Mittwoch, 19. November 2008
Der Wecker klingelte wie jeden Morgen pünktlich um 6:30 Uhr, aber heute brauchte er dieses Signal so wenig wie in den vergangenen Tagen. Gregor Lauterbach war längst wach. Die Angst vor Danielas Fragen hatte es ihm unmöglich gemacht, wieder einzuschlafen. Lauterbach richtete sich auf und schwang die Beine über die Bettkante. Er war nass geschwitzt, fühlte sich wie gerädert. Die Aussicht auf den vor ihm liegenden Tag mit zahllosen Terminen entmutigte ihn völlig. Wie sollte er sich konzentrieren, während in seinem Hinterkopf diese Bedrohung wie eine heimtückische Bombe tickte? Gestern war wieder ein anonymer Brief in der Büropost gewesen, der Inhalt noch beängstigender als der des ersten:
Ob deine Fingerabdrücke wohl noch an dem Wagenheber festzustellen sind, den du in die Jauchegrube geworfen hast? Die Polizei wird die Wahrheit herausfinden, und dann bist du dran!
Wer kannte diese Details? Wer schrieb ihm diese Briefe? Und warum erst jetzt, nach elf Jahren? Gregor Lauterbach stand auf und schleppte sich ins benachbarte Badezimmer. Die Hände auf das Waschbecken gestützt, starrte er sein unrasiertes, übernächtigtes Gesicht im Spiegel an. Sollte er sich krankmelden, auf Tauchstation gehen, bis der Sturm, der am Horizont heraufzog, an ihm vorbeigerauscht war? Nein, unmöglich. Er musste so weiterleben wie bisher, durfte sich auf keinen Fall verunsichern lassen. Seine Karriereplanung war mit dem Amt des Kultusministers nicht beendet, er konnte in politischer Hinsicht noch sehr viel mehr erreichen, wenn er sich jetzt nicht von Schatten aus der Vergangenheit einschüchtern ließ. Er durfte nicht zulassen, dass eine einzige Verfehlung, die überdies schon elf Jahre zurücklag, sein Leben zerstörte. Lauterbach straffte die Schultern und warf seinem Spiegelbild einen entschlossenen Blick zu. Auf seinem Posten standen ihm jetzt Mittel und Möglichkeiten zur Verfügung, von denen er damals nicht zu träumen gewagt hätte. Und das würde er ausnutzen.
Es war noch dunkel, als Pia am geschlossenen Tor des Terlinden'schen Anwesens klingelte. Trotz der frühen Uhrzeit dauerte es nicht lange, bis die Stimme von Frau Terlinden aus der Sprechanlage klang. Kurz darauf öffneten sich die Flügel des Tores wie von Geisterhand. Pia setzte sich auf den Beifahrersitz des zivilen Dienstwagens, an dessen Steuer Bodenstein saß. Gefolgt von einem Streifenwagen und einem Abschleppwagen, fuhren sie über die noch jungfräuliche Schneedecke die gewundene Auffahrt entlang. Christine Terlinden erwartete sie mit einem freundlichen Lächeln an der Haustür, das unter den gegebenen Umständen so unangemessen war wie der höfliche Gruß, den Pia sich ihrerseits sparte. Ein guter Morgen würde es zumindest für Herrn Terlinden nicht werden.
»Wir möchten mit Ihrem Mann sprechen.«
»Ich habe ihm schon Bescheid gegeben. Er wird gleich hier sein. Kommen Sie doch herein.«
Pia nickte nur, auch Bodenstein blieb stumm. Sie hatte ihn gestern noch angerufen und danach noch eine halbe Stunde mit dem zuständigen Staatsanwalt telefoniert, der einen Haftbefehl verweigert, aber einen Durchsuchungsbeschluss für Terlindens Auto genehmigt und beim Gericht beantragt hatte. Sie standen in der imposanten Eingangshalle und warteten. Die Hausherrin war verschwunden, irgendwo in einem entfernten Trakt bellten die Hunde. »Guten Morgen!«
Bodenstein und Pia blickten auf, als Claudius Terlinden nun die Treppe aus dem oberen Stockwerk herunterkam, tadellos gekleidet in Anzug und Krawatte. Sein Anblick ließ Pia diesmal kalt.
»Sie sind früh unterwegs.« Er blieb lächelnd vor ihnen stehen, ohne ihnen die Hand zu reichen.
»Woher stammt die Delle im Kotflügel Ihres Mercedes?«, fragte Pia ohne jede Einleitung.
»Wie bitte?« Er hob erstaunt die Augenbrauen. »Ich weiß nicht, was Sie meinen.«
»Dann werde ich Ihnen mal auf die Sprünge helfen.« Pia ließ ihn nicht aus den Augen. »Am Sonntag erstattete ein Anwohner der Feldstraße Anzeige wegen Fahrerflucht, weil ihm jemand nachts in sein Auto gefahren ist. Er hatte es um zehn vor zwölf vor seinem Haus abgestellt und stand zufällig um 0:33 Uhr auf seinem Balkon, um eine Zigarette zu rauchen, als er ein Krachen hörte. Er konnte das Auto des Unfallverursachers sehen und sogar das Kennzeichen entziffern: MTK-T 801.«
Terlinden sagte keinen Ton. Sein Lächeln war verschwunden. Eine vom Hals aufsteigende Röte breitete sich auf seinem Gesicht aus.
»Am nächsten Morgen erhielt der Mann einen Anruf.« Pia erkannte, dass sie ihn getroffen hatte, und setzte gnadenlos nach. »Von Ihnen. Sie boten ihm an, die ganze Angelegenheit unbürokratisch zu regeln, und tatsächlich – der Mann zog seine Anzeige zurück. Leider war sie damit aber nicht aus dem Polizeicomputer verschwunden.«
Claudius Terlinden starrte Pia mit ausdrucksloser Miene an.
»Was wollen Sie von mir?«, fragte er mit mühsamer Beherrschung.
»Sie haben uns gestern angelogen«, entgegnete sie und lächelte liebenswürdig. »Da ich Ihnen wohl nicht erklären muss, wo sich die Feldstraße befindet, frage ich Sie jetzt noch einmal: Sind Sie auf dem Rückweg von Ihrer Firma am Schwarzen Ross vorbeigefahren, oder haben Sie den Schleichweg übers Feld und dann die Feldstraße entlang genommen?«
»Was soll das alles?« Terlinden wandte sich an Bodenstein, aber der schwieg. »Was wollen Sie mir unterstellen?«
»Amelie Fröhlich ist in dieser Nacht verschwunden«, antwortete Pia an Bodensteins Stelle. »Sie wurde das letzte Mal am Schwarzen Ross gesehen, etwa zu der Zeit, als Sie dort auf dem Weg in Ihre Firma vorbeigefahren sind, nämlich gegen halb elf. Erst zwei Stunden später, um halb eins, kamen Sie zurück nach Altenhain, und zwar aus einer anderen Richtung, als Sie behauptet haben.«
Er schob die Unterlippe vor, betrachtete sie aus schmalen Augen. »Und daraus schließen Sie, dass ich der Tochter eines Mitarbeiters aufgelauert, sie in mein Auto gezerrt und ermordet habe?«
»War das ein Geständnis?«, fragte Pia kühl.
Zu ihrer Verärgerung lächelte Terlinden beinahe amüsiert.
»Mitnichten«, erwiderte er.
»Dann sagen Sie uns, was Sie zwischen halb elf und halb eins getan haben. Oder war es vielleicht gar nicht halb elf, sondern Viertel nach zehn?«
»Es war halb elf. Ich war in meinem Büro.«
»Sie haben zwei Stunden gebraucht, um den Schmuck Ihrer Frau in den Safe zu legen?« Pia schüttelte den Kopf. »Halten Sie uns für dämlich, oder was?«
Die Situation hatte sich um hundertachtzig Grad gewendet. Claudius Terlinden saß in der Klemme, und das wusste er. Aber selbst jetzt wahrte er die Fassung.
»Mit wem waren Sie essen?«, fragte Pia. »Und wo?«
Beharrliches Schweigen. Da fielen Pia die Kameras ein, die sie am Tor der Firma Terlinden gesehen hatte, als sie neulich auf dem Rückweg von Wagners am Firmengelände vorbeigefahren war.
»Wir können uns doch die Bänder aus den Überwachungskameras am Tor Ihrer Firma ansehen«, schlug sie vor. »Damit könnten Sie uns den Beweis liefern, dass Sie über den angegebenen Zeitpunkt tatsächlich die Wahrheit gesagt haben.«
»Sie sind clever«, sagte Terlinden anerkennend. »Das gefällt mir. Leider ist die Überwachungsanlage seit vier Wochen defekt.«
»Und die Kameras an Ihrem Tor unten an der Einfahrt?«
»Zeichnen nicht auf.«
»Tja, das ist dann wohl ziemlich schlecht für Sie.« Pia schüttelte in gespieltem Bedauern den Kopf. »Sie haben kein Alibi für die Zeit, in der Amelie verschwunden ist. Ihre Hände sind zerkratzt, als hätten Sie mit jemandem gekämpft.«
»Aha.« Claudius Terlinden blieb ruhig, hob die Augenbrauen. »Und was jetzt? Verhaften Sie mich, weil ich einen anderen Nachhauseweg genommen habe?«
Pia erwiderte seinen herausfordernden Blick unverwandt. Er war ein Lügner, möglicherweise sogar ein Verbrecher, der allerdings genau wusste, dass ihre Vermutungen viel zu vage waren, um eine Verhaftung zu rechtfertigen.
»Sie sind nicht verhaftet, nur vorübergehend festgenommen.« Ihr gelang ein Lächeln. »Und das nicht, weil Sie einen anderen Nachhauseweg genommen, sondern weil Sie uns angelogen haben. Sobald Sie uns ein plausibles, nachprüfbares Alibi für den fraglichen Zeitraum geliefert haben, dürfen Sie wieder gehen.«
»Gut.« Claudius Terlinden zuckte gelassen die Schultern. »Aber bitte keine Handschellen. Ich bin gegen Nickel allergisch.«
»Ich nehme nicht an, dass Sie flüchten werden«, entgegnete Pia trocken. »Im Übrigen sind unsere Handschellen aus rostfreiem Edelstahl.«
Das Telefon auf seinem Schreibtisch klingelte just in dem Augenblick, als er das Büro verlassen wollte. Lars Terlinden erwartete dringend noch den Rückruf des Derivatehändlers von der Credit Suisse, mit dessen Hilfe er seinerzeit einen großen Teil des Kreditportfolios für diesen Hochstapler Mutzier an den Mann gebracht hatte, bevor er vor dem Vorstandstribunal erschien. Er legte seine Aktentasche ab und nahm den Anruf entgegen.
