Freitag, 14. November 2008

»Guten Morgen.« Gregor Lauterbach nickte seiner Büroleiterin Ines Schürmann-Liedtke zu und betrat sein großes Büro im hessischen Kultusministerium am Luisenplatz in Wiesbaden. Er hatte heute einen knallvollen Terminkalender. Für acht Uhr war eine Besprechung mit seinem Staatssekretär angesetzt, um zehn stand die Rede im Plenum an, in der er den Haushaltsentwurf für das kommende Jahr vorstellen würde. Mittags war eine Stunde für ein kurzes gemeinsames Mittagessen mit Vertretern der Lehrerdelegation aus Wisconsin, dem amerikanischen Partnerstaat Hessens, reserviert. Auf seinem Schreibtisch lag schon die Post, ordentlich nach Wichtigkeit geordnet in verschiedenfarbigen Wiedervorlagemappen. Zuoberst die Mappe mit der Korrespondenz, die er unterschreiben musste. Lauterbach knöpfte sein Jackett auf und setzte sich an den Schreibtisch, um schnell das Wichtigste zu erledigen. Zwanzig vor acht. Der Staatssekretär würde pünktlich sein, das war er immer.

»Ihr Kaffee, Herr Kultusminister.« Ines Schürmann-Liedtke kam herein und stellte ihm eine Tasse mit dampfendem Kaffee hin.

»Danke«, er lächelte. Die Frau war nicht nur eine intelligente und hocheffiziente Büroleiterin, sondern darüber hinaus eine echte Augenweide: drall, dunkelhaarig, mit großen, dunklen Augen und einer Haut wie Milch und Honig. Sie erinnerte ihn ein bisschen an Daniela, seine Frau. Manchmal gestattete er sich lüsterne Tagträume, in denen sie eine Hauptrolle spielte, aber in der Realität war sein Verhalten ihr gegenüber stets untadelig. Zwar hätte er das Recht gehabt, bei seinem Amtsantritt vor zwei Jahren die Stellen in seinem Büro mit neuem Personal zu besetzen, aber Ines hatte ihm auf Anhieb gefallen, und sie dankte ihm den Erhalt ihres Arbeitsplatzes mit absoluter Loyalität und unglaublichem Fleiß.

»Sie sehen heute wieder großartig aus, Ines«, sagte er und nippte an seinem Kaffee. »Das Grün steht Ihnen wunderbar.«

»Vielen Dank.« Sie lächelte geschmeichelt, wurde aber sofort wieder professionell und las ihm rasch die Liste der Anrufer vor, die um Rückruf gebeten hatten. Lauterbach hörte mit einem Ohr zu, während er seine Unterschrift unter die Briefe setzte, die Ines geschrieben hatte, nickte oder schüttelte mit dem Kopf. Als sie fertig war, reichte er ihr die Korrespondenz. Sie verließ sein Büro, und er widmete sich der Post, die Ines Schürmann-Liedtke bereits vorsortiert hatte. Vier Briefe waren dabei, die ausdrücklich »persönlich« an ihn gerichtet waren, und die hatte sie auch noch nicht geöffnet. Er schlitzte alle vier mit dem Brieföffner auf, überflog die ersten beiden rasch und legte sie beiseite. Als er den dritten Brief öffnete, stockte ihm der Atem:

Wenn du weiter die Klappe hältst, wird nichts passieren. Wenn nicht, dann erfährt die Polizei, was du damals in der Scheune verloren hast, als du deine minderjährige Schülerin gevögelt hast. Liebe Grüße von Schneewittchen.

Sein Mund war plötzlich staubtrocken. Er betrachtete das zweite Blatt, das ein Foto von einem Schlüsselbund zeigte.

