Freitag, 7. November 2008
Tobias schlug die Augen auf und war für einen Augenblick verwirrt. Statt der weiß getünchten Decke seiner Zelle strahlte ihm Pamela Anderson von einem Poster entgegen. Erst da begriff er, dass er sich nicht mehr im Knast, sondern in seinem alten Zimmer im Haus seiner Eltern befand. Ohne sich zu regen lag er da und lauschte auf die Geräusche, die durch das schräggestellte Fenster drangen. Sechs Schläge der Kirchturmglocke verkündeten die frühe Uhrzeit, irgendwo bellte ein Hund, ein anderer fiel ein, dann verstummten beide wieder. Das Zimmer war unverändert: der Schreibtisch und das Bücherregal aus billigem Furnierholz, der Schrank mit der schiefen Tür. Die Poster von Eintracht Frankfurt, Pamela Anderson und Damon Hill im Williams Renault, der 1996 die Formel-1-Weltmeisterschaft gewonnen hatte. Die kleine Stereoanlage, die er im März 1997 von seinen Eltern bekommen hatte. Das rote Sofa, auf dem er … Tobias richtete sich auf und schüttelte unwillig den Kopf. Im Gefängnis hatte er seine Gedanken besser unter Kontrolle gehabt. Jetzt holten ihn die quälenden Überlegungen ein: Was wäre damals geschehen, wenn Stefanie nicht an jenem Abend mit ihm Schluss gemacht hätte? Würde sie heute noch leben? Er wusste, was er getan hatte. Das hatten sie ihm schließlich hunderte Male erklärt – erst die Polizei, dann sein Anwalt, der Staatsanwalt und die Richterin. Es war schlüssig gewesen, es gab Indizien, es gab Zeugen, es gab das Blut in seinem Zimmer, an seiner Kleidung, in seinem Auto. Und doch fehlten in seiner Erinnerung volle zwei Stunden. Bis heute war da nichts als ein schwarzes Loch.
Er konnte sich genau an den 6. September 1997 erinnern. Der geplante Kerbeumzug war ausgefallen, aus Pietät, denn in London wurde an jenem späten Vormittag Prinzessin Diana zu Grabe getragen. Die halbe Welt hatte vor den Fernsehern gesessen und dabei zugesehen, wie der Sarg mit Englands tödlich verunglückter Rose durch die Straßen der englischen Hauptstadt gefahren wurde. Die ganze Kerb hatte man in Altenhain dennoch nicht ausfallen lassen wollen. Wären sie doch nur besser abends alle zu Hause geblieben!
Tobias seufzte und drehte sich auf die Seite. Es war so still, dass er seinen Herzschlag hören konnte. Für einen Moment gab er sich der Illusion hin, er wäre wieder zwanzig und das alles nicht passiert. Sein Studienplatz wartete in München auf ihn. Mit seinem Notendurchschnitt von 1,1 beim Abitur hatte er ihn ohne Probleme bekommen. In die glücklichen Erinnerungen mischten sich wieder schmerzliche. Auf der ausgelassenen Abifeier auf dem Gartengrundstück eines Klassenkameraden in Schneidhain hatte er Stefanie das erste Mal geküsst. Laura war vor Zorn beinahe geplatzt und hatte sich vor seinen Augen Lars an den Hals geworfen, um ihn eifersüchtig zu machen. Aber wie hatte er noch an Laura denken können, wenn er Stefanie im Arm hielt! Sie war das erste Mädchen, um das er sich wirklich hatte bemühen müssen. Das war eine gänzlich neue Erfahrung für ihn gewesen, liefen ihm die Mädchen üblicherweise doch, sehr zum Missfallen seiner Kumpels, in Scharen nach. Wochenlang hatte er um Stefanie geworben, bis sie ihn endlich erhört hatte. Die folgenden vier Wochen waren die glücklichsten seines Lebens gewesen – bis zur Ernüchterung am 6. September. Stefanie war zur Miss Kerb gekürt worden, ein alberner Titel, auf den eigentlich seit Jahren Laura abonniert gewesen war. Diesmal hatte Stefanie sie ausgestochen. Er hatte mit Nathalie und ein paar anderen am Getränkeausschank im Zelt gearbeitet und beobachten müssen, wie Stefanie mit anderen Typen flirtete, bis sie plötzlich verschwunden war. Vielleicht hatte er da schon mehr getrunken als gut für ihn war. Nathalie hatte gemerkt, wie sehr er litt. Geh sie schon suchen, hatte sie zum ihm gesagt. Er war aus dem Zelt gerannt. Lange hatte er nicht suchen müssen, und als er sie gefunden hatte, war die Eifersucht wie eine Bombe in seinem Innern explodiert. Wie hatte sie ihm das antun, ihn so vor allen Leuten kränken und verletzen können? Alles nur wegen dieser dämlichen Hauptrolle in dem noch dämlicheren Theaterstück? Tobias warf die Decke zurück und sprang auf. Er musste etwas tun, arbeiten, sich irgendwie ablenken von diesen quälenden Erinnerungen.
Amelie ging mit gesenktem Kopf durch den feinen Nieselregen. Das Angebot ihrer Stiefmutter, sie zur Bushaltestelle zu fahren, hatte sie wie jeden Morgen abgelehnt, aber nun musste sie sich sputen, wenn sie den Schulbus nicht verpassen wollte. Der November zeigte sich von seiner unfreundlichsten Seite, neblig und regnerisch, aber Amelie hatte etwas für die düstere Trostlosigkeit dieses Monats übrig. Sie mochte den einsamen Fußmarsch durch das schlafende Dorf. Über die Ohrstöpsel ihres iPod dröhnte trommelfellzerfetzend laut Musik von den ›Schattenkindern‹, einer ihrer bevorzugten Dark-Wave-Gruppen. Die halbe Nacht hatte sie wach gelegen und über Tobias Sartorius und die ermordeten Mädchen nachgedacht. Laura Wagner und Stefanie Schneeberger waren damals siebzehn Jahre alt gewesen, genauso alt, wie sie jetzt war. Und sie wohnte ausgerechnet in dem Haus, in dem früher einmal eines der Mordopfer gelebt haben sollte. Sie musste unbedingt mehr über das Mädchen erfahren, das Thies »Schneewittchen« genannt hatte. Was war damals in Altenhain vorgefallen?
Ein Auto bremste neben ihr. Sicher ihre Stiefmutter, die sie mit enervierender Freundlichkeit an den Rand des Wahnsinns zu treiben vermochte. Aber dann erkannte Amelie Claudius Terlinden, den Chef ihres Vaters. Er hatte das Seitenfenster auf der Beifahrerseite heruntergelassen und machte ihr ein Zeichen, näher zu kommen. Amelie schaltete die Musik aus.
