier Zutritt verschaffen könnten?«

»Ihr müsst wissen, Sieur Boismanl, dass wir absichtlich auf eine solche Maßnahme verzichtet haben«, entgegnete Markus de Florenza mit herablassendem Lächeln. »Eine augenfällige Überwachung hätte unnötigen Verdacht erweckt. Es ist klüger, das Anwesen unseres Gastgebers in seinem Normalzustand zu belassen. Das heißt natürlich nicht, dass jeder Dahergelaufene an unserer Versammlung teilnehmen könnte. Von dem Moment an, als Ihr den Park betreten habt, wurden Eure Bewegungen von einer unsichtbaren Kamera aufgezeichnet. Eure Daten wurden ebenfalls den beiden Löwenhunden mitgeteilt – in dem Fall natürlich nur die Geruchsdaten –, denen Ihr auf der Allee begegnet seid. Außerdem wurdet Ihr von Euch unbemerkt einer zweimaligen magnetischen Resonanzkontrolle unterzogen, die jede Art von versteckten Waffen aufspüren kann … Genügen Euch diese Vorsichtsmaßnahmen, Sieur Boismanl, oder befürchtet Ihr weiterhin, Euch in schlechter Gesellschaft bewegen zu müssen?«

»Ja … Nein … das heißt nein, natürlich …«, stammelte der Tuchhändler. Die Ironie des Adeligen kränkte ihn, und er war verstört, weil er ohne es zu merken, observiert worden war. »Und … hm … Ihr bewegt Euch ohne Gedankenschützer?«

»Ich brauche keine Gedankenschützer, wenn ich unter Freunden bin …«

Die Schiebetür schloss sich mit einem Klick. Sie standen in einer großen Empfangshalle, die im Halbdunkel lag. Markus de Florenza gab auf einer in der Luft schwebenden Tastatur einen Code ein, und eine leuchtende Luftplattform  – ein Vermögen wert, ein Vermögen! – glitt geräuschlos durch eine transparente Röhre hinunter, direkt vor ihre Füße. Artuir und Markus setzten sich auf Leuchtschemel, während der Gedankenschützer stehen blieb.

»Wir haben Euch eingeladen, weil wir möchten, dass Ihr unsere Interessen bei der GIHK vertretet – der Gilde der Industriellen Händler und Künstler«, sagte Markus de Florenza, während die Plattform langsam nach oben glitt.

»Eure … Interessen?«, wiederholte Artuir dümmlich.

Dame Boismanl hatte wieder einmal recht gehabt. Syracusas Hochadel hatte keineswegs die Absicht gehabt, den kleinen Boismanl in den Kreis der Ihrigen aufzunehmen, er wollte ihn nur für seine eigenen Interessen benutzen.

»Wir wollen die Scaythen loswerden«, fuhr de Florenza leise fort. »Und dazu müssen wir alle Kräfte mobilisieren. Vor allem zählen wir auf jene, die Syracusas ökonomische Basis bilden.«

»Warum ich? Woher wusstet Ihr, dass …«

»  … dass Ihr einer der unseren seid? Ganz einfach, Sieur Boismanl … Unsere morphopsychischen Spezialisten haben erst kürzlich alle jene Leute erfasst, die die Anwesenheit der Scaythen – gelinde gesagt – irritiert. Und das ist doch bei Euch der Fall, nicht wahr?«

»Ja. Ja, natürlich … Aber es gibt doch Händler oder große Industrielle, die in solchen Angelegenheiten weitaus kompetenter sind.«

»Da irrt Ihr Euch. Die meisten Mitglieder der GIHK haben sich mit der Situation abgefunden. Aber die Gilde hat noch nicht realisiert, dass sie mit ihrer Unterstützung der Scaythen und mit ihrem fortwährenden Kampf gegen den Adel den Ast absägt, auf dem sie sitzt. Wir müssen jetzt zusammenhalten und uns vor der drohenden Gefahr besser schützen. Tist d’Arogolon möchte dieses Problem mit Euch diskutieren, sobald die Versammlung zu Ende ist … allein.«

Eine private Unterredung mit Tist d’Argolon! Teufel auch, Frau! Jetzt wollen wir mal sehen, ob du mich noch bei der kleinsten Gelegenheit ›mein armer Artuir‹ nennst!

Die Plattform hielt in der siebten Etage der Pagode. Markus de Florenza geleitete Artuir und dessen Gedankenschützer in einen großen, erlesen eingerichteten Raum, dessen Wände mit Wasserwandteppichen vom Planeten Orange ausgestattet waren. Sie befanden sich unter der Kuppel der Pagode: unzählige Lichtkugeln schwebten unter der hohen gewölbten Decke. Aus dem Parkettboden stiegen süße Düfte auf, und in der Mitte des Raums sprudelte ein Brunnen: Aus dem Dreizack des Meeresgottes ergoss sich eine Melodie von perlendem Wasser – ein Klagelied in Moll.

Artuirs Bewunderung war grenzenlos. Mit weit aufgerissenen Augen stand er da. Erst als der Assistent ihn streng musterte, fiel ihm ein, dass es als unschicklich galt, die eigenen Gefühle zu zeigen.