Kalte Angst kroch durch seine Adern, gleichzeitig brach ihm der Schweiß aus. Das hier war kein Scherz, sondern bitterer Ernst. Seine Gedanken rasten. Wer hatte das geschrieben? Wer konnte von ihm und seinem Ausrutscher mit dem Mädchen wissen? Und warum, zum Teufel, kam dieser Brief ausgerechnet jetzt? Gregor Lauterbach hatte das Gefühl, ihm müsse das Herz aus der Brust springen. Elf Jahre lang hatte er die Geschehnisse von damals erfolgreich verdrängen können. Aber jetzt war alles wieder da, so lebendig, als sei es erst gestern passiert. Er stand auf und trat ans Fenster, starrte hinaus auf den leeren Luisenplatz, der im allmählich heller werdenden Licht des trüben Novembermorgens dalag. Er atmete langsam ein und aus. Nur jetzt nicht die Nerven verlieren! In einer Schreibtischschublade fand er das abgegriffene Notizbuch, in dem er sich seit Jahren Telefonnummern notierte. Als er zum Telefonhörer griff, bemerkte er verärgert, dass seine Hand zitterte.

Die knorrige alte Eiche stand im vorderen Teil des großen Parks, keine fünf Meter von der Mauer entfernt, die das ganze Grundstück umgab. Das Baumhaus war ihr noch nie aufgefallen, vielleicht weil es im Sommer vom dichten Blätterkleid des Baumes verdeckt wurde. Es war nicht ganz einfach, im Minirock und mit Strumpfhose die wenig vertrauenerweckend aussehenden Stufen der morschen Leiter hinaufzuklettern, die vom Regen der letzten Tage glitschig geworden waren. Hoffentlich kam Thies nicht ausgerechnet jetzt auf die Idee, sein Atelier zu verlassen. Er würde sofort wissen, was sie hier tat. Endlich hatte sie das Baumhaus erreicht und kroch auf allen vieren hinein. Es war ein stabiler Kasten aus Holz, so ähnlich wie die Hochsitze im Wald.

Amelie richtete sich vorsichtig auf und blickte sich um, dann setzte sie sich auf die Bank und blickte durch das vordere Fenster nach unten. Volltreffer! Sie kramte ihren iPod aus der Jackentasche und rief die Bilder auf, die sie gestern Nacht noch fotografiert hatte. Die Perspektive stimmte zu hundert Prozent. Von hier bot sich ihr ein grandioser Ausblick über das halbe Dorf, der obere Teil des Sartorius-Hofes mit Scheune und Kuhstall lag ihr direkt zu Füßen. Selbst mit bloßem Auge war jedes Detail genau zu sehen. Wenn sie davon ausging, dass der Kirschlorbeer vor elf Jahren noch ein kleiner Busch gewesen war, dann musste der Schöpfer der Bilder von genau dieser Stelle aus die Ereignisse beobachtet haben. Amelie zündete sich eine Zigarette an und stemmte die Füße gegen die Holzwand. Wer hatte hier gesessen? Thies konnte es nicht gewesen sein, denn er war auf dreien der Bilder zu sehen. Hatte jemand von hier aus Fotos gemacht, die Thies gefunden und abgemalt hatte? Noch viel interessanter war die Frage, wer die anderen Leute auf den Bildern waren. Laura Wagner und Stefanie »Schneewittchen« Schneeberger, das war klar. Und den Mann, der es mit Schneewittchen in der Scheune getrieben hatte, kannte sie auch. Aber wer waren die drei Jungs? Nachdenklich zog Amelie an ihrer Zigarette und überlegte, was sie mit ihrem Wissen anfangen sollte. Die Polizei schied aus. Sie hatte in der Vergangenheit nur schlechte Erfahrungen mit den Bullen gemacht; nicht zuletzt deshalb war sie in dieses Kaff zu ihrem Erzeuger abgeschoben worden, von dem sie in den zwölf Jahren zuvor außer an ihren Geburtstagen und Weihnachten so gut wie nichts gehört hatte. Alternative zwei, ihre Eltern, würde auch auf die Bullen hinauslaufen, ergab deshalb keinen Sinn. Eine Bewegung im Hof der Sartorius erregte ihre Aufmerksamkeit. Tobias betrat die Scheune, wenig später knatterte der Motor des alten roten Traktors. Wahrscheinlich nutzte er den halbwegs trockenen Tag und räumte weiter auf. Wie wäre es, wenn sie ihm von den Bildern erzählte?

