FÜNFZEHNTES KAPITEL
Vor sehr langer Zeit lebte auf Selp Dik – was in der Sprache der Ureinwohner Land der Magie bedeutet – ein Volk von Magiern und Feen. Sie lebten in Albar, einem nebelverhangenen Land mit tiefen Wäldern, in das sich außer ihnen niemand wagen konnte, ohne sich darin zu verirren … Sie wohnten im dichten grünen Blattwerk der tausend Jahre alten Riesenbäume und tranken das Wasser der Ewigen Kaskade. Es spendete ihnen Kraft und ein langes Leben. Sie aßen die Früchte, die auf dem Kristall des Felsens an den Ufern des Sees der Barmherzigkeit wuchsen, und diese Früchte waren so köstlich, dass sie nicht das Bedürfnis hatten, sich vom Fleisch der Tiere zu ernähren. So lebten sie in friedlicher Eintracht mit ihnen …
Ihre Herzen waren rein wie die der Kinder und ohne Arglist.
Der Anführer dieses Volks war der Zauberer Gudevure, ein sehr weiser und ehrbarer Mann. Seine Gemahlin, die Fee Iradielle, hatte ihm zwei Mädchen geschenkt, die Feechen Flammèche und Étincelle. Ihre Schönheit war derart überwältigend, dass aus allen Gegenden des Reichs Albar junge Zauberer auf Luftströmen oder Lichtstrahlen herbeiritten, sie bewunderten und bei Gudevure und seiner Gemahlin um die Hand der einen oder der anderen anhielten.
Doch der alte Magier und seine Frau antworteten jedes Mal: »Es ist nicht an uns, darüber zu entscheiden, unsere Töchter wählen ihre Gatten selbst …« Die jungen Zauberer eilten zu den Schwestern und erklärten ihnen ihre Liebe. Natürlich waren die Feechen geschmeichelt, doch sie ersannen allerlei Zauberkunststücke, die jedoch so schwer waren, dass sie ihren Anbetern niemals gelingen konnten. An den Grenzen Albars aber lebten böse Zauberer, die neidischen Ager. Schon öfter hatten sie versucht, das Reich der Magie zu überfallen, waren aber jedes Mal von dem mächtigen Zauberer Gudevure daran gehindert worden. Jetzt trug ihnen der unbesonnene Wind zu, welch gefährliches Spiel die Töchter ihres Erzfeindes spielten und sie nahmen die Gelegenheit wahr, sich zu rächen. Und während das Augenmerk des ganzen Königreichs auf die jungen Zauberer gerichtet war, die danach trachteten, die Herzen ihrer Angebeteten zu erobern, schmiedeten die Ager finstere Ränke.
Einer der ihren, ein Hexer namens Mon, nahm die Gestalt eines Traums an und überschritt in dunkler Nacht die Grenze des Landes Albar. Die Grenzwächter, die Zauberlehrlinge, denen die Feechen ebenfalls die Köpfe verdreht hatten, entdeckten den Ager Mon weder durch die Kraft ihrer Gedanken noch durch Wahrsagen oder indem sie dem Atem der Sterne lauschten.
Also begab sich Mon ohne Schwierigkeiten zum Haus Gudevures und Iradielles. Und während sie alle schliefen, besuchte er Étincelles Geist. Er trat in den Kreis ihrer Träume und vertrieb durch seine schreckliche Gegenwart alle anderen Träume. Als er Leere um sich geschaffen hatte, hauchte Mon der Ager dem schlafenden Feechen den Gedanken ein, sie möge ihren Verehrern als Liebesbeweis folgende Aufgabe stellen: ihr das Herz einer Silberhindin zu bringen, dieses sanften, grazilen Tiers, das in den Wäldern Albars lebte. Denn Mon der Ager wusste nur zu gut, dass die magischen Gesetze im Reich Albar das Töten eines jeglichen Lebewesens strikt verboten. Und dass im Falle eines solchen schwerwiegenden Gesetzesbruchs das Volk der Magier und Feen sofort den Schutz der Gottheiten der Zwischenwelten und der Engel verlören.
Nachdem Mon der Ager seine Schandtat begangen hatte, kehrte er zu seinen Brüdern, den Hexern, jenseits der Grenze zurück, wo sie die ganze Nacht tranken und lachten.
Als Étincelle am nächsten Morgen erwachte, öffnete sie das Lichtfenster, das auf den Balkon aus Blattwerk hinausging und sprach zu den jungen Zauberern, die sich unten im Hof versammelt hatten.
»Denjenigen, der mir das Herz einer Silberhindin bringt, den will ich zum Gatten nehmen …«
Ihre Verehrer dachten nicht einmal nach. Alle liefen in den Wald, in den Händen scharfe Messer mit blitzenden Klingen. Als der große Zauberer Gudevure beim ersten Gesang der geschwätzigen Drossel die schreckliche Nachricht erfuhr, eilte er ins Zimmer seiner Tochter.
»Was hast du getan, Unglückselige?«, sagte er voller Zorn. »Du rufst zum Vergießen unschuldigen Blutes auf. Jetzt bricht eine Zeit des Fluches an!« Aber es war zu spät. Die jungen Zauberer ließen sich nicht mehr aufhalten. Blind geworden, weil sie dem Feechen gefallen wollten, richteten sie unter den Silberhindinnen ein Massaker an und schnitten ihnen die Herzen aus ihren Leibern.
Und so kam es, wie das Gesetz es befahl. Die Gottheiten der Zwischenwelten und die Engel verließen das Land Albar. So verlor es seinen magischen Schutz: Die Ewige Kaskade versiegte, auf dem Kristall des Felsens wuchsen keine Früchte mehr, der See der Barmherzigkeit verwandelte sich in eine Salzwüste, die Waldtiere wurden zu Raubtieren und töteten und fraßen die Kinder.
Auf diesen Augenblick hatten die Ager seit langen Jahren gewartet. Sie versammelten ihre Streitmacht an der Grenze, um das Land Albar zu erobern. Der große Magier Gudevure sprach zu seinem Volk: »Weil meine Tochter Étincelle, aber vor allem auch ich, der ich ihr Vater und euer Anführer bin, einen Fehler gemacht haben, halten die Gottheiten und die Engel nicht mehr ihre schützenden Hände über uns. Die himmlischen Wesen sind aus unseren Wäldern geflohen … Die geschwätzige Drossel hat mir berichtet, dass die Ager bald in unser Land eindringen und uns töten werden. Wir haben nicht mehr die Kraft, sie zu bekämpfen und sind bis in alle Ewigkeit verflucht. Im Gesetz heißt es, dass nur das reinigende Wasser, das Wasser des Verzeihens uns retten könnte, doch der See der Barmherzigkeit ist ausgetrocknet und zu Salz geworden, und die Ewige Kaskade ist versiegt …«
Bei dieser traurigen Rede fingen Iradielle und alle Feen an zu weinen. Sie weinten die bitteren Tränen der Reue. Und der Tränen waren so viele, dass sie zu einem Bach wurden und der Bach zu einem Fluss anschwoll und der Fluss sich zu einem Ozean auswuchs, einem unendlichen Meer, in dem die viele, viele Männer zählende Streitkraft der Ager ertrank. Inmitten dieses Ozeans blieb eine Insel, auf die sich das magische Volk flüchtete. Der Himmel sandte Lichtstrahlen hernieder und brachte die Magier und die Feen in ein weit entferntes Land, in dem sie noch einmal ein neues Leben im Einklang mit den magischen Gesetzen beginnen konnten.
Was nun diese Insel betrifft, so gibt es Menschen, die behaupten, dass sie heute von den Nachkommen der Ager streng bewacht wird, jener Ager, die dem Ertrinken entgingen, und dass man sich ihr auf keinen Fall nähern dürfe …
Von Kwen Daël erzählte selpdikische Legende, Übersetzer: Messaodyne Jhû-Piet
Es gibt Gelehrte, die einen Zusammenhang zwischen dieser Legende und den Monagern (Mon der Ager) – jenen, den Ozean der Feen von Albar bevölkernden marinen Säugetieren – vermuten. Andere wiederum sehen eine gewisse Analogie mit einer Legende der sadumbischen Imas vom Planeten Zwei-Jahreszeiten. [Anm.d.Ü.]
Vom obersten Punkt des breiten Rundwegs, der sich in Serpentinen am äußeren Befestigungswall des Klosters emporschlängelte, betrachtete Filp Asmussa den Ozean der Feen von Albar. Im eintönigen Grau des hereinbrechenden Morgens hoben sich die von Schaum gekrönten Wellen vor dem tintenblauen Nachthimmel als weiße, flüchtige Tupfer ab. Große, regenschwere Wolken zogen auf. Ein kräftiger Wind schob sie unablässig auf die zerklüftete Küste der felsigen Halbinsel zu. Brandungswellen schlugen tosend auf den Sandstrand auf, der sich östlich des Klosters erstreckte, und hinterließen beim Rückzug weiße Schaumschlieren.
