Mittwoch 12. November 2008
Missvergnügt betrachtete Dr. Nicola Engel ihr dezimiertes K11. Sie waren nur zu viert bei der morgendlichen Teambesprechung, außer Behnke fehlte heute auch Kathrin Fachinger. Während Ostermann über das wenig zufriedenstellende Echo ihres Fahndungsaufrufes berichtete, rührte Bodenstein mit abwesender Miene in seinem Kaffee. Pia fand, er sah übernächtigt aus, als habe er nicht viel Schlaf gefunden. Was war bloß mit ihm los? Seit ein paar Tagen machte er den Eindruck, als würde er einen Meter neben sich stehen. Pia vermutete familiäre Sorgen. Im Mai des vorletzten Jahres war er schon mal so seltsam gewesen; damals hatte er sich Sorgen um Cosimas Gesundheit gemacht, die sich im Nachhinein als unbegründet erwiesen hatten – er hatte nichts von ihrer Schwangerschaft gewusst.
»Also.« Dr. Engel ergriff das Wort, als Bodenstein es nicht tat. »Bei dem Skelett aus dem Flugzeughangar handelt es sich um die seit dem September 1997 vermisste Laura Wagner aus Altenhain. Die DNA passt, die verheilte Fraktur des linken Oberarmes stimmt mit einem Vergleich antemortaler Röntgenaufnahmen überein.«
Pia und Ostermann kannten den Inhalt des rechtsmedizinischen Berichts, hörten aber geduldig zu, bis ihre oberste Chefin ihren Vortrag beendet hatte. Ob sich Frau Dr. Engel in ihrem Job langweilte und sich deshalb ständig in die Arbeit des K11einmischte? Ihr Vorgänger, Dr. Nierhoff, war alle Jubeljahre mal aufgetaucht, meist nur dann, wenn es einen richtig spektakulären Fall aufzuklären galt.
»Ich frage mich nur«, sagte Pia, als Dr. Engel geendet hatte, »wie Tobias Sartorius innerhalb einer knappen Dreiviertelstunde von Altenhain nach Eschborn gefahren, in ein gesichertes und abgesperrtes Militärgelände eingedrungen und die Leiche in einen Erdtank geworfen haben soll.«
In der Runde war es still; alle bis auf Bodenstein sahen sie an.
»Sartorius hat die beiden Mädchen angeblich im Haus seiner Eltern ermordet«, erläuterte Pia. »Er wurde von den Nachbarn beobachtet, als er erst mit Laura Wagner das Haus betreten hat und später, als er Stefanie Schneeberger die Tür geöffnet hat. Das nächste Mal wurde er von seinen Freunden gegen Mitternacht gesehen, als die ihn abholen wollten.«
»Was wollen Sie damit sagen?«, wollte Dr. Engel wissen.
»Dass Tobias Sartorius möglicherweise nicht der Täter gewesen ist.«
»Natürlich war er's«, widersprach Hasse sofort. »Hast du vergessen, dass er verurteilt wurde?«
»In einem reinen Indizienprozess. Und ich bin beim Studium der Akten auf einige Ungereimtheiten gestoßen. Um Viertel vor elf hat der Nachbar beobachtet, wie Stefanie Schneeberger zu Tobias Sartorius ins Haus gegangen ist, und eine halbe Stunde später wurde sein Auto von zwei Zeugen in Altenhain gesehen.«
»Ja«, sagte Hasse. »Er hat die Mädchen getötet, sich in sein Auto gesetzt und die beiden Leichen weggeschafft. Das alles wurde nachgestellt.«
»Damals ging man davon aus, dass er die Leichen in der Nähe abgelegt hatte. Heute wissen wir, dass das nicht der Fall war. Und wie ist er auf das abgesperrte Militärgelände gelangt?«
»Die jungen Leute haben dort immer wieder heimlich gefeiert. Sie kannten irgendeinen geheimen Zugang.«
»Das ist doch Unsinn.« Pia schüttelte den Kopf. »Wie soll denn ein angetrunkener Mann so etwas alleine fertigbringen? Und was hat er mit der zweiten Leiche gemacht? Die haben wir nicht in dem Tank gefunden! Ich sage euch, das Zeitfenster ist viel zu knapp!«
»Frau Kirchhoff«, mahnte Dr. Engel. »Wir ermitteln hier nicht. Der Täter wurde seinerzeit gefasst, überführt, verurteilt und hat seine Strafe abgesessen. Fahren Sie zu den Eltern des Mädchens, teilen Sie ihnen mit, dass die sterblichen Überreste ihrer Tochter gefunden wurden, und basta.«
»Und basta!«, äffte Pia ihre Chefin nach. »Ich denke gar nicht daran, das einfach auf sich beruhen zu lassen. Es ist offensichtlich, dass damals schlampig ermittelt wurde und die Schlussfolgerungen absolut willkürlich waren. Und ich frage mich, warum!«
Bodenstein, der ihr das Steuer überlassen hatte, erwiderte nichts. Er hatte seine langen Beine in dem unbequem engen Dienst-Opel gefaltet, die Augen geschlossen und die ganze Fahrt über keinen Ton gesagt.