Um ein rundes Podium, auf dem ein sehr alter, wahrscheinlich aus der Mittleren Zeit stammender Schreibtisch und zwei mit weißer Seide bezogene Sitzbänke standen, gruppierten sich Sessel, in denen jetzt einige bedeutende Persönlichkeiten saßen. Sie waren prächtig gekleidet. Der Tuchhändler erkannte sie, da er ihnen am Hof des Fürsten gelegentlich begegnet war, und er fühlte sich geschmeichelt, weil viele dieser kostbaren Stoffe aus seinem Atelier stammten. Etwa ein Drittel der Anwesenden waren Damen, deren kunstvolle Frisuren silbern, golden oder bronzefarben leuchteten.

»Bis auf eine oder zwei Personen ist die Versammlung komplett. Ich bitte die Hochwohlgeborenen sich zu setzen«, sagte Markus de Florenza.

Dann bat er den Gedankenschützer sich zu seinen Kollegen, den Scaythen, zu begeben. Sie standen – eine dicht gedrängte weiß gekleidete Gruppe – hinten im Raum. Der Tuchhändler nahm Platz und ließ den Blick über die Versammlung schweifen.

Seine Nachbarin war eine berühmte Schauspielerin, eine Frau von erlesener Schönheit, von der böse Zungen behaupteten, sie habe zwei Jahre das Bett Menati Angs, des Bruders des jetzigen Herrschers, geteilt. Ihre großen türkisfarbenen Augen musterten den Neuankömmling mit unverhohlener Verachtung. Dann wandte sie sich dem Mann an ihre linken Seite zu, einem alterslosen Schönling in rotem Colancor, und flüsterte ihm etwas zu, worauf er lächelte.

Artuir interpretierte dieses Lächeln als Reaktion auf eine spöttische Bemerkung über ihn, doch er gab vor, nichts bemerkt zu haben. Dieses höfische Ambiente voller falscher Schmeicheleien und Intrigen erfüllte ihn mit Unbehagen. Worte und Gesten der Höflinge stellten eine Art Code dar, deren Doppeldeutigkeit für einen einfachen Mann wie den Tuchhändler kaum zu entschlüsseln war.

So gestaltete sich das Warten für ihn immer schwieriger, ja es erschien ihm fast unerträglich zu werden. Dutzende Augenpaare musterten ihn gnadenlos und mit falscher Freundlichkeit. Zum zweiten Mal bereute er bitter, nicht auf seine innere Stimme und seine Frau gehört zu haben. Er verfluchte seinen Ehrgeiz, weil er ihn in dem Glauben bestärkt hatte, eines Tages zu dieser vornehmen Welt zu gehören.

»Teurer Freund, seid Ihr nicht zufälligerweise der Tuchhändler Ar … Artus Momboil?«

Er zitterte. Die Schauspielerin starrte ihn mit ihren unergründlichen türkisfarbenen Augen an.

»Boismanl«, stammelte er und richtete sich auf. »Artuir Boismanl … Das bin ich, in der Tat … Ich … Kann ich Euch auf irgendeine Weise behilflich sein, meine Dame?«

»Aber ja, Sieur Momboil!«, entgegnete die Schauspielerin mit ihrer melodischen Stimme, in der ein Unterton heimlicher Belustigung mitschwang. »Ich muss Euch noch einen Besuch in Eurem Geschäft abstatten. Eure Stoffe scheinen die reinsten Wunder zu sein, so leicht, dass man das Gefühl hat, überhaupt nichts anzuhaben.«

Die letzten Worte hatte sie mit Nachdruck formuliert, ein Verstoß gegen die Regeln des Anstands. Sie war eine skandalträchtige Frau und hatte einen miserablen Ruf, den man ihr wegen ihres herausragenden Talents jedoch verzieh. Nun hatte sie ihr Ziel erreicht: Fast alle Blicke waren auf die beiden gerichtet, vorwurfsvolle Blicke. Der arme Artuir wurde immer verwirrter und hätte sich am liebsten in Luft aufgelöst. Und schon meldete sich seine innere Stimme wieder, dieses Mal triumphierend. Sie riet ihm dringend, nie wieder an einer derartigen Versammlung teilzunehmen.

Erst die Ankunft Tist d’Argolons und seiner Gattin Maryt befreite ihn aus seiner misslichen Lage. Das Paar hatte den Saal durch eine Geheimtür neben dem Podium betreten, und zu Artuirs großer Erleichterung wandten sich die Blicke seiner Henker jetzt dem gastgebenden Paar zu.

Tist d’Argolon war der Abkömmling eines uralten syracusischen Adelsgeschlechts und mit jener natürlichen Anmut ausgestattet, nach der Emporkömmlinge vergeblich streben: groß, schlank, ein Mann mit feinen aristokratischen Zügen. Er trug einen königsblauen Colancor, dazu ein kurzes nachtblaues Cape, Farben, die das intensive Goldgelb seiner Augen unterstrich. Die einfache Eleganz seiner Kleidung machte den zur Schau gestellten Pomp der Eingeladenen fast lächerlich, wie Artuir als Mann vom Fach sofort erkannte.

Tists Gemahlin Maryt hatte sich für schlichtes Weiß entschieden. Nur ihr Cape war mit alten Mondsteinen besetzt. Ihr helles Funkeln und ihre lichte Erscheinung bildeten einen perfekten Kontrast zu ihrem kohlschwarzen Haar und ihren mandelförmigen, ebenso dunklen Augen. Die beiden waren ein wunderschönes Paar, sie bildeten den strahlenden Mittelpunkt unter den Anwesenden. Ihre Gedankenschützer stellten sich rechts und links vom Podium auf.