Die feuchte Luft roch stark nach Jod. Filp Asmussa sah die Flotte der morgendlichen Fischer in ihren Aquakugeln nicht. Selbst bei bewegter See gingen die selpdikischen Fischer ihrem Beruf nach. Erst wenn ein gefährlicher Sturm aufzog, ließen sie ihre Aquakugeln im sicheren, überdachten Hafen von Houhatte.
Jetzt, bei Ebbe, trainierten die Krieger und die Aspiranten auf dem goldenen Sand des Strands im Osten unter der Anleitung einiger Ritter. Die Schüler waren nackt bis auf eine bronzefarbene Hose, während die Ritter ihre grauen abgenutzten Kutten trugen. Sie übten den Todesschrei und verteilten sich traditionsgemäß in kleinen Gruppen am Ende des Strands. Jede Gruppe eignete sich, je nach Belieben ihres Lehrers, eine andere Technik an. Manchmal flatterten Gelbmöwen oder Silberkammtölpel durch das fürchterliche Schreien verstört, erschreckt auf.
Von seinem etwa hundert Meter über der Szenerie liegenden Aussichtspunkt wirkten die Schüler auf Filp Asmussa wie ein Schwarm winziger disziplinierter Insekten.
Wäre ich nicht unverhofft von den Weisen des Entscheidungsgremiums vorgeladen worden, wäre ich jetzt auch eines dieser Insekten da unten und müsste den Befehlen der Lehrer-Insekten aufs Wort gehorchen, dachte er.
Die Schüler hatten vor dem Unterricht Steine aller Größen gesammelt und zu kleinen schwarz glänzenden Hügeln aufgetürmt. Das waren ihre Zielscheiben, die sie mit ihren vibrierenden Todesschreien bombardierten. Manchmal, wenn der Ton seine höchste Wirkungskraft entfaltete, zerbarst ein Stein in tausend Stücke. Dann freute sich der Urheber des Schreis. Sollte er seine Freude jedoch kundtun, wurde er sofort von seinem Lehrer zurechtgewiesen. Denn jede Überschwänglichkeit war der Konzentration abträglich.
Filp Asmussa hätte gern an dieser morgendlichen Übung, auch prime matine genannt, teilgenommen, weil sie nach absoluter Konzentration verlangte und sie wahrscheinlich seine finsteren Gedanken verscheucht hätte.
Nach seiner Rückkehr von Roter-Punkt hatten ihn sehr schlechte Nachrichten erreicht: Filp würde seinen Vater, Dons Asmussa, Seigneur von Sbarao und Herrscher der Elf Ringe, nicht wiedersehen. Er war in eine von der Angfamilie und deren Verbündeten gestellte Falle gegangen. Alle Seigneurs der Konföderation waren bereits tot. Auch seine Mutter, Dame Moniaj, würde er nicht wiedersehen, ebensowenig seine beiden Brüder, Gartip und Hesmir, und seine drei Schwestern Veenidj, Bridij und Isabelj. Sie alle waren von den Pritiv-Mördern auf dem größten Platz in Rahabezan, der Hauptstadt Sbaraos und der Ringe enthauptet worden. Da die Bullovisionsprogramme und die Audiosender seit mehreren Tagen unterbrochen waren, hatten sie diese Informationen nur über das geheime Netz des Ordens auf Sbarao bekommen. Die Medien schwiegen. Folglich kursierten die widersprüchlichsten Gerüchte über die Ereignisse. Zwar hatte Filp keine offizielle Bestätigung für das Massaker an seiner Familie, aber im tiefsten Inneren wusste er, dass er sich keine Hoffnungen machen durfte: Das unsichtbare Band zu seinen Angehörigen war unwiderruflich zerschnitten worden.
Sein persönlicher Beichtvater, der Ritter Choud Al Bah, auch verantwortlich für die Verwaltung des Klosters, hatte ihn informiert. Den verworrenen Berichten des Geheimnetzes war zu entnehmen, dass sich seine Familie gegen die Invasion ihres Planeten gewehrt habe und deshalb exekutiert worden sei. Ehe man seiner Mutter und seinen Schwestern – auch der erst zwölfjährigen Isabelj – die Köpfe abschlug, seien sie vor den Augen des Volks vergewaltigt worden, und seine Brüder habe man bei lebendigem Leibe gevierteilt, dann ihre Köpfe aufgespießt und öffentlich zur Schau gestellt. Außerdem seien viele höfische Würdenträger zum Tode durch das kreuzeanische Feuer verurteilt worden, und diese Hinrichtungen würden sich innerhalb weniger Tage auf beängstigende Weise häufen.
Als Ritteranwärter war es Filp Asmussa allein durch die Kraft des mentalen Klangs gelungen, seiner Trauer und Verzweiflung über den Verlust seiner Familie Herr zu werden. Nachts besuchte sie ihn in seinen Träumen, und er fand etwas Ruhe. Doch wenn er schlaflos war, sah er fürchterliche Bilder, vor allem die der geschändeten Körper seiner Mutter und seiner Schwestern. Isabalj war ein kleines fröhliches Mädchen mit goldenen Haaren und Augen gewesen. Dann verwandelte sich seine Trauer in Wut und Hass.
Da er der einzige Thronerbe war, lebte er nun im Zwiespalt. Sollte er aus Pflichterfüllung gegenüber seinem Volk die Rückeroberung seines Planeten betreiben oder weiterhin Mitglied des Ordens bleiben und den ruhmreichen Weg eines Ritters beschreiten? Im Moment konnte er diese schicksalsschwere Frage nicht beantworten. Doch er wusste, dass er nach der entscheidenden Schlacht, in der der Orden bald den Feinden der Konföderation gegenübertreten würde, und an der er unbedingt teilnehmen wollte, um die Seinen zu rächen, eine Entscheidung treffen musste.
Diesen Gewissenskonflikt hatte er seinem Lehrmeister, dem Ritter Ruiff Loane, offenbart, dessen Assistent er ebenfalls war. Und Loane hatte ihm geantwortet, dass nur er – Filp – nach Prüfung seines Gewissens den richtigen Weg, den Weg des Xui, finden könne, den er dann gehen müsse. Vor diesen tragischen Ereignissen hatte Filp nie in Betracht gezogen, das Kloster zu verlassen. Er hätte sich nicht vorstellen können, diese hohe Mauer aus gelben und weißen, von Flechten überwachsenen Granitsteinen nie mehr zu sehen, oder die salzige Meeresluft nie mehr zu riechen. Das alles war Teil des Ordens, mit dem er sich bereits identifizierte. Wie würde er die schrillen Schreie der gelb gekleideten Männer und das raue Trompeten der Silberkammtölpel vermissen und die morgendlichen und abendlichen Übungen!
Paradoxerweise war diese nahezu physische Beziehung, die er zu dem Kloster entwickelt hatte, ausgerechnet durch die aufrührerischen Worte dieses Verbannten auf Roter-Punkt infrage gestellt worden. Der Ritter Long-Shu Pae hatte Zweifel in ihm gesät. Denn hinterher hatte er feststellen müssen, dass die Heftigkeit, mit der er die Gedanken Long-Shu Paes von sich gewiesen hatte – so als wolle er ein Feuer löschen, das seine Seele zu verzehren drohe –, leider sehr aufschlussreich hinsichtlich der Schwachstellen seines Charakters waren. In seiner Naivität hatte er geglaubt, durch die langwierige Ausbildung zum Ritter vor Seelenqualen geschützt zu sein, die er nur andern, schwachen Kriegern zubilligte. Doch er musste sich der Erkenntnis stellen: Nur ein paar Sätze von Long-Shu Pae hatten genügt, um sein Gedankengebäude, das seine Lehrer Stein auf Stein errichtet hatten, zum Einsturz zu bringen – ja, sogar dessen Fundamente und seine Überzeugungen zu untergraben. Die Warnungen zweier Mitglieder des Entscheidungsgremiums vor seiner Abreise hatten sich gegen die gefährlichen Ansichten des verbannten Ritters als ineffizient erwiesen, umso mehr, weil Long-Shu Pae entschieden dazu beigetragen hatte, die Mission erfolgreich zu beenden. Die Überzeugungen des Kriegers Filp Asmussa waren zutiefst erschüttert worden.
Jetzt warf er sich seinen Hochmut und seine Verachtung gegenüber dem ehemaligen Ritter vor, und er stellte fest, dass er viel mehr von dieser Begegnung hätte profitieren können. Die Beherrschung des Klangs und des Geistigen, Long-Shu Paes insgeheim erworbene Kenntnisse aus dem Archiv des Klosters, hatten für ihn seitdem mehr Gewicht als die seiner Lehrer bekommen.
In einer der nun häufigen schlaflosen, von finsteren Gedanken überschatteten Nächte hatte er nach der Außentreppe gesucht, die zu der Krypta führte, wo Long-Shu Pae einst seinen geistigen Hunger gestillt hatte. Doch er hatte weder Kraft noch Mut genug gehabt, seinen Plan durchzuführen. In den dunklen Gängen des Klosters hatte ihn eine Art innerer Schwindel überfallen. Da war er schnell umgekehrt und hatte sich in seine spartanische Zelle geflüchtet und auf seinem Bett unter der rauen Wolldecke vor Aufregung gezittert.