»Soll ich dich mitnehmen?«, fragte er. »Du wirst ja ganz nass!«
Der Regen störte Amelie eigentlich nicht, aber sie fuhr gerne in Terlindens Auto mit. Sie mochte den fetten, schwarzen Mercedes mit den hellen Ledersitzen, er roch noch ganz neu, und sie war fasziniert von den technischen Raffinessen, die Claudius Terlinden ihr nur zu gerne vorführte. Aus unerfindlichen Gründen konnte sie den Nachbarn gut leiden, obwohl er mit seinen teuren Anzügen, den dicken Autos und seiner protzigen Villa eigentlich der Prototyp des dekadenten Geldsacks war, den sie und ihre Kumpels zu Hause von Herzen verachtet hatten. Dazu kam noch etwas anderes. Manchmal fragte Amelie sich, ob sie noch ganz normal war, denn bei jedem männlichen Wesen, das einigermaßen freundlich zu ihr war, dachte sie in letzter Zeit sofort an Sex. Wie Herr Terlinden wohl reagieren würde, wenn sie ihm die Hand aufs Bein legte und ihm ein eindeutiges Angebot machte? Schon beim Gedanken daran stieg ein hysterisches Kichern in ihr auf, das sie nur mit Mühe unterdrücken konnte.
»Na, komm schon!«, rief er und winkte mit der Hand. »Steig ein!«
Amelie stopfte die Ohrstöpsel in ihre Jackentasche und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. Die schwere Tür der Luxuskarosse schloss sich mit einem satten Schmatzen. Terlinden fuhr die Waldstraße hinunter und lächelte Amelie an.
»Was ist mit dir?«, fragte er. »Du siehst so grüblerisch aus.«
Amelie zögerte einen Moment. »Darf ich Sie was fragen?«
»Natürlich. Nur zu.«
»Die beiden Mädchen, die damals verschwunden sind. Haben Sie die gekannt?«
Claudius Terlinden warf ihr einen raschen Blick zu. Er lächelte nicht mehr. »Wieso möchtest du das wissen?«
»Ich bin halt neugierig. Es wird so viel geredet, seit dieser Mann wieder da ist. Irgendwie finde ich es spannend.«
»Hm. Das war eine traurige Sache damals. Und ist es bis heute«, erwiderte Terlinden. »Natürlich habe ich die beiden Mädchen gekannt. Stefanie war ja die Tochter unserer Nachbarn. Und Laura kannte ich auch, seit ihrer Kindheit. Ihre Mutter hat bei uns als Haushälterin gearbeitet. Es ist einfach schrecklich für die Eltern, dass die Mädchen nie gefunden wurden.«
»Hm«, machte Amelie nachdenklich. »Hatten sie Spitznamen?«
»Wen meinst du?« Claudius Terlinden schien verwundert über diese Frage.
»Stefanie und Laura.«
»Das weiß ich nicht. Warum … ach, doch. Stefanie hatte einen Spitznamen. Die anderen Kinder nannten sie Schneewittchen.«
»Und wieso?«
»Vielleicht wegen ihres Nachnamens. Schneeberger.« Terlinden runzelte die Stirn und verlangsamte die Fahrt. Der Schulbus stand schon mit eingeschaltetem Warnblinker an der Haltestelle und wartete auf die wenigen Schüler, die er nach Königstein transportieren sollte.
»Ach nein«, erinnerte sich Claudius Terlinden dann. »Ich glaube, das hing mit diesem Theaterstück zusammen, das in der Schule aufgeführt werden sollte. Stefanie hatte die Hauptrolle bekommen. Sie sollte das Schneewittchen spielen.«
»Sollte?«, fragte Amelie neugierig nach. »Hat sie es nicht getan?«
»Nein. Sie wurde ja vorher … hm … sie verschwand vorher.«
Die Brotscheiben schnellten mit einem Klacken aus dem Toaster. Pia schmierte gesalzene Butter auf beide Seiten, dazu eine ordentliche Schicht Nutella und klappte die beiden Hälften zusammen. Sie war geradezu süchtig nach dieser eigenwilligen Kombination aus salzig und süß, genoss jeden Bissen und leckte die geschmolzene Butter-Nutella-Mischung von ihren Fingern, bevor sie auf die Zeitung tropfen konnte, die sie aufgeschlagen vor sich liegen hatte. Der gestrige Skelettfund vom alten Flugplatz wurde in einer fünfzeiligen Notiz erwähnt, dem 11. Prozesstag gegen Vera Kaltensee widmete die Frankfurter Neue Presse im Lokalteil vier Spalten. Heute um neun musste Pia vor dem Landgericht ihre Aussage über die Ereignisse in Polen vom letzten Sommer machen. Unwillkürlich wanderten ihre Gedanken zu Henning. Aus der einen Tasse Kaffee waren gestern drei geworden. Er hatte so offen mit ihr gesprochen wie in den ganzen sechzehn Jahren ihrer Ehe nicht, aber Pia hatte auch keine Lösung für sein Dilemma gewusst. Seit dem Abenteuer in Polen war er mit Pias bester Freundin Miriam Horowitz liiert, dennoch hatte er sich unter Umständen, auf die er zu ihrem Bedauern nicht näher eingegangen war, dazu hinreißen lassen, mit seiner glühenden Verehrerin, der Staatsanwältin Valerie Löblich, ins Bett zu steigen. Ein Ausrutscher, wie er versichert hatte, aber mit fatalen Folgen, denn die Löblich war jetzt schwanger. Henning war mit der Situation völlig überfordert und spielte mit dem Gedanken an Flucht in die USA. Schon seit Jahren lockte ihn die University of Tennessee mit einem sehr lukrativen und wissenschaftlich hochinteressanten Posten. Während Pia noch über Hennings Probleme nachsann und gleichzeitig überlegte, ob sie der ersten Kalorienbombe eine zweite folgen lassen sollte, kam Christoph aus dem Badezimmer und setzte sich ihr gegenüber an den Küchentisch. Sein Haar war noch feucht, und er duftete nach Rasierwasser.