In Begleitung eines Assistenten betrat nun ein Dritter den Saal: ein magerer, gebeugter Mann mittlerer Größe, dessen Äußeres nachlässig und ungepflegt wirkte. Sein fleckiger und zerrissener safrangelber Colancor war völlig fehl am Platz, ein unverzeihlicher Fauxpas in dieser illustren Runde, und sein stahlgraues Haar war struppig und unfrisiert. Unter buschigen Brauen glühten seine Augen wie im Fieberwahn.

Das Unvorstellbare geschah: Tist d’Argolon lud diesen Mann ein, sich neben ihn auf die Podiumsbank zu setzen. Das Erstaunen der Geladenen verwandelte sich in Empören. Flüsternd gaben sie ihrer Missbilligung Ausdruck.

Artuir Boismanl hielt den Mann für einen ehemaligen Priester der Kirche des Kreuzes, der entweder selbst ausgetreten oder als Häretiker zum Austritt gezwungen worden war, jedoch jetzt im Untergrund leben musste, um nicht im Feuer zu sterben. Doch warum er im Haus des Adeligen war, das wusste der Tuchhändler nicht. Zwischen diesen beiden Männern hätte es keinen größeren Unterschied geben können. Trotzdem plauderten sie wie zwei alte Freunde miteinander. Diese Soiree begann mit etlichen Überraschungen. Artuirs innere Stimme verstummte ganz unerwartet. Seine Neugier hatte sowohl seine Angst als auch seine Verlegenheit besiegt.

Mit einer Handbewegung kündigte Tist d’Argolon an, dass er sprechen wolle. Eine Stille, die nur vom melodischen Singen des Brunnens unterbrochen wurde, senkte sich über den Raum.

»Ich heiße alle willkommen«, verkündete der Adelige mit wohlklingender Stimme. »Und ich bin sehr glücklich, dass alle meiner Aufforderung gefolgt sind. Um meinen Dank zu bezeugen, und weil es so Brauch ist, wird meine Gattin jetzt die Hymne an die Freundschaft singen.«

Artuir erinnerte sich, dass Maryt Frasciata vor ihrer Hochzeit eine Diva des Emotionellen Gesangs gewesen war, eine Berühmtheit in allen Welten der Konföderation von Naflin. Ihre Karriere hatte sie aus Liebe zu ihrem Gemahl aufgegeben, ein Ereignis, das leidenschaftliche Reaktionen auf Syracusa hervorgerufen hatte, es hieß sogar, dass einige ihrer Bewunderer aus Gram den Freitod gewählt hätten.

Jetzt erfüllte die kristallklare Stimme Maryt d’Argolons den Raum. Das Publikum lauschte gebannt, wie verzaubert. Artuir war überzeugt, dass einige Höflinge nur ihretwegen gekommen waren, denn die Sängerin sang diese Hymne nicht bloß, sie lebte sie:

Da unser Haus das Eure ist,
Bedeutet die Erfüllung Eurer Wünsche unsere freudige
Pflicht,
Denn Grenzen kennt die Freundschaft nicht.
Sie ist ein Geschenk des Ich,
Ein Friedensstrom, der weiterfließt
Und sich ins unendliche Meer der Liebe ergießt …

Von nostalgischem Gemurmel der Fontäne begleitet, erstarb ihre Stimme und versetzte die Zuhörer in einen Zustand ekstatischen, fast schmerzlichen Entzückens.

Nach langem Schweigen ergriff Tist d’Argolon wieder das Wort. Er sprach ganz sanft, als wollte er den Zauber nicht brechen.

»Noch einmal, mein Dank gilt allen, die unserem Aufruf gefolgt sind. Ich bin mir sicher, dass zu dieser späten Stunde die meisten lieber die Annehmlichkeiten ihres Hauses oder die Zerstreuungen der Zweiten Nacht genossen hätten. Aber die aktuelle Lage unseres schönen Planeten bereitet uns große Sorgen, genauso wie euch. Das beweist euer zahlreiches Erscheinen. Unsere Wachen im herrschaftlichen Palast haben uns davon in Kenntnis gesetzt, dass die Scaythen – natürlich spreche ich nicht von den Scaythen, die als Gedankenschützer tätig sind und deren Loyalität niemals in Zweifel gezogen wurde, sondern nur von jenen, die zur Entourage Ranti Angs gehören  – insgeheim ein Komplott schmieden, das zum Ziel hat, die Konföderation von Naflin zu stürzen.«

Jetzt ist es so weit, dachte Artuir Boismanl.

Ungläubiges Gemurmel war die Reaktion. Der Tuchhändler hingegen war von Tist Worten keineswegs überrascht. Schon seit geraumer Zeit vermutete er, dass die Herrscherfamilie von den Scaythen – zu welchem Zweck auch immer – manipuliert wurde. Nun, eigentlich war dies die Meinung seiner Frau, die er sich aber zu eigen gemacht hatte … Er stellte fest, dass die Höflinge ihre mentale Kontrolle verloren, diese bedeutungsvolle psychische Selbstverteidigung, deren Erlernen ihm so viele Probleme machte. Dasselbe galt für seine Nachbarin, die Schauspielerin: Sie wirkte ängstlich und kaute nervös an ihren Fingernägeln.