Auch wenn Frau Dr. Engel nachdrücklich darauf hingewiesen hatte, dass es keine neuen Ermittlungen in zwei elf Jahre alten Mordfällen geben würde, beschäftigte Pia sich weiterhin mit den sechzehn Ordnern. Nicht zuletzt, um ihre Gedanken von der Drohung hinter den lapidaren Worten des Bauamtes abzulenken. Sie hatte im Geiste das neue Haus auf dem Birkenhof schon eingerichtet und zu dem geschmackvoll-gemütlichen Heim gemacht, von dem sie immer geträumt hatte. Viele von Christophs Möbeln passten wunderbar in ihre innenarchitektonischen Träume: der uralte, zerkratzte Refektoriumstisch, an dem zwölf Personen ohne Not Platz hatten, das knautschige Ledersofa aus seinem Wintergarten, das antike Vertiko, die zierliche Recamiere … Pia seufzte. Vielleicht würde sich ja doch noch alles zum Guten wenden und das Bauamt die Genehmigung erteilen, damit sie loslegen konnten.

Sie konzentrierte sich wieder auf die vor ihr liegende Akte, überflog einen Bericht und notierte sich zwei Namen. Ihre letzte Begegnung mit Tobias Sartorius hatte ein eigenartiges Gefühl in ihr hinterlassen. Was, wenn er die ganzen Jahre über die Wahrheit gesagt hatte, wenn er tatsächlich nicht der Mörder der beiden Mädchen war? Abgesehen davon, dass dann der wirkliche Mörder noch immer frei herumlief, hätte das Fehlurteil ihn zehn Jahre seines Lebens und seinen Vater die Existenz gekostet. Neben ihren Notizen skizzierte sie das Dorf Altenhain. Wer wohnte wo? Wer war mit wem befreundet? Auf den ersten Blick waren Tobias Sartorius und seine Eltern damals im Dorf geachtete und beliebte Personen gewesen. Las man jedoch zwischen den Zeilen, sprach deutlich der Neid aus den Worten der vernommenen Leute. Tobias Sartorius war ein bemerkenswert gutaussehender junger Mann gewesen, intelligent, sportlich, großzügig. Er schien die allerbesten Voraussetzungen für eine großartige Zukunft mitzubringen, niemand sagte etwas Schlechtes über den Klassenprimus, die Sportskanone, den Mädchenschwarm. Pia betrachtete einige Fotos. Wie hatten sich Tobias' unscheinbare Freunde mit ihren glänzenden Pickelgesichtern im ständigen Vergleich mit ihm gefühlt? Wie musste es sein, immer im Schatten zu stehen, bei den hübschesten Mädchen nur zweite Wahl zu sein? Waren Neid und Eifersucht nicht vorprogrammiert? Und dann bot sich unversehens eine Gelegenheit, sich für all die kleinen Niederlagen zu rächen: »… Ja, ein bisschen jähzornig kann der Tobias schon sein«, hatte einer seiner besten Freunde ausgesagt. »Besonders, wenn er was getrunken hat. Dann flippt er schon mal richtig aus.«

Als einen sehr guten, ehrgeizigen Schüler, dem alles zuflog, der aber auch unglaublich diszipliniert lernen konnte, hatte ihn sein ehemaliger Lehrer charakterisiert. Ein Wortführer, selbstbewusst bis zur Überheblichkeit, bisweilen ein Hitzkopf, ziemlich reif für sein Alter. Ein Einzelkind, das von seinen Eltern geradezu angebetet wurde. Aber auch jemand, der mit Konkurrenz und Niederlagen nur schlecht umgehen konnte. Verflixt, wo hatte sie das bloß gelesen? Pia blätterte hin und her. Das Vernehmungsprotokoll von Tobias' Lehrer, zum Zeitpunkt ihres Verschwindens auch der Lehrer der beiden Mädchen, war nicht mehr da. Pia stutzte, kramte auf ihrem Schreibtisch nach ihren Notizen der vergangenen Woche und verglich ihre Aufstellung der Namen mit der Liste, die sie heute angefertigt hatte.

»Das ist ja ein Ding«, sagte sie.

»Was ist los?« Ostermann blickte kauend an seinem Computerbildschirm vorbei.