»Lars, ich bin's«, hörte er die Stimme seiner Mutter; am liebsten hätte er gleich wieder aufgelegt.
»Bitte, Mutter«, sagte er. »Lass mich in Ruhe. Ich habe jetzt keine Zeit.«
»Die Polizei hat heute Morgen deinen Vater verhaftet.«
Lars spürte, wie ihm erst kalt, dann heiß wurde.
»Besser spät als nie«, erwiderte er bitter. »Er ist eben doch nicht der liebe Gott, der in Altenhain schalten und walten kann, wie es ihm beliebt, nur weil er mehr Geld hat als alle anderen. Eigentlich ist er mit seinen Spielchen schon viel zu lange ungeschoren davongekommen.«
Er ging um den Schreibtisch herum und setzte sich auf seinen Sessel.
»Aber Lars! Dein Vater wollte immer nur das Beste für dich!«
»Falsch«, entgegnete Lars Terlinden kühl. »Er wollte immer nur das Beste für sich und für seine Firma. Und damals hat er die Situation ausgenutzt, so, wie er grundsätzlich jede Situation zu seinem Vorteil ausnutzt, und hat mich in einen Job gedrängt, den ich nie machen wollte. Mutter, glaub mir, es ist mir scheißegal, was mit ihm ist.«
Plötzlich war alles wieder ganz nah. Schon wieder pfuschte ihm sein Vater in sein Leben, gerade jetzt, wo er seine ganze Kraft und Konzentration brauchte, um seinen Job und seine Zukunft zu retten! Der Zorn kochte in ihm hoch. Warum konnten sie ihn nicht endlich in Ruhe lassen? Längst vergessen geglaubte Bilder drängten sich ihm auf, ungefragt und unerwünscht, aber er war machtlos gegen die Erinnerungen und die Empfindungen, die mit ihnen kamen. Er wusste, dass sein Vater Lauras Mutter, die damals als Haushälterin in der Villa gearbeitet hatte, regelmäßig in einem der Gästezimmer unterm Dach gevögelt hatte, wenn seine Mutter nicht da war. Aber das hatte ihm nicht ausgereicht. Er musste auch noch die Tochter seiner Leibeigenen, als die er seine Angestellten und das ganze Dorf zu betrachten pflegte, ins Bett zerren – ius primae noctis, wie ein Feudalherr im Mittelalter!
Während seine Mutter mit selbstmitleidiger Stimme irgendetwas vor sich hin quasselte, dachte Lars an jenen Abend. Er war vom Firmunterricht nach Hause gekommen und in der Diele beinahe mit Laura zusammengestoßen, die mit verheultem Gesicht an ihm vorbei ins Freie gestürmt war. Nichts hatte er kapiert damals, als sein Vater aus dem Wohnzimmer gekommen war, sein Hemd in den Hosenbund stopfend, hochrot im Gesicht, mit wirrem Haar. Dieses Schwein!
Laura war damals gerade vierzehn. Erst viele Jahre später hatte Lars seinem Vater vorgeworfen, mit Laura geschlafen zu haben, doch der hatte alles abgestritten. Das Mädchen sei in ihn verliebt gewesen, aber er habe ihre Annäherungsversuche zurückgewiesen. Lars hatte ihm geglaubt. Welcher Siebzehnjährige wollte von seinem Vater Schlechtes denken? Im Nachhinein hatte er an den Unschuldsbeteuerungen seines Vaters gezweifelt. Viel zu oft hatte er ihn angelogen.
»Lars?«, fragte seine Mutter. »Bist du noch dran?«
»Ich hätte der Polizei damals die Wahrheit sagen sollen«, antwortete er mit mühsam beherrschter Stimme. »Aber mein eigener Vater hat mich zum Lügen gezwungen, nur damit sein Name nicht beschmutzt wird! Was ist jetzt passiert? Hat er sich auch diesmal das Mädchen geschnappt, das vermisst wird?«
»Wie kannst du so etwas Ungeheuerliches sagen?« Die Stimme seiner Mutter klang schockiert. Christine Terlinden war eine Meisterin des Selbstbetrugs. Was sie nicht hören oder sehen wollte, das überhörte und übersah sie ganz einfach.
»Mach doch endlich mal die Augen auf, Mutter!«, sagte Lars scharf. »Ich könnte noch viel mehr sagen, aber ich tue es nicht. Weil für mich das ganze Kapitel beendet ist, verstehst du? Es ist vorbei. Ich muss jetzt Schluss machen. Ruf mich bitte nicht mehr an.«
Das Restaurant, in dem Claudius Terlinden den Samstagabend mit Ehefrau und Freunden verbracht hatte, lag in der Guiolettstraße, gegenüber den gläsernen Zwillingstürmen der Deutschen Bank, das hatte seine Frau Pia am Vorabend mitgeteilt.
»Lass mich hier aussteigen und komm nach, wenn du einen Parkplatz gefunden hast«, entschied Bodenstein, als Pia zum dritten Mal von der Taunusanlage in die Guiolettstraße eingebogen war. Parken war vor dem noblen Ebony Club unmöglich, deshalb warteten Pagen in englischen Wagenmeister-Uniformen vor der Eingangstür darauf, die Karossen der Gäste zu übernehmen und für die Dauer ihres Aufenthaltes in der Tiefgarage abzustellen. Pia fuhr rechts ran, Bodenstein stieg aus und lief mit eingezogenem Genick durch den strömenden Regen zur Eingangstür. Er wurde nicht aufgehalten, als er am Please wait to be seated-Schild vorbeiging. Der Empfangschef und die Hälfte des Personals machten gerade großes Aufheben um irgendeinen Promi mit seiner Entourage, der keinen Tisch vorbestellt hatte. Das Restaurant war um die Mittagszeit gut besucht, offenbar hatte die Krise den Managern aus den umliegenden Banken die Lust am Luxuslunch nicht verdorben. Bodenstein sah sich neugierig um. Er hatte schon viel vom Ebony Club gehört, das Restaurant im indischen Kolonialstil gehörte zu den teuersten und derzeit angesagtesten der Stadt. Sein Blick fiel auf ein Paar an einem Zweiertisch auf der Empore etwas weiter hinten. Ihm stockte der Atem. Cosima. Wie gebannt lauschte sie einem widerlich gutaussehenden Mann, der mit großen, temperamentvollen Gesten irgendetwas zu erklären schien. Die Art und Weise, wie Cosima dasaß, leicht vorgebeugt, die Ellbogen aufgestützt und das Kinn auf die verschränkten Hände gelegt, ließ sämtliche Alarmglocken in seinem Gehirn schrillen. Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, lachte über irgendetwas, was dieser Kerl gesagt hatte, und legte dann auch noch ihre Hand auf seine. Bodenstein stand wie erstarrt mitten in dem Trubel, das Servicepersonal rannte geschäftig an ihm vorbei, als sei er unsichtbar. Am Morgen hatte Cosima ihm noch beiläufig erzählt, dass sie den ganzen Tag wieder im Schneideraum in Mainz zu tun habe. Hatte sich kurzfristig etwas an ihren Plänen geändert, oder hatte sie ihn wieder bewusst angelogen? Wie konnte sie auch ahnen, dass ihn seine Ermittlungen just an diesem Mittag in genau dieses eine von den vielen tausend Frankfurter Restaurants führen würden?
»Kann ich Ihnen helfen?« Eine junge, mollige Frau blieb vor ihm stehen und lächelte ein wenig ungeduldig. Sein Herz setzte mit der Gewalt eines Schmiedehammers wieder ein. Er zitterte am ganzen Körper, und ihm war speiübel.
»Nein«, antwortete er, ohne seine Augen von Cosima und ihrem Begleiter abzuwenden. Die Bedienstete warf ihm einen eigentümlichen Blick zu, aber es war ihm völlig gleichgültig, was sie von ihm denken mochte. Keine zwanzig Meter von ihm entfernt saß seine Frau mit dem Mann, auf dessen Gesellschaft sie sich mit drei Ausrufezeichen freute. Bodenstein konzentrierte sich angestrengt darauf, ein- und auszuatmen. Er wünschte, er wäre fähig, einfach an diesen Tisch zu gehen und dem Mann ohne Vorwarnung in die Visage zu schlagen. Aber weil er zu eiserner Selbstbeherrschung und höflichen Manieren erzogen war, blieb er einfach stehen und tat nichts. Ganz automatisch konstatierte der scharfe Beobachter in ihm die offensichtliche Vertrautheit der beiden, die nun ihre Köpfe zusammensteckten und tiefe Blicke tauschten. Bodenstein sah aus dem Augenwinkel, wie die junge Dame vom Service den Empfangschef, der inzwischen seinen Promi irgendwo adäquat untergebracht hatte, auf ihn aufmerksam machte. Entweder musste er jetzt zu Cosima und diesem Kerl hingehen oder auf der Stelle verschwinden. Da er sich nicht in der Lage fühlte, den arglos Erfreuten zu spielen, entschied er sich für Letzteres, wandte sich auf dem Absatz um und verließ das überfüllte Restaurant. Als er aus der Tür trat, starrte er einen Moment den Bauzaun auf der gegenüberliegenden Straßenseite an, bevor er wie betäubt die Guiolettstraße entlangging. Sein Puls raste, er hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Der Anblick von Cosima und diesem Kerl hatte sich unauslöschlich in seine Netzhaut eingebrannt. Nun war genau das eingetreten, wovor er sich so sehr gefürchtet hatte: Er hatte die Gewissheit, dass Cosima ihn betrog.
Plötzlich trat ihm jemand in den Weg. Er wollte ausweichen, aber die Frau mit dem Regenschirm machte ebenfalls einen Schritt zur Seite, so dass er stehen bleiben musste.
»Bist du schon fertig?« Die Stimme von Pia Kirchhoff durchdrang den Nebel, der ihn wie eine Wand umgab, und holte ihn schlagartig zurück in die Realität. »War Terlinden am Samstag dort?«
Terlinden! Den hatte er völlig vergessen.
»Ich … ich habe gar nicht gefragt«, gab er zu.
