FÜNFTES KAPITEL

Steht Rotes Feuer im Zenit am Himmelszelt
Arbeitet kein Prouge auf dem Feld.
Der Mann dort draußen muss ein Godappi sein,
Weil ihn nicht schreckt des heißen Gestirnes Schein.

 

Der Prouge ruht
Bei dieser mörderischen Glut.

 

Prougische Volksweisheit

 

Auch im Schatten der Rotweide konnte der alte Mann keinen Schlaf finden. Aus dem kleinen, halb von einem zartgrünen Gebüsch mit roten Blüten verborgenen Springbrunnen schossen Wasserstrahlen in die glühend heiße Luft empor, die wie Myriaden funkelnder Diamanten auf das lilafarbene Gras des Rasens fielen.

Die drei Tagesgestirne des Planeten Roter-Punkt verwandelten die Stadt in einen Backofen. Sie wurde die Drei Feuer genannt: Grünes Feuer, das größte, ging als Erstes auf und als Letztes unter und verlieh der Morgen- sowie Abenddämmerung ein kaltes, fahles Licht. Orangenes Feuer, das kleinste, ging als Zweites auf und leckte wie mit Feuerzungen über den Himmel. Rotes Feuer ging mittags auf und ließ die Temperaturen bis ins Unerträgliche steigen. Es überzog Gebäude, Straßen und die spärliche Vegetation mit einem rostroten Schleier.

Die alte, von Mauern umgebene prougische Stadt Matana mit ihren Plätzen, Häusern und verbotenen Vierteln wirkte unter dieser Gluthitze wie ausgestorben. Zu dieser Tagesstunde rührte sich praktisch nichts. Das Geschrei der Händler im großen Basar war verstummt. Man hörte nur das feine Summen der Hochöfen, die Tag und Nacht arbeiteten, um Energie zu produzieren. Von der Stadt aus konnte man ihre Silhouetten sehen, die in der heißen flimmernden Luft ganz verzerrt wirkten.

Ein Pfau stolzierte über den lila Rasen. Aus halb geschlossenen Augen beobachtete ihn der alte Mann und stellte fest, dass sich sein kleiner Exilgefährte perfekt an das Klima auf Roter-Punkt angepasst hatte. Sein schillernd buntes Gefieder war ein Zeichen seiner Vitalität.

Der alte Mann drehte sich mühsam in seiner schwebenden Hängematte um. Umsonst. Auch jetzt wollte der Schlaf nicht kommen. Wie gerne hätte er wenigstens einen Moment lang alles vergessen! Aber hatte er darauf noch ein Recht? Denn nicht die Hitze hinderte ihn am Einschlafen, sondern eine unablässige innere Stimme voller Bitterkeit und Reue.

Er hatte die dunklen Wolken über der Konföderation von Naflin heraufziehen sehen und trotz seiner Mitgliedschaft in der Kongregation der Smellas nichts getan, um die hereinbrechende Katastrophe zu verhindern. Jetzt war es zu spät. Nichts und niemand konnte dieses verhängnisvolle Räderwerk noch aufhalten, und das bekannte Universum war nahe daran, wieder zu einem Schattenreich wie zu Zeiten der legendären Zivilisation auf Terra Mater zu werden.

Noch hatte er sich nicht zum Handeln entschlossen, eher aus Feigheit, denn aus mangelnder Klarsicht. Noch hatte er seinen Teil der Verantwortung für die bevorstehende Katastrophe nicht übernommen, obwohl er wusste, dass er daran einen nicht unerheblichen Anteil hatte.

Schritte knirschten auf dem Gartenweg. Der alte Mann zuckte zusammen. Als er im Morgengrauen des Grünen Feuers erwacht war, hatte er gesehen, wie sich Schattengestalten hinter seiner steinernen Gartenmauer versteckten. Er hatte ihr Vorhaben erkannt, noch ehe er versuchte, ihre Gedanken zu lesen. Diese gespenstig lautlosen Gestalten waren nichts anderes als die Vorboten des Todes. Sie belauerten ihn wie eine Meute Hyänen, die die sterbende Wildkatze nicht aus den Augen lässt. Sie waren Mörder der übelsten Sorte, von der Sekte der Pritiv. Im Moment beobachteten sie nur sein Haus. Der alte Mann ahnte, warum sie ihn nicht sofort töteten: Weil sie der jungen Frau, die seit ein paar Stunden versuchte, mental mit ihm in Kontakt zu treten, eine Falle stellen wollten. Auf diese Weise benutzten sie ihn als Köder.

Der alte Mann wusste ebenfalls, dass sein Denken ständig von einem Scaythen überwacht wurde und dass die junge Frau – Sri Alexus Tochter Aphykit – die Kommunikation der Stille kaum beherrschte. Hätte er ihr geantwortet, hätte sie sich wahrscheinlich verraten. Sie hielt sich in seiner Nähe auf, nur zwei oder drei Straßen von seinem Haus entfernt, und die Pritiv-Söldner hätten ihr sofort die Kehle durchgeschnitten. Also hatte er seinen Gedankenschutzmechanismus aktiviert und einen undurchdringlichen Wall um sein Denken errichtet – und seinen Geist damit in eine uneinnehmbare Festung der Stille verwandelt. Jetzt hoffte er, dass Aphykit sein Verhalten begriffen habe und nach einem anderen Mittel der Kontaktaufnahme suche.

Die Schritte näherten sich. Der alte Mann erkannte den luftleichten Gang Maranas’, diese typische Art und Weise den Boden nur zu streifen, ohne den Fuß daraufzusetzen. Der junge Mann war in eine weiße Tunika gekleidet, die nur mit einer Spange an der Schulter gehalten wurde und seinen dunklen Teint betonte. Er brachte Erfrischungen, die auf einem Tablett aus weißem Optalium standen. Er war nicht sehr groß, besaß aber einen perfekt geformten Körper. Die Strahlen des Gestirns Drei Feuer schienen sein Haar in Brand gesetzt zu haben. Wie alle Prougen färbte er seine Haare mit einer roten Substanz, die aus einem Wüstenkaktus gewonnen wurde.

Mit halb ausgebreiteten Flügeln eilte der Pfau über den Rasen, um den Neuankömmling zu begrüßen. Maranas kauerte sich hin und streichelte den Vogel, der sofort vor lauter Wohlbehagen zu gurren begann. Die Schönheit des Pfaus – eine unbekannte Tierart auf seinem Planeten – faszinierte den junge Prougen jedes Mal aufs Neue.

»Solltest du eines Tages Syracusa besuchen«, murmelte der alte Mann, »wirst du dort Tausende genauso schöne Vögel sehen.«

Maranas schrak zusammen und hätte fast das Tablett fallen gelassen. Immer wieder war er erstaunt, dass der alte Mann so leicht seine Gedanken lesen konnte, so als würde er in einem Lichtbuch lesen. Diese Fähigkeit ängstigte ihn auch ein wenig, obwohl er ihn nun schon länger als ein Standardjahr kannte.

Ohne dem Prougen einen Blick zu gönnen, fuhr der alte Mann geistesabwesend fort: »In Venicia gibt es Riesenbäume aus Isphuhan. Sie säumen Avenuen und Boulevards. Mit ihren transparenten Blättern sehen sie im Licht wie verzaubert aus.« Er schwieg kurz und sprach mit trauriger Stimme weiter. »Dann wirst du erleben, wie schön es ist, am Ende des zweiten Tages, wenn die Saphyr-Sonne am Horizont versinkt, und die leichte Brise zu einer Liebkosung wird, in den Gärten herumzuspazieren. Hier gibt es nichts als Dürre und Hitze, ein wahres Inferno! Wegen dieser verfluchten Drei Feuer sind hier bloß Felsen, Steine und Wüsten zu finden … Sogar Bäume haben hier die Farbe und die Härte von Gestein! Aber deine Wüstenwelt ist eigentlich nichts anderes als das Spiegelbild meiner Seele.«

Maranas war fassungslos und stellte das Tablett neben der schwebende Hängematte zu Boden. Klagen gehörte nicht zu den Angewohnheiten seines Gefährten. Normalerweise lebte er das Leben als wäre es ein einziges Fest. Dieser Anfall von Melancholie verhieß nichts Gutes. Der junge Prouge setzte sich auf den lila Rasen in den Schatten eines Buschs und suchte nach einem Lächeln in dem faltigen, von langem weißen Haar umrahmten Gesicht. Dann atmete er die köstlichen Düfte der Blumen des Gartens ein, zog seine Tunika aus und streckte sich genüsslich. Das frische Gras streichelte seinen Oberkörper, seinen Bauch und seine Schenkel. Lustvolle Schauder überliefen seinen Körper vom Kopf bis zu den Füßen.

Als Maranas diesen Garten zum ersten Mal betrat, hatte er seinen Augen nicht trauen können. Der alte Mann hatte aus den Welten des Zentrums alle möglichen Pflanzen kommen und ein kompliziertes unterirdisches Bewässerungssystem installieren lassen, das durch ausgeklügelte Apparaturen gespeist wurde, die in der Lage waren, auch geringste Feuchtigkeitsmengen wie den Frühtau zu sammeln, damit dieses Wunderwerk entstehen konnte. Ebenso gab es unterirdische Wasserreservoire für den Springbrunnen und für ein ovales Schwimmbecken.