»Meinst du, du schaffst es heute Abend?«, fragte er und goss sich einen Kaffee ein. »Annika würde sich freuen.«
»Wenn nichts dazwischenkommt, dürfte es kein Problem sein.« Pia gab der Versuchung nach und machte sich einen zweiten Toast. »Ich muss um neun bei Gericht eine Aussage machen, aber sonst haben wir nichts Dringendes.«
Christoph grinste belustigt über Nutella und Salzbutter und biss in sein vernünftig-gesundes Schwarzbrot mit Hüttenkäse. Noch immer verursachte sein Anblick ein warmes Kribbeln in ihrem Bauch. Es waren seine dunkelbraunen Toffifee-Augen, die sie bei ihrer allerersten Begegnung sofort in ihren Bann gezogen hatten und die bis heute nichts von ihrer Anziehungskraft verloren hatten. Christoph Sander war ein beeindruckender Mann, der seine Stärke nicht hervorkehren musste. Zwar besaß er nicht das kompromisslos gute Aussehen von Pias Chef, aber seine Gesichtszüge hatten etwas Bemerkenswertes, das Menschen dazu brachte, ein zweites Mal hinzuschauen. Es war vor allen Dingen sein Lächeln, das in seinen Augen anfing und dann über sein ganzes Gesicht wanderte, das in Pia jedes Mal das kaum zu unterdrückende Bedürfnis auslöste, sich in seine Arme zu werfen.
Christoph und sie hatten sich vor zwei Jahren kennengelernt, als die Ermittlungen in einem Mordfall Pia in den Kronberger Opelzoo geführt hatten. Christoph, der Zoodirektor, hatte ihr auf Anhieb gefallen – der erste Mann, für den sie seit ihrer Trennung von Henning überhaupt Augen hatte. Die Sympathie war gegenseitig gewesen. Dummerweise hatte Oliver von Bodenstein Christoph zunächst eine ganze Weile für höchst verdächtig gehalten. Nachdem der Fall gelöst und Christoph von jedem Verdacht reingewaschen war, hatte sich ihre Beziehung ziemlich schnell entwickelt, aus leidenschaftlicher Verliebtheit war Liebe geworden, und nun waren sie seit gut zwei Jahren ein Paar. Zwar hatte jeder seine eigene Wohnung behalten, aber das würde sich in Kürze ändern, denn Christophs drei Töchter, die er nach dem plötzlichen Tod seiner Frau vor siebzehn Jahren allein großgezogen hatte, wurden flügge: Andrea, die Älteste, arbeitete seit dem Frühjahr in Hamburg, Antonia, die Jüngste, lebte mehr oder weniger bei ihrem Freund Lukas, und nun wollte Annika mit ihrem Kind zu dessen Erzeuger nach Australien ziehen. Heute Abend gab sie im Hause ihres Vaters ihre Abschiedsparty, morgen ging das Flugzeug nach Sydney. Pia wusste, dass Christoph darüber alles andere als glücklich war. Er misstraute dem jungen Mann, der Annika vor vier Jahren schwanger hatte sitzenlassen. Zu dessen Verteidigung war allerdings vorzubringen, dass Annika ihm seinerzeit die Schwangerschaft verschwiegen und stattdessen mit ihm Schluss gemacht hatte. Nun hatte sich alles eingerenkt, Jared Gordon war mittlerweile promovierter Meeresbiologe und arbeitete auf einer Forschungsstation auf einer Insel im Great Barrier Reef; er war also quasi ein Berufskollege von Christoph, der seiner Tochter und ihrem Freund schließlich, wenn auch widerstrebend, seinen Segen gegeben hatte.
Da es für Pia nicht in Frage kam, den Birkenhof aufzugeben, hatte Christoph sein Haus in Bad Soden zum 1. Januar vermietet. Annikas Abschiedsparty heute Abend war auch Christophs Abschied von dem Haus, in dem er lange Jahre gelebt hatte. Die Kisten waren schon gepackt, die Möbelspedition für den nächsten Montag bestellt. Bis das Frankfurter Bauamt grünes Licht für den geplanten Um- und Ausbau von Pias kleinem Häuschen gab, sollten die größten Möbel vorübergehend eingelagert werden. Ja, Pia war ziemlich zufrieden mit der Entwicklung, die ihr Privatleben genommen hatte.
Tobias hatte alle Rollläden hochgezogen und bei Tageslicht den jämmerlichen Zustand des Hausinneren begutachtet. Sein Vater war zum Einkaufen losgezogen, und er hatte begonnen, die Fenster zu putzen. Gerade als er mit dem Fenster im Esszimmer beschäftigt war, kehrte sein Vater zurück und ging mit gesenktem Kopf stumm an ihm vorbei in die Küche. Tobias stieg von der Trittleiter und folgte ihm.
»Was ist passiert?« Sein Blick fiel auf den leeren Einkaufskorb.
»Sie hat mich nicht bedient«, antwortete Hartmut Sartorius leise. »Ist nicht so schlimm. Ich fahre zum Supermarkt nach Bad Soden runter.«
»Bis gestern hast du aber bei Richters eingekauft, oder nicht?«, wollte Tobias wissen. Sein Vater nickte leicht. Kurz entschlossen nahm Tobias seine Jacke von der Garderobe, ergriff den Korb, in dem das Portemonnaie seines Vaters lag, und verließ das Haus. Er zitterte innerlich vor Zorn. Richters waren früher einmal gute Freunde seiner Eltern gewesen, und heute warf diese dürre Krähe seinen Vater einfach aus dem Laden! Das würde er sich nicht gefallen lassen. Als er die Straße überqueren wollte, nahm er aus dem Augenwinkel etwas Rotes an der Fassade der Gaststätte wahr und wandte sich um. HIER WOHNT EIN MÖRDERSCHWEIN stand in roter Sprühfarbe an der Mauer des Gebäudes. Tobias starrte ein paar Sekunden stumm auf den hässlichen Schriftzug, der jedem Vorbeifahrenden sofort ins Auge fallen musste. Sein Herz hämmerte gegen seinen Brustkorb, und der Knoten in seinem Magen zog sich fester zusammen. Diese Schweine! Was wollten sie damit erreichen? Ihn aus seinem Elternhaus vertreiben? Würden sie es als Nächstes womöglich anzünden? Er zählte bis zehn, dann drehte er sich wieder um und ging schnurstracks über die Straße zu Richters Lebensmittelladen. Die versammelte Tratschweiber-Mafia hatte ihn durch die großen Fensterscheiben kommen sehen. Als die Türglocke schrillte, standen sie da wie in einem Theaterstück: Margot Richter thronte hinter der Kasse, drahtig und biestig, mit Eisen im Rückgrat wie eh und je. Dahinter hatte sich ihr vierschrötiger Mann aufgebaut, eher schutzsuchend als drohend. Tobias bedachte jede der anderen Anwesenden mit einem Blick. Er kannte sie alle, die Mütter seiner Freunde aus Kindertagen. Ganz vorne Inge Dombrowski, Friseurin und ungekrönte Königin der verleumderischen Andeutungen. Dahinter Gerda Pietsch mit ihrem Bulldoggengesicht, doppelt so dick wie früher, aber wahrscheinlich auch doppelt so spitzzüngig. Neben ihr Nadjas Mutter Agnes Unger, verhärmt und mittlerweile grauhaarig. Unglaublich, dass sie eine so schöne Tochter hervorgebracht hatte!