»Ist alles in Ordnung?« Pia sah ihn prüfend an. »Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«
»Cosima sitzt da drin«, erwiderte er tonlos. »Mit einem anderen Mann. Obwohl sie mir heute Morgen gesagt hat …«
Er konnte nicht weitersprechen, seine Kehle war wie ausgetrocknet. Auf weichen Beinen wankte er zum nächsten Haus und setzte sich ungeachtet der Nässe auf eine Treppenstufe im Hauseingang. Pia betrachtete ihn stumm und, wie ihm schien, mitleidig. Er senkte den Blick.
»Gib mir eine Zigarette«, verlangte er mit heiserer Stimme. Pia kramte in den Taschen ihrer Jacke und reichte ihm wortlos ein Päckchen samt Feuerzeug. Er hatte seit fünfzehn Jahren nicht mehr geraucht und nichts vermisst, aber jetzt musste er feststellen, dass die Gier nach Nikotin noch immer in seinem tiefsten Innern schlummerte.
»Das Auto steht am Kettenhofweg, Ecke Brentanostraße.« Pia hielt ihm den Autoschlüssel hin. »Setz dich lieber rein, bevor du dir hier den Tod holst.«
Er nahm weder den Schlüssel noch gab er ihr eine Antwort.
Es war ihm völlig egal, ob er nass wurde oder die Passanten blöd glotzten. Ihm war alles egal. Obwohl er es insgeheim längst geahnt hatte, so hatte er doch verzweifelt auf eine harmlose Erklärung für Cosimas Lügen und SMS gehofft und war nicht im Geringsten darauf gefasst gewesen, sie in Gesellschaft eines anderen Mannes zu sehen. Gierig sog er an der Zigarette, inhalierte den Rauch so tief er konnte. Ihm wurde schwindelig, als rauche er einen Joint und keine Marlboro. Allmählich verlangsamte das Karussell der sich überstürzenden Gedanken seine rasende Fahrt und blieb stehen. In seinem Kopf herrschte eine tiefe, leere Stille. Er saß auf einer Treppenstufe mitten in Frankfurt und fühlte sich abgrundtief einsam.
Lars Terlinden hatte den Hörer auf die Gabel geknallt und saß nun seit ein paar Minuten reglos da. Oben wartete der Vorstand auf ihn. Die Herren waren extra aus Zürich angereist, um zu hören, wie er gedachte, die 350 Millionen, die er in den Sand gesetzt hatte, wieder aufzutreiben. Leider hatte er keine Lösung zur Hand. Sie würden ihn anhören und danach mit falsch-freundlichem Lächeln in Stücke reißen, diese arroganten Arschlöcher, die ihm vor einem Jahr wegen dieses gigantischen Deals noch kumpelhaft auf die Schulter geklopft hatten. Wieder klingelte das Telefon, diesmal die interne Leitung. Lars Terlinden ignorierte es. Er öffnete die oberste Schreibtischschublade und entnahm ihr einen Bogen Geschäftsbriefpapier und seinen Montblanc-Füllfederhalter, ein Geschenk seines Chefs aus besseren Zeiten, den er nur dazu benutzte, Verträge zu unterschreiben. Eine volle Minute starrte er auf das leere, cremefarbene Blatt, dann begann er zu schreiben. Ohne das Geschriebene noch einmal durchzulesen, faltete er das Blatt und steckte es in einen gefütterten Umschlag. Er schrieb eine Adresse auf den Briefumschlag, stand auf, ergriff seine Aktentasche und den Mantel und verließ sein Büro.
»Das muss heute noch raus«, sagte er zu seiner Sekretärin und ließ den Umschlag auf ihren Schreibtisch fallen.
»Selbstverständlich«, erwiderte sie spitz. Früher einmal war sie Vorstandsassistentin gewesen, und noch immer hielt sie es für unter ihrer Würde, Sekretärin eines Abteilungsleiters zu sein. »Sie denken an Ihren Termin?«
»Natürlich.« Er ging schon weiter, blickte sie nicht einmal an.
»Sie sind schon sieben Minuten zu spät!«
Er trat hinaus auf den Flur. Vierundzwanzig Schritte bis zum Aufzug, der mit geöffneten Türen ungeduldig auf ihn zu warten schien. Oben, im zwölften Stock, saß seit sieben Minuten der versammelte Vorstand. Seine Zukunft stand auf dem Spiel, sein Ansehen, ja sein ganzes Leben. Hinter ihm schlüpften noch zwei Kolleginnen aus dem BackOffice in den Aufzug. Er kannte sie flüchtig vom Sehen, nickte ihnen abwesend zu. Sie kicherten und tuschelten, erwiderten sein grüßendes Nicken. Die Tür schloss sich lautlos. Er erschrak, als er im Spiegel den Mann mit dem eingefallenen Gesicht sah, der seinen Blick aus stumpfen, deprimierten Augen erwiderte. Müde war er, unendlich müde und ausgebrannt.
»Wohin geht's?«, fragte die Brünette mit den Kulleraugen. »Nach oben oder nach unten?«
Ihr Finger mit dem langen, künstlichen Fingernagel verharrte abwartend über dem digitalen Innentableau. Lars Terlinden konnte sich nicht vom Anblick seines Gesichts im Spiegel lösen.
»Nach unten geht's«, erwiderte er. »Ganz nach unten.«
Pia Kirchhoff betrat den Ebony Club und nickte dem Portier, der ihr schwungvoll die Tür geöffnet hatte, dankend zu. Erst kürzlich hatten Christoph und sie hier mit Henning und Miriam gegessen. Fünfhundert Euro hatte Henning für das Essen berappen müssen, völlig übertrieben in ihren Augen. Pia hatte nicht viel übrig für Schickimicki-Locations, kryptische Speisekarten und Weinkarten, in denen der Preis für eine einzige Flasche schon mal im vierstelligen Bereich liegen konnte. Da sie Weine nicht nach ihrem Etikett, sondern ihrem persönlichen Geschmacksempfinden beurteilte, reichte ihr zum Essen ein Bardolino oder Chianti in der Pizzeria um die Ecke für einen gelungenen Abend.
Der Empfangschef krabbelte von seinem Hochsitz und steuerte mit einem strahlenden Lächeln auf sie zu. Pia hielt ihm wortlos ihre Kripomarke vor die Nase. Sofort kühlte sein Lächeln um einige Grade ab. Eine potentielle Maharadscha-Menü-Kundin hatte sich vor seinen Augen unversehens in eine Kröte verwandelt, die niemand gerne schluckte. Die Kriminalpolizei war nirgendwo gern gesehen, schon gar nicht in einem Nobelrestaurant im Mittagsgeschäft.
»Darf ich erfahren, um was es geht?«, säuselte der Empfangschef.
»Nein«, erwiderte Pia trocken. »Dürfen Sie nicht. Wo ist der Manager?«
Das Lächeln verschwand völlig. Mit ihm die aufgesetzte Höflichkeit.
»Warten Sie hier.« Der Mann entfernte sich, und Pia blickte sich unauffällig um. Tatsächlich! An einem der Tische saß Cosima von Bodenstein in trauter Zweisamkeit mit einem Mann, der deutlich zehn Jahre jünger war als sie. Er trug einen zerknitterten Straßenanzug, ein am Hals offen stehendes Hemd ohne Krawatte. Seine lässige Körperhaltung strahlte Selbstbewusstsein aus. Das wirre, dunkelblonde Haar reichte bis auf seine Schultern, sein kantiges Gesicht mit dem aggressiv vorspringenden Kinn, dem Fünftagebart und der markanten Adlernase war von Wind und Wetter – oder auch vom Alkohol, wie Pia boshaft dachte – gegerbt. Cosima von Bodenstein redete lebhaft auf ihn ein, und er betrachtete sie lächelnd und mit offensichtlicher Faszination. Das war kein Arbeitsessen, auch kein zufälliges Treffen alter Bekannter – die erotischen Schwingungen zwischen den beiden konnten selbst einem oberflächlichen Betrachter nicht verborgen bleiben. Entweder kamen sie gerade aus dem Bett oder zögerten den Weg dorthin mit einem kleinen Lunch hinaus, um die Vorfreude noch zu steigern. Pia bedauerte ihren Chef ehrlich, dennoch brachte sie auch ein gewisses Verständnis für Cosima auf, die sich nach fünfundzwanzig Jahren ehelicher Routine nach einem Abenteuer sehnen mochte.
Das Erscheinen des Geschäftsführers riss Pia aus ihren Beobachtungen. Er war höchstens Mitte dreißig, wirkte durch sein schütteres, sandfarbenes Haar und das aufgedunsene Gesicht aber älter.
»Ich will Sie nicht lange aufhalten, Herr …«, begann Pia und musterte den massigen Mann, der so unhöflich war, ihr weder die Hand zu reichen noch sich ihr namentlich vorzustellen.
»Jagielski«, ergänzte der Mann von oben herab und scheuchte seinen Empfangschef mit einer arroganten Handbewegung zurück auf seinen Hochsitz. »Was gibt es? Wir sind mitten im Mittagsgeschäft.«
Jagielski. Der Name weckte in Pia irgendeine vage Assoziation.
»Ach. Kochen Sie denn selbst?«, konterte sie ironisch. »Nein.« Er verzog säuerlich die Lippen, sein irritierend unsteter Blick glitt immer wieder durch den Gastraum. Plötzlich wandte er sich um, hielt eine junge Kellnerin an und brachte sie mit einer gezischten Bemerkung zum Erröten.
»Geschultes Personal ist so gut wie nicht zu bekommen«, erklärte er Pia dann ohne den Anflug eines Lächelns. »Diese jungen Dinger sind eine Katastrophe. Haben einfach keine Einstellung.«
Neue Gäste trafen ein, sie standen im Weg. In dem Augenblick fiel ihr wieder ein, wo sie den Namen Jagielski schon gehört hatte. Die Chefin im Schwarzen Ross in Altenhain hieß ebenfalls so. Ihre Nachfrage bestätigte, dass die Namensgleichheit nicht zufällig war. Andreas Jagielski gehörte das Schwarze Ross ebenso wie der Ebony Club und ein anderes Lokal in Frankfurt.
»Also, was gibt's?«, fragte er. Höflichkeit war nicht seine Stärke. Diskretion ebenso wenig. Noch immer standen sie mitten im Foyer.