Tist d’Argolon gebot mit einer Geste Schweigen. »Mehrere Anzeichen deuten darauf hin, dass die Scaythen alle Menschenrassen des bekannten Universums auslöschen wollen. Für immer und ewig … Leider wissen wir bisher noch nicht, über welche Techniken die Scaythen verfügen. Welche Mittel sie zur Erreichung dieses Ziels einsetzen. Unsere Überwachungssatelliten senden nicht mehr. Doch die Geschehnisse in jüngster Zeit bestätigen unsere Hypothese: Die Herren der Asma und ihre Ratgeber haben sich in Venicia zu einer außerordentlichen Versammlung eingefunden. Und seit zwei Tagen empfangen wir keine Nachrichten mehr aus dem Palast der Asma. Außerdem darf kein Vertreter der Medien ihn mehr betreten. Nichts … Absolutes Schweigen … Stille …«

Wieder wurde gemurmelt. Dieses Mal war Empörung herauszuhören. Natürlich hatten alle bereits die Gerüchte gehört, die im Umlauf waren, sie hatten sie aber als Lügenmärchen abgetan. Vor allem hatten sie sich nicht mit Gedanken belasten wollen, die ihr geistiges Wohlbefinden empfindlich gestört hätten. Doch jetzt mussten sie sich den Tatsachen stellen, denn Tist war ein ernst zu nehmender Mann. Sie hatten sich auf eine Art Fest unter Ihresgleichen gefreut, doch nun sahen sie sich wider Willen in eine politische Intrige verwickelt. Also bedauerten die meisten, gekommen zu sein, und sie verfluchten ihren Gastgeber, weil er sie in diese prekäre Lage gebracht hatte.

Tist d’Argolon erhob sich und sprach nun mit lauter Stimme über den aufkommenden Tumult hinweg: »Ich muss die Wahrheit aussprechen, auch wenn diese Wahrheit uns allen Angst macht! Ein Diener will beobachtet haben, wie die Sondereinheit des Konnetabels Pamynx den Palast der Asma durch einen unterirdischen Gang betreten hat, der seit über hundert Jahren nicht mehr benutzt wurde. Natürlich waren die Leute nicht bewaffnet, das hätte man durch die automatischen Detektoren festgestellt. Aber zu welchem Zweck? Das ist noch immer ein Geheimnis. Doch ich bezweifle, dass diese Mission dem öffentlichen Interesse diente.«

Das Wort »Smella« löste in Artuir Boismanl die Erinnerung an eine Diskussion aus, die er mit seiner Frau gehabt hatte. Sie vertrat den Standpunkt, dass der Prozess des Smellas Sri Mitsu ein abgekartetes Spiel des Konnetabels Pamynx und der Kirche des Kreuzes gewesen sei, um den berühmten Mann mundtot zu machen, der wegen seines Scharfsinns gefürchtet war. »Ach, was!«, hatte er geantwortet. »Das Exil ist eine noch viel zu milde Strafe für einen solchen Perversen. Er hätte zum Tode verurteilt werden müssen. Er hat ein schlechtes Vorbild für die Jugend abgegeben.« Doch Dame Boismanl gehörte nicht zu jenen Frauen, die sich den Ansichten ihrer Ehemänner beugen. »Da gibt es noch viele andere an höchster Stelle, die weitaus schlechtere Vorbilder sind«, hatte sie geantwortet. »Und diese Leute müssen sich nicht vor Gericht verantworten!« Was hätte er dazu sagen können? Also hatte er resigniert mit den Schultern gezuckt und sich weiter seinen Geschäften gewidmet.

»Da ist noch etwas!«, fuhr Tist d’Argolon fort. »Tausende Missionare der Kirche des Kreuzes, die gerade ihr Noviziat beendet und ihr safrangelbes Habit angelegt haben, wurden in den großen Tempel Geodesil-III. beordert, damit sie allesamt auf andere Planeten der Konföderation transferiert werden konnten. Ich möchte daran erinnern, dass alle Deremats, ich wiederhole alle, ganz gleich, ob es sich um private, wie den meinen, oder öffentliche, wie die der InTra, beschlagnahmt wurden. Der planetarische Abgeordnete der InTra, Sieur Jadaho d’Ibrac, weilt heute Abend unter uns und möchte seiner Empörung über diese ungesetzliche Zwangsmaßnahme Ausdruck verleihen.«

Ein alter Mann mit zerfurchtem Gesicht, der in den traditionellen Farben der InTra – hellgrün und silberfarben – gekleidet war, stand auf und verneigte sich. Tist d’Argolon erwiderte den Gruß mit einem herzlichen Lächeln. Der Mann im schmutzigen durchlöcherten Colancor beugte sich vor und flüsterte Maryt etwas zu, die auf der gegenüberstehenden Bank saß. Die junge Frau nickte ernst.