»In der Akte fehlen die Vernehmungsprotokolle von Gregor Lauterbach zur Sache Stefanie Schneeberger und Tobias Sartorius«, erwiderte sie, blätterte weiter hin und her. »Wie geht das denn?«

»Sie werden in einem anderen Ordner sein.« Ostermann wandte sich wieder seiner Arbeit und seinem Donut zu. Er aß die fettigen Gebäckringe für sein Leben gern, und Pia wunderte sich seit Jahren, dass ihr Kollege nicht längst dick und fett war. Ostermann musste einen sensationellen Stoffwechsel haben, um die Tausenden von Kalorien zu verbrennen, die er jeden Tag in sich hineinmampfte. Sie an seiner Stelle würde jedenfalls nur noch durch die Gegend rollen.

»Nein.« Pia schüttelte den Kopf. »Sie sind echt nicht mehr da!«

»Pia«, sagte Ostermann in geduldigem Tonfall. »Wir sind bei der Polizei. Hier kommt keiner einfach so rein und klaut Protokolle aus einem alten Aktenordner!«

»Das weiß ich auch. Aber Fakt ist, dass sie nicht mehr da sind. Letzte Woche habe ich sie noch gelesen.« Pia runzelte die Stirn. Wer konnte ein Interesse an dem alten Fall haben? Es gab keinen Grund, an und für sich unwichtige Vernehmungsprotokolle zu klauen. Das Telefon auf ihrem Schreibtisch klingelte. Sie nahm ab und hörte kurz zu. In Wallau war ein Lieferwagen von der Straße abgekommen und in Flammen aufgegangen, nachdem er sich mehrfach überschlagen hatte. Der Fahrer war schwer verletzt, aber in den Trümmern des Fahrzeugs hatte die Feuerwehr mindestens zwei bis zur Unkenntlichkeit verbrannte Personen ausgemacht. Mit einem Seufzer klappte sie den Ordner zu, verstaute ihre Notizen in einer Schublade. Die Aussicht, bei dem Wetter auf einem matschigen Acker herumzukriechen, war wenig erfreulich.

Der Wind heulte um die Scheune, pfiff durch die Dachsparren und rüttelte am Tor, als ob er Einlass begehrte. Tobias Sartorius kümmerte das nicht. Er hatte am Nachmittag mit einem Immobilienmakler telefoniert und für Mittwoch nächster Woche einen Besichtigungstermin vereinbart. Bis dahin mussten Hof, Scheune und die alten Stallungen picobello sein. Mit Schwung warf er einen alten Autoreifen nach dem anderen auf die Ladefläche der Rolle. Zu Dutzenden stapelten sie sich in einer Ecke der Scheune, sein Vater hatte sie aufgehoben, um die Planen über den Heu- und Strohballen draußen im Feld zu beschweren. Jetzt gab es keine Heuballen mehr und auch kein Stroh, die Autoreifen waren nichts als Abfall.