Das von dem verbannten Ritter gesäte Samenkorn der Heterodoxie begann in der Seele Filps zu keimen. Er befand sich im Zwiespalt: Nichts wünschte er sich so sehr, als endlich die Ritterwürde zu erlangen, deshalb musste er unbedingt diesen aufkeimenden Zweifel ausmerzen.
Jedenfalls hatte ihm das sein Beichtvater, Choud Al Bah, dringend geraten. Filp hatte ihn als Paten und Tutor gewählt, weil dieser alte, erfahrene Ritter ihn vor allem wegen der faszinierenden Ausstrahlung seiner grünen Augen beeindruckte und weil er das wenig ruhmreiche Amt des Hauptverwalters ausübte.
Also ertrug Filp seine Seelenqualen geduldig. Er hoffte, schon bald eine Lösung für seinen inneren Zwiespalt zu finden.
Jetzt lenkte er seine Gedanken auf Aphykit, die Tochter Sri Alexus, die er vom Planeten Roter-Punkt hierhergebracht hatte. Noch immer war sie schwach und wurde vom Fieber geschüttelt. Doch ihre Krankheit beeinträchtigte ihre Schönheit nicht. Im Gegenteil, in Filps Augen wurde sie dadurch noch begehrenswerter. Da er mit dem Ritter, der die Krankenstation leitete, Nobeer O’An, befreundet war, konnte er die junge Frau entgegen der strikten Regel, die jeglichen Kontakt mit weiblichen Personen innerhalb des Klosters verbot, ein oder mehrmal am Tag besuchen. Und wenn er dann am Bett der Kranken saß, schmerzten die Wunden seines Herzens und seiner Seele nicht mehr. Er kämpfte nicht gegen seine Gefühle. Seit sie in sein Leben getreten war, hatte er nicht einmal daran gedacht, dass sie eines Tages wieder daraus verschwinden könne. So hoffte er, dass der erfahrene Medicus Nobeer O’An schnell ein Heilmittel gegen das Virus finde.
Schon jetzt freute er sich auf den Besuch, den er ihr nach dem Gespräch mit den Weisen des Entscheidungsgremiums abstatten wollte. Zum wiederholten Mal fragte er sich, was diese Vorladung bedeutete. Seine Freunde hatten ihm – mit kleinen Andeutungen und vor Neid glänzenden Augen – versichert, das Gremium wolle ihn für seine erfolgreiche Mission auf Roter-Punkt belohnen und in den Ritterstand erheben. Aber daran wagte Filp nicht zu glauben, denn er hielt seinen geistigen Zustand nicht für stabil genug, um dieser Ehre würdig zu sein. Worauf seine Mitschüler lachend erwidert hatten, er solle sich nicht hinter falscher Bescheidenheit verstecken, denn jeder im Kloster wisse, dass er der Krieger sei, dem die Ritterwürde am ehesten gebühre.
Noch einmal folgte Filp, in Gedanken verloren, mit Blicken dem Flug der Gelbmöwen und der Silberkammtölpel unter den dunkel heraufziehenden Wolken. Dann ging der Krieger über den mit einer Brüstung und Schießscharten befestigten Rundweg, der etwa zehn Meter breit und mit glatten Steinen gepflastert war, zum größten Burgfried. Der wurde Turm der Mahdis genannt, denn dort residierten die Großmeister des Ordens der Absolution. Er war rechteckig und aus großen, grob behauenen Quadern aus weißem Granit gebaut. Mit seiner Größe, die in die Wolken hineinragte, dominierte er alle anderen Gebäude der Klosteranlage, die vier Türme an den Seiten mit grünen Dächern, die Glockentürme und die Dächer der Wohn-, Wirtschafts- und Verwaltungsbauten.
Drei finster dreinblickende Ritter in ihren grauen Kutten hielten Wache vor der massiven, aber vom Holzwurm befallenen Eingangstür. Sie hatten den Befehl, jeden Besucher zu durchsuchen und gehörten der Garde der Trapiten an, nach dem Mahdi Dinu Trapit benannt, der diese Elitetruppe gegründet hatte, um lästige Aspiranten möglichst fernzuhalten. In Wahrheit nahm die Garde die Stellung einer internen Polizei ein und diente dazu, eventuelle Revolten aufmüpfiger Ordensmitglieder aufzuspüren und zu unterdrücken. Nur erfahrene Ritter konnten Trapiten werden, und allein ihre Anwesenheit genügte, den Aufständischen jeglichen Mut zu nehmen. Oft nutzten sie die Angst aus, die sie einflößten, und zwangen jungen Anwärtern ihre Doktrin auf. Filp hatte noch nie etwas mit ihnen zu tun gehabt, aber er hatte gehört, dass sie junge Aspiranten misshandelten. Und da er wie ein Ephebe aussah, hätte ihn die Ablehnung gewisser Angebote der Trapiten in Gefahr bringen können.
Als er nun vor ihnen stand, musterten sie ihn mit verächtlichem Spott. Filp grüßte sie auf traditionelle Weise, indem er die Hand über seine Stirn legte. Sie rührten sich nicht, obwohl die Nichterwiderung des Grußes als schwerer Verstoß gegen die Regeln galt.
»Ich bin der Krieger Filp Asmussa«, erklärte er mit fester Stimme, »und wurde vom Entscheidungsgremium einbestellt.«
»Ach ja? Dessen müssen wir uns vergewissern, Krieger!«, sagte einer der Trapiten mit schneidender Stimme. »Inzwischen rührst du dich nicht von der Stelle, verstanden? Gien, siehst du mal nach?«
Der Ritter namens Gien schnaubte auf und entriegelte betont langsam die Tür, die quietschend aufschwang.
»Asmussa? Bist du nicht der Sohn eines der Seigneurs der Konföderation?«, sagte der erste Trapit.
»Ganz richtig!«, entgegnete Filp zornig. Noch wütender wurde er, als er die Arroganz dieses Mannes mit dem Benehmen Long-Shu Paes verglich.
Diese Leute schienen ihm ihrer hohen Stellung unwürdig, obwohl sie ihrem Status nach als unentbehrliche Pfeiler des Ordens galten. Ganz plötzlich verlor diese Stellung als Ritter, die er mit der ganzen leidenschaftlichen Ausschließlichkeit angestrebt hatte, ihre mythische Aura. Seine letzten Illusionen zerbrachen an der Unverschämtheit dieser ungehobelten Kerle.
»Müssen wir dich etwa auch mit Seigneur anreden?«, fragte der Trapit und grinste provozierend.
Filp schwieg.
»Lass ihn doch, Frol«, sagte der erste Wächter. »Du siehst doch, dass Seine Hoheit keinen Sinn für Humor hat.«
Unbändige Wut kochte in Filp hoch, doch mit Hilfe seiner mentalen Kontrolle gelang es ihm, sie zu unterdrücken.
Gien kam zurück und machte dem Geplänkel ein Ende. »Es stimmt, Frol«, sagte er enttäuscht. »Die Weisen des Entscheidungsgremiums haben ihn einbestellt.«
Erste, schwere Tropfen fielen vom Himmel, und ein heftiger Wind kam auf.
»Oh, Seine Hoheit muss ja ziemlich wichtig sein, wenn die Alten höchstpersönlich geruhen, ihn zu empfangen«, knurrte Frol. »Also, worauf wartest du noch? Sollen wir deinen Hintern da reinschieben? Ein Vertreter des Gremiums kommt gleich und holt dich ab.«
Das ließ sich Filp nicht zweimal sagen. Er war froh, diesen hämischen Blicken nicht mehr ausgesetzt zu sein. Er betrat ein dunkles Vestibül mit einer einzigen schmalen Fensteröffnung, durch die pfeifend der Wind hereinblies. Er setzte sich auf eine feuchte Steinbank, den ausgetretenen Stufen einer verwinkelten Treppe gegenüber. Boden und Wände sahen wie von Lepra zerfressen aus. Und aus unzähligen Mauerspalten wehte feiner Staub.
Wie lange Filp dort saß, konnte er nicht sagen. Er hörte das erstickte Lachen der Trapiten draußen vor der Tür, das Heulen des Windes und das ferne Rauschen der Brandung. Es war das erste Mal, dass er vor dem Gremium erscheinen musste. Bisher hatte er als Schüler und Krieger nur mit Hilfskräften der Verwaltung zu tun gehabt, außer als er für diese Mission auf Roter-Punkt abkommandiert worden war. Da hatten sich zwei Sekretäre mit ihm unterhalten.
Jetzt fragte sich Filp zum hundersten Mal, was sich hinter dieser Vorladung verbarg, denn wann immer ein Mitglied des Ordens in den Turm der Mahdis befohlen wurde, sah man ihn nie wieder. Meistens wurden diese Leute des Klosters verwiesen oder verbannt, je nach Stellung.