»Guten Morgen«, sagte er. Eisiges Schweigen schlug ihm entgegen. Aber es hinderte ihn auch niemand daran, durch die Regale zu gehen. Überlaut summten die Aggregate der Kühltheken in der angespannten Stille. Tobias lud in aller Seelenruhe in den Korb, was sein Vater auf dem Einkaufszettel notiert hatte. Als er an die Kasse trat, stand jeder noch wie eingefroren an seinem Platz. Äußerlich ungerührt legte Tobias die Waren auf das Förderband, doch Margot Richter hatte die Arme vor der Brust verschränkt und machte keine Anstalten, ihn abzukassieren. Die Glocke an der Ladentür klingelte, der ahnungslose Fahrer eines Paketdienstes kam herein. Er bemerkte die angespannte Stimmung und blieb zögernd stehen. Tobias wich keinen Millimeter zur Seite. Es war ein Kräftemessen, nicht nur zwischen ihm und Margot Richter, sondern zwischen ihm und ganz Altenhain.
»Jetzt lass ihn schon bezahlen.« Lutz Richter knickte nach wenigen Minuten ein. Zähneknirschend gehorchte seine Frau und tippte stumm Tobias' Einkauf in die Kasse.
»Zweiundvierzigsiebzig.«
Tobias gab ihr einen 50-Euro-Schein, sie reichte ihm das Wechselgeld widerwillig und ohne ein Wort der Höflichkeit. Ihr Blick hätte die Südsee einfrieren lassen, aber das kümmerte Tobias nicht. Im Knast hatte er andere Machtkämpfe ausgefochten und war oft genug Sieger geblieben.
»Ich habe meine Strafe abgesessen und bin wieder zurück.« Er schaute reihum in betretene Gesichter mit niedergeschlagenen Augen. »Ob es euch nun passt oder nicht.«
Pia kam gegen halb zwölf auf dem Kommissariat an, nachdem sie ihre Zeugenaussage im Prozess gegen Vera Kaltensee im Frankfurter Landgericht gemacht hatte. Da schon seit Wochen niemand das Verlangen verspürt hatte, auf zweifelhafte Art aus dem Leben zu scheiden, gab es beim K11 vergleichsweise wenig zu tun. Das Skelett aus dem Erdtank des Eschborner Flughafens war der einzige aktuelle Fall. Die Ergebnisse aus der Rechtsmedizin ließen noch auf sich warten, deshalb ging Kriminalkommissar Kai Ostermann ohne sonderliche Hektik die Vermisstenfälle der vergangenen Jahre durch. Unterstützung hatte er keine. Kollege Frank Behnke hatte am Montag für die ganze Woche einen gelben Schein abgegeben, bei einem Sturz vom Fahrrad hatte er sich angeblich Gesichtsverletzungen und Prellungen zugezogen. Dass KK Andreas Hasse ebenfalls krank war, erstaunte niemanden. Schon seit Jahren war er immer wieder für Wochen und Monate krankgeschrieben. Man hatte sich im K 11 darauf eingerichtet, auch ohne ihn zurechtzukommen, und er fehlte niemandem. Pia traf ihre jüngste Kollegin Kathrin Fachinger am Kaffeeautomat im Flur, wo sie ein Schwätzchen mit der Sekretärin von Kriminalrätin Dr. Nicola Engel hielt. Die Zeiten, in denen Kathrin mit Rüschenblusen und karierten Hosen herumzulaufen pflegte, waren vorüber. Ihre runde Eulenbrille hatte sie gegen ein modernes eckiges Modell getauscht, und seit neuestem trug sie knallenge Jeans, hochhackige Stiefel und knappe Pull-överchen, die ihre beneidenswert schlanke Figur perfekt zur Geltung brachten. Den Grund für diese Veränderung kannte Pia nicht, und wieder einmal fiel ihr auf, wie wenig sie über das Privatleben ihrer Kollegen wusste. Auf jeden Fall hatte das Küken der Abteilung deutlich an Selbstbewusstsein gewonnen.
»Pia! Warte mal!«, rief Kathrin, und Pia blieb stehen.
»Was gibt's?«
Kathrin blickte sich wie eine Verschwörerin auf dem Flur um.
»Ich war gestern Abend mit ein paar Freunden in Sachsenhausen«, sagte sie dann mit gesenkter Stimme. »Du glaubst nicht, wen ich da gesehen habe!«
»Doch nicht etwa Johnny Depp?«, spöttelte Pia. Jeder vom K 11 wusste, dass Kathrin eine glühende Verehrerin des amerikanischen Schauspielers war.
»Nein, ich habe Frank gesehen«, fuhr Kathrin unbeeindruckt fort. »Er arbeitet hinter der Bar im Klapperkahn und ist alles andere als krank.«
»Ach!«
»Na ja, jetzt weiß ich nicht, was ich tun soll. Eigentlich müsste ich's dem Chef sagen, oder?«
Pia runzelte die Stirn. Wenn man als Polizeibeamter einen Nebenjob ausüben wollte, musste man einen Antrag stellen und die Genehmigung abwarten. Ein Job in einer Kneipe mit eher zweifelhaftem Ruf gehörte ganz sicher nicht zu denen, die genehmigt wurden. Falls Kathrin richtig gesehen hatte, riskierte Behnke einen Verweis, eine Geldbuße oder gar ein Disziplinarverfahren.
»Vielleicht ist er nur für einen Kumpel eingesprungen.« Pia hatte für ihren Kollegen Behnke nicht viel übrig, aber ihr war nicht ganz wohl beim Gedanken an die Konsequenzen, die eine offizielle Anschuldigung nach sich ziehen würde.
»Ist er nicht.« Kathrin schüttelte den Kopf. »Er hat mich gesehen und ist sofort auf mich losgegangen. Er hat mir unterstellt, ich würde ihm nachspionieren. So ein Quatsch! Und dann sagt dieser Arsch auch noch, ich könnte was erleben, wenn ich ihn verpetze!«
Kathrin war verständlicherweise tief gekränkt und wütend. Pia zweifelte keine Sekunde an ihrer Darstellung. Das hörte sich ganz nach ihrem Lieblingskollegen an. Behnke besaß so viel Sinn für Diplomatie wie ein Pitbull.