Den ganzen Tag verfolgte ihn schon der Schatten einer flüchtigen Erinnerung, und es machte Tobias schier verrückt, dass ihm nicht einfallen wollte, was es war. Irgendeiner seiner Freunde hatte gestern Abend in der Garage etwas gesagt, das eine blitzartige Assoziation bei ihm ausgelöst hatte, aber die Erinnerung war irgendwo in der Tiefe seines Bewusstseins versunken und ließ sich nicht an die Oberfläche locken, so sehr er sich auch darum bemühte. Atemlos hielt er inne, fuhr sich mit dem Unterarm über die verschwitzte Stirn. Ein kalter Lufthauch streifte ihn, und er wandte sich um, als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Erschrocken zuckte er zusammen. Drei dunkel gekleidete Gestalten mit bedrohlich vermummten Gesichtern hatten die Scheune betreten. Eine von ihnen schob von innen den schweren, eisernen Riegel vor die Tür. Stumm standen sie da und fixierten ihn durch die Sehschlitze ihrer Sturmhauben. Die Baseballschläger in ihren behandschuhten Händen verrieten ihre Absicht. Adrenalin durchflutete seinen Körper von den Zehen bis zu den Haarspitzen. Er zweifelte nicht daran, dass es sich bei zweien von ihnen um die Männer handelte, die Amelie niedergeschlagen hatten. Sie waren wiedergekommen, um ihr eigentliches Ziel zu erwischen, nämlich ihn. Er wich zurück und überlegte fieberhaft, wie er den drei Männern entkommen könnte. In der Scheune gab es keine Fenster, keine Hintertür. Aber eine Leiter, die hoch auf den leeren Heuboden führte! Sie war seine einzige Chance. Er zwang sich, nicht zu ihr hinüberzusehen, um den drei Männern sein Vorhaben nicht zu verraten. Trotz der aufsteigenden Panik in seinem Inneren gelang es ihm, ruhig zu bleiben. Er musste die Leiter erreichen, bevor sie bei ihm waren. Sie waren noch knapp fünf Meter von ihm entfernt, als er losrannte. In Sekunden war er an der Leiter, kletterte, so schnell er konnte. Der Schlag eines Baseballschlägers traf mit voller Wucht seinen Unterschenkel. Er spürte keinen Schmerz, aber sein linkes Bein war sofort taub. Mit zusammengebissenen Zähnen kletterte er weiter, doch einer der Verfolger war nicht viel langsamer als er, packte seinen Fuß und zerrte daran. Tobias klammerte sich an den Sprossen der Leiter fest, trat mit dem anderen Fuß nach dem Mann. Er hörte einen unterdrückten Schmerzensschrei und spürte, wie sich der Griff an seinem Knöchel lockerte. Die Leiter schwankte, plötzlich griff er ins Leere und verlor beinahe den Halt. Drei Sprossen fehlten! Er warf einen Blick nach unten, fühlte sich wie eine Katze an einem nackten Baumstamm, der drei blutrünstige Rottweiler auf den Fersen waren. Irgendwie erreichte er die nächste Sprosse, zog sich mit aller Kraft nach oben, das taube Bein kribbelte und war ihm kaum eine Hilfe. Endlich hatte er den Heuboden erreicht. Zwei der Kerle kletterten ihm nach, der dritte war verschwunden. Tobias blickte sich hektisch im Halbdunkel des Bodens um. Die Leiter war an die Holzbohlen geschraubt, unmöglich, sie umzukippen! Er humpelte, so schnell er konnte, zu der niedrigsten Stelle des Daches, drückte mit der Hand von unten gegen die Dachziegel. Eine löste sich, dann eine zweite. Immer wieder schaute er über die Schulter. Der Kopf des ersten Verfolgers erschien über dem Rand des Heubodens. Verdammt! Das Loch war noch viel zu klein, um sich hindurchzwängen zu können. Als er die Sinnlosigkeit seines Unterfangens einsehen musste, lief er zu der Luke, unter der einige Meter tiefer die Rolle mit den Autoreifen stand. Mit dem Mut der Verzweiflung wagte er den Sprung. Einer der Verfolger kehrte auf der Leiter um und kletterte wie eine große schwarze Spinne eilig wieder nach unten. Tobias ließ sich zu Boden gleiten, duckte sich in den schwarzen Schatten unter den Anhänger. Er tastete suchend den Boden ab und verfluchte seinen Aufräumwahn. Nichts lag mehr herum, was er als Verteidigungswaffe hätte benutzen können! Das Herz hämmerte gegen seinen Brustkorb, er verharrte noch kurz, dann setzte er alles auf eine Karte und rannte los.