Wie neuerdings immer, wenn er sich selbst überlassen war, wurde er von finsteren Gedanken heimgesucht. Er sah die Gesichter seiner Eltern, Brüder und Schwestern vor sich, und ein schreckliches Gefühl der Einsamkeit überkam ihn. Er hatte niemanden mehr, dem er sich anvertrauen konnte. Erst jetzt, da ihm seine Familie genommen worden war, wurde ihm bewusst, wie viel sie ihm bedeutet hatte. Seine Augen füllten sich mit Tränen; zum ersten Mal seit er vom Tode der Seinen erfahren hatte, lies er es zu, um sie zu trauern.
Eine kleine Tür unter der Treppe wurde geöffnet und heraus trat ein Ritter, den Filp zwei oder drei Mal gesehen hatte. Er war sehr groß, und hatte dichtes blondes Haar, das seinen Kopf umspielte. Der Mann strahlte eine ungeheure Kraft aus, und sein muskulöser Körper schien seine eng sitzende Kutte fast sprengen zu wollen.
Seine dunkelblauen Augen auf Filp gerichtet und ohne zu grüßen sagte er mürrisch: »Krieger Asmussa? Ich bin der Ritter Godegezil Szabbo, der Vertreter der Garde des Entscheidungsgremiums. Folgt mir bitte.«
Filp wischte sich schnell mit dem Ärmel über die Augen, ordnete seine Kleidung und strich ein paar widerspenstige Haarsträhnen zurück. Dann folgte er dem blonden Ritter. Sie stiegen die schmale Wendeltreppe empor. Fahles Licht fiel durch die Schießscharten. Die Sohlen ihrer Ledersandalen machten auf den abgetretenen Stufen klackende Geräusche. Abgesehen von dem fernen Dröhnen der Brandung waren dies die einzigen Laute in der Grabesstille des Turms. Filps Blick wanderte automatisch zu den Füßen seines Führers. Sie waren vom jahrelangen Exerzieren auf dem harten Sand der Halbinsel mit Schwielen bedeckt. Manchmal unterbrachen die schrillen Schreie der Meeresvögel ihren monotonen Aufstieg.
Schließlich erreichten sie einen zugigen, gefliesten Treppenabsatz. In eine der Wände waren drei nicht verglaste achteckige Fenster eingelassen, die einen herrlichen Blick über das Meer und die Halbinsel boten, die das Kloster mit dem einzigen Kontinent Selp Dik verband. Filp konnte sogar die winzigen Dächer der etwa vierzig Kilometer entfernt liegenden Hafenstadt Houhatte erkennen.
»Wartet hier!«, befahl der Ritter Szabbo. »Ich erkundige mich bei einem der Vertreter des Gremiums, ob die Weisen bereit sind, Euch zu empfangen.«
Er verschwand durch eine den Fenstern gegenüberliegende große Tür.
Die Wendeltreppe führte, immer schmaler werdend, weiter nach oben, in geheime Regionen. Nur ein paar Stufen trennten ihn noch von den Gemächern Mahdi Seqorams, des Großmeisters des Ordens, stellte Filp fest, und wurde ganz aufgeregt. Er hoffte, ihn wenigstens einmal zu sehen, eine Gunst, die ihm bisher verwehrt worden war. Und die physische Nähe zu diesem außergewöhnlichen Mann erfüllte ihn mit geradezu religiöser Inbrunst. Er hatte die absurde Hoffnung, plötzlich vor ihm zu stehen.
Aber Filp starrte vergebens die ausgetretenen Stufen an, der Mahdi zeigte sich nicht. Er zuckte mit den Schultern, schalt sich seiner Naivität und lehnte sich an eines der Fenstersimse. Der Stein fühlte sich porös und kalt an. Sein Blick schweifte über das graue, von Wind und Regen aufgepeitschte Meer der Feen von Albar. Filp versuchte, die legendäre Insel der Monager auszumachen, dieser gefährlichen Seemonster, über die die selpdikischen Fischer mit abergläubischer Angst sprachen. Aber trotz der Höhe seines Aussichtspunkts oder weil schlechtes Wetter herrschte, oder weil diese Insel eben nur in der Fantasie der Menschen existierte, konnte er nichts als das aufgewühlte Meer und die dunklen drohenden Wolken darüber sehen.
Die Stimme des Ritters Szabbo riss in abrupt aus seinen Betrachtungen: »Die Weisen des Gremiums erwarten Euch, Krieger! Befleißigt Euch ihnen gegenüber größter Ehrerbietung. Den meisten Eurer Kommilitonen wird niemals ein solche Gunst zuteil. Folgt mir!«
Hinter der Tür erstreckte sich ein dunkler Gang mit gewölbter Decke, die so niedrig war, dass die Haare des Ritters die Rundbögen streiften. Sie betraten einen kleinen, unmöblierten Raum mit vom Grünschimmel befallenen Wänden und einem einzigen Fenster. Die offen stehende Tür schlug in regelmäßigen Abständen laut gegen den Rahmen.
»Tretet jetzt ein, Krieger Asmussa!«, befahl Szabbo.
Filp grüßte den Ritter ehrerbietig. Dieser erwiderte den Gruß mit einer leichten Verbeugung und zog sich kommentarlos zurück.
Filp ging langsam in den Audienzsaal des Entscheidungsgremiums. Er war rund. Licht fiel durch die Luftfenster herein. Der Saal war bernsteinfarben getönt und das Licht warf einen golden Glanz auf Möbel und Wände. Magnetische Teppiche mit changierenden Emulsionen bedeckten den Holzfußboden. An die Decke wurden holografische Bilder projiziert, die die Gesichter aller Mahdis seit Gründung des Ordens zeigten und zwischen den Porträts das Emblem der Ritterschaft, den Pantharden.
Das Leben und die symbolische Bedeutung des Pantharden war einziges Thema der drei ersten Kurse aller Anwärter auf die Ritterschaft. Der Panthard war ein Raubtier der tropischen Wälder des Planeten Nouhenneland, ein sehr scheues Geschöpf, imstande, auch den ausgeklügelsten Fallen zu entgehen und deshalb schwer zu jagen. Doch wenn er in die Enge getrieben wurde, kämpfte er erbarmungslos um sein Leben. Die Einheimischen behaupteten, sollte der Panthard jemals aussterben, wäre das ein Zeichen für das Zeitenende.
Nun sah Filp den Panthard an der Decke dargestellt: ein geschmeidiger Körper mit feuerrotem, von purpurnen und schwarzen Streifen durchzogenem Fell bedeckt, große grüne undurchdringliche Augen und fünfzig Zentimeter lange Reißzähne.
Auf einem Podium in der Mitte des Saals standen vier Stühle. Auf jedem dieser Stühle saß ein mit einer weißen Toga bekleideter Greis. Die Schädel dieser Männer waren rasiert und voller brauner Altersflecken, ihre Gesichter mit einer pergamentartigen faltigen Haut überzogen, ihre Augen wässrig, farblos. Die Alten, wie sie gern genannt wurden, versuchten jetzt, den Krieger mit ihren Blicken zu durchbohren.
Im Raum roch es nach Staub und Schimmel, ein Geruch, der Filp an die geräumigen Dachböden des elterlichen Palastes in Rahabezan erinnerte.
Er schritt bis zu dem halbkreisförmigen Geländer vor dem Podium und grüßte – trotz seiner inneren Anspannung, die ihn zittern ließ – langsam und zeremoniell wie vorgeschrieben, die vier Weisen.
Kaum hatte er das Ritual absolviert, traf ihn eine Stimme wie ein Peitschenhieb.
»Krieger Filp Asmussa, der Mahdi Seqoram hat uns beauftragt, Euch vorzuladen, um Euch davon in Kenntnis zu setzen, dass er im Hinblick auf Euch gewisse Sorgen hegt«, verkündete einer der Weisen, ohne sich zu rühren. Seine Stimme klang wie das künstliche Organ eines Roboters.
Ein eisernes Band legte sich um Filps Brust und machte ihm das Atmen schwer.
»Als Erstes«, fuhr der Weise fort, »legt der Mahdi Wert darauf, Euch zu dem brillanten Gelingen Eurer Mission auf Roter-Punkt zu beglückwünschen, eine Mission, die alles andere als einfach war, wie er zugibt. Auch wenn sie sich teilweise als überflüssig erwiesen hat, denn die Tochter des Syracusers Alexu weiß kaum mehr über die Feinde der Konföderation als wir. Ständig wiederholt sie, dass wir uns durch den Klang schützen müssen, aber das tun wir bereits! Wir haben nur eine, wie mir scheint, zweifelhafte Auskunft des Leiters unseres Netzes auf Roter-Punkt, die besagt, dass es Euch gelungen sei – obwohl Ihr nur Krieger seid –, einen Scaythen vom Planeten Hyponeros im Zweikampf zu besiegen. Daraufhin beschloss der Mahdi, Euch schon vor Beendigung Eures Noviziats die Ritterwürde zu verleihen … Doch leider ließen uns die Wächter der Reinheit Informationen … besorgniserregende Informationen über Euch zukommen, die den Mahdi bewogen haben, seine bereits getroffene Verfügung zu ändern.«
Der fahle Blick des Redners brannte auf Filps Gesicht. Er fühlte sich erbärmlich und senkte den Kopf wie ein ertapptes Kind, um diesem fürchterlichen Zorn zu entgehen.