»Hast du der Schneider eben schon was gesagt?«, forschte Pia.
»Nein.« Kathrin schüttelte den Kopf. »Obwohl ich's am liebsten getan hätte. Ich bin so was von sauer!«
»Kann ich verstehen. Frank hat echt ein Talent, andere auf die Palme zu bringen. Lass mich mit dem Chef reden. Vielleicht kann man die Sache auch diskret regeln.«
»Warum eigentlich?«, entgegnete Kathrin aufgebracht. »Warum nimmt jeder diesen Mistkerl in Schutz? Er darf sich hier alles erlauben, seine miese Laune an uns auslassen, und nichts passiert.«
Sie sprach Pia aus der Seele. Aus irgendeinem Grund besaß Frank Behnke Narrenfreiheit. In dem Moment bog Bodenstein in den Flur ein.
Pia sah Kathrin an. »Du musst selbst wissen, was du tust«, sagte sie.
»Das tue ich auch«, erwiderte Kathrin und ging entschlossen auf Bodenstein zu. »Ich muss mal kurz mit Ihnen reden, Chef. Unter vier Augen.«
Amelie hatte entschieden, dass Recherchen über die Mädchenmorde in Altenhain eindeutig höhere Priorität besaßen als die Schule, und deshalb nach der dritten Stunde der Lehrerin weisgemacht, sie sei krank. Nun saß sie an ihrem Schreibtisch vor ihrem Laptop, gab den Namen des Nachbarssohnes bei Google ein und erhielt tatsächlich Hunderte von Treffern. Mit wachsender Faszination las sie die Presseberichte über die Ereignisse aus dem Sommer 1997 und die Gerichtsverhandlung, bei der Tobias Sartorius zu zehn Jahren Jugendhaft verurteilt worden war. Es war ein reiner Indizienprozess gewesen, denn die Leichen der Mädchen waren nie gefunden worden. Genau das hatte man Tobias zum Vorwurf gemacht; sein Schweigen hatte sich strafverschärfend auf das Urteil ausgewirkt. Amelie betrachtete die Fotos, die einen dunkelhaarigen Jungen mit noch unfertigen Gesichtszügen zeigten, in denen der Mann zu erahnen war, der er einmal sein würde. Tobias Sartorius musste heute ziemlich gut aussehen. Auf den Bildern trug er Handschellen, aber er versteckte sein Gesicht weder unter einer Jacke noch hinter einem Aktenordner, sondern blickte direkt in die Kameras. Als »eiskalten Killer« hatte man ihn bezeichnet, als arrogant, gefühlskalt und grausam.
»Die Eltern der ermordeten Mädchen treten als Nebenkläger beim Prozess gegen Tobias S., den Gastwirtssohn aus dem kleinen Dorf im Vordertaunus, auf. Doch auch das verzweifelte Flehen von Andrea W. und Beate S. ließ den Einserabiturienten kalt. Auf die Frage, was er mit den Leichen der beiden Mädchen gemacht habe, schwieg S., dem ein psychologisches Gutachten überdurchschnittliche Intelligenz bescheinigt. Taktik oder Arroganz? Selbst als die Richterin S. das Angebot machte, im Falle eines Geständnisses die Anklage wegen Mordes an Stefanie S. in Totschlag umzuwandeln, schwieg der junge Mann beharrlich. Das völlige Fehlen von Empathie erstaunte selbst erfahrene Prozessbeobachter. Die Staatsanwaltschaft hat keine Zweifel an seiner Täterschaft, da die Indizienkette und die Rekonstruktion des Tathergangs lückenlos sind. Zwar versuchte S. zuvor, durch zahlreiche Verleumdungen anderer und angebliche Erinnerungslücken seine Unschuld zu beweisen, aber das Gericht ließ sich nicht beirren. Den Urteilsspruch nahm Tobias S. ohne äußerliche Gefühlsregung auf, eine Revision lehnte das Gericht ab.«
Amelie überflog andere, ähnlich lautende Berichte über den Prozess, bis sie endlich einen Artikel fand, der sich mit den vorangegangenen Ereignissen befasste. Laura Wagner und Stefanie Schneeberger waren in der Nacht vom 6. auf den 7. September 1997 spurlos verschwunden. In Altenhain war Kerb gewesen und das ganze Dorf auf den Beinen. Recht bald war Tobias Sartorius in den Fokus der Ermittlungen gerückt, denn Nachbarn hatten beobachtet, wie die beiden Mädchen am Abend das Haus seiner Eltern betreten, aber nicht mehr verlassen hatten. Mit Laura Wagner, seiner Exfreundin, hatte Tobias vor der Haustür heftig und handgreiflich gestritten. Beide hatten auf der Kerb größere Mengen Alkohol konsumiert. Wenig später war Stefanie Schneeberger, Tobias' aktuelle Freundin, dazugekommen. Er selbst hatte später ausgesagt, dass sie an diesem Abend mit ihm Schluss gemacht und er aus Verzweiflung darüber in seinem Zimmer noch fast eine ganze Flasche Wodka getrunken habe. Schon am nächsten Tag hatten Polizeihunde Blutspuren auf dem Grundstück der Sartorius gefunden; der Kofferraum von Tobias' Auto war voller Blut gewesen, außerdem hatte man Blut und Hautpartikel, die beiden Mädchen zugeordnet werden konnten, an seiner Kleidung und im Haus gefunden. Zeugen hatten Tobias noch in der Nacht am Steuer seines Autos erkannt, als er zu später Stunde die Hauptstraße entlanggefahren war. In seinem Zimmer war schließlich der Rucksack von Stefanie Schneeberger sichergestellt worden, die Halskette von Laura Wagner hatte in der Milchküche unter einem Waschbecken gelegen. Vorausgegangen war den Ereignissen eine Liebesgeschichte: Tobias hatte Laura für Stefanie verlassen, dann hatte Stefanie wiederum mit ihm Schluss gemacht. Daraufhin war es zu den Bluttaten gekommen, der reichlich konsumierte Alkohol mochte bei Tobias als Katalysator gewirkt haben. Zwar hatte er bis zum letzten Tag des Prozesses bestritten, mit dem Verschwinden der Mädchen etwas zu tun zu haben, aber das Gericht hatte seine angeblichen Erinnerungslücken nicht gelten lassen, und Entlastungszeugen waren auch nicht aufgetreten. Im Gegenteil. Seine Freunde hatten vor Gericht ausgesagt, Tobias sei hitzköpfig, oft jähzornig und daran gewöhnt, dass die Mädchen ihm zu Füßen lagen – schon möglich, dass er aus Frust über Stefanies Laufpass überreagiert habe. Er hatte nicht die geringste Chance gehabt.