Für Prougen war Wasser ein Luxus. Dieses Übermaß an kostbarem Nass empfanden sie als etwas Magisches, das aber gleichzeitig ihren Argwohn erregte. Der alte Mann aber hatte sein ganzes Vermögen in die Errichtung seines kleinen Paradieses gesteckt; um die Verzweiflung über sein lebenslanges Exil zu lindern, hatte er diesen üppigen Garten geschaffen – das war die einzige Weise, auf die er mit seinem Heimatplaneten noch eine Verbindung aufrechterhalten konnte.

»Was ist los, Doppel-Haut?«, fragte Maranas nach einer ganzen Weile und richtete sich auf. »Bist du heute nicht glücklich?«

»Nenn mich nicht so«, maulte der alte Mann. »Du weißt doch, dass es mir nicht gefällt, wenn du mich Doppel-Haut nennst. Es ist schon lange her, seit ich zwei Häute hatte. Vielleicht hättest du mich bei meiner Ankunft so nennen können, aber jetzt …«

Schon seit langem zog er den Colancor nicht mehr an, dieses eng anliegende Trikot, das Maranas zu dem Spitznamen verleitet hatte. Zuerst hatte ihm die Missachtung der strikten syracusischen Kleidungsvorschriften zu schaffen gemacht. Aber jetzt fühlte er sich in den weit geschnittenen prougischen Tuniken sehr wohl. Vor allem genoss er das Gefühl des Windes, wenn er über seine Haut strich. Darauf wollte er nicht mehr verzichten.

»Und wie soll ich dich nennen?«, fragte der junge Mann.

»Ich kenne deinen richtigen Namen nicht. Es ist auch ohne Bedeutung, denn ich mag dich. Auch wenn du anonym bleiben willst, Doppel-Haut.«

Maranas lachte, erhob sich mit katzenhafter Geschmeidigkeit und küsste den alten Mann flüchtig auf den Mund. Dann lief er zu dem ovalen Schwimmbecken und tauchte mit einem Kopfsprung ins lauwarme Wasser.

Der alte Mann stützte sich in seiner Hängematte auf einen Ellbogen und betrachtete den nackten braunen Körper seines jungen Geliebten. Solche Körper hatten ihn ins Verderben geführt. Junge, glatthäutige, kräftige Epheben, gerade der Kindheit entwachsen, lösten in ihm unwiderstehliche Gelüste aus, die er befriedigen musste. Eine übermächtige Begierde zwang ihn, diese Körper zu berühren, zu streicheln, den Nektar von diesen sinnlichen Lippen zu sammeln, seine Zunge in diese Münder voller Honig zu stoßen, um dort das Leben einzusaugen.

Und wegen dieser Körper hatte er als Großmeister der Inddikischen Wissenschaften jahrtausendealte Traditionen verraten. Er lebte noch, ja! Aber um welchen Preis? Immer, wenn er an seinen Prozess zurückdachte, spürte er noch deutlich die brennende Erniedrigung, als das Oberste Inquisitionsgericht der Kirche des Kreuzes ihn zum Raskatta erklärt und zu lebenslanger Verbannung auf den Planeten Roter-Punkt verurteilt hatte – auf jenen Planeten, auf dem alle Kriminellen der Welten des Zentrums lebten.

Und seitdem verbrachte er seine Tage in seinem Garten und in der Gesellschaft junger Prougen aus Matana, die seinen Wünschen gegenüber sehr entgegenkommend waren, weil er sie großzügig entlohnte. Nach und nach hatte er zu seinem Bedauern seine letzte Würde und Willenskraft verloren.

Sri Alexu hatte unter Aufbietung aller seiner Kräfte versucht, die Verbindung der drei Großmeister über Zeit und Raum aufrechtzuerhalten. Vergebens! Der alte Mann hatte auf diese Appelle nicht reagiert, so als wollte er sich jede Möglichkeit zur Umkehr versperren. Niemand durfte ihn daran hindern, sich weiter zu ruinieren. Und jetzt interessierte ihn nur noch eins: für immer und ewig zu verschwinden, in den großen Fluss des Vergessens einzutauchen. Es drängte ihn, dem Todesboten zu begegnen, damit er endlich von seinen Qualen befreit wurde.

Der Kontakt zu Sri Alexu war definitiv abgebrochen. Jetzt spürte er nur noch die Anwesenheit des dritten Großmeisters, eine vage Präsenz, gleich einem feinen, schwach leuchtenden Gestirn.

Plötzlich überfiel den alten Mann der dringende Wunsch, sich ein letztes Mal nützlich zu machen: Er musste Sri Alexus Tochter vor der Falle warnen, die ihr die Pritiv-Mörder und die Scaythen von Hyponeros gestellt hatten. Wenigstens das war er seinem alten Freund schuldig, auch wenn ihn ein solches Handeln in keiner Weise von seiner Schuld freisprach.

Maranas kauerte am Rand des Schwimmbeckens und schüttelte seine rote Mähne. Jähe Lust überfiel den alten Mann, und sein Mund wurde trocken. Nur mit großer Willensanstrengung widerstand er dieser letzten Versuchung.

»Komm her, Maranas! Ich muss dir etwas Wichtiges sagen«, verkündete der alte Mann in ungewohnt ernstem, strengen Ton.

»Komm schon! Es ist nicht nur wichtig, es eilt auch.«

Der Greis ließ sich aus seiner Hängematte fallen, die sich sofort aufrollte und in eine faustgroße Kugel verwandelte. Dann stieg er die Lufttreppe zur Terrasse empor. Maranas zuckte mit den Schultern, warf sich seine Tunika lässig über die Schultern und folgte Doppel-Haut in den Salon, einen großen, luftigen, in Blautönen gehaltenen Raum, der angenehm kühl wirkte.

Der alte Mann setzte sich in ein kleines weißgoldenes Boot, das am Deckenbalken befestigt war. Sein langes weißes Haar umgab sein Gesicht mit hellem Glanz.

»Zieh dich an, und setz dich mir gegenüber.«

Maranas seufzte, schlüpfte widerwillig in seine Tunika und setzte sich auf einen von innen beleuchteten Schemel. Er hatte ein merkwürdiges Gefühl: Dieser Mann war nicht mehr der Mann, den er kannte. Das war nicht mehr Doppel-Haut, der kultivierte und geduldige Gastgeber und Liebhaber, dessen helle Augen vor Begehren manchmal dunkel wurden. Jetzt wirkte er ganz in sich versunken, abwesend. Der junge Prouge fühlte sich nicht wohl in seiner Haut und wollte das bedrückende Schweigen brechen, doch der alte Mann befahl ihm mit herrischer Geste zu schweigen.

»Hör mir jetzt genau zu, Maranas!«, sagte er mit kräftiger Stimme. Sie klang, als würde sie mitten aus der Erde kommen.

»Ich habe öfter festgestellt, dass deine geistigen Fähigkeiten weit über dem Durchschnitt liegen. Ich sage dir jetzt, was du tun sollst: Zuerst, schließe die Augen. Dann lässt du deine Gedanken frei schweifen, so wie Kohlensäurebläschen zur Wasseroberfläche steigen und dort aufplatzen. Du darfst sie nicht vertreiben. Es genügt, sie zuzulassen, dann verschwinden sie von selbst. Schließlich erlaubst du der Stille, von deinem ganzen Wesen Besitz zu ergreifen. Um die Festung der Stille zu erreichen, müsste ich dir eigentlich ein Antra singen. Aber dazu haben wir keine Zeit. Wahrscheinlich verstehst du nicht, was das alles bedeutet, aber das ist nicht nötig. Befolge einfach meine Anweisungen. Ich helfe dir. Willst du das versuchen?«

»Aber es ist so, dass … Warum bittest du mich …«, stammelte der junge Prouge.

»Ich habe keine Zeit für Erklärungen. Tu es aus Liebe zu mir. Habe ich dich jemals schlecht behandelt oder hintergangen? Ich bitte dich, vertrau mir. Schließ jetzt die Augen, lass deine Gedanken an die Oberfläche steigen, und erlaube der Stille, Besitz von dir zu ergreifen.«

Maranas fand diese neue Marotte seines Geliebten viel weniger amüsant als die üblichen erotischen Spiele. Aber da sich die Höhe seiner Belohnung nach der Zufriedenheit seines Partners richtete, tat er, wie ihm geheißen, obwohl er das alles lächerlich fand. Er musste sich zusammenreißen, um nicht zu kichern.

Er zwinkerte mehrmals, weil er auf ein Signal hoffte, dass dieses Spiel zu Ende sei, aber jedes Mal sah er den alten Kauz völlig bewegungslos dasitzen.

Dann wurden die Lider des jungen Prougen immer schwerer, und er hatte weder die Kraft noch den Willen, sie zu öffnen. Ziellos irrte er durch sein inneres Dunkel, bis ihn ein mächtiger Strom ergriff und am heiteren Gestade der Stille absetzte. Das war ein derart angenehmer und friedlicher Ort, dass er sich ohne Gegenwehr in die tiefen Abgründe des angrenzenden Ozeans treiben ließ. Nur fern und flüchtig sah er seine Gedanken wie Bläschen dahintreiben, bis sie an der Wasseroberfläche aufplatzten.