In diesem Augenblick betrat ein Mann in der roten Robe der Wächter der Reinheit durch eine kleine Seitentür den Audienzsaal. Er war groß und mager, sein ausgemergeltes Gesicht von wächserner Blässe. Der graue Haarkranz um seinen kahlen Schädel betonte sein strenges Aussehen. Er trat an das Geländer und richtete seine kleinen kalten Augen auf Filp.
»Ich stelle Euch den ehrenwerten Plays Hurtig vor«, sprach der Weise. »Er leitet seit Jahren die Reinheitskommission, deren Aufgabe darin besteht, gegen die Verfälschung der Lehre zu kämpfen. Das Ego eines jeden hat das natürliche Bedürfnis, alles an sich zu reißen, und einige Mitglieder des Ordens haben die ärgerliche Angewohnheit, sich die Lehre zu eigen machen zu wollen. Anders gesagt, sie zu interpretieren. Ein solches Verhalten führt zu Konflikten, und das kann der Mahdi nicht dulden! Nichtsdestotrotz scheint mir, Krieger Asmussa, dass Ihr, obwohl Ihr vor Antreten Eurer Mission vor dem subversiven Gedankengut und den heterodoxen Ideen des seit über zwanzig Jahren verbannten Ritters Long-Shu Pae aufs Schärfste gewarnt wurdet, gewissen Versuchungen erlegen seid. Schon seine permanente Insubordination führte zu schwerwiegenden Zwischenfällen innerhalb der Klostermauern …«
Die Stimme des alten Weisen wurde vor Zorn immer schriller, und sein Gesicht verzerrte sich zu einer wütenden Fratze.
»Wir haben einen Fehler gemacht, Krieger! Denn wir, die Weisen des Gremiums, haben Euch auf Rat Eures Lehrers Ruiff Loane und Eures Beichtvaters Choud Al Bah für diese Mission auserwählt. In ihren Augen gehörtet Ihr zur Elite, unseres Vertrauens würdig … Denn der Mahdi wollte sich in diesen unsicheren Zeiten nicht einmal vorübergehend von seinen bewährten Rittern trennen. Der Orden braucht momentan alle seine Kräfte, um einen eventuellen Überfall der Syracuser und deren Verbündeten abwehren zu können. Aus diesem Grund wurden alle Ritter, die auf den verschiedenen Posten der Planeten der Konföderation tätig waren, nach Selp Dik zurückgerufen.«
Der Greis schwieg und räusperte sich erschöpft. Mit der Präzision eines Skalpells hatten seine Worte die mentale Schwäche Filp Asmussas bloßgelegt. Er wusste, dass er weder leugnen, noch protestieren oder sich verteidigen konnte. Ratlos richtete er den Blick zur Decke und betrachtete die Gesichter der Mahdis und das prächtige Raubtier.
»Ihr habt Eure Mission mit Bravour zu Ende geführt, Krieger. Aber um welchen Preis? Ihr seid vom Planeten Roter-Punkt mit vergiftetem Herzen und vergifteter Seele zurückgekehrt, einem Gift, das Euch Long-Shu Pae eingeflößt hat. Dafür haben wir Beweise. Bitte sagt uns jetzt, was Ihr wisst, ehrenwerter Plays Hurtig.«
Der oberste Wächter der Reinheit stellte sich vor das Geländer. Er überragte Filp gut um Haupteslänge. Mit seiner Adlernase, dem dürren Hals und den flügelartigen Ärmeln seiner Robe, aus denen seine langen Arme mit den knochigen Händen ragten, sah er aus wie einer der Geier, die die Wüsten des Sechsten Rings vor Sbarao bevölkerten.
»Krieger Asmussa, vor Kurzem habt Ihr versucht, Euch in die geheime Krypta des Archivs zu begeben«, fing Plays Hurtig in süßlichem Ton an. »Unglücklicherweise für Euch und glücklicherweise für den Orden und trotz der Vorsichtsmaßnahmen, die Ihr getroffen habt, wurdet Ihr von einigen Eurer Kommilitonen gesehen. Nur Long-Shu Pae hat Euch über die Existenz dieser Bibliothek informieren können, denn niemand als die Weisen und meine Wenigkeit, der oberste Wächter der Reinheit …«
»Und natürlich der Mahdi!«, mischte sich ein anderer Weiser ein.
»Selbstverständlich. Das steht außer Frage«, nahm Plays Hurtig den Faden wieder auf. »Ich sagte also, dass niemand außer den Weisen des Gremiums und ich, die wir hier anwesend sind, Kenntnis von dieser Krypta hat oder jemals haben wird. Long-Shu Pae indessen gelang es einst von ungesunder Wissbegierde getrieben, dieses mehr als tausend Jahre alte Tabu zu brechen. Das war ein Fehler! Ein schrecklicher Fehler! Nachdem er sich eine gewisse Anzahl alter Videoholos angesehen hatte, zog er in seinem bornierten Geist völlig falsche Schlüsse aus dem Gesehenen und verlangte öffentlich eine Revision der Lehre. Er behauptete, der Orden würde sich von seinen ursprünglichen Lehren entfernen! Was einer Anklage gegen den Mahdi Seqoram gleichkam, und das heißt einer Gehorsamsverweigerung, obwohl der Gehorsam eine der Kardinalstugenden der Ritterschaft ist …«
»Deshalb bestand der Mahdi auf seiner Verbannung«, unterbrach der erste Weise die Tirade des ehrenwerten Wächters der Reinheit. »Er war das schwache Glied in der Kette, der poröse Stein im Haus, der klaffende Spalt im Schutzwall. Doch der Orden muss unter jeden Umständen ein unerschütterliches Bollwerk sein!«
»Long-Shu Pae hat Euch die Dinge wahrscheinlich unter einem für ihn vorteilhaften Aspekt geschildert«, sagte ein anderer Weiser. »Doch sein Geist war nicht mehr vom Glauben durchdrungen. Deshalb wurde dieser Mann zu einer Schwachstelle innerhalb unseres Systems …«
»Wie Ihr jetzt!«, keifte der dritte Weise. »Ihr wart ein wertvoller Teil des Ganzen, Krieger Asmussa, darin waren sich alle einig. Aber Ihr habt Euren Glauben an den Großmeister Mahdi Seqoram verloren, der von dort oben in diesem Turm …«, er deutete mit seinem zitternden, gichtgekrümmten Zeigefinger zur Decke, » … in das Herz eines jeden seiner Anhänger sieht, welche Stellung er auch immer innerhalb der Hierarchie des Klosters einnehmen möge. Der Meister wandte seinen Blick, sonst voller Liebe, von Long-Shu Pae ab. Er verstieß ihn auf immer und ewig, denn dieser Ritter hätte diese Bruchstücke einer veralteten, überholten Lehre niemals ans Tageslicht zerren dürfen.«
Jetzt erhob auch der vierte Weise seine Stimme und verkündete im Brustton der Überzeugung: »Ihr müsst wissen, Ritter, dass sich die Lehre mit den Jahren weiterentwickelt. Und gerade dieses Phänomen trägt zu ihrer Reinheit bei, ja, macht sie rein!«, sagte er mit zitternder Stimme. »Das, was früher gültig war, muss nicht notwendigerweise heute noch gültig sein. Long-Shu Pae war ein außerordentliche brillanter Geist. Aber man kommt nicht voran, indem man rückwärts geht und die Vergangenheit wiederbelebt. Mitglieder, die sich von Gegenwart und Zukunft abkehren, haben keinen Platz in unseren Reihen. Wir müssen mit der Zeit gehen, uns den Umständen anpassen. So hat es der Gründer unseres Ordens gewollt, der Mahdi Naflin, und wir versuchen, diese Regeln zu befolgen. Und die jetzige prekäre Lage erfordert den engen Zusammenschluss aller Mitglieder des Ordens, ohne Ausnahme und ohne Berücksichtigung etwaiger Gewissenskonflikte! Hier ist momentan weder Zeit noch Ort dafür, den geringsten Zweifel aufkommen zu lassen. Zweifel ist wie eine ansteckende Krankheit. Denn der Zweifel schwächt das mentale Potenzial und führt zur Austrocknung des Sees des Xui!«
»Wir sind uns bewusst, dass Ihr im Augenblick eine schwierige Phase Eures Lebens bewältigen müsst …«, fügte der oberste Wächter der Reinheit hinzu. Der Blick seiner harten kleinen schwarzen Augen bohrte sich in den Krieger.