Sie erreichten ihn in dem Augenblick, als er den Riegel schon in der Hand hatte. Die Schläge trafen ihn an den Schultern und Armen, im Kreuz. Seine Knie gaben nach, er rollte sich zusammen, schlang schützend die Arme um seinen Kopf. Sie prügelten und traten auf ihn ein, ohne einen Ton von sich zu geben. Schließlich packten sie seine Arme, bogen sie mit roher Gewalt auseinander und zerrten ihm Pullover und T-Shirt über den Kopf. Tobias biss die Zähne zusammen, um nicht zu jammern oder um sein Leben zu betteln. Er sah, wie einer der Männer eine Wäscheleine zu einer Schlinge knotete. Sosehr er sich auch wehrte, sie waren in der Übermacht, fesselten seine Hand- und Fußgelenke hinter seinem Körper zusammen und legten ihm die Schlinge um den Hals. Hilflos wie ein Paket verschnürt, musste er es erdulden, dass sie ihn mit nacktem Oberkörper unsanft über den rauen, eisigen Boden zur rückwärtigen Wand schleiften, ihm einen stinkigen Lappen als Knebel in den Mund steckten und ihm die Augen verbanden. Keuchend lag er auf dem Boden, sein Herz raste. Die Wäscheleine schnürte ihm die Luft ab, sobald er sich auch nur einen Millimeter bewegte. Tobias lauschte auf Geräusche, hörte aber nur den Sturm, der unvermindert heftig um die Scheune toste. Sollten die drei sich damit zufriedengeben? Hatten sie gar nicht vor, ihn umzubringen? Waren sie weg? Die Spannung ließ ein winziges bisschen nach, seine Muskeln entkrampften sich. Aber seine Erleichterung war verfrüht. Er hörte ein Zischen, roch den Geruch von Lack. Im selben Moment traf ihn ein Schlag mitten ins Gesicht, sein Nasenbein brach mit einem Knacken, das durch seinen Kopf hallte wie ein Schuss. Tränen schossen ihm in die Augen, Blut verstopfte seine Nase. Durch den Knebel in seinem Mund bekam er kaum noch Luft. Die Panik war wieder da, hundertmal heftiger als zuvor, denn nun konnte er seine Angreifer nicht mehr sehen. Tritte und Schläge prasselten auf ihn ein, und in diesen Sekunden, die zu Stunden, Tagen und Wochen wurden, wuchs in ihm die Gewissheit, dass sie ihn töten wollten.

Es war nicht viel los im Schwarzen Ross. Die übliche Skatrunde am Stammtisch war nicht vollzählig, auch Jörg Richter fehlte, was die Laune seiner Schwester auf ein vorläufiges Jahrestief hatte sinken lassen. Eigentlich hätte Jenny Jagielski an diesem Abend zum Elternabend im Kindergarten gehen müssen, aber in Abwesenheit ihres Bruders brachte sie es nicht über sich, das Schwarze Ross ihren Angestellten zu überlassen, zumal Roswitha sich krankgemeldet hatte und Jenny mit Amelie allein im Service war. Es war halb zehn, als Jörg Richter und sein Kumpel Felix Pietsch auftauchten. Sie zogen die nassen Jacken aus und setzten sich an einen der Tische; kurz darauf kamen noch zwei andere Männer, die Amelie schon des Öfteren zusammen mit dem Bruder ihrer Chefin gesehen hatte. Jenny stapfte wie ein Racheengel zu ihrem Bruder, aber der fertigte sie mit knappen Worten ab. Sie kehrte mit zusammengekniffenen Lippen zurück hinter den Tresen, die roten Wutflecke leuchteten an ihrem Hals.

»Bring uns mal vier Bier und vier Willis!«, rief Jörg Richter Amelie zu.

»Nix gibt's«, knirschte Jenny Jagielski zornig. »Dieser Drecksack!«

»Aber die anderen sind doch Gäste«, bemerkte Amelie arglos.

»Haben die bei dir schon mal bezahlt?«, schnappte Jenny, und als Amelie daraufhin den Kopf schüttelte, sagte sie: »Von wegen Gäste. Schmarotzer sind das!«

Es dauerte keine zwei Minuten, bis Jörg Richter selbst hinter den Tresen marschierte und vier Bier zapfte. Er war nicht weniger übelgelaunt als seine Schwester, es kam zu einem heftigen, im Flüsterton geführten Wortwechsel. Amelie fragte sich, was passiert war. Eine unterschwellige Aggressivität lag wie Elektrizität in der Luft. Der dicke Felix Pietsch war puterrot im Gesicht, auch die beiden anderen zogen finstere Mienen. Amelie wurde von ihren Überlegungen abgelenkt, als die drei fehlenden Skatbrüder hereinpolterten und noch auf dem Weg zum runden Tisch Schnitzel mit Bratkartoffeln, Rumpsteak und Weizenbier bei ihr orderten. Sie entledigten sich ihrer nassen Jacken und Mäntel und setzten sich; einer von ihnen, Lutz Richter, begann sofort, etwas zu erzählen. Die Männer steckten die Köpfe zusammen und lauschten aufmerksam. Richter verstummte, als Amelie mit den Getränken am Tisch erschien, und wartete, bis sie wieder außer Hörweite war. Amelie maß dem eigenartigen Verhalten der Männer keine Bedeutung bei, in Gedanken war sie schon wieder bei Thies' Bildern. Vielleicht war es doch das Beste, vorerst das zu tun, worum Thies sie gebeten hatte, und Stillschweigen zu bewahren.