»Ich wüsste gerne, ob ein Herr Claudius Terlinden am vergangenen Samstagabend mit seiner Frau hier zum Essen war.«
Eine Augenbraue zuckte hoch. »Wieso will die Polizei das wissen?«
»Weil es die Polizei interessiert.« Allmählich ging Pia seine herablassende Überheblichkeit auf die Nerven. »Also?«
Ein winziges Zögern, dann ein knappes Nicken. »Ja, das war er.«
»Nur mit seiner Frau?«
»Das weiß ich nicht mehr genau.«
»Vielleicht kann sich Ihr Empfangschef daran erinnern. Sie führen doch sicher Buch über die Reservierungen.«
Widerstrebend winkte Jagielski dem zuvor verscheuchten Empfangschef und wies ihn an, ihm das Reservierungsbuch auszuhändigen. Abwartend hielt er die Hand ausgestreckt und wartete stumm, bis der Empfangschef auf seinen Hochsitz geklettert war und wieder heranwieselte. Der Geschäftsführer leckte seinen Zeigefinger an und blätterte langsam in der ledergebundenen Kladde.
»Ah ja, hier«, sagte er schließlich. »Sie waren zu viert. Ich erinnere mich jetzt auch wieder.«
»Wer war dabei? Namen?«, drängte Pia. Eine Gruppe von Gästen rüstete zum Aufbruch. Endlich führte Jagielski Pia Richtung Tresen.
»Ich wüsste nicht, was Sie das angeht.« Er dämpfte die Stimme.
»Hören Sie.« Pia wurde ungeduldig. »Ich ermittele im Fall Ihrer verschwundenen Kellnerin Amelie, die zuletzt am Samstag im Schwarzen Ross gesehen wurde. Wir suchen Zeugen, die das Mädchen danach noch gesehen haben.«
Jagielski starrte sie an, überlegte einen Moment und entschied wohl, dass eine Nennung von Namen unverfänglich sei.
»Das Ehepaar Lauterbach war dabei«, rückte er heraus.
Pia war erstaunt. Wieso hatte Claudius Terlinden ihnen verschwiegen, dass er und seine Frau mit den Nachbarn essen gewesen waren? In seinem Büro gestern Abend hatte er ausdrücklich nur von seiner Frau und sich gesprochen. Seltsam.
Der Begleiter von Cosima von Bodenstein bezahlte gerade seine Rechnung; die Kellnerin strahlte ihn an, offenbar war das Trinkgeld großzügig ausgefallen. Er erhob sich und ging um den Tisch herum, um Cosimas Stuhl zurückzuziehen. Mochte er äußerlich auch das komplette Gegenteil von Bodenstein sein, so hatte er zumindest ähnlich gute Manieren.
»Kennen Sie den Begleiter der rothaarigen Dame dort drüben?«, fragte Pia den Geschäftsführer Jagielski unvermittelt. Der musste nicht einmal den Kopf heben, um zu wissen, wen Pia meinte. Sie drehte sich um, damit Cosima sie nicht zufällig beim Hinausgehen erkannte.
»Ja, natürlich.« Seine Stimme hatte plötzlich einen fast ungläubigen Unterton, als könne er nicht fassen, dass jemand diesen Mann nicht kannte. »Das ist Alexander Gavrilow. Hat er etwa auch etwas mit Ihren Ermittlungen zu tun?«
»Möglich«, entgegnete Pia und lächelte. »Danke für Ihre Hilfe.«
Bodenstein saß noch immer auf der Treppenstufe und rauchte. Zu seinen Füßen lagen vier Zigarettenkippen. Einen Moment blieb Pia stumm vor ihrem Chef stehen, um den ungewöhnlichen Anblick in sich aufzunehmen.
»Und?« Er blickte auf. Sein Gesicht war bleich.
»Stell dir vor: Terlindens waren mit Lauterbachs essen«, verkündete Pia. »Und der Geschäftsführer vom Ebony Club ist gleichzeitig der Besitzer vom Schwarzen Ross in Altenhain. Ist das nicht ein Zufall?«
»Das meine ich nicht.«
»Was denn sonst?« Pia stellte sich begriffsstutzig. »Hast du … sie gesehen?«
»Ja, hab ich.« Sie bückte sich nach dem Zigarettenpäckchen, das er neben sich auf die Treppenstufe gelegt hatte, und steckte es ein. »Komm. Ich hab keine Lust, mir hier den Arsch abzufrieren.«
Bodenstein erhob sich steif, zog noch einmal an der Zigarette und schnippte die Kippe auf die regennasse Straße. Im Gehen warf Pia ihm einen raschen Seitenblick zu. Hoffte er etwa noch immer auf eine harmlose Erklärung für dieses Tete-á-Tete seiner Gattin mit einem attraktiven Fremden?
»Alexander Gavrilow«, sagte sie und blieb stehen. »Der Polarforscher und Bergsteiger.«
»Wie bitte?« Bodenstein blickte sie verwirrt an.
»Das ist der Mann, mit dem Cosima gegessen hat«, erklärte Pia und ergänzte in Gedanken: … und mit dem sie hundertprozentig vögelt.
Bodenstein fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Natürlich.« Er sprach mehr zu sich selbst als zu Pia. »Irgendwie kam mir der Kerl bekannt vor. Cosima hat ihn mir einmal vorgestellt, ich glaube, auf ihrer letzten Filmpremiere. Sie haben vor Jahren ein gemeinsames Projekt geplant, aus dem aber nichts wurde.«
»Vielleicht ist es wirklich nur geschäftlich«, versuchte Pia gegen ihre eigene Überzeugung eine Beschwichtigung. »Kann doch sein, dass sie über ein Projekt sprechen, von dem du nichts wissen sollst, und du machst dir zu viele Sorgen.«
Bodenstein musterte Pia mit hochgezogenen Brauen. In seinem Blick blitzte für einen Moment ein spöttischer Funke auf, verlosch aber sofort wieder.
»Ich habe Augen im Kopf«, entgegnete er. »Und ich weiß, was ich gesehen habe. Meine Frau geht mit dem Kerl ins Bett, wer weiß wie lange schon. Vielleicht ist es gut, dass ich mir endlich nichts mehr vormachen kann.«
Er setzte sich entschlossen in Bewegung, und Pia musste beinahe rennen, um mit ihm Schritt zu halten.
Thies weiß alles, und die Polizei ist sehr neugierig. Du solltest zusehen, dass du die Sache in den Griff bekommst. Denn du hast alles zu verlieren!
Die Buchstaben auf dem Bildschirm verschwammen vor seinen Augen. Die E-Mail war an seine offizielle Adresse im Ministerium gerichtet! Großer Gott, wenn seine Sekretärin sie gelesen hätte! Sie druckte üblicherweise morgens seine Mails aus und legte sie ihm vor, nur durch Zufall war er heute früher im Büro gewesen als sie. Gregor Lauterbach biss sich auf die Unterlippe und klickte den Absender an. Schneewittchen1992@hotmail.com. Wer verbarg sich dahinter? Wer, wer, wer? Diese Frage beherrschte seine Gedanken seit dem ersten Brief, Tag und Nacht konnte er an kaum etwas anderes denken. Die Angst überfiel ihn wie Schüttelfrost.
Es klopfte, die Tür ging auf. Er fuhr hoch, als hätte man ihn mit kochendem Wasser Übergossen. Der freundliche Guten-Morgen-Gruß blieb Ines Schürmann-Liedtke bei seinem Anblick im Hals stecken.
»Geht es Ihnen nicht gut, Chef?«, fragte sie besorgt.
»Nein«, krächzte Lauterbach und ließ sich wieder in seinen Sessel sinken. »Ich glaube, mich hat die Grippe erwischt.«
»Soll ich Ihre Termine für heute absagen?«
»Ist etwas Wichtiges dabei?«
»Nein. Nichts wirklich Dringendes. Ich rufe Forthuber an, damit er Sie nach Hause fährt.«
»Ja, danke, Ines.« Lauterbach nickte und hustete ein bisschen. Sie ging hinaus. Er starrte die E-Mail an. Schneewittchen. Seine Gedanken rasten. Dann schloss er die Nachricht, blockierte mit einem Rechtsklick den Absender und schickte sie gleichzeitig als unzustellbar zurück.
Barbara Fröhlich saß am Küchentisch und versuchte vergeblich, sich auf ein Kreuzworträtsel zu konzentrieren. Nach drei Tagen und Nächten der Ungewissheit lagen ihre Nerven blank. Am Sonntag hatte sie die beiden Kleinen zu ihren Eltern nach Hofheim gebracht, und Arne war am Montag arbeiten gegangen, obwohl sein Chef ihm angeboten hatte, daheim zu bleiben. Aber was sollte er zu Hause ausrichten? Seitdem zogen sich die Tage unerträglich in die Länge. Amelie war und blieb verschwunden, es gab kein einziges Lebenszeichen. Ihre Mutter hatte dreimal aus Berlin angerufen, allerdings eher pflichtschuldig als besorgt. In den ersten beiden Tagen hatte sie noch Besuch von Frauen aus dem Dorf bekommen, die sie trösten und unterstützen wollten, aber da sie diese Frauen kaum kannte, hatten sie nur unbehaglich in der Küche gesessen, um Konversation bemüht. Gestern Abend war es auch noch zu einem heftigen Streit zwischen ihr und Arne gekommen, dem ersten überhaupt, seit sie sich kannten. Sie hatte ihm sein mangelndes Interesse am Schicksal seiner ältesten Tochter vorgeworfen und ihm voller Zorn sogar unterstellt, er sei wohl froh, wenn sie nicht mehr auftauchte. Genau genommen war es kein Streit gewesen, denn Arne hatte sie nur angesehen und geschwiegen. Wie immer.
»Die Polizei wird sie finden«, hatte er nur gesagt und war ins Badezimmer verschwunden. Sie war in der Küche zurückgeblieben, hilflos, sprachlos und allein. Und ganz plötzlich hatte sie ihren Ehemann mit anderen Augen gesehen. Feige flüchtete er in seine tägliche Routine. Würde er sich anders verhalten, wenn nicht Amelie, sondern Tim oder Jana verschwunden wären? Seine einzige Angst war die, dass er unangenehm auffallen könnte. Kein Wort hatten sie mehr miteinander gewechselt, stumm nebeneinander im Bett gelegen. Zehn Minuten später hatte er schon geschnarcht, ruhig und gleichmäßig, als ob alles in bester Ordnung sei. Nie zuvor in ihrem Leben hatte sie sich so verlassen gefühlt wie in dieser schrecklichen, endlosen Nacht.
Es klingelte an der Tür. Barbara Fröhlich zuckte zusammen und stand auf. Hoffentlich war es nicht wieder eine dieser Dorffrauen, die nur deshalb mit vorgetäuschtem Mitgefühl bei ihr ausharrten, um später im Laden einen Exklusivbericht der Lage abliefern zu können. Sie öffnete die Haustür. Vor ihr stand eine Unbekannte.
