Dienstag, 26. November 2008
Es war kurz nach fünf Uhr morgens, als Bodenstein das Krankenhaus verließ. Der Anblick von Amelie, die geduldig am Bett von Tobias Sartorius ausharrte, bis dieser aus der Narkose erwachte, hatte ihn tief berührt. Bodenstein schlug den Kragen seines Mantels hoch und machte sich auf den Weg zum Dienstwagen. In allerletzter Sekunde hatte er Daniela Lauterbach verhaften können. Sie hatte nicht in der Maschine nach Südamerika gesessen, sondern in der nach Australien. Bodenstein ging in Gedanken versunken um das Krankenhausgebäude herum. Der frische Schnee knirschte unter seinen Schuhsohlen. Es kam ihm vor, als seien seit dem Tag, an dem auf dem Eschborner Flughafen das Skelett von Laura Wagner gefunden worden war, Monate vergangen. Während er früher jeden Fall aus der nüchternen Perspektive des Außenstehenden betrachtet hatte, der einen Einblick in das Leben völlig Fremder bekam, so hatte er diesmal das Gefühl, persönlich in die Ereignisse involviert gewesen zu sein. Irgendetwas in seiner Einstellung hatte sich verändert, und er wusste, dass er nie wieder so empfinden würde wie früher. Er blieb vor dem Auto stehen. Es fühlte sich an, als wäre er auf dem ruhigen, langweiligen Fluss des Lebens unvermittelt einen Wasserfall hinabgerauscht und segelte nun auf einem anderen, stürmischeren Gewässer in eine gänzlich neue Richtung weiter. Diese Vorstellung war beängstigend und aufregend zugleich.
Bodenstein stieg ins Auto, ließ den Motor an und wartete, bis die Scheibenwischer den Schnee zur Seite geschaufelt hatten. Er hatte Cosima gestern zum Abschied versprochen, zum Frühstück vorbeizukommen und in Ruhe über alles zu sprechen, falls es seine Arbeit zuließ. Erstaunt stellte er fest, dass er keinen Groll mehr gegen sie hegte und sich durchaus in der Lage sah, sachlich über die ganze Situation zu sprechen. Bodenstein lenkte den Wagen vom Parkplatz und fuhr auf die Limesspange Richtung Kelkheim, als sich sein Handy, das im Bereich des Krankenhauses keinen Empfang gehabt hatte, mit einem Piepsen meldete. Er zog das Telefon aus der Tasche und drückte auf das Briefsymbol. Eine Rückrufbitte von 3:21 Uhr mit einer Handynummer, die er nicht kannte. Sofort drückte er auf die Nummer, die das Display anzeigte. Das Freizeichen ertönte.
»Hallo?« Eine verschlafene, ihm unbekannte weibliche Stimme meldete sich.
»Bodenstein«, sagte er. »Entschuldigen Sie bitte die frühe Störung, aber ich hatte eine Rückrufbitte auf meinem Handy und dachte, es sei dringend.«
»Ach … hallo«, erwiderte die Frau. »Ich war noch mit meiner Schwester bei Thies im Krankenhaus und bin eben erst nach Hause gekommen. Aber ich wollte mich bei Ihnen bedanken.«
Jetzt erst begriff Bodenstein, wer am anderen Ende der Leitung war, und sein Herz machte einen erfreuten Satz.
»Wofür bedanken?«, erkundigte er sich.
»Sie haben Thies das Leben gerettet«, sagte Heidi Brückner. »Und das meiner Schwester wahrscheinlich auch. Wir haben im Fernsehen gesehen, dass Sie meinen Schwager und die Lauterbach verhaftet haben.«
»Hm. Ja.«
»Na ja.« Sie klang plötzlich verlegen. »Das war's eigentlich schon, was ich Ihnen sagen wollte. Sie … Sie hatten ein paar anstrengende Tage, wahrscheinlich sind Sie müde und …«
»Nein, nein«, sagte Bodenstein schnell. »Ich bin hellwach. Aber ich habe seit Ewigkeiten nichts gegessen und wollte jetzt irgendwo frühstücken gehen.«
Eine kurze Pause entstand, und er fürchtete schon, das Gespräch könnte unterbrochen worden sein.
»Etwas frühstücken könnte ich jetzt auch«, erwiderte sie dann aber. Bodenstein konnte ihr Lächeln förmlich sehen und lächelte ebenfalls.
»Wollen wir nicht zusammen irgendwo einen Kaffee trinken?«, schlug er vor und hoffte, dass es gelassen klang. Innerlich war er alles andere als gelassen, er hatte das Gefühl, seinen Herzschlag bis in die Fingerspitzen zu spüren. Es kam ihm beinahe vor, als ob er etwas Verbotenes tat. Wie lange war es her, dass er sich mit einer attraktiven Frau verabredet hatte?
»Das wäre toll«, antwortete Heidi Brückner zu seiner Erleichterung. »Aber ich bin leider schon wieder zu Hause. In Schotten.«
»Besser als in Hamburg.« Bodenstein grinste und wartete gespannt auf ihre Erwiderung. »Obwohl ich für einen Kaffee jetzt sogar glatt bis nach Hamburg fahren würde.«
»Dann kommen Sie doch lieber im Vogelsberg vorbei«, entgegnete sie. Bodenstein verlangsamte das Tempo, weil vor ihm ein Schneepflug fuhr. In einem Kilometer ging es rechts auf die B 8 nach Kelkheim. Zu Cosima.
»Das ist mir ein bisschen zu ungenau«, sagte er, obwohl er ihre Adresse dank ihrer Visitenkarte eigentlich hatte. »Ich kann ja nicht den ganzen Vogelsberg nach Ihnen absuchen.«
»Stimmt, das wäre schade um die Zeit.« Sie lachte. »Schlossgasse 19. Mitten in der Altstadt.«
»Okay. Das finde ich«, erwiderte er.
»Prima, dann bis später. Und fahren Sie vorsichtig.«
»Das mache ich. Bis gleich.« Bodenstein beendete das Gespräch und stieß einen Seufzer aus. Ob das eine gute Idee war? Im Büro wartete eine Menge Papierkram, und zu Hause wartete Cosima. Der Schneepflug kroch noch immer vor ihm her. Rechts ging es nach Kelkheim.
Die Arbeit hatte Zeit. Und das Grundsatzgespräch mit Cosima erst recht. Bodenstein holte tief Luft und setzte den Blinker. Nach links. Richtung Autobahn.