»Aber es gibt etwas, das für Euch spricht: Ihr habt Euren Plan nicht ausgeführt … Ihr seid umgekehrt, anstatt eine Tat zu begehen, die wir nicht hätten ignorieren können. Also hat Eure mentale Kontrolle noch funktioniert …«
»Außerdem haben wir nicht vergessen, dass Ihr vor Kurzem Eure gesamte Familie verloren habt und das unter äußerst tragischen Umständen«, sprach der erste Weise, jetzt mit sanfter Stimme, weiter. »Die Stimme des Bluts befiehlt Euch, so schnell wie möglich auf Euren Heimatplaneten zu reisen, um das von Eurem Vater, Dons Asmussa, begonnene Werk der Befriedung fortzusetzen. Sollte dies Eure Entscheidung sein, so respektieren wir sie. Doch ehe Ihr Euch dorthin begebt, müsst Ihr noch jene Rolle spielen, für die Ihr Euch seit drei Jahren mit einem beispielhaften Enthusiasmus vorbereitet habt … Gewinnt wieder vollständige Herrschaft über Euch, Krieger!«
»Und bedauert nichts!«, schloss Plays Hurtig mit weit ausholender Geste, wobei seine roten Flügelärmel dramatisch flatterten. »Ihr seid nicht genial wie Long-Shu Pae es war und hättet von einem Besuch der Krypta kaum profitieren können. Diese Videoholo-Filme sind in einem derart beklagenswerten Zustand, dass man sich schon mit derartig veralteten Dingen auskennen muss, um sie wieder zusammenflicken zu können. Noch etwas: Der Ritter Long-Shu Pae starb kurz nach Eurer Abreise von Roter-Punkt. Unser Informant dort glaubt, dass er Selbstmord begangen hat.«
Diese Nachricht traf den Krieger wie ein schwerer Schlag. Long-Shu Pae, und Hand an sich legen? Auch wenn der Ritter desillusioniert und zynisch gewesen war, so hatte er das Leben doch zu sehr geschätzt, um einem solchen selbstzerstörerischen Impuls nachgegeben zu haben …
Filp merkte, dass Plays Hurtig und die vier Weisen ihn aufmerksam beobachteten, so als könnten sie seinen Gedanken folgen. Sie hatten ihn durchschaut, obwohl er mit niemandem über sein missglücktes nächtliches Abenteuer gesprochen hatte. Jetzt fühlte er sich als Zielscheibe ihrer kalten und gleichzeitig glühenden Blicke. Vor diesen fünf Männern machte sich in ihm eine kalte innere Leere breit, die von einer Macht aus Eisen- und Feuertentakeln bewacht wurde.
Sie ließen ihm Zeit, bis ihre Worte die gewünschte Wirkung erzielt hatten, dann fragte Plays Hurtig in feierlichem Ton: »Wie habt Ihr Euch entschieden, Krieger Asmussa? Wollte Ihr blindlings unseren Anordnungen folgen – ich wiederhole: blindlings –, oder wollt Ihr den Weg Long-Shu Paes beschreiten, diesem Verbannten folgen, dem der Mahdi das Vertrauen entzogen hat?«
»Wägt die Tragweite Eurer Worte sorgsam ab, Krieger!«, empfahl der erste Weise.
Filp zögerte nur kurz. Der Tod Long-Shu Paes deprimierte ihn, aber er war auch ein Zeichen des Himmels, ein Wink des Schicksals. Er hob den Kopf und sah jedem der fünf Männer mutig in die Augen.
»Endlich habe ich Klarheit über mich gewonnen, weise Ritter des Gremiums«, sagte er bestimmt und mit wohlklingender Stimme. »Die kurze Bekanntschaft mit dem Ritter Long-Shu Pae war für mich nichts als eine Prüfung, die dazu diente, meinen starken Geist zu festigen. Ich gestehe, dass ich aus Neugier der Krypta einen Besuch abstatten wollte, aber letztendlich habe ich darauf verzichtet. Ich verehre nur den Großmeister, den Mahdi Seqoram, und ich … ich vertraue dem Gremium, das ihn repräsentiert … Außerdem bin ich jetzt überzeugt, dass diese Prüfung mir bei den Kämpfen, die der Orden wird führen müssen, helfen wird … Doch nach dem Krieg werde ich auf Sbarao und die Ringe zurückkehren, um das Werk meines Vaters zu vollenden …«
Er hatte seine Rede mit Kraft und einer nahezu mystischen Inbrunst vorgetragen. Die Weisen und der ehrenwerte Hüter der Reinheit warfen sich zufriedene Blicke zu. Ihre Greisengesichter verzogen sich zu grinsenden Fratzen.
»Welch weiser Entschluss!«, jubelte der erste Weise. »Von nun an sind wir sicher, dass Ihr niemals den ruhmreichen Weg Eurer Vorgänger verlassen werdet!«
»Seid Ihr bereit, auf Eure Ehre zu schwören, niemandem etwas von der Existenz dieser Krypta zu sagen?«, fragte der zweite Weise.
»Ich bin kein Ritter«, entgegnete Filp. »Also kann ich nicht bei meiner Ehre zum Schweigen verpflichtet werden …«
»Wahrhaftig ein kluger Einwand, junger Mann!«, rief der vierte Weise, jener mit der zitternden Stimme. »Ehrenwerter Plays Hurtig, seid so gut und verkündet dem Krieger Filp Asmussa die frohe Nachricht.«
Der oberste Hüter der Reinheit verzog das Gesicht zu einer Grimasse, die man als Lächeln deuten konnte.
»Krieger Asmussa, Ihr werdet in drei Tagen anlässlich des Jahrestags der Gründung des Ordens in den Ritterstand erhoben! Also könnt Ihr schon jetzt den Eid ablegen …«
»Vielleicht wird Euch sogar der Mahdi höchstpersönlich segnen!«, erklärte der erste Weise. »Sollte sein immenses Arbeitspensum ihm Zeit dazu lassen. Wir bemühen uns, ihn dazu zu bewegen … Aber macht Euch nicht zu viel Hoffnung.«
Eine ungeheure Freude stieg in Filp auf. Jetzt wurde er für seinen, von seinem Lehrer bewunderten und seinen Kommilitonen mit Neid und Argwohn betrachteten, unermüdlichen Eifer endlich belohnt: mit der Würde eines Ritters der Absolution. Diese Aussicht fegte den schlechten Eindruck hinweg, den die Trapiten auf ihn gemacht hatten. Er musste an seine Familie denken: Wie stolz sie auf ihn gewesen wären … Sein Vater, Dons, seine Mutter, Dame Moniaj … seine kleine Schwester Isabalj …
»Ihr werdet Euch also die drei Tage, die uns noch vom Gründungstag unseres Ordens trennen, durch Fasten, Enthaltsamkeit und der Suche nach dem Xui auf Eure Ritterweihe vorbereiten. Euer Beichtvater, der Ritter Choud Al Bah, wird Euch diesbezüglich instruieren und während Eurer Exerzitien unterstützen«, sagte Plays Hurtig.
»Geht jetzt, Ritter!«, befahl der erste Weise. »Der Vorsteher der Garde, Godegezil Szabbo, wird Euch in Eure Zelle zurückbringen.«
Filp rührte sich nicht. Er wollte etwas sagen, brachte aber kein Wort heraus.
»Quält Euch etwas?«, fragte Plays Hurtig.
»Ich … verzeiht meine Anmaßung … Ich möchte eine Bitte vortragen …«, stammelte Filp.
»Nun, dann sprecht!«, sagte der erste Weise.
»Ich hätte gern eine Audienz bei dem Mahdi Seqoram.«
»Euer Wunsch ist nur zu verständlich«, sagte der Weise mit der zitternden Stimme und entblößte seine gelbe Zähne, als er wohlwollend lächelte. »Nicht eine Minute in unserem Leben verstreicht, ohne dass wir ihm ebenfalls unsere Liebe, Dankbarkeit und Ehrerbietung bezeugen wollen. Also ist dies eine nachvollziehbare Bitte … Aber wir ehren den Mahdi nicht auf die ihm geschuldete Weise, wenn wir ihn stören. Und die aktuelle schwierige Lage verlangt seinen ganzen Einsatz, erfordert seine gesamte Zeit. Der drohende Krieg verbietet momentan jeden persönlichen Kontakt. Ihr habt selbst erfahren, mit welcher Effizienz die Feinde der Konföderation operieren. Glaubt Ihr das Recht zu haben, den Mahdi abzulenken, während die Ang von Syracusa, diese Verschwörer, dabei sind, einen der ihren zum Kaiser zu krönen? Sie haben die Gesetze der Konföderation gebrochen, eben jene Gesetze, die der Mahdi Naflin, der Gründer des Ordens, einst erließ …«
»Ihr müsst wissen, dass unsere Agenten uns informiert haben, dass wir mit einem unmittelbaren Angriff der Verbündeten der Syracuser zu rechnen haben!«, sagte der zweite Weise.