»Guten Tag, Frau Fröhlich«, sagte die Frau. Sie hatte dunkles, kurzes Haar, ein blasses, ernstes Gesicht mit bläulichen Augenringen und trug eine viereckige Brille. »Kriminaloberkommissarin Maren König vom K11 in Hofheim.«
Sie präsentierte ihre Kripomarke. »Darf ich hereinkommen?«
»Ja, natürlich. Bitte.« Barbara Fröhlichs Herz klopfte ängstlich. Die Frau sah so ernst aus, als würde sie schlechte Nachrichten bringen. »Haben Sie etwas von Amelie gehört?«
»Nein, leider nicht. Aber meine Kollegen haben herausgefunden, dass Amelie von ihrem Freund Thies Bilder bekommen haben soll. In ihrem Zimmer wurde aber nichts gefunden.«
»Ich weiß auch nichts von irgendwelchen Bildern.« Sie schüttelte ratlos den Kopf, enttäuscht, dass die Polizistin ihr nichts Neues mitteilen konnte.
»Vielleicht könnten wir noch einmal in Amelies Zimmer schauen«, schlug Maren König vor. »Die Bilder, sollten sie tatsächlich existieren, könnten ausgesprochen wichtig sein.«
»Ja, natürlich. Kommen Sie.«
Barbara Fröhlich führte sie die Treppe hoch und öffnete die Tür zu Amelies Zimmer. Sie blieb im Türrahmen stehen und sah zu, wie die Kommissarin gründlich in den Wandschränken suchte, auf die Knie ging, unter dem Bett und unter dem Schreibtisch nachschaute. Schließlich rückte sie die Biedermeier-Kommode ein Stück von der Wand weg.
»Eine Tapetentür«, stellte die Kommissarin fest und drehte sich zu Barbara Fröhlich um. »Darf ich sie aufmachen?«
»Sicher. Ich wusste gar nicht, dass es da eine Tür gibt.«
»In vielen Häusern mit Dachschrägen werden die Abseiten als Abstellfläche genutzt«, erklärte die Polizeibeamtin und lächelte das erste Mal ein wenig. »Gerade dann, wenn man im Haus keinen Speicher hat.«
Sie ging in die Hocke, zog die Tür auf und kroch in den kleinen Raum zwischen Wand und Dachisolierung. Ein kalter Lufthauch drang herein. Wenig später kehrte sie zurück, in den Händen eine dicke, in Papier eingeschlagene Rolle, die sorgfältig mit einem roten Band umwickelt war.
»Mein Gott«, sagte Barbara Fröhlich. »Sie haben tatsächlich etwas gefunden.«
Kriminaloberkommissarin Maren König richtete sich auf und klopfte den Staub von ihrer Hose. »Ich nehme die Bilder mit. Wenn Sie möchten, quittiere ich Ihnen den Empfang.«
»Nein, nein, das ist nicht nötig«, versicherte Barbara Fröhlich rasch. »Wenn die Bilder Ihnen dabei helfen können, Amelie zu finden, dann nehmen Sie sie nur mit.«
»Danke.« Die Kommissarin legte ihr die Hand auf den Arm. »Und machen Sie sich nicht zu große Sorgen. Wir tun wirklich alles Menschenmögliche, um Amelie zu finden. Das kann ich Ihnen versprechen.«
Das klang so mitfühlend, dass Barbara Fröhlich mit aller Kraft gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfen musste. Sie nickte nur stumm und dankbar. Kurz überlegte sie, ob sie Arne anrufen und ihm von den Bildern erzählen sollte. Aber sie war noch immer tief gekränkt über sein Verhalten, deshalb tat sie es nicht. Erst als sie sich etwas später einen Tee aufbrühte, fiel ihr auf, dass sie völlig vergessen hatte, sich die Bilder anzusehen.
Tobias ging unruhig im Wohnzimmer von Nadjas Wohnung auf und ab. Der große Fernseher an der Wand lief ohne Ton. Die Polizei suchte im Zusammenhang mit dem Verschwinden der siebzehnjährigen Amelie F. nach ihm, das hatte er eben im Videotext gelesen. Nadja und er hatten die halbe Nacht beratschlagt, wie er sich verhalten sollte. Sie hatte die Idee gehabt, nach den Bildern zu suchen. Gegen Mitternacht war sie eingeschlafen, aber er hatte wach gelegen und verzweifelt versucht, sich zu erinnern. Eins stand fest: Meldete er sich bei der Polizei, so würden sie ihn auf der Stelle verhaften. Er hatte keine plausible Erklärung dafür, wie das Handy von Amelie in seine Hosentasche gekommen sein konnte, und nach wie vor keine blasse Erinnerung an die Nacht von Samstag auf Sonntag.
Amelie musste irgendetwas über die Ereignisse von 1997 in Altenhain herausgefunden haben, etwas, das jemandem gefährlich werden konnte. Aber wer war dieser Jemand? Seine Gedanken führten ihn immer wieder zu Claudius Terlinden. Elf Jahre lang hatte er ihn für seinen einzigen Beschützer auf dieser Welt gehalten, im Knast hatte er sich auf seine Besuche gefreut, auf die langen Gespräche mit ihm. Was für ein Idiot er gewesen war! Terlinden hatte nur seinen eigenen Vorteil im Blick gehabt. Tobias ging nicht so weit, ihn für das Verschwinden von Laura und Stefanie verantwortlich zu machen. Aber er hatte die Notlage seiner Eltern rücksichtslos ausgenutzt, um das zu bekommen, was er haben wollte: den Schillingsacker, auf den er das neue Verwaltungsgebäude seiner Firma gebaut hatte.
Tobias zündete sich eine Zigarette an. Der Aschenbecher auf dem Couchtisch quoll bereits über. Er trat ans Fenster und blickte hinaus auf das schwarze Wasser des Mains. Die Minuten verrannen quälend langsam. Wie lange war Nadja schon weg? Drei Stunden? Vier Stunden? Hoffentlich hatte sie Erfolg! Ihr Plan war der einzige Strohhalm, an den er sich klammerte. Wenn es tatsächlich diese Bilder gab, von denen Amelie ihm am Samstag erzählt hatte, dann konnten sie mit ihnen vielleicht seine Unschuld beweisen und gleichzeitig herausfinden, wer Amelie entführt hatte. Ob sie noch lebte? Ob … Tobias schüttelte unwillig den Kopf, aber der Gedanke ließ sich nicht vertreiben. Was, wenn das alles stimmte, was Psychologen, Gutachter und das Gericht ihm damals bescheinigt hatten? Wurde er unter dem Einfluss von zu viel Alkohol vielleicht tatsächlich zum Monster, wie von der Presse mit Genuss dargestellt? Früher war sein Aggressionspotential groß gewesen, Niederlagen hatte er nur schlecht wegstecken können. Es war für ihn selbstverständlich gewesen, zu bekommen, was er wollte – gute Schulnoten, Mädchen oder Erfolg im Sport. Selten hatte er Rücksicht genommen, und dennoch war er beliebt gewesen, der strahlende Mittelpunkt der Clique. Oder hatte er das nur geglaubt, blind und überheblich in seiner grenzenlosen Ichbezogenheit?
Das Wiedersehen mit Jörg, Felix und den anderen hatte vage Erinnerungen in ihm wachgerufen, an lange vergessene Ereignisse, die er für Kleinigkeiten gehalten hatte. Er hatte Laura damals Michael ausgespannt, ohne einen Anflug schlechten Gewissens seinem Kumpel gegenüber. Mädchen waren bloße Trophäen seiner Eitelkeit gewesen. Wie oft hatte er mit seiner Gedankenlosigkeit Gefühle verletzt, wie viel Zorn und Kummer verursacht? Richtig begriffen hatte er das erst in dem Moment, als Stefanie mit ihm Schluss gemacht hatte. Er hatte es nicht akzeptieren wollen, hatte sogar vor ihr gekniet und sie angebettelt, aber sie hatte ihn nur ausgelacht. Was hatte er dann getan? Was hatte er mit Amelie getan? Wie war ihr Handy in seine Hosentasche gelangt?
Tobias ließ sich auf das Sofa sinken, presste die Handflächen gegen seine Schläfen und versuchte verzweifelt, die Erinnerungsfetzen in einen logischen Zusammenhang zu bringen. Doch je mehr er sich zu zwingen versuchte, desto weniger wollte es ihm gelingen. Es war zum Verrücktwerden.
Obwohl ihre Praxis brechend voll war, ließ Dr. Daniela Lauterbach Bodenstein und Pia nicht lange warten.
»Was macht Ihr Kopf?«, erkundigte sie sich freundlich.
»Keine Probleme.« Bodenstein berührte wie im Reflex das Pflaster an seiner Stirn. »Ein bisschen Kopfschmerzen, sonst nichts.«
»Wenn Sie wollen, schaue ich es mir noch einmal an.«
»Das ist nicht nötig. Wir möchten Sie auch nicht lange aufhalten.«
»Na gut. Sie wissen ja, wo Sie mich finden.«
Bodenstein nickte lächelnd. Vielleicht sollte er wirklich seinen Hausarzt wechseln. Daniela Lauterbach unterschrieb rasch drei Rezepte, die ihre Sprechstundenhilfe auf den Empfangstresen gelegt hatte, dann führte sie Bodenstein und Pia in ihr Büro. Der Parkettfußboden knarrte unter ihren Schritten. Mit einer Geste bot die Ärztin ihnen die Besucherstühle an.
»Es geht um Thies Terlinden.« Bodenstein setzte sich, aber Pia blieb stehen.
Daniela Lauterbach nahm hinter ihrem Schreibtisch Platz und blickte ihn aufmerksam an. »Was möchten Sie über ihn wissen?«
»Seine Mutter sagte uns, er habe einen Anfall gehabt und sei nun in der Psychiatrie.«
»Das ist richtig«, bestätigte die Ärztin. »Viel mehr kann ich Ihnen darüber aber auch nicht sagen. Sie wissen ja, die Schweigepflicht. Thies ist mein Patient.«
»Man hat uns erzählt, dass Thies Amelie in der Vergangenheit verfolgt hat«, meldete sich Pia aus dem Hintergrund.