Er kam zur Haustür herein und zog die durchnässte Jacke und die schmutzigen Schuhe im Windfang aus. Im Spiegel neben der Garderobe begegnete er seinem Blick und senkte unwillkürlich den Kopf. Es war nicht richtig, was sie getan hatten. Absolut nicht richtig. Wenn Terlinden davon erfuhr, dann war er reif – und die anderen beiden auch. Er ging in die Küche, fand noch eine Flasche Bier im Seitenfach des Kühlschranks. Seine Muskeln schmerzten, und morgen würde er sicher einige blaue Flecke an Armen und Beinen haben, so hatte der Kerl sich gewehrt. Aber vergeblich. Zu dritt waren sie stärker gewesen. Schritte näherten sich.

»Und?«, ertönte hinter ihm die neugierige Stimme seiner Frau. »Wie ist es gelaufen?«

»Wie geplant.« Er drehte sich nicht zu ihr um, nahm einen Flaschenöffner aus der Schublade und setzte ihn an. Mit einem Zischen und einem leisen »Plopp« sprang der Kronkorken von der Flasche. Er schauderte. So hatte es geklungen, als das Nasenbein von Tobias Sartorius unter seiner Faust gebrochen war.

»Ist er …?« Sie ließ den Satz unvollendet. Da drehte er sich um und musterte sie.

»Wahrscheinlich«, erwiderte er. Der klapprige Küchenstuhl ächzte unter seinem Gewicht, als er sich hinsetzte. Er trank einen Schluck Bier. Es schmeckte schal. Die anderen hätten den Kerl ersticken lassen, aber er hatte noch rasch den Knebel aus dem Mund des Bewusstlosen entfernt, ohne dass sie es bemerkt hatten. »Wir haben ihm auf jeden Fall einen ordentlichen Denkzettel verpasst.«

Seine Frau hob die Augenbrauen, und er wandte den Blick ab.

»Einen Denkzettel. Na toll«, sagte sie verächtlich.

Er dachte daran, wie Tobias sie angesehen hatte, die nackte Todesangst im Gesicht. Erst als sie ihm die Augen verbunden hatten, war er in der Lage gewesen, ebenfalls zuzuschlagen und zu treten. Aus Ärger über seine Schwäche hatte er dann alle Kraft in seine Schläge und Tritte gelegt. Jetzt schämte er sich dafür. Nein, es war ganz und gar nicht richtig gewesen!

»Weichlinge«, schob seine Frau in diesem Moment nach. Mit Mühe unterdrückte er den aufsteigenden Zorn. Was erwartete sie denn von ihm? Dass er einen Mann umbrachte? Einen Nachbarn? Das Letzte, was sie jetzt brauchen konnten, waren Bullen, die überall im Dorf herumschnüffelten und blöde Fragen stellten! Es gab zu viele Geheimnisse, die auch besser welche blieben.