»Sehr gut, Maranas! Versuche jetzt, diesen Grad der Stille beizubehalten!«

Sofort brach im Kopf des jungen Mannes ein Sturm los. Woher kam diese Stimme? Erschrocken öffnete er die Augen, sah aber nur den alten Mann, der noch immer so unbeweglich wie eine Statue vor ihm saß.

Er hatte das Gefühl, schweißgebadet aus einem Albtraum erwacht zu sein und schloss die Augen wieder. Wie durch Zauber legte sich der Sturm, und der mächtige Strom trug ihn in den Ozean der Stille zurück.

»Du darfst deine Reaktionen nicht unterdrücken. Begleite sie und lass sie bewusst gehen. Sehr gut. Du bist ein begabter Schüler. Antworte mir nicht, denn dann würde dich die Stille verlassen, und ich könnte nichts dagegen tun. Die Stille ist unser höchstes Gut, denn in ihr ruhen alle unsere Fähigkeiten. Aber wie alle kostbaren Dinge, ist auch sie zerbrechlich. Ich habe dir diese Botschaft auf diesem Weg übermittelt, weil ich ständig überwacht werde, nicht nur ich selbst, sondern auch meine Gedanken …«

Wieder herrschte Aufruhr im Kopf des jungen Prougen. Und der alte Mann unterbrach die Übermittlung. Er konzentrierte seine gesamte mentale Energie darauf, die Stille wiederherzustellen.

»Sehr gut. Du hast es begriffen. Diese Art der Kommunikation basiert auf einer vergessenen Wissenschaft, der Inddikischen Wissenschaft. Auf diese Weise kann der Gedankenleser, der mich kontrolliert, an unserer Konversation nicht teilhaben. Wie das geschieht, kann ich dir jetzt nicht erklären, dafür ist die Zeit zu knapp. Pass nur auf, dass dir die Stille nicht entgleitet. Was immer ich auch sage, du darfst dich darüber nicht wundern und musst deinen Emotionen Raum zum Entweichen geben.«

Er machte absichtlich eine Pause und fuhr fort: »Ich werde sterben.«

Obwohl der alte Mann Maranas gewarnt hatte, wurde der junge Prouge von Entsetzen ergriffen. Das Entsetzen stieg in ihm auf wie die hochzüngelnden Flammen eines plötzlich auflodernden Feuers. Das war wahrhaftig kein amüsantes Spiel. So wenig amüsant, dass er Doppel-Haut nie wieder besuchen würde, auch wenn er dann auf das Geld für seine Dienste verzichten musste.

Der Greis merkte, dass die Todesschatten, die Pritiv-Mörder, aus ihren Verstecken gekrochen waren und sich seinem Haus näherten. Der scaythische Gedankenleser hatte den Kontakt zu ihm verloren und befohlen, ihn zu töten.

Jetzt sammelte er sein ganzes Wissen, um die emotionale Reaktion des jungen Prougen abzuschätzen. Die Gewissheit um seinen nahen Tod verlieh ihm die nötige Kraft.

»Lass deine Gedanken fliehen! Sie richten mehr Unheil als Raubkatzen in Käfigen an! Ich befehle dir, die Stille in dir zu entfalten! Ich befehle dir, die Stille in dir zu entfalten! Befreie dich von deinen Emotionen!«

Maranas gelang es nach und nach, sich zu entspannen, und seine Angst wich.

»Um Himmels willen, kontrolliere deine Emotionen!«

Die Mörder hatten das Haus umkreist.

Der alte Mann beschloss, Maranas auf direktem Weg seine Gedanken mitzuteilen: »Ich werde sterben, weil meine Stunde gekommen ist. Der Tod ist etwas Natürliches, du brauchst ihn nicht zu fürchten. Aber vorher beauftrage ich dich mit einer Mission. Und du wirst sie erfüllen, um der Liebe deiner Götter willen, des Himmels, der Menschen oder was dir sonst wichtig ist. Und wenn nicht darum, dann wenigstens wegen der angenehmen Stunden, die wir miteinander verbracht haben. Mein richtiger Name ist Lakti Mitsu, aber ich bin bekannter unter dem Namen Sri Mitsu. Ich war einer der fünf großen Smellas der Kongregation, deren Aufgabe es ist, darüber zu wachen, dass die Beschlüsse, die während der alle fünf Jahre stattfindenden Asmas gefasst werden, den Gesetzen der Konföderation von Naflin entsprechen. Das bedeutet, über ausgeglichene Machtverhältnisse zu wachen. Doch wegen meiner sexuellen Neigungen haben mich die Gerichtsbarkeit und die Kirche meines Heimatplaneten Syracusa auf Lebenszeit hierher verbannt. Natürlich wusste ich, dass dieser Prozess schon seit langem von der Herrscherfamilie Ang, dem Muffi der Kirche des Kreuzes und dem Konnetabel Pamynx, einem Scaythen von Hyponeros, geplant worden war, mit dem Ziel, mich meines Amtes zu entheben, damit die Konföderation gestürzt werden kann. Doch leider weiß ich so gut wie nichts über die Eroberungsstrategien der Scaythen. Die bemannten Satelliten, die wir in Richtung Hyponeros geschickt haben – eine Welt im unbekannten Universum –, sind nie zurückgekehrt. Wie auch immer, jedenfalls waren diese Leute geschickt genug, meine Schwäche gegen mich zu verwenden. Ich habe bei der Erfüllung meiner Mission versagt und war dumm genug, meinen Kopf selbst auf den Richtblock zu legen.«

Maranas hatte einen derartigen Bewusstseinszustand erreicht, dass er den Sinn der Worte verstand, noch ehe Sri Mitsu sie ausgesprochen hatte. Und er konnte die Gefühle des alten Mannes mühelos nachvollziehen.

»Doch vor allem bin ich ein Nachfahre in einer langen Reihe von Meistern: die Meister der Inddikischen Wissenschaft. Davon gibt es im Universum wie eh und je drei. Genauer gesagt, es gab drei. Einer von uns ist vor kurzem gestorben. Ich habe den Kontakt zu ihm verloren. Obwohl er versucht hat, mich vor dem Untergang zu retten, habe ich nicht auf ihn gehört. Ich habe mein Denken aufgegeben und allein für die Befriedigung meiner körperlichen Gelüste gelebt und überlebt. Eine Inddikische Regel lautet, dass jeder der drei Meister seinen Nachfolger ausbildet, damit die Union für alle Zeit Bestand hat. Doch ich hinterlasse nur Leere, eine Leere, in die sich bereits die Scaythen von Hyponeros eingenistet haben. Schließlich hat Sri Alexu mir seine Tochter geschickt, die er zu seiner Nachfolgerin bestimmte. Sie ist hier, nur ein paar Straßen von meinem Haus entfernt. Sie hat versucht, Kontakt mit mir aufzunehmen. Doch aus Angst, abgehört zu werden, musste ich mich ihr verschließen. Sie darf mein Haus auf keinen Fall betreten, denn ihre Mörder warten hier auf sie. Sie können sie nicht orten, aber sie wissen, dass sie auf Roter-Punkt ist. Sie benutzen mich als Köder und wollen uns beide gleichzeitig eliminieren.«

Der alte Mann schwieg kurz, und Maranas spürte die unendliche Traurigkeit und Erschöpfung seines Freundes.

»Ich bin am Ende. Ich stehe vor dem Nichts. Die Tradition hat mich verstoßen, weil ich sie verraten habe. Wer weiß schon, warum solche Dinge geschehen? Warum das Schicksalsrad sich eher in die eine als in die andere Richtung dreht? – Aber in Aphykit liegt unsere ganze Hoffnung. Die letzte Hoffnung. Aphykit ist ein schöner Name. Im Altsyracusischen bedeutet er ›unter der Asche schwelendes Feuer‹ oder ›wiedererwachtes Feuer‹. Sobald du das Haus verlassen hast, suchst du sie so unauffällig wie möglich. Die Pritiv-Mörder werden dich nicht beachten, du interessierst sie nicht. Solltest du Aphykit nicht erkennen, sei unbesorgt, sie wird dich erkennen. Sie wird wissen, dass du mein Bote bist. Du musst sie unbedingt vor den Mördern finden, Maranas! Von deiner Schnelligkeit und deiner Geschicklichkeit hängt das Schicksal von Milliarden Menschen ab. Du sagst ihr …«

Das Geräusch schneller Schritte und zuschlagender Türen unterbrach die Instruktionen des Meisters. Maranas öffnete automatisch die Augen und sah drohend wirkende Gestalten im weißen Rahmen der Terrassentür stehen.

Der Pfau stieß Angstschreie aus, während er mit schlagenden Flügeln auf das schützende Gebüsch zulief. Sein hübscher Kopf war plötzlich von seinem Körper getrennt und rollte über den Gartenweg. Beim Anblick der Blutfontänen, die stoßweise aus dem kopflosen Körper austraten, zogen sich die Bauchmuskeln des jungen Prougen krampfartig zusammen. Er geriet in Panik und stand keuchend auf.