Genau das verstärkte Amelies Neugier, die nichts so sehr hasste wie Ungerechtigkeiten, war sie doch selbst oft genug Opfer ungerechtfertigter Beschuldigungen geworden. Sie konnte nachvollziehen, wie Tobias sich gefühlt haben musste, sollten seine Unschuldsbeteuerungen tatsächlich wahr sein. Sie würde weitere Nachforschungen anstellen, wie genau, wusste sie noch nicht. Aber zuerst musste sie Tobias Sartorius kennenlernen.
Zwanzig nach fünf. Eine halbe Stunde lang musste er sich noch hier am Bahnsteig herumdrücken, bis die anderen Jungs auftauchen und ihn vielleicht ins Jugendzentrum zum Proben mitnehmen würden. Nico Bender hatte extra das Fußballtraining geschwänzt, nur um sie nicht zu verpassen, wenn sie mit der S-Bahn um fünf vor sechs aus Schwalbach kamen. Obwohl er für sein Leben gern Fußball spielte, waren ihm die Clique und ihre Band ungleich wichtiger. Früher waren sie Freunde gewesen, aber seit seine Eltern ihn gezwungen hatten, nach Königstein statt nach Schwalbach auf die Schule zu gehen, gehörte er nicht mehr richtig dazu. Dabei hatte er viel mehr drauf als Mark oder Kevin, denn er konnte wirklich gut Schlagzeug spielen. Nico seufzte und beobachtete den bärtigen Mann mit der Baseballkappe, der schon seit einer halben Stunde regungslos am anderen Ende des Bahnsteigs stand. Trotz des Regens hatte er sich nicht zu ihm in das Wartehäuschen gesetzt, es schien ihm egal zu sein, dass er nass wurde. Die S-Bahn aus Frankfurt kam. Acht Wagen im Berufsverkehr. Saß er hier strategisch günstig? Wenn die Jungs im vordersten Wagen waren, würde er sie vielleicht verpassen. Die Türen öffneten sich, Leute stiegen aus, spannten Schirme auf und rannten mit eingezogenem Genick zur Fußgängerbrücke oder an ihm vorbei zur Unterführung. Seine Kumpels waren nicht im Zug gewesen. Nico stand auf und ging langsam den Bahnsteig entlang. Da sah er wieder den Mann mit der Baseballkappe. Er folgte einer Frau Richtung Brücke, sprach sie an. Sie blieb stehen, doch dann schien sie Angst zu bekommen, denn sie ließ ihre Einkaufstüte fallen und lief weg.
Der Mann sprintete ihr nach, packte sie am Arm, sie schlug nach ihm. Nico blieb wie erstarrt stehen. Das war ja wie in einem Film! Der Bahnsteig war schon wieder menschenleer, die Türen des Zuges schlossen sich, und die S-Bahn fuhr an. Dann sah er die beiden auf der Fußgängerbrücke. Es sah so aus, als würden sie kämpfen. Und auf einmal war die Frau verschwunden. Nico hörte Bremsen quietschen, dann ein dumpfes Geräusch, gefolgt von metallischem Krachen und Splittern. Das endlose Band greller Scheinwerfer jenseits der Bahngleise kam ins Stocken. Fassungslos begriff Nico, dass er soeben Zeuge eines Verbrechens geworden war. Der Mann hatte die Frau einfach über das Brückengeländer hinunter auf die vielbefahrene Limesspange gestoßen! Und nun kam er direkt auf ihn zugerannt, mit gesenktem Blick, in der Hand die Tasche der Frau. Nicos Herz schlug bis zum Hals. Angst stieg in ihm auf. Wenn der Typ kapierte, dass er ihn beobachtet hatte, würde er nicht lange fackeln. Voller Panik rannte Nico los. Wie ein Hase floh er in die Unterführung, rannte, was seine Beine hergaben, bis er sein Fahrrad erreicht hatte, das er auf der Bad Sodener Seite der Gleise abgestellt hatte. Die Jungs waren ihm egal, genauso wie die Band und das Jugendzentrum. Er schwang sich auf sein Rad und trat keuchend in die Pedale, als der Mann die Treppe hinaufkam und ihm irgendetwas hinterherbrüllte. Nico riskierte einen Blick über die Schulter und stellte erleichtert fest, dass er ihm nicht folgte. Dennoch fuhr er in Höchstgeschwindigkeit am Eichwald entlang, bis er zu Hause und in Sicherheit war.
Die Straßenkreuzung an der S-Bahn-Haltestelle Sulzbach-Nord bot ein Bild der Verwüstung. Sieben Autos waren ineinandergerast, Feuerwehrleute versuchten, mit Schneidbrennern und schwerem Gerät die Blechknäuel zu entwirren, und streuten Sand in die Lachen ausgelaufenen Benzins. Mehrere Rettungswagen standen hintereinander und versorgten verletzte Unfallopfer. Trotz der Kälte und des Regens hatten sich Schaulustige hinter den Absperrbändern eingefunden, die sensationslüstern das grausige Schauspiel verfolgten. Bodenstein fragte sich durch, bis er Polizeioberkommissar Hendrik Koch vom Eschborner Revier gegenüberstand, der als einer der Ersten am Unfallort gewesen war.
»Ich hab ja schon so einiges erlebt, aber das ist wirklich das Übelste, was ich je gesehen habe.« Dem erfahrenen Polizisten stand das Grauen deutlich ins Gesicht geschrieben. Er erklärte Bodenstein und Pia in knappen Worten die Sachlage. Eine Frau war um 17:26 Uhr von der Fußgängerbrücke gefallen, direkt auf die Windschutzscheibe eines aus Richtung Schwalbach kommenden BMW. Der Fahrer hatte, ohne zu bremsen, sein Fahrzeug scharf nach links gezogen und war frontal in den Gegenverkehr gerast. Auf beiden Seiten hatte es daraufhin mehrere Auffahrunfälle gegeben. Ein Autofahrer, der in Sulzbach an der roten Ampel gestanden hatte, wollte gesehen haben, dass die Frau von einer anderen Person über das Geländer gestoßen worden war.
»Was ist mit der Frau?«, erkundigte sich Pia.