»Er hat sie nicht verfolgt, sondern begleitet«, korrigierte die Ärztin. »Thies mag Amelie sehr gerne, und das ist seine Art, Zuneigung zu zeigen. Amelie hat das übrigens von Anfang an richtig einschätzen können. Sie ist ein sehr sensibles Mädchen, trotz ihres etwas ungewöhnlichen Äußeren. Ein Glücksfall für Thies.«
»Thies' Vater hat nach einer Auseinandersetzung mit seinem Sohn blutige Kratzer an den Händen davongetragen«, sagte Pia. »Neigt Thies zu Gewalttätigkeiten?«
Daniela Lauterbach lächelte ein wenig bekümmert. »Da nähern wir uns schon sehr dem Gebiet, über das ich mit Ihnen eigentlich nicht sprechen darf«, entgegnete sie. »Aber ich vermute, dass Sie Thies im Verdacht haben, Amelie etwas angetan zu haben. Das halte ich für ausgeschlossen. Thies ist Autist und verhält sich anders als ein ›normaler‹ Mensch. Er ist nicht fähig, seine Gefühle zu zeigen oder gar zu äußern. Hin und wieder hat er diese … Ausbrüche, aber sehr, sehr selten. Seine Eltern kümmern sich großartig um ihn, und er verträgt die Medikamente, die er seit vielen Jahren bekommt, sehr gut.«
»Würden Sie Thies als geistig behindert bezeichnen?«
»Auf gar keinen Fall!« Daniela Lauterbach schüttelte heftig den Kopf. »Thies ist hochintelligent und hat eine außergewöhnliche Begabung für die Malerei.«
Sie wies auf die abstrakten großformatigen Bilder, die so ähnlich auch im Haus und im Büro von Terlinden an den Wänden hingen.
»Das hat Thies gemalt?« Pia schaute erstaunt die Bilder an. Auf den ersten Blick hatte sie es nicht wahrgenommen, aber nun erkannte sie, was sie darstellten. Sie schauderte, als sie menschliche Gesichter erkannte, verzerrt, verzweifelt, die Augen voll Qual, Angst und Entsetzen. Die Intensität dieser Bilder war beklemmend. Wie konnte man diese Gesichter tagtäglich ertragen?
»Im vergangenen Sommer hat mein Mann eine Ausstellung für ihn organisiert, in Wiesbaden. Sie war ein sensationeller Erfolg, alle 43 Bilder wurden verkauft.«
Das klang stolz. Daniela Lauterbach mochte den Sohn der Nachbarn, schien aber dennoch genügend professionelle Distanz zu haben, um ihn und sein Verhalten sachlich einzuschätzen.
»Claudius Terlinden hat die Familie Sartorius in den Jahren nach Tobias' Verurteilung großzügig unterstützt«, meldete sich nun Bodenstein zu Wort. »Er hat Tobias damals sogar einen Anwalt besorgt, einen sehr guten. Halten Sie es für möglich, dass er dies getan hat, weil er ein schlechtes Gewissen hatte?«
»Wieso sollte er?« Daniela Lauterbach hörte auf zu lächeln.
»Vielleicht weil er wusste, dass Thies damals etwas mit dem Verschwinden der Mädchen zu tun gehabt hatte.«
Für einen Moment war es ganz still, gedämpft klang das unablässige Läuten des Telefons durch die geschlossene Tür.
Die Ärztin runzelte die Stirn. »So habe ich das noch nie gesehen«, räumte sie nachdenklich ein. »Tatsache ist, dass Thies damals in Stefanie Schneeberger ganz vernarrt war. Er hat viel Zeit mit dem Mädchen verbracht, so wie heute mit Amelie …«
Sie brach ab, als sie begriff, worauf Bodenstein hinauswollte. Ihr fragender Blick suchte seinen. »Großer Gott!«, sagte sie bestürzt. »Nein, nein, das kann ich nicht glauben!«
»Wir müssen wirklich sehr dringend mit Thies sprechen«, sagte Pia nachdrücklich. »Es ist eine Spur, die uns zu Amelie führen könnte.«
»Das verstehe ich. Aber es ist schwierig. Da ich befürchten musste, dass er sich in seinem Zustand selbst Schaden zufügen könnte, blieb mir nichts anderes übrig, als ihn in die geschlossene Psychiatrie zu überweisen.« Daniela Lauterbach legte die Handflächen aneinander und klopfte sich mit den Zeigefingern nachdenklich gegen die geschürzten Lippen. »Es liegt nicht in meiner Macht, Ihnen ein Gespräch mit Thies zu ermöglichen.«
»Aber falls Thies Amelie in seine Gewalt gebracht hat, schwebt sie in größter Gefahr!«, gab Pia zu bedenken. »Vielleicht hat er sie irgendwo eingesperrt, und sie kann sich nicht selbst befreien.«
Die Ärztin blickte Pia an. Ihre Augen waren dunkel vor Sorge.
»Sie haben recht«, sagte sie dann mit Entschlossenheit. »Ich rufe den Chefarzt der Psychiatrie in Bad Soden an.«
»Ach, noch etwas«, ergänzte Pia, als wäre es ihr gerade erst eingefallen. »Tobias Sartorius sagte uns, Amelie habe Ihren Mann im Zusammenhang mit den Ereignissen von 1997 erwähnt. Es ging damals wohl das Gerücht, Ihr Mann habe Stefanie Schneeberger die Hauptrolle in diesem Theaterstück gegeben, weil er dem Mädchen sehr zugetan war.«
Daniela Lauterbach hatte schon die Hand nach dem Telefonhörer ausgestreckt, ließ sie aber wieder sinken.
»Tobias hat damals jeden beschuldigt«, erwiderte sie. »Er wollte seinen Kopf aus der Schlinge ziehen, was ja durchaus verständlich ist. Aber alle Verdächtigungen gegen Dritte wurden im Laufe der Ermittlungen restlos ausgeräumt. Fakt ist, dass mein Mann als Leiter der Theater AG damals absolut begeistert von Stefanies Talent war. Dazu kam ihr Aussehen: Sie war einfach die Idealbesetzung für Schneewittchen.«
Sie legte ihre Hand wieder auf den Telefonhörer.
»Um wie viel Uhr haben Sie am Samstag den Ebony Club in Frankfurt verlassen?«, fragte nun Bodenstein. »Können Sie sich daran erinnern?«
Ein Ausdruck der Verwirrung flog über das Gesicht der Ärztin. »Ja, ich kann mich sogar ganz genau erinnern«, antwortete sie. »Es war halb zehn.«
»Und Sie sind dann alle gemeinsam mit Claudius Terlinden nach Altenhain zurückgefahren?«
»Nein. Ich hatte an dem Abend Bereitschaft, deshalb war ich mit meinem eigenen Auto dort. Um halb zehn wurde ich zu einem Notfall nach Königstein gerufen.«
»Aha. Und Terlindens und Ihr Mann? Wann sind die gefahren?«
»Christine fuhr mit mir. Sie machte sich Sorgen um Thies, er lag mit einer schlimmen Grippe im Bett. Ich habe sie unten an der Bushaltestelle abgesetzt und bin dann weiter nach Königstein gefahren. Als ich um zwei Uhr nach Hause kam, schlief mein Mann schon.«
Bodenstein und Pia wechselten einen raschen Blick. Über den Verlauf des Samstagabends hatte Claudius Terlinden also ordentlich gelogen. Nur warum?
»Als Sie von Ihrem Notfall kamen, sind Sie aber auch nicht direkt nach Hause gefahren, oder?«, forschte Bodenstein. Die Frage überraschte Daniela Lauterbach nicht.
»Nein. Es war kurz nach eins, als ich aus Königstein kam.« Sie seufzte. »Ich sah einen Mann auf der Bank an der Bushaltestelle liegen und hielt an. Da erst erkannte ich, um wen es sich handelte.« Sie schüttelte langsam den Kopf, ihre dunklen Augen waren voller Mitgefühl. »Tobias war sturzbetrunken und schon völlig unterkühlt. Er hatte sich übergeben, war ohne Bewusstsein. Es dauerte zehn Minuten, bis ich ihn im Auto hatte. Hartmut und ich haben ihn dann auf sein Zimmer und ins Bett gebracht.«
»Hat er irgendetwas zu Ihnen gesagt?«, wollte Pia wissen.
»Nein«, antwortete die Ärztin. »Er war gar nicht ansprechbar. Zuerst hatte ich auch überlegt, den Notarzt zu rufen und ihn ins Krankenhaus bringen zu lassen, aber ich wusste, dass er das auf gar keinen Fall gewollt hätte.«
»Woher?«
»Ich hatte ihn ja nur ein paar Tage vorher behandelt, als man ihn in der Scheune überfallen und zusammengeschlagen hat.« Sie beugte sich vor und sah Bodenstein so eindringlich an, dass ihm heiß wurde. »Er kann einem wirklich leidtun, egal, was er getan hat. Die anderen mögen sagen, zehn Jahre Gefängnis wären zu wenig gewesen. Ich denke, Tobias ist für den Rest seines Lebens bestraft.«
»Es gibt Hinweise darauf, dass er etwas mit Amelies Verschwinden zu tun haben könnte«, sagte Bodenstein. »Sie kennen ihn besser als viele andere. Halten Sie das für möglich?«
Daniela Lauterbach lehnte sich in ihrem Sessel zurück und schwieg eine volle Minute, ohne ihren Blick von Bodenstein zu wenden.