»Setz dich!«, befahl Sri Mitsu mit seiner ganzen ihm verbliebenen Energie. »Schließ die Augen!«

Trotz seines Entsetzens gehorchte der junge Mann.

»Schnell! Du sagst Aphykit, dass sie unbedingt den dritten Meister aufsuchen muss! Nur er kann ihre Ausbildung vollenden. Und er wird wissen, wie mein Versagen kompensiert und die Lage verbessert werden kann. Doch sie muss aufpassen: der Mahdi Seqoram ist nicht … Der Orden hat kein … mehr …«

Maranas hörte ein Sirren und dann ein schreckliches gurgelndes Geräusch. Ihn überkam eine Eiseskälte, und er hatte das fürchterliche Gefühl, als würde der Tod in ihn gleiten. Er öffnete ein Auge: Doppel-Haut war in seinem kleinen Boot zusammengesackt. Das Weiß färbte sich langsam rot. In seiner Kehle steckte eine runde, scharf geschliffene Scheibe, die sich noch immer drehte und Fleisch und Knochen zerfetzte. Ein scharlachroter Strom ergoss sich aus der klaffenden Wunde, und der bleiche Kopf des alten Mannes fiel in einem bizarren Winkel auf seine Schulter.

Vor Entsetzen gelähmt brauchte der junge Mann ein paar Sekunden, bis er begriff: Fröhlich und unbeschwert hatte er seinen Geliebten besucht, und plötzlich fand er sich in einem Albtraum wieder …

Ein Befehl, der aus dem Garten zu ihm drang, riss ihn aus seiner Starre. Wieder hörte er dieses Sirren und duckte sich instinktiv. Eine funkelnde Scheibe flog über seinen Kopf und blieb in einem Möbel stecken.

Jetzt sprang er mit der Geschmeidigkeit einer Wildkatze auf und flüchtete über die Lufttreppe in den ersten Stock. Schon hatten die grauweißen Gestalten den Salon erreicht. Die nächste Scheibe bohrte sich in das Geländer, nur wenige Zentimeter von seiner Hand entfernt. Er rannte die Treppe hoch und warf sich mit seinem ganzen Körpergewicht auf den Hebel, der die Treppe sofort in einer Mauernische verschwinden ließ. Die plötzlich ihrer Luft beraubten Stufen formten eine hermetisch schließende Klappe auf dem Treppenabsatz. Doppel-Haut hatte diesen Mechanismus installieren lassen, weil er nicht gestört werden wollte, wenn er sich mit seinen jungen Liebhabern in einem seiner Schlafzimmer vergnügte.

Maranas hörte dumpfe Geräusche von unten. Seine Verfolger schoben Möbel unter die Falltür. Kalter Schweiß rann über seine Stirn. Er versuchte, sich zu beruhigen und seine Gedanken zu ordnen.

Grünes Licht drang kreisförmig durch die Falltür. Der beißende Geruch verbrannten Holzes breitete sich aus.

Maranas lief ins blaue Schlafzimmer, weil der Balkon dort auf die Straße hinausging. Glücklicherweise stand die Tür offen.

Inzwischen hatten die Mörder ein Loch in die Falltür geschnitten und hievten sich hoch.

Maranas schwang sich über die schwarze Optalium-Brüstung des Balkons und sprang. Er landete vier Meter tiefer auf einer staubigen glutheißen Straße und hatte sich den Knöchel verstaucht. Trotz des stechenden Schmerzes lief er in Richtung der nächsten Kreuzung, wobei er sich immer wieder umsah. Schon kletterte eine der grau gekleideten und weiß maskierten Gestalten über die Brüstung, sprang, landete mühelos und nahm die Verfolgung auf.

Die Kreuzung war nur noch zehn Meter entfernt. War Maranas erst einmal um die Ecke des großen weißen Hauses gebogen, konnte er im Gewirr der Gässchen zwischen dem alten Viertel und der Stadtmauer Matanas die Mörder abhängen.

Ein zweiter Pritiv-Söldner erschien auf dem Balkon, blieb stehen, holte weit aus, und aus dem Ärmel seiner grauen Uniform schoss ein Blitz hervor. Maranas bog gerade um die Ecke. In diesem Moment bohrte sich die glänzende Scheibe mit einem Sirren in sein rechtes Schulterblatt. Ein brennender Schmerz breitete sich über seinem ganzen Rücken aus. Sein Blut spritzte auf die weiße Hauswand hinter ihm und rann zu Boden. Die Schneide des sich noch immer drehenden Projektils schnitt ihm die Rippen auf.

Schon fast ohnmächtig schleppte sich Maranas in die Seitenstraße. Ganz vage hörte er, wie sich seine Verfolger gegenseitig anfeuerten – es klang wie das Gebrüll der Treiber auf einer Hetzjagd.

Die dürstende Erde, die er mit purpurnen Blumen bedeckte, nahm gierig sein Blut auf. Ein schwarzer Schleier trübte seine Sicht, Mut und Willenskraft verließen ihn, verrieten ihn, und seinen plötzlich nutzlos gewordenen Körper. Die Scheibe steckte zwischen zwei Rippen, die sie nicht hatte durchtrennen können. Sie drehte sich nicht mehr.

Maranas Beine versagten ihm den Dienst. Er hatte nur noch einen Wunsch: sich im Staub auszustrecken und zu sterben, damit dieser unerträgliche Schmerz aufhörte.

»Stützen Sie sich auf meinen Arm! Schnell!«

Wie durch einen Nebel sah der junge Prouge vor sich eine dunkle Gestalt, einen Bettler. Die Schritte seiner Verfolger kamen immer näher.

Maranas Wille zum Überleben siegte. Er biss die Zähne zusammen, mobilisierte seine letzten Energiereserven und stützte sich auf den Arm des Bettlers, dessen Gesicht unter einer Kapuze verborgen war und dessen zerlumpter Mantel einen widerwärtigen Geruch ausströmte.

»Nach … Matana … die Pforte …«, wimmerte Maranas.

»Das weiß ich«, flüsterte der Bettler und lenkte seine Schritte sofort in Richtung der mit Schießscharten versehenen Stadtmauer, deren Brüstung die Flachdächer der umstehenden Häuser überragte. Der junge Mann stützte sich mit seinem ganzen Gewicht auf seinen schmächtigen Helfer, und so kamen die beiden nur langsam und schwankend voran. Schließlich erreichten sie ein schattiges Gässchen, das sich zwischen zwei eng gebauten Häuserreihen hindurchwand. Es führte zu einer der Esplanaden, die an einem der hundertsiebzehn monumentalen Stadttore Matanas endete.

Die beiden hatten das Gässchen beinahe durchquert, als der Bettler sich umdrehte und etwa hundert Meter hinter ihnen im Gegenlicht einen der Verfolger sah.

»Ich flehe Sie an, nur noch ein kleines Stück! Wir haben es fast geschafft.«

Maranas richtete sich auf und versuchte, seinen Schritt zu beschleunigen. Er spürte seinen Körper nicht mehr. Alles war taub. In der Hand des Mörders blitzte das tödliche Wurfgeschoss. Er kam schnellen Schrittes immer näher. Die beiden konnten fast seinen Atem im Nacken fühlen, als sie einen in rostfarbenes Licht getauchten Platz erreichten.

»Lassen Sie mich … Fliehen Sie …«, flüsterte der Verwundete.

Doch plötzlich stürmte eine Horde halb nackter Kinder unter dem Torbogen der Stadtmauer hervor. Sie liefen über die Esplanade in alle Richtungen, so als würden sie sich zu einem Spiel formieren. Einige neckten sich und verteilten sich lachend zwischen dem Mörder und seinen Opfern. Mit einem Mal wirbelte eine Staubwolke über den Platz und tauchte ihn in dichten gelben Nebel. Man konnte nichts mehr erkennen. Nicht nur, dass der feine Staub die Sicht raubte, er griff auch Augen und Nasen an, als wäre eine ätzende Substanz in ihm enthalten.

Kleinste Partikel drangen durch die Sehschlitze und die Mundöffnung in der Maske des Pritiv-Söldners. Er hatte das Gefühl, Tausende winziger Stacheln attackierten Nase und Augen. Innerhalb weniger Sekunden konnte er nichts mehr sehen und war gezwungen, stehen zu bleiben. Er ließ sein Wurfgeschoss fallen und rieb sich die brennenden Augen.

Als er etwas später das Gefühl hatte, wieder besser atmen zu können, weil sich die Staubwolke langsam legte und dabei alles mit einem ockerfarbenen Schleier überzog, musste er feststellen, dass seine Beute und die Kinder verschwunden waren.

»Wo ist dieser dreckige Prouge? Was ist hier los?«, schrie einer der Männer.

Der Söldner hob seine Waffe auf, drehte sich um und erkannte seine Kumpane, die gerade aus dem Gässchen liefen.