»Sie lebt«, erwiderte POK Koch und fügte hinzu: »Noch. Der Notarzt versorgt sie da drüben in einem der Rettungswagen.«
»Uns wurde ein Toter gemeldet.«
»Der Fahrer des BMW hat einen tödlichen Herzinfarkt erlitten. Wohl vor Schreck. Reanimierungsversuche waren vergeblich.« POK Koch nickte mit dem Kopf in Richtung Mitte der Kreuzung. Neben dem völlig demolierten BMW lag eine Leiche. Ein Paar Schuhe ragte unter einer nassen Decke hervor. Am Rande der Absperrung kam es zu einem Tumult. Zwei Polizeibeamte hielten eine grauhaarige Frau fest, die verzweifelt versuchte, in das Innere des abgesperrten Bereiches zu gelangen. POK Kochs Funkgerät rauschte, eine Stimme knarzte.
»Das ist wohl die Frau des BMW-Fahrers«, sagte er mit angespannter Stimme zu Bodenstein und Pia. »Entschuldigen Sie mich.«
Er sagte etwas in sein Funkgerät und schickte sich an, das Schlachtfeld zu überqueren. Pia beneidete ihn nicht um die Aufgabe, die vor ihm lag. Angehörige über den Tod eines Menschen zu informieren, gehörte mit zu den schwersten Aufgaben in ihrem Job, und weder eine psychologische Schulung noch jahrelange Erfahrung machten es leichter.
»Kümmere du dich um die Frau«, sagte Bodenstein. »Ich rede mit dem Zeugen.«
Pia nickte und ging zu dem Rettungswagen hinüber, in dem die Schwerverletzte noch immer behandelt wurde. Die hintere Tür öffnete sich, und der Notarzt stieg aus. Pia kannte ihn von früheren Einsätzen.
»Ach, Frau Kirchhoff«, begrüßte er sie. »Wir haben sie soweit stabilisiert und bringen sie jetzt nach Bad Soden ins Krankenhaus. Mehrere Knochenbrüche, Gesichtsverletzungen, wohl auch innere Verletzungen. Sie ist nicht ansprechbar.«
»Konnten Sie etwas über ihre Identität in Erfahrung bringen?«
»Sie hatte einen Autoschlüssel in der …« Der Notarzt verstummte und trat einen Schritt zurück, denn der Rettungswagen setzte sich in Bewegung, und das Martinshorn machte jedes Gespräch unmöglich. Pia sprach noch kurz mit ihm, dann bedankte sie sich und ging zu ihren Kollegen hinüber. In der Jackentasche der verletzten Frau hatte man nur einen Autoschlüssel gefunden, sonst nichts. Eine Handtasche hatte die etwa fünfzigjährige Frau nicht bei sich gehabt, nur eine Einkaufstüte voller Lebensmittel hatte man bei der Suche auf der Brücke und dem Bahnsteig gefunden. Bodenstein hatte unterdessen mit dem Autofahrer gesprochen, der den Sturz der Frau beobachtet hatte. Er schwor Stein und Bein, dass jemand die Frau gestoßen habe – ein Mann, da war er sich trotz der Dunkelheit und des Regens sicher.
Bodenstein und Pia gingen die Treppe hoch auf die Brücke.
»Von hier ist sie heruntergefallen.« Pia blickte an der markierten Stelle von der Brücke. »Was schätzt du, wie hoch das ist?«
»Hm«, Bodenstein warf einen Blick über das Geländer, das ihm gerade bis zur Hüfte reichte. »Fünf, sechs Meter. Ich kann kaum glauben, dass sie das überlebt hat. Immerhin kam das Auto mit einigem Tempo an.«
Von hier oben hatte der Anblick der zertrümmerten Fahrzeuge, der blau und orange blinkenden Lichter, der Helfer in den reflektierenden Westen etwas Surreales. Regen wehte schräg durch das Licht der Scheinwerfer. Was mochte der Frau durch den Kopf gegangen sein, als sie das Gleichgewicht verlor und ihr bewusst wurde, dass es keine Rettung mehr gab? Oder war es zu schnell gegangen, um überhaupt noch etwas zu denken?
»Sie hatte einen Schutzengel«, bemerkte Pia und schauderte. »Hoffentlich lässt er sie nicht noch im Stich.«
Sie wandte sich um und ging, gefolgt von Bodenstein, hinüber zum Bahnsteig. Wer war die Frau? Wo kam sie her und wo hatte sie hingewollt? Eben noch hatte sie ahnungslos in der S-Bahn gesessen, und Minuten später lag sie mit zerschmetterten Knochen in einem Rettungswagen. So schnell konnte es gehen. Ein falscher Schritt, eine falsche Begegnung mit dem falschen Menschen – und nichts war mehr wie vorher. Was hatte der Mann von ihr gewollt? War er ein Räuber? Es sah beinahe so aus, denn Bodenstein fand es eigentümlich, dass die Frau keine Tasche bei sich gehabt haben sollte.
»Jede Frau hat eine Tasche«, sagte er zu Pia. »Sie hatte ja noch eingekauft, da brauchte sie doch Geld, ein Portemonnaie.«
»Denkst du wirklich, der Mann wollte sie um halb sechs auf einem belebten Bahnsteig berauben?« Pia ließ den Blick links und rechts die Gleise entlangschweifen.
»Vielleicht war die Gelegenheit günstig. Bei dem Wetter will ja jeder schnell nach Hause. Er kann ihr schon in der S-Bahn gefolgt sein, weil er zuvor beobachtet hatte, wie sie am Geldautomaten war.«
»Hm.« Pia wies auf die Kamera, die den Bahnsteig überwachte. »Wir sollten uns die Bänder ansehen. Mit etwas Glück ist der Winkel der Kamera so groß, dass wir die Brücke sehen können.«
Bodenstein nickte nachdenklich. Mussten heute Abend zwei Familien mit schlimmen Nachrichten fertig werden, nur weil ein Gelegenheitsräuber eine Handtasche klauen wollte? Nicht dass es etwas am tragischen Ergebnis geändert hätte, dennoch erschien es Bodenstein entsetzlich, dass Tod und Verstümmelung aus einem so lächerlichen Grund resultieren sollten. Zwei Beamte kamen aus der Unterführung. Sie hatten auf dem Parkplatz neben der Böschung zum Bahnsteig einen roten Honda Civic gefunden, zu dem der Autoschlüssel aus der Jackentasche der Frau passte. Die Kennzeichenüberprüfung hatte ergeben, dass die Halterin des Fahrzeuges in Neuenhain wohnte. Ihr Name war Rita Cramer.