»Uns angreifen, auf Selp Dik!«, schimpfte der erste Weise. »Sie müssen sich sehr sicher fühlen, wenn sie es wagen, uns auf unserem Territorium anzugreifen!«
»Also bereitet Euch während dieser drei Tage so gut vor wie Ihr könnt«, riet Plays Hurtig. »Auf diese Weise könnt Ihr am besten Eurem Meister dienen und ihn ehren. Wer zur Tat schreitet, beweist ihm seine Ergebenheit am besten …«
»Ich verstehe«, murmelte Filp.
Seine Enttäuschung wurde durch das Versprechen, in den Ritterstand erhoben zu werden, beträchtlich gemildert.
»Das macht uns froh. Und jetzt, geht!«
»Dürfte ich vorher noch der Tochter Sri Alexus einen Besuch abstatten und mich nach ihrem Befinden erkundigen?«
»Bisher habt Ihr es nicht für nötig gehalten, unsere Erlaubnis dafür einzuholen«, rügte Plays Hurtig Filp. »Denn die Nachsicht des Ritters, der das Amt des Medicus’ innehat, half Euch, die Regeln zu umgehen. Doch da Nobeer O’An uns versichert hat, dass Eure Besuche der Gesundheit der jungen Frau förderlich sind, haben wir die Augen davor verschlossen … Wir verschließen sie heute noch einmal davor.«
Ein paar Minuten später betrat Filp Asmussa in Begleitung Godegezil Szabbos das düstere Refugium Nobeer O’Ans. Der Anführer der Garde wartete im Vestibül. Filp ging in das Sprechzimmer des Heilers, wo einer seiner Assistenten ihn mürrisch begrüßte. Der Raum war vollgestopft mit Luftgläsern und -schachteln, in denen sich allerlei Flüssigkeiten, getrocknete Kräuter oder Wurzeln befanden. Das alles stand auf Regalen, und es herrschte ein strenger, bitterer Geruch.
Filp kannte diesen Raum nicht, und weil er nie krank war, hatte er vor seiner Rückkehr von Roter-Punkt kaum etwas mit dem brummigen Norbeer O’An zu tun gehabt, dessen schwieriger Charakter Anlass zu vielen Späßen innerhalb der Klostermauern war.
Der rothaarige, mit einem blauen Kittel bekleidete Assistent starrte Filp mit kleinen, kurzsichtigen Maulwurfsaugen an. »Schon wieder Ihr!«, stöhnte er. »Was wollt Ihr?«
»Das wisst Ihr sehr gut«, antwortete Filp und reagierte gelassen auf die gewohnte Unfreundlichkeit, die alle Assistenten des Medicus’ auszeichnete. Denn törichterweise glaubten sie, ihren Meister nachäffen zu müssen, obwohl diesen Mann niemand so leicht imitieren konnte.
»Habt Ihr schon mal davon gehört, dass es strikt verboten ist, eine Frau zu besuchen?«, fragte der Assistent aggressiv.
»Ich wurde soeben von dem Gremium der Weisen empfangen«, entgegnete Filp in schneidendem Ton, weil er glaubte, dem Mann auf diese Weise den Wind aus den Segeln nehmen zu können. »Und das Gremium hat mir die Erlaubnis erteilt, die Tochter Sri Alexus zu besuchen, ehe ich mich zu den vorgeschriebenen dreitägigen Exerzitien zurückziehe, bevor ich die Ritterwürde empfange.«
Der Assistent ließ sich jedoch keineswegs beeindrucken. Das Argument schien seine Animosität noch zu verstärken.
»Bis jetzt habt Ihr es nicht für nötig gehalten, das Gremium um Erlaubnis zu bitten!«, entgegnete er. »Wie es scheint, steht Ihr in der Gunst der Weisen, Krieger. Natürlich, denn Ihr seid nobler Abstammung, nicht wahr? Aber selbst ich als erster Assistent des Heilers habe nicht das Recht, diese junge Frau zu sehen. Eben weil ich nicht der Sohn eines Adeligen bin!«, sagte der Assistent verbittert und neidisch.
Das Gerücht, eine Frau halte sich innerhalb der Klostermauern auf, hatte sich in Windeseile verbreitet. Ein Gerücht, das die Fantasie der Anwärter, Krieger und Ritter während ihrer einsamen Nächte beflügelte, und sie in Erregung versetzte, wenn sie sich ihren erotischen Phantasmagorien hingaben.
Filp wollte den Assistenten nicht noch mehr gegen sich aufbringen. Deshalb bat er höflich: »Könnte ich den Ritter Nobeer O’An sprechen?«
»Geht da rein!«, sagte Rotschopf jetzt, weil er genug herumgegiftet hatte. »Er braut ein neues Heilmittel zusammen … natürlich für das Mädchen!«
Der Assistent trat widerwillig beiseite, und der Ritter ging über einen kleinen Flur in einen schwach beleuchteten Raum, wo es in vielen auf einem Tisch stehenden Retorten zischte, brodelte und dampfte. Die in den Gefäßen destillierten Pflanzen und Mineralien verbreiteten einen herben Geruch.
Norbeer O’An saß an seinem Pult und beugte sich über ein prä-naflinisches Zauberbuch, von dessen holografische Seiten Licht auf sein Gesicht fiel. Er war kein schöner Mann, seine Gesichtszüge wirkten grob und holzschnittartig. Er sah wie einer dieser furchterregenden Wasserspeier des Vierten Rings von Sbarao aus, und niemand hätte sich gewundert, hätte sein Mund wirklich Wasser gespien, oder wären aus seinen Nasenlöchern Flammen gezüngelt oder aus seinen unförmigen Ohren nach Schwefel stinkender Rauch gequollen. Er trug das pechschwarze Gewand des Heilers, was sein finsteres Erscheinungsbild noch unterstrich.
Ein paar Assistenten in weit geschnittenen blauen Kitteln arbeiteten schweigend an der Zubereitung der verschiedensten Tinkturen, Salben und Puder.
Da niemand ihm Aufmerksamkeit schenkte, räusperte sich Filp.
Der Medicus warf dem Neuankömmling einen wütenden Blick zu und brummte: »Ihr schon wieder! Ihr seht doch, dass ich beschäftigt bin!«
Nobeer O’An gab sich bewusst unfreundlich, denn wenn er einmal einen Patienten geheilt hatte, bemühte sich dieser strikt nach den Empfehlungen des Arztes zu leben, um nie wieder etwas mit ihm zu tun haben zu müssen.
Jetzt hielten auch die Assistenten in ihrer Arbeit inne und starrten den Krieger an.
»Ich bin gekommen, um mich nach Aphykit Alexu zu erkundigen«, sagte Filp. »Die Weisen des Gremiums haben mich höchstpersönlich autorisiert … Jedenfalls werde ich in Zukunft Euer Wohlwollen nicht mehr strapazieren, denn noch heute Morgen beginne ich mit meinen dreitägigen Exerzitien als Vorbereitung zu meiner Ernennung zum Ritter …«
Das hässliche Gesicht des Medicus’ begann zu strahlen, und er lächelte Filp freundlich an. »Ihr werdet zum Ritter ernannt! Das ist gut, das ist sehr gut! Ich freue mich für Euch und für Euren Paten, meinen alten Freund Al Bah.«
Die Assistenten waren verblüfft. Ein Zeichen, dass ihr Meister nicht oft Komplimente machte.
»Euer Schützling macht mir Sorgen … Sie ist eine zusätzliche Belastung, die ich gut und gerne hätte entbehren können«, sagte Nobeer O’An in fast fröhlichem Ton.
Die Assistenten glaubten, sich verhört zu haben.
»Das Virus, mit dem sie infiziert wurde, ist sehr resistent, ja, ich nenne es pervers. Jedes Mal, wenn ich sie mit einem neuen Heilmittel behandele, verändert es sich. Trotzdem konnte ich die Kranke stabilisieren, die Phasen ihrer Hellsichtigkeit verlängern. Aber immer wieder kommt es zu Krisen, die dann ihr Immunsystem schwächen … Das Problem liegt darin, dass dieses Virus unseren Vorfahren völlig unbekannt war …«
»Aber glaubt Ihr, eine Chance zu haben, sie heilen zu können? Ich meine, eine echte Chance?«, sagte Filp und merkte sofort, das dies keine Frage, sondern eher ein Flehen war, das seine Gefühle verriet.