»Ein Bettler ist ihm zu Hilfe gekommen. Ich hatte sie schon fast erwischt, als diese Bengel eine Staubwolke aufgewirbelt haben.«

Ein ganz in Schwarz gekleideter und maskierter Söldner trat aus der Gruppe und sagte zu ihm: »Der scaythische Gedankenleser hat uns geraten, nicht zu scheitern. Ein Scheitern bedeutet Verrat!«

»Er kann vielleicht die Gedanken anderer lesen, aber er rennt nicht hinter ihnen her. Der Prouge hat sich dorthin geflüchtet«, sagte der Söldner und deutete auf das Stadttor. »Er ist verletzt und kommt nicht weit. Wir brauchen nur seiner Spur zu folgen.«

»Wir hätte nicht so früh eingreifen dürfen, Offizier!«, schimpfte ein anderer Söldner. »Überstürztes Handeln hat noch nie etwas Gutes gebracht. Sie haben keinen Posten auf der Straße aufgestellt. Matana ist ein richtiges Labyrinth, und wir haben hier keine Geruchssonden. Außerdem wissen wir immer noch nicht, wo sich dieses verdammte Mädchen aufhält.«

»Der Scaythe hatte den mentalen Kontakt zu dem alten Hexenmeister verloren«, antwortete der schwarz gekleidete Offizier ärgerlich. »Er konnte die Botschaft nicht lesen, die der Alte dem jungen Prougen übermittelt hat und beschloss deshalb, die beiden sofort zu eliminieren.«

»Mit dem Resultat, dass wir nur den Alten erledigt haben.«

»Halten Sie jetzt die Schnauze!«, knurrte der Offizier. »Und ihr bringt mir den Prougen und diesen Bettler. Stellt ganz Matana auf den Kopf, wenn es sein muss! Falls ihr noch einmal versagt, hänge ich euch an euren Eingeweiden auf. Ich gehe jetzt ins Haus des Alten zurück und beseitige alle Hinweise. Vielleicht taucht das Mädchen dort noch auf. Eine gemeinsame Abreise findet nicht statt. Jeder kümmert sich persönlich um seine Rückkehr.«

 

Maranas lag auf einem Mäuerchen. Er war totenblass und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Der Schmerz hatte nachgelassen, aber er hatte keine Kraft mehr. Kalter Schweiß bedeckte seinen ganzen Körper.

Nachdem die Kinder ihre Aufgabe erfüllt hatten, waren sie verschwunden. Sie hatten die Flüchtenden aus der Staubwolke durch das Stadttor geleitet und sie dann über endlose ineinander verschachtelte Treppen über Terrassen geführt. Danach war die kleine Horde wie durch einen Zauber verschwunden.

Der Bettler hatte die blutbefleckte Metallscheibe aus Maranas klaffender Wunde gezogen und sie aufs Pflaster geschleudert, wo sie wie ein bösartiges Raubtier glänzte. Dann hatte er den Saum von der Tunika des jungen Mannes abgerissen und einen provisorischen Verband angelegt. Die Verletzung sah böse aus: Knochensplitter waren an mehreren Stellen in die Pleura und die Bronchien gedrungen. Trotzdem hatte er die Blutung stillen können.

»Kennen Sie die Altstadt gut?«, fragte der Bettler. Er hatte eine erstaunlich helle Stimme.

Maranas nickte.

»Gibt es einen Ort, wo man Sie pflegen kann?«

Maranas nickte wieder.

»Wir müssen dort hingehen. Sie können in diesem Zustand nicht hier bleiben. Wissen Sie, wo wir sind?«

»Helfen Sie mir auf … Ich führe Sie …«, murmelte der junge Prouge.

Er legte den Arm um die Schultern des Bettlers und stand dann sehr vorsichtig auf.

»Da … diese Gasse entlang …«

Die beiden umgingen das Mäuerchen und gelangten in ein schier unübersichtliches Gewirr alter Straßen, Gassen und Wege, die derart ineinander verschachtelt waren, dass man nicht mehr wusste, wo sie anfingen oder endeten.

Ein paar Minuten später tauchten die Söldner auf einer der Terrassen auf und entdeckten sofort die blutbeschmierte Scheibe am Fuß des Mäuerchens.

Sie suchten den Boden ab, konnten aber keine weiteren Spuren entdecken. Sechs Gässchen zweigten von einer Terrasse ab und wanden sich zwischen weißen Mauern. Der Boden war so festgetreten, dass er die Konistenz von Stein hatte.

»Wenn wir doch nur die Sonde hätten«, klagte einer der Söldner.

»Lamentieren nützt nichts«, entgegnete ein anderer.

Sie beschlossen sich zu trennen, damit jeder eine Gasse durchsuchen konnte, auch wenn sich dieses Vorgehen wahrscheinlich als das ineffizienteste erweisen sollte.

 

Das Gehen fiel Maranas immer schwerer. Der Weg über den Steilhang mit seinen vielen Biegungen schien kein Ende zu nehmen, und die Hitze lastete schwer auf ihm. Auch der Bettler war erschöpft und konnte den jungen Mann nur noch mit Mühe stützen, aber er versuchte dennoch, ihn aufzumuntern.

»Sie müssen durchhalten! Nur noch ein kleines Stück! Und noch ein Stück!«

Endlich begriff Maranas in seinem geschwächten Zustand, was eigentlich offensichtlich war. Dieser quasi aus dem Nichts aufgetauchte Bettler mit der sanften Stimme und der gewählten Ausdrucksweise war kein gewöhnlicher Landstreicher, sondern eine Frau! Daher auch die zarte Gestalt, die feingliedrigen Hände … Er blieb stehen und lehnte sich an eine Mauer.

»Wer … wer sind Sie?«, fragte er mit tonloser Stimme.

»Ich bitte Sie! Für korrekte Umgangsformen haben wir jetzt keine Zeit. Sparen Sie sich Ihre Kräfte.«

»Sie heißen nicht zufällig … Aphykit?«

»Später! Das muss warten! Ist es noch weit bis zu jenem Ort, von dem Sie gesprochen haben?«

Der Widerhall von Schritten war in dem Gässchen zu hören.

»Sie sind immer noch hinter uns her …«, wimmerte Maranas, von Schmerzen und Angst überwältigt. »Wir sind verloren … Alles ist verloren …«

Er schluchzte voller Verzweiflung. Jeder Mut hatte ihn verlassen. Er ließ sich an der Wand zu Boden gleiten und blieb dem Flehen der jungen Frau gegenüber taub. Er hatte nur noch einen Wunsch: dem beschwörenden Murmeln des Todes zu folgen und ihm nachzugeben.

Das rötliche Licht des Gestirns Rotes Feuer schwand allmählich und machte dem kalten und grünlichen Licht des Gestirns Grünes Feuer Platz, das jetzt hoch am Himmel stand. Matana erwachte in der ersten Dämmerung. Vom Basar im Zentrum der Stadt tönten die Schreie der Händler.

Das wilde Getrappel wurde lauter. Aphykit spürte, wie der Boden unter ihr vibrierte. Der Mörder war nicht mehr weit. Sie zögerte. Was sollte sie tun? Ihr Mitgefühl verbot ihr, den Verwundeten zu verlassen. Aber diese Entscheidung konnte sich als fatal erweisen. Denn es stand mehr auf dem Spiel als das Leben eines Einzelnen, selbst wenn allein er Kenntnis von Sri Mitsus Testament hatte, dessen Inhalt sie bereits erraten hatte.

Da fiel ihr eine Maxime von Spol Barneth ein, einem pränaflinischen Philosophen: »Menschliche Gefühle sind gut, außer sie arten in Überempfindsamkeit aus. Dann wirf sie bedenkenlos über Bord, denn sie hindern dich am Handeln.«

Neben Maranas wurde plötzlich eine niedrige Tür geöffnet. Ein mürrisches, zerfurchtes Gesicht, das vom Schein roten Haars umgeben war, lugte durch den Türspalt. Auf Stirn und Kinn hatte die alte Frau dunkelblaue Tätowierungen. Sie krächzte ein paar unverständliche Worte, und als Aphykit nicht reagierte, gab sie ihr mit ihrem knochigen Zeigefinger zu verstehen, dass sie eintreten solle.

Die junge Frau ließ sich nicht lange bitten. Sie ergriff Maranas’ Handgelenk und schleifte ihn zur Tür. Die Alte half ihr, den Verwundeten ins Haus zu bringen, wobei sie ständig vor sich hin schimpfte, schloss dann die Tür und legte einen schweren Riegel vor.

Aphykit lehnte sich gegen die Holztür, schöpfte Atem und versuchte, wieder klar denken zu können. Ihr Herz schlug wild, und sie schwitzte derart, dass ihr ganzer Körper nass war. Seit sie nicht mehr ihren Colancor trug, der jede Feuchtigkeit absorbiert hatte, kam sie sich schmutzig vor.

Als sie die Schritte des Mörders vor dem Haus hörte, erstarrte sie und hielt den Atem an.

Maranas lag mit angezogenen Beinen auf dem gefliesten Boden und wimmerte leise. Aus seinem bläulich verfärbten Mund lief mit Blut vermischter Speichel.

Die Alte musterte die Bettlergestalt misstrauisch und schimpfte vor sich hin, weil sie das Gesicht des Neuankömmlings nicht erkennen konnte. Als einziges Kleidungsstück diente ihr ein Tuch aus grobem Stoff, das sie um ihre mageren Hüften geschlungen hatte. Ihre Haut war kupferfarben und schlaff und ihre Brüste hingen wie leere Hautsäcke herunter.