Bodenstein rangierte seinen BMW gekonnt in eine Parklücke vor dem hässlichen Hochhaus im Bad Sodener Stadtteil Neuenhain. Pia musste eine Weile suchen, um unter den rund fünfzig Klingelschildchen das von Rita Cramer zu finden. Niemand meldete sich. Also versuchte Pia es wahllos bei anderen Mietern, bis sie endlich jemand hereinließ. Das Haus, so hässlich es von außen war, war im Innern sehr gepflegt. Im vierten Stock wurden Bodenstein und Pia von einer älteren Dame erwartet, die mit einer Mischung aus Argwohn und Neugier ihre Ausweise in Augenschein nahm. Pia warf ungeduldig einen Blick auf die Uhr. Beinahe neun! Sie hatte Christoph fest versprochen, auf Annikas Party zu kommen, und es war nicht abzusehen, wie lange die ganze Sache hier noch dauern konnte. Eigentlich hatte sie heute Abend freigehabt. Innerlich verfluchte sie Hasse und Behnke.
Die Nachbarin war ein wenig mit Rita Cramer befreundet und hatte einen Schlüssel für deren Wohnung, den sie ohne Umstände herausrückte, nachdem Bodenstein und Pia sich ausgewiesen und von dem Unfall erzählt hatten. Leider wusste die Nachbarin nicht, ob Rita Cramer Angehörige hatte. Besuch bekam sie jedenfalls nie. Die Wohnung war denn auch deprimierend. Blitzsauber und akkurat aufgeräumt zwar, aber nur spärlich möbliert. Nirgendwo gab es einen Hinweis auf die Persönlichkeit von Rita Cramer, private Fotos waren Fehlanzeige, und an den Wänden hingen Bilder, wie man sie für ein paar Euro in Baumärkten kaufen kann. Bodenstein und Pia gingen durch die Wohnung, öffneten Schranktüren und Schubladen in der Hoffnung, einen Hinweis auf Angehörige oder einen Grund für den Überfall zu finden. Nichts.
»So anonym wie ein Hotelzimmer«, stellte Bodenstein fest. »Das gibt's doch gar nicht.«
Pia betrat die Küche. Ihr Blick fiel auf den blinkenden Anrufbeantworter. Sie drückte die Wiedergabetaste. Leider hatte der Anrufer nichts aufs Band gesprochen, sondern aufgelegt, aber Pia notierte sich die Nummer, die im Display des Telefons aufleuchtete. Eine Königsteiner Vorwahl. Sie holte ihr Handy hervor und tippte die Nummer ein. Nach dem dritten Läuten sprang auf der anderen Seite auch nur ein Anrufbeantworter an.
»Eine Arztpraxis«, sagte sie. »Da ist jetzt niemand mehr.«
»Ist sonst noch ein Anruf gespeichert?«, fragte Bodenstein. Pia drückte auf den Tasten herum, dann schüttelte sie den Kopf.
»Schon eigenartig, dass ein Mensch so leben kann.« Sie stellte das Telefon zurück und sah den Küchenkalender durch, der seit Mai nicht mehr umgeblättert worden war. Es gab keinen einzigen Eintrag. Am Pinnbrett aus Kork hingen lediglich der Prospekt eines Pizzaservice und die vergilbte blaue Kopie eines Strafzettels für Falschparken vom April. Das alles sah nicht nach einem erfüllten, glücklichen Leben aus.
»Wir rufen morgen bei dieser Arztpraxis an«, entschied Bodenstein. »Heute richten wir nichts mehr aus. Ich fahre noch mal im Krankenhaus vorbei und erkundige mich nach Frau Cramers Zustand.«
Sie verließen die Wohnung und gaben den Schlüssel der Nachbarin zurück.
»Könntest du mich bei Christoph rauslassen, bevor du ins Krankenhaus fährst?«, fragte Pia, als sie mit dem Aufzug wieder nach unten fuhren. »Liegt ja auf dem Weg.«
»Ach ja, die Party.«
»Woher weißt du das denn schon wieder?« Pia drückte schwungvoll die Glastür auf und hätte sie fast einem Mann in den Rücken gerammt, der vorgebeugt die Klingelschildchen studierte.
»Entschuldigung«, sagte sie. »Ich hab Sie gar nicht gesehen.«
Pia erhaschte einen flüchtigen Blick auf sein Gesicht und lächelte zerknirscht.
»Nichts passiert«, antwortete der Mann, und sie gingen weiter.
»Ich bin über meine Mitarbeiter gerne gut informiert.« Bodenstein schlug den Mantelkragen hoch. »Das weißt du doch.«
Pia erinnerte sich an ihr morgendliches Gespräch mit Kathrin Fachinger. Die Gelegenheit war ideal.
»Na, dann weißt du ja auch, dass Kollege Behnke einen Nebenjob hat, der ganz sicher nicht offiziell genehmigt wurde.«
Bodenstein runzelte die Stirn und warf ihr einen raschen Blick zu.
»Nein, das habe ich bis heute Morgen allerdings nicht gewusst«, gab er zu. »Du etwa?«
»Ich bin wohl die Letzte, der Behnke etwas erzählen würde«, erwiderte Pia und schnaubte verächtlich. »Er macht aus seinem Privatleben ja immer ein Geheimnis, als wäre er noch beim SEK.«
Bodenstein musterte Pia im fahlen Licht der Straßenlaterne.
»Er hat ziemlich große Probleme«, sagte er dann. »Seine Frau hat ihn vor einem Jahr verlassen, er konnte den Kredit für die Eigentumswohnung nicht mehr bedienen und musste sie aufgeben.«
Pia blieb stehen und starrte ihn einen Augenblick sprachlos an. Das also war die Erklärung für Behnkes Verhalten in der Vergangenheit, für seine ständige Gereiztheit, seine Übellaunigkeit, die Aggressivität. Dennoch verspürte sie kein Mitleid, sondern Verärgerung.
»Du nimmst ihn mal wieder in Schutz«, stellte sie fest. »Was läuft da zwischen euch, dass er so eine Narrenfreiheit hat?«
»Er hat doch keine Narrenfreiheit«, entgegnete Bodenstein.
»Und weshalb darf er sich dauernd Fehler und Nachlässigkeiten erlauben, ohne dass es Konsequenzen hat?«
»Ich habe wohl gehofft, dass er sein Leben irgendwie wieder in den Griff bekommt, wenn ich ihm nicht zu viel Druck mache.« Bodenstein zuckte die Schultern. »Aber wenn er tatsächlich einem nichtgenehmigten Nebenerwerb nachgeht, dann kann ich auch nichts mehr für ihn tun.«
»Du meldest das also der Engel?«
»Ich fürchte, das muss ich.« Bodenstein seufzte und setzte sich wieder in Bewegung. »Allerdings werde ich zuerst mit Frank reden.«