»Der Konnetabel Pamynx findet momentan durch den sehr effizienten Apparat der Kirche des Kreuzes Unterstützung«, erklärte der Adelige. »Zunächst wird er die Fäden seines Komplotts weiterspinnen, bis die Konföderation ganz tief in der Falle sitzt. Nur die Kirche des Kreuzes weiß, was er dann zu tun gedenkt … Wir haben mit einigen Kardinälen gesprochen, die auf unserer Seite sind. Aber entweder hat man sie nicht in die Pläne eingeweiht, oder sie berufen sich auf ihre Schweigepflicht. Jedenfalls haben wir von ihnen nichts Neues erfahren können. Ein paar von unseren Leuten im Palast sind spurlos verschwunden! Warum? Was haben sie gesehen oder gehört? Wir alle, die wir heute hier versammelt sind, haben etwas gemeinsam: Wir sind verunsichert und der Scaythen auf die eine oder andere Weise überdrüssig. Deshalb ist es an der Zeit, dass wir uns zusammenschließen, damit wir gemeinsam gegen die Scaythen vorgehen können. Wir Syracuser haben immer dem Rest des Universums als Vorbild gedient, unsere Werte haben sich auf die Institutionen der Konföderation gegründet. Doch nun haben wir anderen, Wesen aus unbekannten Regionen, die Herrschaft über unseren Planeten überlassen! Wir haben ihnen unsere Seele überlassen. Unsere Ahnen besaßen den Mut, sich gegen das Planetarische Komitee aufzulehnen, gegen eine Bande von Tyrannen. Jetzt haben wir die heilige Pflicht, die Scaythen von Hyponeros zu bekämpfen. Mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln!«

Die letzten Sätze hatte er mit leidenschaftlicher Stimme gesprochen. Ein bedrückendes Schweigen lastete auf dem Saal. Sogar die Fontäne schwieg. Es herrschte absolute Stille. Die Höflinge wagten nicht einmal, einander anzusehen. Die Schauspielerin zupfte an einer ihrer rebellischen goldenen Haarsträhnen.

Schließlich ergriff Jadaho d’Ibrac, der planetarische Abgeordnete der InTra, das Wort.

»Ich bin voll und ganz Eurer Meinung, Sieur d’Argolon. Auf den wöchentlich stattfindenden Treffen aller Transportgesellschaften sind wir zu denselben Erkenntnissen gelangt … obwohl es nicht einen Militär unter unseren Mitgliedern gibt.

Und wir haben noch eine letzte Bastion der Verteidigung: den Orden der Absolution. Sollte der Konnetabel Pamynx das naflinische System stürzen wollen, werden die Ritter des Ordens das zu verhindern wissen. Haben wir die Macht oder das Recht, anstelle des Ordens zu agieren? Denn seine Kompetenzen sind weitaus größer als die unseren, und …«

An dieser Stellte wurde der Redner durch Klatschen und bejahende Zurufe unterbrochen.

Stimmt, dachte Artuir Boismanl erleichtert, an die habe ich gar nicht mehr gedacht.

Ach, was weißt du schon vom Orden der Absolution, mein armer Artuir?, würde seine Frau sagen. Vielleicht existiert der überhaupt nicht.

»Bis zu diesem Äußersten dürfen wir es nicht kommen lassen!«, erklärte Tist d’Argolon mit Vehemenz, ja Wut in der Stimme. »Man würde uns, die Syracuser, für alles verantwortlich machen. Wir verlören unsere Glaubwürdigkeit und vor allem unser Prestige. Vor lauter Scham müssten wir schweigen. Die Jugend würde uns verachten, denn wir hätten ihre Ideale zerstört. Handeln wir nicht, werden unsere Kultur und unsere Geschichte nichts als Zeugnisse unserer Schande sein. Wir werden von allen Zivilisationen geächtet, so wie das Planetarische Komitee seinerzeit. Ist das erstrebenswert? Ist das dem Erbe unserer Väter würdig? Wir sind die Nachfahren stolzer Krieger, ehrenwerte Menschen, die todesmutig kämpften, um Frieden und Harmonie auf dieser Welt wiederherzustellen. Haben andere, die Ritter der Absolution oder die Scaythen etwa gewartet, bis jemand kommt und ihre Probleme löst? Sollen wir etwa anderen überlassen, das Rad unseres Schicksals zu drehen? Und sollte das der Fall ein, wagen wir es dann noch, unseren Kindern in die Augen zu sehen? Zwar sind wir keine Krieger mehr, aber wir haben andere Waffen, die ebenso wirksam sind: unsere Ideen!«

Die Worte des Adeligen versetzten Artuirs Blut in Wallung. Das Feuer der Begeisterung durchströmte seine Adern, sodass ihm ganz heiß wurde.

Mein guter Boismanl, du solltest dich nicht so echauffieren! Wie heißt es so schön: ›Schuster bleib bei deinen Leisten! ‹ Und danke der Kirche.

Gib endlich Ruhe, Frau! Siehst du denn nicht, was hier geschieht? Wir sind privilegiert, wir nehmen hier an einem historischen Moment teil, an einem sehr seltenen Geschehen. Das ist einer dieser Augenblicke, die im Leben eines Mannes wirklich zählen!

Sein Enthusiasmus verzehrte den armen Boismanl und ließ nichts als ein Häufchen Asche zurück. Und aus dieser Asche konnte nun Phoenix wiedergeboren werden: ein neuer Mann, ein Held auf dem Weg zu seinem eigenen Mythos.

»Was schlagt Ihr vor, Sieur d’Argolon?«, fragte Jadaho d’Ibrac.