Aphykit begriff, dass sich die Alte vor ihrem Aufzug fürchtete. Nur zu gern zog sie die schmutzige Kapuze herunter. Als die alte Prougin das volle goldene Haar der Syracuserin sah, das ihr in Wellen bis auf die Schultern fiel, ihre feinen Gesichtszüge und ihre Alabasterhaut, stieß sie vor Verblüffung einen Schrei aus. Die Alte glaubte, vor ihr stehe eine der Zauberinnen aus den uralten Legenden ihrer Heimat, weil diese Godappi, diese Fremde aus den Welten des Zentrums, sich ebenso verkleidet hatte wie die Zauberinnen es taten, damit sie den Sterblichen einen Streich spielen konnten.

»Schnell! Der Junge ist schwer verletzt. Er muss versorgt werden.«

Obwohl die Alte die Worte der Fremden nicht verstand, erkannte sie an dem eindringlichen Ton, dass etwas geschehen musste. Wieder vor sich hin brabbelnd, verließ sie durch die Hintertür das Zimmer und betrat einen kleinen, lichtdurchfluteten Innenhof.

Aphykit beugte sich über den leise stöhnenden jungen Mann. Das Leben wich langsam aus ihm. Seine Augen glichen zerbrochenen Spiegeln. Sie fühlte sich ohnmächtig und bedauerte zutiefst, keine medizinischen Kenntnisse zu haben.

Die Alte kam in Begleitung eines etwa zehnjährigen Jungen zurück, der auf einem Tablett aus Kupfer Verbandmaterial und einen rosafarbenen Flakon mitbrachte. Aphykit erkannte ihn sofort an seinem kurzen orangefarbenen Lendenschurz, der nahezu schwarzen Haut und dem runden Kopf mit dem flammend roten Haar. Er hatte große, intelligente Augen.

Eben diesem Jungen war sie auf der Esplanade vor dem Stadttor begegnet und hatte ihn gebeten, die Pritiv-Mörder aufzuhalten. Er hatte zwei Finger in den Mund gesteckt und einen gellenden Pfiff ausgestoßen, worauf sofort aus allen Ecken Kinder herbeigelaufen waren. Nachdem er sie kurz angewiesen hatte, hatten sich die Kinder im Schatten des Stadttors versteckt. Sie waren sehr diszipliniert und offensichtich daran gewöhnt, Flüchtenden, die im Labyrinth Matanas Schutz suchten, zu helfen. Dann hatte sich Aphykit auf die Suche nach Maranas gemacht.

Der Junge war von der Schönheit der Syracuserin derart fasziniert, dass er sie mit Blicken geradezu verschlang. Er hatte geglaubt, es mit einem elenden Bettler zu tun zu haben, und jetzt hatte sich der Bettler in eine Zauberfee verwandelt!

Die Alte beugte sich inzwischen über Maranas und reinigte, ständig vor sich hin murmelnd, seine Wunde. Als sie die rosa Flüssigkeit hineinträufelte, wurde sein Körper von Krämpfen geschüttelt.

Der Junge ging langsam zu Aphykit und sagte: »Du warst vorhin verkleidet, aber ich erkenne dich wieder. Selbst wenn du dich von einem armen Mann in eine schöne Frau verwandelt hast.«

Er hatte einen rauen, gutturalen Akzent, als er das Interplanetarische Nafle sprach, die offizielle Sprache der Konföderation.

»Hast du gesehen, wie wir das gemacht haben?«, sagte er stolz. »Die anderen, diese dummen Pritiv-Mörder konnten uns nicht folgen. In Matana sind sogar sie gegen uns machtlos. Und während du hier, bei Inonii, Zuflucht gefunden hast, haben wir sie auf falsche Fährten gesetzt. Inzwischen haben sie sich wahrscheinlich vollständig verirrt und können sich glücklich schätzen, wenn sie mit dem Leben davonkommen. Sie sind vielleicht Pritiv-Mörder, sie sind aber auch Godappis! Wie du …«

Er lächelte, und perlweiße Zähne blitzten in seinem dunklen Gesicht auf.

»Wie habt ihr es geschafft, diese Staubmengen aufzuwirbeln?«, fragte Aphykit freundlich. »Wohl kaum allein mit euren Füßen …«

»Wenn du Götter hast, danke ihnen, fremde Dame!«, antwortete der Junge. »Sie haben dich gut beraten, als sie dir empfahlen, dich an mich zu wenden. Denn ich bin der beste Staubleger in Matana. Schau mal!«

Er fummelte auf so schamlose Weise unter seinem Lendenschurz herum, dass die Syracuserin leicht schockiert war. Dann zog er einen faustgroßen durchsichtigen Beutel hervor, der ein ockerfarbenes Pulver enthielt.

»Das ist eine Staubbombe«, erklärte der Junge in schulmeisterlichem Ton. »Wenn ich sie loslasse und sie den Boden berührt, platzt das Papier, und der Staub fliegt davon. Dann müssten wir Inoniis Haus sehr schnell verlassen. Sonst würden wir in zwei Minuten ersticken …«

Die Alte drehte sich um und fing an zu schimpfen, als sie den Beutel in der Hand des Jungen sah.

»Du brauchst keine Angst zu haben, Godappi-Dame. Inonii ist eine nette Frau, aber sie schreit, sobald sie den Mund aufmacht. Sie spricht kein Nafle. Sie ist nie zur Schule gegangen. Ich auch nicht. Aber ich habe ihr gesagt, dass sie ihre Tür öffnen soll, falls du und dein Begleiter an ihrem Haus vorbeikommt.«

»Und wenn wir in eine andere Richtung gegangen wären?«

»Dann hätten sich andere Türen geöffnet. Ganz Matana wusste Bescheid. Ich bin euch gefolgt, seit ihr das Stadttor durchschritten habt. Als du noch ein Bettler warst, schöne Dame. Niemand kennt die Stadt besser als ich. Ohne mich und meine kleinen Treiber wärst du jetzt tot. Aber vor allem hätten sie einen Prougen getötet, einen jungen Mann aus meinem Volk …«

»Wenn ich richtig verstehe«, murmelte Aphykit, »geschah das alles seinetwegen …«

»Anfangs nicht!«, unterbrach der Junge sie. »Als du mich um Hilfe gebeten hast, hatte ich ursprünglich vor, dich und die Person, die du retten wolltest, direkt zu dem höchstbietenden Händler zu bringen. Denn normalerweise enden Flüchtlinge in Matana auf dem Sklavenmarkt. Dort werden sie versteigert. Aber als ich sah, dass dein Schützling ein Prouge ist, habe ich ganz Matana mobilisiert, damit ihr gerettet werden konntet. Und du, Godappi-Dame, was machst du als Bettler verkleidet auf Roter-Punkt?«

»Es gibt da gewisse Gründe, doch es würde zu lange dauern, das zu erklären …«

Inzwischen hatte die Alte Maranas einen Verband angelegt.

Das Haus war spartanisch eingerichtet: ein niedriger Holztisch, ein Wollteppich mit geometrischen Mustern – auf dem Maranas jetzt lag –, ein paar Stoffkissen und eine altmodische Luftbank. Doch in dem Raum herrschten angenehmes Dämmerlicht und eine erträgliche Temperatur.

Die vage Antwort der Syracuserin machte den Jungen noch neugieriger, und er fragte: »Wie hast du erfahren, dass die Pritiv-Mörder einen der unseren töten wollten?«

»Man muss nicht unbedingt neben jemandem stehen, um zu hören, was er sagt«, antwortete Aphykit langsam. Und weil sie das Thema wechseln wollte, fügte sie hinzu: »Wie heißen Sie?«

»Kirah. Aber ich habe den Spitznamen ›der Schlaue‹. Leute mit schlechtem Gewissen, die gewisse Verfehlungen begangen haben, wenden sich oft an mich. Ich stehe in dem Ruf, sie in Sicherheit bringen zu können.«

»Und dann liefern Sie diese Leute direkt den Menschenhändlern aus!«

»Ich muss schließlich leben!«, entgegnete der Junge achselzuckend. »Vor allem auf Roter-Punkt ist das eine Kunst. Zwischen all den verschiedenen Interessen der konföderalen Polizei, der Françao-Camorre, den Profikillern, den Bürgern und Adeligen mit ihren Privatarmeen … Hier geschieht nichts unabsichtlich. Wenn du eines Tages deine Welt wiedersehen willst, Godappi-Dame, musst du schlauer als alle anderen sein.«

»Ich danke den Göttern, Sie als Lehrer zu haben, Kirah der Schlaue!«, ahmte Aphykit die hochtrabende Ausdrucksweise des Jungen nach. »Das Glück ist mit mir.«

Kirah blieb jedoch ernst. Er deutete mit einer Kinnbewegung auf Maranas und sagte: »Du bist noch in Freiheit oder am Leben, weil dieser junge Mann ein Prouge ist. Auch wenn dieser Prouge zu … zu … enge Beziehungen zu diesem alten Godappi im Haus mit dem Garten voller Wasser unterhielt. Das war dein einziges Glück!«

Dann sagte er ein paar Worte auf Prougisch zu der Alten, und die beiden hoben Maranas so vorsichtig wie möglich hoch und legten ihn auf die Luftbank.