»Wenn Gott es will …«, antwortete Nobeer O’An ausweichend, denn ihm war der Gemütszustand des Kriegers nicht verborgen geblieben. »Ein Sprichwort meiner Heimat besagt, dass es keine Probleme gebe, sondern nur Lösungen … Ich möchte in diesem Fall hinzufügen: Es gibt eine kleine Chance. Jedenfalls hat meine Patientin während der Gespräche mit den Weisen und dem ehrenwerten Plays Hurtig normal gewirkt … Im Augenblick bin ich in der Lage, die Wirkung des Virus’ zu verlangsamen, aber ich arbeite noch immer daran, den Feind in ihrem Körper definitiv zu neutralisieren. Kommt, begleitet mich. Es ist Zeit für die morgendliche Visite.«
Und Nobeer O’An erhob sich vor seinen vor Erstaunen wie erstarrt dastehenden Assistenten und lenkte seine Schritte zu der Steintreppe, die in die im Untergeschoss liegenden Räume der Krankenstation führte. Doch ehe er den Fuß auf die erste Stufe setzte, rief er mit flammendem Blick und derart dröhnender Stimme, dass die Retortengläser klirrten: »An die Arbeit, ihr faule Bande! Habe ich euch etwa gesagt, ihr sollt damit aufhören?«
Aphykits Krankenzimmer war in ein rosiges Licht getaucht, das durch die drei sechseckigen Deckenfenster in den Raum fiel. Sogar die Wände waren mit alten Wassertapeten bedeckt, die eine etwas fröhlichere Atmosphäre schafften und sich von der üblichen kargen Strenge der Räume abhoben.
Sie schlief, das blasse Gesicht von einem Kranz goldenen Haars umgeben. Ihr Hängebett – für Filp der Inbegriff des Komforts, seit er auf einem Strohlager in seiner Zelle schlief – schwebte einen Meter über dem Boden. Sie lag unter einer grünen Decke, und die Krankheit hatte ihre Schönheit absurderweise noch unterstrichen. Sie wirkte so ätherisch, dass Filp glaubte, ein Lufthauch könnte sie für immer zum Erlöschen bringen.
»Ich habe das Bett in dieser Höhe anbringen lassen, auf einen Meter und zwei Zentimeter Standard, weil diese Höhe sich am besten mit den Sternen und den Gezeiten verträgt«, flüsterte Norbeer O’An, dessen Gesicht neben dem Aphykits geradezu monströs wirkte.
Bei jedem Besuch des Kriegers am Krankenbett der Syracuserin betonte der Heiler, wie wichtig die Höhe des Bettes sei. Und jedes Mal variierte sie um einige Zentimeter, je nach dem Stand der Tide und dem der Sterne.
»Wird sie noch lange schlafen?«, fragte Filp drängend, denn schon der Gedanke, Aphykit drei Tage nicht sehen zu können, schien ihm kaum erträglich.
»Das weiß ich nicht«, gestand Nobeer O’An. »Ihre Schlaf-und Wachperioden sind schwerwiegend gestört. Dieses Virus ist entsetzlich! Glücklicherweise verbreitet es sich nicht durch Tröpfcheninfektion über die Atemwege. Stellt Euch nur einmal vor, was für verheerende Folgen eine solche Epidemie hätte.«
Aphykit öffnete langsam die Augen. Ihre wie Edelsteine schillernden Augen betrachteten erst den Heiler, dann Filp. Sie lächelte schwach.
»Der Krieger Asmussa ist gekommen, Euch einen Besuch abzustatten, Mademoiselle«, sagte Nobeer O’An leise.
Filps Herz schlug schneller. Er trat auf das Bett zu und beugte sich über die junge Frau. »Ich werde Euch die nächsten drei Tage nicht besuchen können, weil ich mich in der Abgeschiedenheit meiner Zelle auf den Ritterstand vorbereiten muss … Ich möchte nicht, dass … Ihr dürft nicht glauben, dass ich mich nicht mehr für Euer Wohlergehen interessiere … Versteht Ihr mich?«
Aphykit senkte die Lider zum Zeichen, dass sie verstanden habe. Offensichtlich kostete es sie große Anstrengung, bei klarem Bewusstsein zu bleiben. Sie öffnete den Mund und wollte sprechen, aber sie war zu schwach. Sie fing an, flach und keuchend zu atmen, und Schweißtropfen perlten von ihrer Stirn.
»Das sind Anzeichen einer neuen Krise«, sagte Nobeer O’An. »Ihr müsst jetzt gehen. Ich möchte ein neues Medikament ausprobieren, doch es könnte zu heftigen und unkontrollierbaren Reaktionen führen …«
Filps schwarzen Augen brannten vor Trauer und Sehnsucht. Aber der Medicus beobachtete die Emotionen des Kriegers mit der Gelassenheit eines alten Weisen, der solche amourösen Anwandlungen nur als Störungen des Xui ansah, als Reminiszenzen einer fernen Vergangenheit. Er hatte sich für den Zölibat und die Enthaltsamkeit entschieden, weil er sich mit Leib und Seele der Heilkunst verschrieben hatte. Und er hätte glücklich und in perfektem Einklang mit sich selbst gelebt, wäre er nicht in den Besitz gewisser, tief in den Fundamenten des Klosters verborgener Geheimnisse gelangt. Nie hatte er jemandem mitgeteilt, was er in den Krypten und Kellern der Klosteranlage zufällig entdeckt hatte. Er hatte versucht, diese schrecklichen Bilder zu vergessen, doch die Erinnerung daran quälte ihn immer wieder. Sein einstiger Kommilitone Long-Shu Pae, ein bemerkenswerter Mann, war verbannt worden, weil er der Wahrheit zu nahegekommen war.
Doch er, Nobeer O’An, hatte sich der Wahrheit nicht nur genähert, er hatte ihr ins Gesicht gesehen. Und diese Wahrheit hatte ihn derart verstört, dass er es vorzog, für immer zu schweigen. Seitdem hatte er sich hinter seiner Übellaunigkeit versteckt wie hinter einer uneinnehmbaren Festung. Doch er wusste, dass er niemals ganz in den See des Xui würde eintauchen können, ehe er nicht die Mauern seines inneren Gefängnisses gesprengt hatte …
»Ich muss jetzt gehen«, sagte Filp. »Und ich hoffe von ganzem Herzen, Euch bald wiederzusehen … Diese drei Tage werden mir sehr lang erscheinen …«
Er betrachtete Aphykit noch einmal mit brennenden Augen, kämpfte energisch gegen den Wunsch an, noch länger zu bleiben, und ging.
»Ich komme gleich wieder«, sagte der Medicus, ehe er ebenfalls ging und die Tür hinter sich schloss.
Wie durch dichte Nebelschwaden formten sich Gedanken in Aphykits Kopf. Die täglichen Besuche des Ritters versetzten sie in ein Stadium der Trunkenheit, gegen das sie sich nicht mehr wehrte. Seine edlen Gesichtszüge, sein braunes gelocktes Haar, seine breiten Schultern und seine schönen kräftigen Hände sowie seine angenehme Stimme lösten in ihr den unwiderstehlichen Wunsch aus, sich ihm bedingungslos und mit all ihrer Leidenschaft hinzugeben.
Sie liebte seine verzehrenden Blicke, sie liebte den Kontrast zwischen der zarten, scheuen Berührung seiner Hände und dem Feuer, das in seinen Augen loderte. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich von einem Mann in diesem Maße angezogen – erst ihm war es gelungen, das Bild ihres früher so geliebten Vaters auszulöschen.
Den Verlust des Colancors war ihr seitdem gleichgültig geworden. Im Gegenteil, diese zweite Haut hätte eine Barriere zwischen ihr und seinen Blicken geschaffen. Sie gab sich rückhaltslos ihrer Verliebtheit hin und vergaß alles andere: den Tod ihres Vaters; ihre Zurschaustellung auf dem Sklavenmarkt, wo sie von unverschämten Blicken fast verschlungen worden war; das zerstörerische Virus, das sich in ihrem Körper ausbreitete. Und weil sie an dieses Krankenbett gefesselt war, nutzte sie die wenigen Momente klaren Bewusstseins zwischen ihren Fieberdelirien, um dieses bisher ungekannte, in ihr schlummernde Gefühl zu genießen.
Doch dann erhob das Antra, der Klang des Lebens, seine schwache Stimme tief in ihr, ein Murmeln, das immer leiser wurde und in ihr zu erlöschen drohte. Ihrem flüchtigen oberflächlichen Glück war es gelungen, diesen licht-und lebensspendenen Klang zu übertönen.
Nach Nobeer O’Ans Rückkehr schlief Aphykit wieder ein. Wie immer erschien ihr ein anderer Mann im Traum. Es war … wie hieß er noch? Ach ja, Tixu Oty, der Reisebüroangestellte, den sie auf Roter-Punkt zum Shanyan gemacht hatte. Das bedauerte sie. Sie hatte unverantwortlich gehandelt, als sie ihm den Klang des Lebens zum Geschenk machte. Denn sie hatte nicht bedacht, dass jede Initiaton eine heilige Handlung war …
Sie saß bis zum Hals in dem schwarzen fauligen Wasser eines Tümpels. Er stand am Ufer, doch er sah sie nicht. Da schrie sie seinen Namen, und das Wasser drang ihr in Mund und Nase – aber er sah sie noch immer nicht.
In Schweiß gebadet, keuchend vor Entsetzen wachte sie auf. Neben ihrem Bett stand Nobeer O’An und lächelte, ein groteskes Lächeln. Seine knochigen Finger umklammerten eine kleine schwarze Phiole.