»Dazu kommen wir gleich. Doch vorher möchte ich, dass Parakumadj zu uns spricht …« Er wandte sich an den ausgemergelten Mann im safrangelben Colancor: »Einige der hier Versammelten kennen ihn bereits. Noch vor geraumer Zeit bekleidete Parakumadj das Amt eines Kardinals der Kirche des Kreuzes. Doch dann fasste er den Entschluss, seinen Platz innerhalb dieser Hierarchie aufzugeben und im Gebirge das asketische Leben eines Einsiedlers zu führen. Fortan nannte er sich Parakumadj. Es bedeutet auf Altsyracusisch ›drei Illusionslose‹. Vor Zeit zu Zeit wird mir die Ehre seines Besuchs zuteil, und dann ermahnt er mich, den Weg er Demut und des Verzichts einzuschlagen. Ein schwerer Weg, wie ich zugeben muss … Außerdem möchte ich nicht verschweigen, dass er im Kirchentribunal auf den Index der Abtrünnigen gesetzt und zum Tode durch das Feuer verurteilt wurde. Doch bitte ich alle, daran keinen Anstoß zu nehmen: Parakumadjs Handeln entspringt tiefster Überzeugung und ist in seiner Konsequenz wahrscheinlich dem WORT der Kirche am nächsten. Ich habe mit ihm über unsere Sorgen gesprochen, und er hat daraufhin den Wunsch geäußert, auf unserer Versammlung zu sprechen, einen Wunsch, dem ich mit großer Freude nachkomme. Denn ich bin der festen Überzeugung, dass es gut ist, wenn seine heilige Stimme uns in jene Höhen führt, wo das ewige Licht leuchtet, ehe wir uns darüber klar werden, was wir zu unternehmen gedenken …«

Parakumadj dankte Tist d’Argolon mit einem knappen Nicken und stand auf. Seine langen dürren Arme endeten in ebenso dürren spinnenartigen Händen, deren dünne Finger mit dichtem schwarzem Haar bedeckt waren.

Sein ungepflegtes, schmutziges Äußeres rief bei der Schauspielerin sichtbaren Abscheu hervor. Sie vermied es, den Eremiten anzusehen, so als könnte sie allein der Blick auf ihn beschmutzen.

Wo bleibt deine mentale Kontrolle, meine Teure?, freute sich Artuir heimlich.

»Ich habe nur ein paar Sekunden gebraucht, um zu begreifen, dass ihr alle fast vor Angst krepiert wärt!«, fing der heilige Mann mit rauer Stimme zu reden an. Sie wirkte nach Tists sonorem wohlklingendem Organ wie ein Schock. »Ja, ihr krepiert vor Angst! Nichts als Angst beherrscht eure hohlen Köpfe und Leiber. Angst …«

Er schwieg und ließ den Blick über die wie versteinerten Höflinge schweifen – er wirkte wie ein wildes Tier, bereit, zuzubeißen.

Artuir fragte sich, was Parakumadj mit seinem Auftritt erreichen wollte. Wenn Tist d’Argolon sich darauf verstand, das Feuer zu schüren, so verstand es der Eremit im selben Maße, Eiseskälte zu verbreiten. Artuir wusste nicht mehr, ob er schwitzen ode frieren sollte.

»Und warum habt ihr solche Angst?«, fuhr Parakumadj fort. »Weil ihr euch Äußerlichkeiten verschrieben habt. Weil ihr euch Illusionen hingebt. Ihr seid Geiseln der Wesen, die sich verstellen. Ihr seid Marionetten von Trugbildern. Eure ganze Begeisterung und Leidenschaft gilt eurer äußeren Erscheinung! Ich sehe hier nichts als Puder, Schminke, Schönheitsoperationen, hohle Hüllen … Mehr Schein als Sein! Ihr denkt nur an die Befriedigung eurer Sinne und vernachlässigt euren Geist, eure Seele. Und damit bringt ihr die Quelle eures Lebens zum Versiegen, und deshalb habt ihr Angst. Was hat die Kirche des Kreuzes gesagt: Jene, die die Seele vernachlässigen, werden in Leid und Schmerz enden … Und genau das habt ihr getan. Und dann wundert ihr euch darüber, dass sich andere des Wertvollsten bemächtigen, das ihr besitzt: eure Seele, euer innerer Tempel. Und dann bedient ihr euch der Gedankenhüter, um den anderen den Zutritt zu euren Seelen zu verwehren. Doch die Gedankenhüter sind wie Dornenranken und Brennnesseln, die sich in einem leer stehenden Haus einnisten, die den Herren des Hauses – also euch – untersagen, es wieder in Besitz zu nehmen. Und jetzt sucht ihr nach einer Methode, das zu verhindern? Ganz einfach: Reinigt euer Haus! Aber wenn ihr zweimal in der Woche in den Tempel geht, wird es gewiss nicht wieder rein! Dann gehört ihr nur zu diesem Heer von Scheinheiligen, die sich bei Gottesdiensten zur Schau stellen und deren Seele verhärtet ist … Nein, die Antwort auf eure Probleme findet ihr nur in euch selbst. Übt Demut und Mitgefühl, dann brauchen wir solche Versammlungen nicht mehr. Die Kirche des Kreuzes hat uns ein Beispiel gegeben, als sie …«

»Blasphemie!«, rief jemand mit gutturaler Stimme. Sie kam aus der Ecke, wo die Gedankenhüter standen.

Sofort spürte Artuir Boismanl eine dumpfe Angst in sich aufsteigen, und er musste wieder an seine Frau denken.

Ein Scaythe löste sich aus der Gruppe, schritt langsam bis zu der Fontäne in der Mitte des Raums und blieb in demonstrativ provozierender Haltung vor den Versammelten stehen.

»Was fällt Ihnen ein? Gehen Sie sofort zu den anderen zurück!«, rief Jadaho d’Ibrac.