Aphykit litt unter ständiger Übelkeit. Sie wusste nicht, ob dieses Gefühl von dem Gestank ihrer Kleider herrührte oder von dem Geruch des Blutes an ihren Händen, den Ausdünstungen Inoniis, dem strengen pfefferartigen Geruch der Haare der Prougen – oder auch von der Erinnerung an jene aggressiven Vagabunden, die sie nach ihrer Rematerialisation in der Ruine angegriffen hatten.

Nackt, am ganzen Körper zitternd, mit einer schrecklichen Migräne und von der Deremat-Reise noch völlig desorientiert, war sie inmitten eines Grundstücks umgeben von Trümmern aufgewacht, und schon hatten sich diese zerlumpte Gestalten mit ihren ekelhaften Visagen auf sie gestürzt. Die Angst hatte ihr ungeahnte Energie gegeben, und sie war aufgesprungen und geflohen. Sie war über halb verfallene Treppen gestolpert, hatte sich die Füße an Holzsplittern und rostigen Nägeln aufgerissen und hatte das vulgäre Grölen und Fluchen ihrer Verfolger gehört. Schließlich hatte sie in eine Kammer fliehen können, deren Tür durch einen Haufen Bauschutt verdeckt war, und sich ausruhen können. Die Ruhe hatte sie bitter nötig gehabt, denn nach der ermüdenden Zellen-Transfer-Reise und der dramatischen Flucht war sie völlig erschöpft gewesen.

Nach und nach hatte sich Aphykit körperlich und geistig erholt. In die Ruine war wieder Ruhe eingekehrt. Vorsichtig hatte sie ihr Versteck verlassen und schließlich ein paar Lumpen in einem kaputten Mülleimer entdeckt. Hastig hatte sie diese widerlich stinkenden Fetzen übergestreift und dabei gegen einen heftigen Brechreiz ankämpfen müssen.

Der Verlust ihres Colancors – ihrer zweiten Haut – war am schlimmsten, denn ohne ihn hatte sie das beängstigende Gefühl, verletzbar zu sein. Und als sie durch die fast verlassenen Straßen ging, hatte sie den Eindruck gehabt, dass die wenigen Passanten sie mit Blicken durchbohrten, ihr Innerstes erkennen konnten und ihre Seele raubten – ein Zustand, der ihr psychisches Potenzial beträchtlich schwächte.

Denn als sie schließlich Sri Mitsus Haus lokalisiert hatte, war es ihr nur unter größter Anstrengung gelungen, mentalen Kontakt zu dem alten Freund ihres Vaters herzustellen. Doch der ehemalige Smella hatte sofort jede Kommunikation unterbrochen. Daraufhin hatte sie die Gedanken des jungen Prougen und die der Pritiv-Mörder abgefangen und begriffen, dass der alte Mann ständig von einem scaythischen Gedankenleser überwacht wurde.

Da Aphykit die Techniken des Gedankenschutzes nur schlecht beherrschte, hatte sie keinen Weg gefunden, nochmals mit Sri Mitsu in Kontakt zu treten und nur erraten können, dass der alte Mann in seiner an Maranas übermittelten Botschaft von dem dritten Großmeister gesprochen hatte.

»Bleib da, Godappi-Dame!«, unterbrach Kirah Aphykits Gedanken. »Hier bist du in Sicherheit. Ich hole jetzt Maranas’ Mutter, Panapii.«

Der Junge ging, und die junge Frau ließ sich auf eins der Kissen sinken. Das psychische Band, das sie mit ihrem Vater verbunden hatte, war durchtrennt, und sie wusste  – auch wenn sie es sich noch nicht eingestand –, dass es für immer abgeschnitten war. Sri Alexu war in seinem Haus geblieben, um die Scaythen abzulenken und seiner Tochter die Flucht zu ermöglichen. Er hatte sich für sie geopfert.

Von nun an würde sie allein sein, allein mit ihrem Kummer; allein mit ihren Tränen, die sie nur mühsam unterdrückte; allein mit ihren lächerlichen Bemühungen, ihre Gefühle zu kontrollieren; allein mit ihrem Wunsch, wieder die kleine geliebte Tochter zu sein.

Eine Reihe unzusammenhängender Bilder tauchte vor ihrem inneren Auge auf: Syracusa, die bläulichen Strahlen der Saphyr-Sonne, das edle Gesicht ihres Vaters, der Planet Zwei-Jahreszeiten, der Regen, das verblüffte und gleichzeitig betroffene Gesicht des Reisebüroangestellten, die Ruine, die widerlichen Gesichter der Vagabunde, ihr nackter Körper, Maranas’ Wunde, die Kinder, die Staubwolke, ihre Flucht in Matana, die Hitze, das Blut …, die Hitze …

Um sie herum begann alles zu schwanken, sich zu drehen, die Gesichter, die Formen, die Farben, schneller, immer schneller …

Aphykit verlor das Bewusstsein.

 

Eine knarrende Stimme weckte Aphykit. Sie lag auf einer Baumwollmatratze in einem Zimmer mit leuchtend bunten Wandbehängen. Die alte Inonii beugte sich über sie und hielt ihr einen irdenen Teller hin, von dem ein würziger Duft aufstieg. Kirah der Schlaue lehnte mit verschränkten Armen an einer Wand. Sein rundes Gesicht wirkte ernst.

»Iss jetzt, Godappi-Dame!«, sagte der kleine Prouge. »Du bist am Ende deiner Kräfte.«

Inonii stellte den Teller neben die Matratze.

»Maranas stirbt«, fuhr Kirah mit monotoner Stimme fort. »Das Leben fließt mit seinem Blut aus ihm. Die Tötungsscheiben dieser Pritiv-Dreckskerle haben ganze Arbeit geleistet.«

Zu Aphyktis Erleichterung ging die Alte aus dem Zimmer. Der Anblick des ausgezehrten, knochigen Körpers der Prougin löste einen ständigen Brechreiz in ihr aus.

»Iss!«, befahl Kirah. »Das ist das traditionelle Gericht der Prougen, es besteht aus Schafskutteln mit Kräutern und scharfen Gewürzen. Ein Gericht vom Fleisch unseres heiligen Tiers. Die ideale Speise, um neue Kraft zu gewinnen.«

Erst jetzt merkte Aphykit, dass sie seit zwei Standardtagen nichts mehr gegessen hatte und dass ihr leerer Magen sich nachdrücklich bemerkbar machte. Weil sie keinerlei Besteck neben dem Teller entdeckte, nicht einmal eine altmodische Gabel oder einen Löffel, warf sie dem Jungen einen fragenden Blick zu.

»Wir essen mit den Fingern«, beantwortete Kirah ihre unausgesprochene Frage.

Also richtete sich Aphykit auf und tauchte ihre Finger in den undefinierbaren Brei. Allein die Berührung mit dieser öligen heißen Substanz löste Ekel in ihr aus.

Jetzt bin ich eine Paritole geworden, dachte sie erbittert. Jetzt bin ich genauso gewöhnlich und animalisch wie einer der Halbmenschen vom Planeten Getablan geworden. Ich trage Lumpen und esse mit den Händen. Vater, werde ich Euch nie wiedersehen?

Zum ersten Mal gestand sie sich den Tod ihres Vaters ein. Bis dahin war sein Ableben eher ein flüchtiger Gedanke gewesen, ein Ereignis, dessen Realität sie nicht akzeptiert hatte. Doch nun, als sie sich mit der Wirklichkeit abfand, überkam sie eine wohltuende Erleichterung, trotz der großen Trauer, die sie empfand.

Sie nahm ein Stück Fleisch und steckte es in ihren Mund, der sofort wie Feuer brannte. Tränen, die sie zu lange zurückgehalten hatte, schossen ihr in die Augen. Seit ihrem zehnten Lebensjahr hatte sie nicht mehr geweint. Und die warmen Tränen, die nun über ihre Wangen rannen, weckten längst vergessen geglaubte Erinnerungen in ihr.

»Das ist scharf, nicht?«, sagte Kirah. »An Inoniis Küche müssen sich verwöhnte Münder erst gewöhnen. Du … stammst du nicht vielleicht aus einer der Welten des Zentrums, Godappi-Dame?«

Das Brennen breitete sich in Aphykits gesamten Verdauungstrakt aus, aber weil sie wieder zu Kräften kommen musste, zwang sie sich zu essen.

Nichts hatte so wie vorgesehen geklappt. Der brutale Mord an Sri Mitsu, dem ehemaligen Smella und dem einzigen Mann, der ihr hätte helfen können, verunsicherte Aphykit. Und mit dem Tod ihres Vaters lebte nur noch einer der Großmeister der Inddikischen Wissenschaft. Die beiden anderen hatten keine Zeit mehr gehabt, ihre – Aphykits  – Ausbildung zu vollenden. Und jetzt war sie allein, mittellos und wurde verfolgt, und sie wusste nicht, wie sie zum Kloster Selp Dik reisen sollte, wo sich der letzte Großmeister aufhielt, der Mahdi Seqoram.