Es war kurz nach Mitternacht, als Hartmut Sartorius aufwachte. Der Fernseher lief noch immer – irgendein brutaler Horrorschocker, in dem kreischende Teenager mit angstvoll aufgerissenen Augen vor einem maskierten Psychopathen flohen, der sie nacheinander mit einer Axt und einer Kettensäge abschlachtete. Benommen tastete Hartmut Sartorius nach der Fernbedienung und schaltete das Gerät ab. Seine Knie schmerzten, als er aufstand. In der Küche brannte Licht, die abgedeckte Pfanne mit dem Schnitzel und den Bratkartoffeln stand unangetastet auf dem Herd. Ein Blick auf die Küchenuhr zeigte ihm, wie spät es war. Tobias' Jacke hing nicht in der Garderobe, aber der Autoschlüssel lag auf der Ablage unter dem Spiegel, also war er nicht weggefahren. Der Junge übertrieb es wirklich mit seiner Aufräumerei. Er hatte den Ehrgeiz, den Hof in der nächsten Woche dem Makler völlig picobello präsentieren zu können. Hartmut Sartorius hatte jedem Vorschlag von Tobias zugestimmt, aber er wusste, dass er unbedingt mit Claudius sprechen musste, was den Makler anbetraf. Immerhin war Claudius Terlinden der alleinige Eigentümer des ganzen Anwesens, auch wenn das Tobias nicht passte. Hartmut Sartorius ging pinkeln, dann rauchte er am Küchentisch eine Zigarette. Mittlerweile war es zwanzig vor eins. Mit einem Seufzer kam er auf die Beine und ging in die Diele. Er zog seine alte Strickjacke über, bevor er die Haustür öffnete und in die stürmische, kalte Regennacht hinausging. Zu seiner Verwunderung blieb der Scheinwerfer an der Hausecke dunkel, obwohl Tobias erst vor drei Tagen einen Bewegungsmelder montiert hatte. Er ging über den Hof und sah, dass es auch im Stall und in der Scheune dunkel war. Das Auto und der Traktor standen aber da. War Tobias bei seinen Freunden? Ein seltsames Gefühl beschlich ihn, als er den Lichtschalter an der Tür des Kuhstalles betätigte. Es klackte, aber das Licht ging nicht an. Hoffentlich war Tobias nicht irgendetwas passiert, während er behaglich im Haus vor dem Fernseher geschlafen hatte! Hartmut Sartorius ging in die Milchküche. Hier hing der Sicherungskasten, und hier funktionierte auch das Licht, denn dieser Raum war an den Sicherungskreis des Hauses angeschlossen. Drei Sicherungen waren herausgesprungen. Er drückte sie hinein, und sofort flammten grell die Scheinwerfer über der Stalltür und dem Scheunentor auf. Hartmut Sartorius überquerte den Hof und stieß einen unterdrückten Fluch aus, als er mit den Filzschlappen in eine Pfütze trat.

»Tobias?« Er blieb stehen, lauschte. Nichts. Der Stall war leer, keine Spur von seinem Sohn weit und breit. Er ging weiter. Der Wind zerrte an seinen Haaren, fuhr durch die Maschen der Strickjacke. Er fror. Der Sturm hatte die dichte Wolkendecke aufgerissen, Wolkenfetzen segelten schnell am halbvollen Mond vorbei. In dessen bleichem Licht wirkten die drei großen Container, die nebeneinander weiter oben im Hof standen, wie feindliche Panzer. Das Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung war, wurde stärker, als er sah, dass ein Flügel des Scheunentores knarrend im Wind hin und her schwang. Er versuchte, das Tor zu fassen, aber es riss sich unter einer neuerlichen Böe beinahe los, als hätte es ein Eigenleben. Mit aller Kraft zog Hartmut Sartorius es hinter sich zu. Der Scheinwerfer verlosch nur Sekunden später, aber er kannte sich auf seinem Hof auch im Dunkeln aus und fand sofort den Lichtschalter. »Tobias!«

Die Neonröhren brummten und flackerten auf, und im selben Moment sah er die roten Buchstaben an der Wand. WER NICHT HÖREN WILL, MUSS FÜLEN! Ihm fiel der Rechtschreibfehler auf, erst dann erblickte er die zusammengekrümmte Gestalt auf dem Boden. Der Schreck fuhr ihm so heftig in die Glieder, dass er zu zittern begann. Er stolperte quer durch die Scheune, sank in die Knie und sah voller Entsetzen, was geschehen war. Die Tränen schossen ihm in die Augen. Man hatte Tobias an Händen und Füßen gefesselt, eine Schnur lag so straff um seinen Hals, dass sie tief ins Fleisch geschnitten hatte. Tobias' Augen waren verbunden, sein Gesicht und sein nackter Oberkörper zeigten deutliche Spuren grausamer Misshandlungen. Das musste Stunden her sein, denn das Blut war bereits geronnen.

»O Gott, o Gott, Tobi!« Mit bebenden Fingern machte sich Hartmut Sartorius daran, die Fesseln zu öffnen. Mit roter Sprühfarbe hatten sie ein Wort auf seinen nackten Rücken gesprüht: MÖRDER! Er berührte die Schulter seines Sohnes und erschrak. Tobias' Haut war eiskalt.