Der Scaythe antwortete nicht, sondern streifte mit theatralischer Geste die Kapuze von seinem Kopf. Beim Anblick dieses zerklüfteten grünlichen Gesichts stießen die Höflinge Schreckensschreie aus, und Artuir hätte fast die Kontrolle über seine Blase verloren. Der Scaythe war kein Gedankenschützer, sondern Pamynx, der Großkonnetabel Syracusas. Jetzt glühten seine gelben Augen wie Unheil bringende Steine.

»Ich wusste, dass es Euch an Ehre mangelt, aber es überrascht mich, dass Ihr so weit gegangen seid, Euch hier einzuschleichen!«, sagte Tist d’Argolon in einem Ton äußerster Verachtung. »Ihr gehört nicht zu den Geladenen!«

Artuir bewunderte den Ton souveräner Herablassung und die Ruhe des Adeligen, trotzdem wurde seine Angst immer größer. Siehst du jetzt ein, wohin dich deine Träume gebracht haben, mein guter Boismanl? Warum, oh, warum nur hatte er nicht auf seine Frau gehört?

Pamynx’ gelbe Augen waren jetzt auf das Podium gerichtet. Auch Maryt d’Argolon hatte sich erhoben und die Hand ihres Gatten ergriffen.

»Zügelt Euren Hochmut, Sieur d’Argolon!«, konterte der Konnetabel. »Ihr seid nicht in der Lage, mir Ratschläge zu erteilen, noch mir mit Sarkasmus zu begegnen. Denn ich klage Euch und Eure Gäste der Verschwörung gegen den Herrscher von Syracusa und die heilige Kirche des Kreuzes an!«

»Und ich, ich klage Euch an, unsere Gedankenschützer bestochen zu haben! Ihr habt sie gezwungen, ihren Ehrenkodex zu verletzen! Ich weiß, dass Ihr zu allem fähig seid, wenn Ihr Euer Ziel erreichen wollt!«

»Was bedeutet mir schon der Begriff der Ehre«, entgegnete Pamynx verächtlich. »Das ist ein Wort aus der Vergangenheit. Und die meisten Verschwörer sind heute hier versammelt. Das allein ist wichtig. In dieser Hinsicht habt Ihr mir viel Zeit erspart, Sieur d’Argolon. Dafür bin ich Euch dankbar.«

Außer sich vor Zorn sprang Tist d’Argolon vom Podium, bahnte sich einen Weg durch die Sitzreihe und stellte sich mit drohend geballter Faust vor den Konnetabel.

»Ich werde Euch von meinen Leuten sofort hinrichten lassen, Konnetabel. Leider seid Ihr so unvorsichtig gewesen, mich auf meinem Grund und Boden herauszufordern.«

»Sprecht Ihr etwa von Eurer Leibgarde?«, fragte Pamynx höhnisch.

Tist d’Argolon machte einem seiner Assistenten ein Zeichen, der daraufhin nervös auf die Tasten seines Taschenholofons drückte.

»Darf ich fragen, warum Ihr das Wort ›Blasphemie‹ benutzt habt?«, fragte der Ex-Kardinal Parakumadj mit glühenden Augen.

Pamynx musterte den Häretiker, eine tragische Gestalt. Wie der Kapitän eines sinkenden Schiffs stand er auf dem Podium.

»Weil es rechtens ist, teurer Kardinal de Laboityp. Darf ich Euch daran erinnern, dass der Großkonnetabel einer der Paladine ist? Damit bin ich ermächtigt, die heilige Gerichtsbarkeit auszuüben. Aber ich versichere Euch, Kardinal de Laboityp, Ihr werdet nicht sofort hingerichtet. Erst müsst Ihr Euch vor dem Tribunal der heiligen Inquisition verantworten … Dann dürft Ihr beten, dass die Kirche des Kreuzes Euer Leiden verkürzt.«

»Und was … was habt Ihr mit uns vor?«, stammelte der Direktor der Akademie der Vergänglichen Künste.

Artuir saß wie erstarrt da, in kalten Schweiß gebadet. Sein Herz schlug nicht mehr, seine Atmung hatte ausgesetzt. Er war überzeugt, nicht lebend aus diesem Saal herauszukommen.

Der Assistent schüttelte ratlos den Kopf vor seinem stummen Holofon. Tist begriff, dass alles verloren war. Er stieg wieder auf das Podium und umarmte Maryt. Sie begann laut zu weinen, und ihre Tränen glichen den Mondsteinen auf ihrem Cape.

»Alle hier Versammelten sind ein Hindernis für unsere Machtergreifung, denn wir wollen eine neue Welt erschaffen. Deshalb müssen wir ausnahmslos alle krankhaften Elemente entfernen, damit sie die anderen nicht infizieren. Im Namen des Herrschers Ranti Ang und kraft meines mir übertragenen Amtes erkläre ich alle Anwesenden deshalb des Hochverrats für schuldig!«

Panik ergriff die Gäste. Einige liefen zur Eingangstür, andere zu einer Seitentür, wieder andere versteckten sich hinter dem Podium. Doch sie kamen nicht weit. Die Phalanx der Weißmaskierten blockierte den Flüchtenden den Weg, und an ihren ausgestreckten Armen blitzten die Stäbe der Wurfmaschine. Vor lauter Panik drängen sich die Höflinge in der Mitte des Raums zusammen, ein wirrer jämmerlicher Haufen.