Die scharfen Gewürze schienen alle Flüssigkeit aus ihrem Körper zu treiben. Sie schwitzte entsetzlich, und ihre alten Lumpen stanken noch unerträglicher.

»Wenn du aufgegessen hast, bringt dich Inonii ins öffentliche Bad. Dort findest du saubere Kleider, die … die deiner Schönheit angemessen sind«, murmelte Kirah verwirrt, so als hätte ihn seine Kühnheit erschreckt.

Plötzlich wurde die Stille des Hauses von einem entsetzlichen, durchdringenden Schrei unterbrochen.

»Hm, Maranas’ Mutter ist gekommen«, sagte Kirah beunruhigt. »Ich weiß nicht, ob das gut für dich ist, Godappi-Dame. Mütter haben hier, in Matana, viel zu sagen … Ich sehe mal nach.«

Schweiß klebte Aphykits Haare an Schläfen und Stirn. Ihre Haut fühlte sich klebrig an, überall, an ihrem Bauch, ihrem Rücken, und zwischen ihren Brüsten bildeten sich kleine Schweißperlen. Diese neue Erfahrung verunsicherte sie, sie schwankte zwischen Wohlbefinden und Abscheu. Seit ihrer Kindheit hatte sie noch nie so lange ohne ihren Colancor gelebt, den sie nur während des abendlichen Bades in den Reinigungswellen abzulegen pflegte. Doch ihr Vater hatte sie schon früh vor dem exzessiven Gebrauch dieses Trikots gewarnt: Die Gewöhnung kann Traumata auslösen, hatte er gesagt. Solltest du eines Tages in anderen Welten leben müssen, kannst du dich dort nicht anpassen. Jetzt begriff sie, was er damit gemeint hatte. Und sie fragte sich, ob die emotionale Kontrolle, diese Art, immer die Fassung zu bewahren, nicht noch größere Traumata als der Colancor verursachte.

So in ihre Gedanken versunken, hatte sie nicht gemerkt, dass Kirah aus dem Zimmer gegangen war.

Ein paar Minuten später erschien der kleine Prouge wieder und rief: »Maranas will dich sehen! Komm schnell. Er hat nicht mehr lange zu leben. Aber seine Mutter macht dir kein Geschenk. Der Schmerz macht sie wahnsinnig.«

Aphykit stellte den Teller hin und sah den Jungen an. »Was soll das heißen: ›kein Geschenk‹?«

»Ich habe keine Zeit, dir alle unsere Sitten und Gebräuche zu erklären. Komm jetzt, Godappi-Dame!«

Der kleine Prouge lief bereits die Treppe hinunter. Aphykit stand auf und versuchte, ihre Kleidung glatt zu streichen. Sie war unendlich müde, jeder ihrer Muskeln schmerzte. Ihre Beine waren wie Watte und trugen sie kaum. Auf der engen Treppe wäre sie fast gestolpert.

Die alte Inonii umarmte eine jüngere, dickleibige Frau, die grell geschminkt war. Selbst unter ihrer langen, weit geschnittenen Tunika, deren türkisfarbener Stoff mit Gold- und Silberfäden durchwirkt war, zeichneten sich ihre Spreckringe ab. Schwarzer Kajal hatte sich mit ihren Tränen vermischt und lief in dunklen Schlieren über ihre speckigen Wangen. Ihre rote ungekämmte Mähne fiel bis auf ihren ausladenden Hintern herab.

Als sie Aphykit entdeckte, löste sie sich aus Inoniis Umarmung, zog die Nase hoch, ballte die Faust und stieß wüste Verwünschungen aus.

Kirah ignorierte die fette Frau mit der Souveränität eines Raumschiffkommandanten, dessen Fahrzeug in einen interstellaren Sturm geraten ist. Er gab Aphykit ein Zeichen, an das Lager des Sterbenden zu treten.

Als sich die Syracuserin über Maranas beugte, fand der Junge die Kraft, ihr sein Gesicht zuzuwenden. Er flüsterte mit blutleeren Lippen: »Dop … Doppel-Haut … hat mir gesagt … du suchst den dritten … Meister … den Mahdi Seqoram … Er … ist nicht …«

Seine Züge erschlafften, sein Blick brach, und sein Kopf fiel schwer auf das Kissen zurück. Ein letztes Zucken durchlief seinen Körper, dann ergriff der Tod von ihm Besitz.

Die fette Frau heulte auf, lief zu der Bank und warf sich über den leblosen Körper ihres Sohnes.

Kirah ergriff Aphykits Arm und zog sie beiseite.

»Du darfst hier nicht länger bleiben, Godappi-Dame«, sagte er leise. »Panapii wird dir allein die Schuld am Tod ihres Sohns geben.«

»Warum? Was habe ich …«

»Ich weiß. Du hast sogar versucht, ihn zu retten. Aber du vergisst, dass du in Matana eine Godappi bist. Und Panapii ist der Meinung, dass die Godappis ihren Sohn getötet haben. Und wie es bei uns Brauch ist, verlangt sie nach Rache. Das heißt, sie will Blutrache üben, denn du bist eine Godappi – und von jetzt an in Lebensgefahr. Kein einziger Prouge wird dir noch helfen. Selbst ich nicht, schöne Godappi-Dame! Denn ich muss mich dem Schmerz einer Mutter über den Tod ihres Sohns beugen. So will es unser Gesetz. Und dieses Gesetz muss ich respektieren, wenn ich überleben will.«

»Damit Maranas nicht umsonst gestorben ist, muss ich so schnell wie möglich Roter-Punkt verlassen«, entgegnete Aphykit. Der Meinungsumschwung des kleinen Prougen traf sie völlig unvorbereitet. »Und das schaffe ich nicht allein. Wollen Sie mir noch einmal helfen, Professor Kirah?«

Sie hatte versucht, möglichst viel Überzeugungskraft in ihre Stimme zu legen, obwohl sie wusste, dass sie den Entschluss eines Jungen, der seiner Tradition verpflichtet war, nicht ändern konnte.

»Deine einzige Chance besteht darin, schnell zu handeln«, sagte er, ohne auf ihre Frage einzugehen. »Und zwar bevor die Prougen wissen, dass sich in ihrer Stadt eine schöne Godappi-Dame aufhält. Denn sonst töten sie dich, wie das Gebot der Blutrache es ihnen befiehlt. Außerdem gibt es da noch die Menschenhändler, für die eine Frau aus den Welten des Zentrums ein seltener und unverhoffter Schatz ist, der ihnen eine Menge Geld einbringt. Misstraue jeder und jedem! Und jetzt geh! Ich kann nichts mehr für dich tun.«

»Zeigen Sie mir bitte einen Weg aus diesem Labyrinth.«

»Wenn du wirklich fähig bist, die Gespräche der Menschen zu belauschen, ohne dich ihnen zu nähern, wie du vorhin behauptet hast, solltest du auch fähig sein, ganz allein einen Weg aus Matana zu finden. Glaube an dein Glück, und bitte deine Götter um Hilfe, solltest du welche haben … Geh jetzt, ehe mich Panapii bittet, ihren Sohn zu rächen, was ich ihr nicht abschlagen könnte. Umso weniger, weil sie reich ist und mich sicher großzügig belohnen würde. Eins will ich dir noch sagen: Sollte es dir gelingen zu überleben, geh in die verbotenen Viertel und versuche, mit einem Mitglied der Françao-Camorre Kontakt aufzunehmen. Es gibt Leute unter ihnen, die Transfermaschinen besitzen. Versuch dein Glück. Deine Schönheit macht vieles möglich … Adieu!«

Kirahs Ton war schneidend geworden. Er öffnete die niedrige Haustür zur Gasse hin, die jetzt in grünlich fahles Licht getaucht war. Die smaragdfarbene Scheibe des Gestirns Grünes Feuer beherrschte nun allein den Himmel.

Eine bunt gemischte, lärmende Menge bevölkerte die Straßen. Aphykit trat aus Inoniis Haus und mischte sich unter den Strom der Rotschöpfe. Sie hatte das Gefühl, in einem Meer aus Feindseligkeit zu versinken.

Nach ein paar Schritten drehte sie sich noch einmal nach Kirah um und rief: »Ich danke Ihnen für alles, Kirah der Schlaue! Mögen Ihre Götter Sie beschützen!«

Der kleine Prouge folgte ihr mit den Augen, bis sie in der Menge untergetaucht war. Dann schloss er die Tür, und lief schnell wie ein Blitz durch das Zimmer, wo die fette Panapii voller Verzweiflung ihren Sohn beweinte, auf den Innenhof und über die Treppe aufs Dach.

Dort beugte er sich über die Brüstung, steckte seine Zeigefinger in den Mund und pfiff, um seine Bande herbeizurufen. Die schöne Godappi war eine zu große Beute für seine kleinen Soldaten, aber er wollte sich nicht das Geld entgehen lassen, das sie ihm einbringen konnte.

Wenn er als Erster den Händler Glaktus informierte – und seine Chancen standen nicht schlecht –, würde er immerhin eine Prämie erhalten.

Und in Matana war das Überleben eine Kunst.