»Ich wünschte«, sagte sie schließlich, »ich könnte jetzt voller Überzeugung ›Nein‹ sagen. Aber das kann ich leider nicht.«
Sie zerrte sich die Kurzhaarperücke vom Kopf, ließ sie achtlos auf den Boden fallen. Ihre Finger zitterten zu sehr, um das rote Band, das die Rolle zusammenhielt, aufzuknoten, deshalb ergriff sie ungeduldig eine Schere und schnitt es durch. Mit klopfendem Herzen rollte sie die Bilder auf ihrem Schreibtisch auseinander. Acht Stück waren es, und ihr verschlug es den Atem, als sie mit Entsetzen erkannte, was darauf zu sehen war. Dieser elende Mistkerl hatte die Ereignisse des 6. September 1997 mit wahrhaft fotografischer Präzision auf Leinwand gebannt, kein noch so kleines Detail war ihm entgangen. Sogar der alberne Schriftzug und das stilisierte Schweinchen auf den dunkelgrünen T-Shirts waren deutlich zu erkennen! Sie biss sich auf die Lippen, das Blut rauschte in ihren Ohren. Die Erinnerung war schlagartig wieder lebendig. Das demütigende Gefühl der Niederlage ebenso wie die wilde Genugtuung beim Anblick von Laura, die endlich das bekam, was sie verdiente, dieses verdammte überhebliche Flittchen! Sie zog die anderen Bilder hervor, glättete sie mit beiden Händen. Nackte Panik ergriff sie, genau wie damals. Unglaube, Fassungslosigkeit, kalter Zorn. Sie richtete sich auf und zwang sich, tief durchzuatmen. Dreimal, viermal. Ganz ruhig. Nachdenken. Das hier war keine Katastrophe, es war der absolute Super-GAU. Es konnte ihre sorgfältige Planung vollkommen zerstören, und das durfte sie nicht zulassen! Mit zittrigen Fingern zündete sie sich eine Zigarette an. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, hätten die Bullen diese Bilder in die Hände bekommen! Ihr war ganz flau im Magen. Was sollte sie jetzt tun? Waren das wirklich alle Bilder, oder hatte Thies noch andere gemalt? Sie durfte kein Risiko eingehen, zu viel stand auf dem Spiel. Mit hastigen Zügen rauchte sie die Zigarette bis zum Filter, dann wusste sie, was zu tun war. Sie hatte schon immer alle Entscheidungen allein treffen müssen. Mit grimmiger Entschlossenheit ergriff sie die Schere und schnitt die Bilder, eines nach dem anderen, in kleine Stücke. Dann ließ sie alles durch den Reißwolf laufen, nahm den Sack mit den Papierschnipseln heraus und schnappte ihre Tasche. Nur jetzt nicht die Nerven verlieren, dann würde alles gutgehen.
Kriminaloberkommissar Kai Ostermann musste sich niedergeschlagen eingestehen, dass die Geheimschrift in Amelies Tagebuch für ihn ein unlösbares Rätsel war. Zuerst hatte er gedacht, es sei ein Leichtes, die Hieroglyphen zu entziffern, aber nun war er nahe daran, aufzugeben. Er erkannte einfach kein System. Offenbar hatte sie für die gleichen Buchstaben verschiedene Symbole benutzt, das machte es ihm so gut wie unmöglich, den Code zu knacken. Behnke kam zur Tür herein.
»Und?«, fragte Ostermann. Bodenstein hatte es Behnke überlassen, Claudius Terlinden zu vernehmen, der seit dem Morgen in einer der Arrestzellen saß.
»Sagt keinen Ton, das arrogante Schwein.« Behnke ließ sich frustriert auf den Stuhl hinter seinem Schreibtisch fallen und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Der Chef hat gut reden! Ich soll den Kerl mit irgendetwas festnageln – ja, aber mit was denn? Ich hab versucht, ihn zu provozieren, ich war freundlich, ich hab ihm gedroht – er sitzt nur da und lächelt! Am liebsten hätte ich ihm in die Fresse geschlagen!«
»Das würde noch fehlen.« Ostermann warf seinem Kollegen einen raschen Blick zu. Sofort geriet Behnke in Harnisch.
»Du musst mich nicht dran erinnern, dass ich in der Scheiße sitze!«, blaffte er und schlug mit der Faust so heftig auf die Schreibtischplatte, dass die Tastatur einen Satz machte. »Ich glaube allmählich, der Alte will mich hier rausmobben, damit ich von selbst gehe!«
»So 'n Quatsch. Außerdem hat er dir nicht gesagt, dass du ihn festnageln, sondern nur etwas mürbe machen sollst.«
»Genau. Bis er mit seiner Kronprinzessin daherspaziert kommt und ein leichtes Spiel hat!« Behnke war zornrot im Gesicht. »Ich darf nur noch die Drecksarbeit machen.«
Ostermann hatte fast Mitleid mit Behnke. Er kannte ihn von der Polizeischule, sie waren zusammen Streife gefahren und zum SEK gegangen, bis Ostermann bei einem Einsatz seinen Unterschenkel verloren hatte. Behnke war noch ein paar Jahre beim SEK gewesen, dann war er zur Kripo nach Frankfurt gewechselt und dort gleich beim Kn, in der Königsklasse, gelandet. Er war ein guter Polizist. Gewesen. Seitdem in seinem Privatleben alles schieflief, litt auch seine Arbeit. Behnke stützte den Kopf in die Hände und verfiel in dumpfes Brüten.
Da flog die Tür auf. Kathrin Fachinger marschierte herein, ihre Wangen glühten vor Zorn.
»Sag mal, hast du sie noch alle?«, fuhr sie ihren Kollegen an. »Lässt mich einfach mit dem Kerl alleine und haust ab! Was soll denn das?«
»Du kannst doch eh alles besser als ich!«, entgegnete Behnke sarkastisch. Ostermann blickte zwischen den beiden Streithähnen hin und her.
»Wir hatten eine Strategie«, erinnerte Kathrin ihren Kollegen. »Und dann rauschst du einfach ab. Aber stell dir vor, mit mir hat er geredet.« Ihre Stimme bekam einen triumphierenden Unterton.
»Na toll! Dann renn doch zum Chef und erzähl es ihm, du blöde Kuh!«
»Was hast du gesagt?« Kathrin baute sich vor ihm auf und stemmte die Arme in die Seiten.
»Blöde Kuh, hab ich gesagt!«, wiederholte Behnke laut. »Und ich sag's dir noch deutlicher: Du bist eine hinterhältige, egoistische kleine Zicke! Du hast mich angeschwärzt, und das vergesse ich dir nicht!«
»Frank!«, rief Ostermann und stand auf.
»Drohst du mir etwa?« Kathrin ließ sich nicht einschüchtern. Sie lachte geringschätzig. »Ich hab keine Angst vor dir, du … du Großmaul! Du kannst doch nur blöde Sprüche klopfen und anderen die Arbeit überlassen! Kein Wunder, dass deine Frau das Weite gesucht hat. Wer will schon mit einem wie dir verheiratet sein?«
Behnke lief dunkelrot an. Er ballte die Fäuste. »Leute!«, mahnte Ostermann besorgt. »Bleibt doch cool!«
Es war zu spät. Behnkes lang aufgestauter Zorn gegen die jüngere Kollegin entlud sich explosionsartig. Er sprang auf, stieß seinen Stuhl um und versetzte Kathrin einen derben Stoß. Sie krachte gegen den Schrank, ihre Brille flog auf den Boden. Behnke trat mit voller Absicht darauf, knirschend zersplitterten die Gläser unter dem Absatz seines Schuhs. Kathrin kam auf die Füße.
»So«, sagte sie und grinste kalt. »Das war's hier für dich, Herr Kollege.«
Da rastete Behnke vollends aus. Bevor Ostermann ihn daran hindern konnte, ging er auf Kathrin los, traf sie mit der Faust mitten im Gesicht. Reflexartig riss sie ihr Bein hoch und rammte ihm ihr Knie in die Genitalien. Mit einem erstickten Schmerzenslaut ging Behnke zu Boden. Im selben Moment ging die Tür auf, und Bodenstein erschien im Türrahmen. Sein Blick flog von Kathrin Fachinger zu Behnke.
»Kann mir bitte jemand erklären, was hier los ist?«, fragte er mit mühsam beherrschter Stimme.
»Er hat mich angegriffen und mir die Brille aus dem Gesicht geschlagen«, erwiderte Kathrin Fachinger und deutete auf das zertretene Brillengestell. »Ich hab mich nur gewehrt.«
»Stimmt das?« Bodenstein sah Ostermann an, der hilflos die Hände hob und nach einem kurzen Blick auf den am Boden kauernden Kollegen nickte.
»Okay«, sagte Bodenstein. »Mir reicht es jetzt mit diesem Kindergarten. Behnke, stehen Sie auf.«
Frank Behnke gehorchte. Sein Gesicht war vor Schmerz und Hass verzerrt. Er öffnete den Mund, aber Bodenstein ließ ihn nicht zu Wort kommen.
»Ich dachte, Sie hätten verstanden, was Frau Dr. Engel und ich Ihnen gesagt haben«, sagte er eisig. »Sie sind mit sofortiger Wirkung vom Dienst suspendiert!«
Behnke starrte ihn stumm an, dann ging er zu seinem Schreibtisch, schnappte die Jacke, die er über die Lehne seines Stuhles gehängt hatte.
»Die Marke und Ihre Dienstwaffe lassen Sie hier«, befahl Bodenstein.
Behnke schnallte die Waffe ab, warf sie und die Marke achtlos auf den Schreibtisch.
»Ihr könnt mich alle mal am Arsch lecken«, stieß er hervor, drängte sich an Bodenstein vorbei und verschwand. Für einen Moment herrschte völlige Stille.
»Was hat die Vernehmung von Terlinden ergeben?«, wandte Bodenstein sich an Kathrin Fachinger, als sei nichts geschehen.
»Ihm gehört der Ebony Club in Frankfurt«, erwiderte sie. »Genauso wie das Schwarze Ross und das andere Restaurant, von dem Andreas Jagielski Geschäftsführer ist.«
»Und? Was noch?«
»Mehr war nicht aus ihm herauszubekommen. Aber ich finde, das erklärt einiges.«
»Ach? Was denn?«
»Claudius Terlinden hätte Hartmut Sartorius nicht finanziell unterstützen müssen, hätte er ihm nicht selbst mit der Eröffnung vom Schwarzen Ross die Existenz zerstört«, entgegnete Kathrin. »Meiner Meinung nach ist er alles andere als ein barmherziger Samariter. Er hat Sartorius zuerst ruiniert, dann aber verhindert, dass er den Hof verliert und Altenhain verlässt. Garantiert hat er in dem Dorf noch mehr Leute in der Hand, zum Beispiel diesen Jagielski, den er zum Geschäftsführer seiner Restaurants gemacht hat. Es erinnert mich ein bisschen an die Mafia: Er beschützt sie, und dafür halten sie den Mund.«
Bodenstein blickte seine jüngste Mitarbeiterin an und runzelte nachdenklich die Stirn. Dann nickte er.
»Gut gemacht«, sagte er anerkennend. »Sehr gut.«
Tobias sprang wie elektrisiert von der Couch auf, als sich die Wohnungstür öffnete. Nadja kam herein, in der einen Hand hielt sie eine Plastiktüte, mit der anderen versuchte sie, ihren Mantel auszuziehen.
»Und?« Tobias half ihr aus dem Mantel und hängte ihn an die Garderobe. »Hast du etwas gefunden?« Nach Stunden des Wartens und der Anspannung konnte er seine Neugier kaum mehr bezähmen.