»Ihr habt nicht das Recht, ihnen das Leben zu nehmen!«, rief Tist d’Argolon mit starker Stimme. »Wenn Ihr nach Blut dürstet, dann nehmt das meine, Konnetabel! Macht mit mir, was Ihr wollt, aber habt Erbarmen und verschont die anderen! Im Namen dessen, was uns heilig ist …«

Er presste seine Hände gegen die Schläfen. Ein unerträglicher Schmerz tobte in seinem Schädel: kalte Tentakel zerrissen sein Gehirn. Er sank zu Boden, zuckte noch ein paar Mal zusammen und rührte sich nicht mehr. Maryt stieß einen herzzerreißenden Schrei aus und warf sich schluchzend über ihren toten Gatten.

In ihrem Schmerz wollte sie noch einmal für ihren über alles geliebten Mann singen, denn durch die Kunst des Gesangs konnte sie ihre Verzweiflung zum Ausdruck bringen. Sie stimmte ein uraltes Liebeslied an und riss sich ihre Kopfbedeckung ab. Ihr langes dunkles Haar fiel über Schultern und Rücken. Dann brach ihre Stimme.

Währenddessen hatten Jadaho d’Ibrac und mehrere seiner Freunde mit Nachdruck ihre Unschuld beteuert und allein ihrem Gastgeber die Schuld zugewiesen: Sie seien durch Vorspiegelung falscher Tatsachen zu dieser Veranstaltung gelockt worden; er habe schamlos von ihrer Unwissenheit profitiert, und sie wollen nichts anderes, als in Frieden mit den Scaythen leben. Auch die Schauspielerin erklärte sich für unschuldig und verfluchte dieses verräterische Paar. Dann deutete sie auf Parakumadj und fügte hinzu: »Der Beweis ist dieser Mann. Wie hat er ihn nur hierherbringen können.«

Artuir Boismanl hingegen war völlig niedergeschlagen in seinem Sessel sitzen geblieben; vor seinem geistigen Auge sah er das liebe, ernste Gesicht seiner Frau. Und er dachte an die Kinder, die er noch nicht hatte zeugen können, an sein Atelier, das er erst kürzlich mit Maschinen ausgestattet hatte, die phonisch bedient werden und mit denen er die herrlichsten Stoffe herstellen konnte. Viel Geld hatten ihn diese Maschinen gekostet, ein Vermögen … Und er überlegte, dass seine Frau das Programm ändern lassen müsse, denn die Maschinen gehorchten nur seiner Stimme. Wahrscheinlich würde sie sich auch einen neuen Mann suchen müssen, den sie demütigen konnte … Das gehörte zu ihrem Naturell, aber eigentlich war es von ihr ja nicht böse gemeint … Da merkte er, dass er sie liebte.

Die Schauspielerin kniete jetzt vor Pamynx in der Nähe des Podiums, wo Maryt und Tist d’Argolon im Tode vereint waren, und bettelte um ihr Leben.

Artuir hatte jetzt begriffen, dass der Tod aus den Gehirnen der Scaythen kam, die die Gedankenschützer ersetzt hatten. Tod durch Denken … Möge die Kirche des Kreuzes uns gnädig sein! Automatisch und ohne zu wissen, was er tat, stand er auf und strebte, einem Schlafwandler gleich, dem Ausgang zu.

Zwischen den Scaythen und den Pritiv-Mördern sanken die Höflinge wie tote Fliegen zu Boden. Artuir stieg über umgeworfene Sessel und Leichen. Ohne bewusst gehandelt zu haben, stand er vor der Tür und drehte sich noch einmal um: Nicht einer der geladenen Gäste von Tist d’Argolon lebte noch.

Außer einem Menschen: er selbst.

Er war darauf gefasst, gleich durch einen Todesgedanken oder durch eine Wurfscheibe der Söldner getötet zu werden, doch nichts geschah, als er aus dem Saal schritt. Also fragte er sich, ob es nicht sein Geist sei, der den Flur entlangging.

Da hörte er plötzlich eine Stimme hinter seinem Rücken: »He, du da!«

Artuir drehte sich um und sah einen schwarz gekleideten Söldner mit ausgestrecktem Arm durch die Tür treten.

»Was hast du hier verloren?«, sagte der Söldner. Seine Stimme klang wegen der schwarzen Maske dumpf.

»Ich bin Artuir Boismanl, Tuchhändler meines Zeichens«, antwortete Artuir spontan. »Tist d’Argolon hat mich in sein Haus bestellt, weil er etwas bei mir bestellen wollte. Ich sollte nach dem Ende der Versammlung zu ihm kommen …«

»Er wird nie wieder irgendetwas bestellen!«, sagte der Söldner, und die runde Wurfscheibe in dem an seinem Arm befestigten Mechanismus blitzte auf.

Artuir schloss die Augen, doch er konnte sich nicht an das für derartige Situationen passende Gebet erinnern.

Da hörte er ein hohles, hässliches Lachen. »Hau ab! Aber schnell, ehe ich es mir anders überlege!«

Das ließ sich Artuir nicht zweimal sagen. Er lief, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter, ohne auch nur einen Gedanken an den Lift zu verschwenden.

Im Park begegneten ihm noch mehrere Pritiv-Mörder. Aber keiner beachtete ihn. Es war, als würde er nicht existieren.

Dame Boismanl hatte recht gehabt: Der arme Artuir würde sich niemals Zutritt zu dieser Welt verschaffen können.