Nadja ging in die Küche, stellte die Tüte auf den Tisch und setzte sich auf einen Stuhl.
»Nichts.« Sie schüttelte müde den Kopf, löste ihren Pferdeschwanz und fuhr sich mit der Hand durch das offene Haar. »Ich habe das ganze verdammte Haus abgesucht. Allmählich glaube ich, diese Bilder waren nur eine Erfindung von Amelie.«
Tobias starrte sie an. Die Enttäuschung war bodenlos.
»Das kann doch nicht sein!«, widersprach er heftig. »Wieso sollte sie sich so etwas ausdenken?«
»Keine Ahnung. Vielleicht wollte sie sich wichtigtun«, antwortete Nadja achselzuckend. Sie sah erschöpft aus, unter ihren Augen lagen dunkle Schatten. Die ganze Situation schien ihr ebenso an die Nieren zu gehen wie ihm selbst.
»Lass uns erst mal essen«, sagte sie und langte nach der Tüte. »Ich hab uns was vom Chinesen mitgebracht.«
Obwohl Tobias den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte, lockte ihn der appetitliche Duft, der den Pappboxen entströmte, überhaupt nicht. Wie konnte er jetzt an Essen denken? Amelie hatte sich das mit den Bildern nicht ausgedacht – nie und nimmer! Sie war nicht der Typ Mädchen, der sich wichtigmachen wollte, da lag Nadja völlig falsch. Schweigend sah er zu, wie sie eine Pappschachtel öffnete, die Holzstäbchen auseinanderbrach und zu essen begann.
»Die Polizei sucht nach mir«, sagte er.
»Das weiß ich«, erwiderte sie mit vollem Mund. »Ich tue ja auch alles, um dir zu helfen.«
Tobias biss sich auf die Lippen. Verdammt, er konnte Nadja wirklich keine Vorwürfe machen. Aber es machte ihn schier verrückt, so zur Tatenlosigkeit verdammt zu sein. Am liebsten wäre er losgegangen, um Amelie auf eigene Faust zu suchen. Nur würde man ihn auf der Stelle verhaften, sobald er einen Fuß vor die Tür setzte. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich in Geduld zu üben und Nadja zu vertrauen.
Bodenstein hielt auf der gegenüberliegenden Straßenseite an, stellte den Motor ab und blieb hinter dem Steuer sitzen. Von hier aus konnte er Cosima durch das hell erleuchtete Küchenfenster beobachten, wie sie geschäftig hin und her ging. Er hatte noch eine Besprechung mit Dr. Engel gehabt, wegen Behnke. Der Vorfall hatte sich natürlich wie ein Lauffeuer im ganzen Kommissariat herumgesprochen. Nicola Engel hatte die Suspendierung Behnkes gutgeheißen, aber nun hatte Bodenstein ein ernsthaftes Personalproblem. Nicht nur Behnke, sondern auch Hasse fehlte.
Auf der Fahrt nach Hause hatte Bodenstein darüber nachgegrübelt, wie er sich Cosima gegenüber verhalten sollte. Stumm seine Sachen packen und verschwinden? Nein, er musste die Wahrheit aus ihrem Mund hören. Er empfand keinen Zorn, nur das ganz und gar elende Gefühl bodenloser Enttäuschung. Nach Minuten des Zögerns stieg er aus und überquerte langsam die regennasse Straße. Das Haus, das Cosima und er damals zusammen gebaut hatten, in dem er zwanzig Jahre gewohnt hatte und glücklich gewesen war, in dem er jeden Winkel kannte, erschien ihm plötzlich fremd. Jeden Abend hatte er sich gefreut, nach Hause zu kommen. Er hatte sich auf Cosima gefreut und auf die Kinder, auf den Hund und auf die Gartenarbeit im Sommer, aber jetzt graute ihm davor, die Haustür aufzuschließen. Wie lange schon lag Cosima nachts neben ihm im Bett und sehnte sich insgeheim nach einem anderen Mann, der sie streichelte und küsste und mit ihr schlief? Hätte er Cosima nur heute nicht mit diesem Kerl gesehen! Aber es war passiert, und nun schrie alles in seinem Innern Warum? Seit wann? Wie? Wo?
Niemals hätte er geglaubt, dass er einmal in eine solche Situation geraten würde. Seine Ehe war gut gewesen, bis … ja, bis Sophia auf die Welt gekommen war. Danach hatte sich Cosima verändert. Sie war schon immer rastlos gewesen, ihre Expeditionen in ferne Länder hatten aber ihre Sehnsucht nach Freiheit und Abenteuer so weit befriedigt, dass sie in den restlichen Monaten den Alltag ertragen konnte. Er hatte das gewusst und ihre Reisen klaglos akzeptiert, obwohl er die langen Trennungen immer gehasst hatte. Seit Sophia auf der Welt war, seit knapp zwei Jahren also, war Cosima zu Hause. Sie hatte ihn nie spüren lassen, dass sie unzufrieden war. Aber rückblickend erkannte er die Veränderungen. Früher hatten sie nie gestritten, jetzt taten sie es häufig. Es ging immer nur um Kleinigkeiten. Sie machten sich gegenseitig Vorwürfe, kritisierten auf einmal die Marotten des anderen. Bodenstein stand mit gezücktem Schlüssel vor seiner Haustür, als plötzlich und unerwartet der Zorn in ihm aufflammte. Wochenlang hatte sie ihm damals ihre Schwangerschaft verheimlicht. Sie hatte sich ganz allein für das Kind entschieden, ihn vor vollendete Tatsachen gestellt. Dabei hatte ihr klar sein müssen, dass mit einem Baby mit ihrem Zigeunerleben wenigstens für eine Weile Schluss sein würde.
Er schloss die Tür auf. Der Hund sprang aus seinem Korb und begrüßte ihn erfreut. Als Cosima in der Küchentür erschien, sackte Bodenstein das Herz in die Kniekehlen.
»Hallo.« Sie lächelte. »Du bist spät dran heute. Hast du schon gegessen?«
Da stand sie, in demselben seladongrünen Kaschmirpullover, den sie auch heute Mittag im Ebony Club getragen hatte, und sah aus wie immer.
»Nein«, erwiderte er. »Ich habe keinen Hunger.«
»Falls doch, ich hab noch Frikadellen und Nudelsalat im Kühlschrank.«
Sie wandte sich ab, wollte zurück in die Küche gehen.
»Du warst heute nicht in Mainz«, sagte er. Cosima blieb stehen und drehte sich um. Er wollte nicht, dass sie ihn anlog, deshalb sprach er weiter, bevor sie etwas sagen konnte. »Ich habe dich heute Mittag im Ebony Club gesehen. Mit Alexander Gavrilow. Streite es bitte nicht ab.«
Sie verschränkte die Arme, blickte ihn an. Es war ganz still, der Hund spürte die plötzliche Spannung und verschwand lautlos in seinem Korb.
»Du bist in den letzten Wochen fast nie in Mainz gewesen«, fuhr Bodenstein fort. »Vor ein paar Tagen kam ich aus der Rechtsmedizin, da bist du zufällig vor mir hergefahren. Ich habe dich angerufen und gesehen, wie du das Telefon abgenommen hast. Und da hast du behauptet, du seiest noch in Mainz.«
Er verstummte. Hoffte noch immer in einem Winkel seines Herzens, dass sie ihm lachend eine völlig harmlose Erklärung bieten würde. Aber sie lachte nicht, stritt nichts ab. Stand einfach da mit verschränkten Armen. Keine Spur von Schuld-bewusstsein.
»Sei bitte ehrlich zu mir, Cosima.« Seine Stimme hörte sich in seinen Ohren kläglich an. »Hast du … hast du … ein Verhältnis mit Gavrilow?«
»Ja«, erwiderte sie ruhig.
Die Welt stürzte für ihn ein, aber es gelang Bodenstein, äußerlich ebenso ruhig zu bleiben wie Cosima. »Warum?«, fragte er nur selbstquälerisch. »Ach, Oliver. Was willst du denn jetzt von mir hören?«
»Am liebsten die Wahrheit.«
»Ich habe ihn im Sommer zufällig auf einer Vernissage in Wiesbaden getroffen. Er hat ein Büro in Frankfurt, plant ein neues Projekt und sucht dafür Sponsoren. Wir haben ein paarmal telefoniert. Er hatte die Idee, ich könnte einen Film über seine Expedition machen. Ich wusste, dass dir das nicht gefallen würde, und wollte mir erst einmal anhören, was er für Vorstellungen hat. Deshalb habe ich dir nicht erzählt, dass ich mich mit ihm getroffen habe. Na ja. Und irgendwann ist es einfach … passiert. Ich dachte, es wäre ein Ausrutscher, aber dann …« Sie brach ab, schüttelte den Kopf.
Unfassbar, dass sie einen anderen Mann hatte treffen und mit ihm ein Verhältnis beginnen konnte, ohne dass er etwas davon geahnt hatte. War er zu blöd, zu vertrauensselig gewesen oder zu sehr mit sich selbst beschäftigt? Ihm fiel der Text eines Liedes ein, mit dem Rosalie in ihrer schlimmsten Pubertätsphase unablässig das ganze Haus beschallt hatte. Was bat er, was ich nicht habe? Sag mir ehrlich, was es ist. Jetzt ist es zwar zu spät, aber was hast du vermisst? So ein bescheuertes Lied – und jetzt auf einmal enthielt es so viel Wahrheit. Bodenstein ließ Cosima stehen, ging die Treppe hoch ins Schlafzimmer. Noch eine Minute länger, dann wäre er explodiert, hätte ihr ins Gesicht gebrüllt, was er von Abenteurern wie Gavrilow hielt, die mit verheirateten Müttern kleiner Kinder eine Affäre anfingen. Wahrscheinlich hatte er überall auf der Welt seine Liebschaften verteilt, dieser Windhund! Er öffnete sämtliche Kleiderschränke, zerrte eine Reisetasche aus einem der oberen Fächer, stopfte sie wahllos mit Unterwäsche, Hemden, Krawatten voll und warf zwei Anzüge obendrauf. Dann ging er ins Bad und packte seine persönlichen Dinge in einen Toilettenbeutel. Nur zehn Minuten später schleppte er die Reisetasche die Treppe hinunter. Cosima stand noch an derselben Stelle wie vorhin.
»Wo gehst du hin?«, fragte sie leise.
»Weg«, erwiderte er, ohne sie anzusehen, öffnete die Haustür und trat hinaus in die Nacht.