»Sag mal, was ist eigentlich los mit dir, Oliver?«, fragte Pia schließlich leicht verärgert. »Ich hab keine Lust, den ganzen Tag mit jemandem herumzufahren, der so gesprächig ist wie eine Leiche!«
Bodenstein öffnete ein Auge und seufzte. »Cosima hat mich gestern angelogen.«
Aha. Ein familiäres Problem. Wie vermutet.
»Und? Wer hat nicht schon einmal gelogen?«
»Ich.« Bodenstein öffnete auch das zweite Auge. »Ich habe Cosima noch nie angelogen. Selbst die Sache mit der Kaltensee damals habe ich ihr gesagt.«
Er räusperte sich, dann erzählte er Pia, was gestern geschehen war. Sie hörte mit wachsendem Unbehagen zu. Das klang allerdings ernst. Doch sogar in dieser Situation bereitete ihm sein aristokratisches Ehrgefühl ein schlechtes Gewissen, weil er im Handy seiner Frau heimlich nach Beweisen gesucht hatte.
»Es kann für alles eine ganz harmlose Erklärung geben«, erwiderte Pia, obwohl sie nicht daran glaubte. Cosima von Bodenstein war eine schöne, temperamentvolle Frau, die durch ihren Job als Filmproduzentin selbständig und finanziell unabhängig war. In der letzten Zeit hatte es des Öfteren kleinere Reibereien zwischen ihr und Bodenstein gegeben, das hatte Pia mitbekommen, aber ihr Chef schien dem keine große Bedeutung beigemessen zu haben. Typisch für ihn, dass er jetzt wie vor den Kopf geschlagen war. Er lebte in einem Elfenbeinturm. Und das war umso erstaunlicher, wenn man bedachte, wie sehr ihn die Abgründe der Beziehungen anderer Menschen faszinierten, mit denen sie tagtäglich konfrontiert wurden. Im Gegensatz zu Pia ließ er sich nur sehr selten emotional in einen Fall verwickeln, er wahrte eine innerliche Distanz, die sie für ziemlich selbstgerecht hielt. Glaubte er, ihm könne so etwas nicht widerfahren und er sei über so etwas Profanes wie Eheprobleme erhaben? Dachte er wirklich, Cosima sei damit zufrieden, mit einem kleinen Kind zu Hause herumzusitzen und auf ihn zu warten? Sie war ein ganz anderes Leben gewohnt.
»Wenn sie sich mit jemandem trifft und mir erzählt, sie sei ganz woanders gewesen?«, hielt er nun dagegen. »Das ist nicht harmlos. Was soll ich nur machen?«
Pia antwortete nicht sofort. Sie in seiner Situation hätte alles darangesetzt, die Wahrheit zu erfahren. Wahrscheinlich hätte sie ihren Partner sofort zur Rede gestellt, mit Geschrei und Tränen und Vorwürfen. Unmöglich, einfach so zu tun, als sei nichts.
»Frag sie doch einfach«, schlug sie deshalb vor. »Sie wird dir wohl kaum ins Gesicht lügen.«
»Nein«, antwortete er entschieden. Pia seufzte innerlich. Oliver von Bodenstein tickte eben anders als normale Menschen. Vielleicht würde er sogar, nur um den Schein zu wahren und seine Familie zu schützen, einen möglichen Nebenbuhler akzeptieren und still leiden. Im Fach Selbstbeherrschung hatte er eine Eins mit Sternchen verdient.
»Hast du dir die Handynummer aufgeschrieben?«
»Ja.«
»Gib sie mir. Ich rufe dort an. Mit unterdrückter Nummer.«
»Nein, lieber nicht.«
»Willst du nicht die Wahrheit wissen?«
Bodenstein zögerte.
»Hör mal«, sagte Pia. »Es frisst dich doch auf, wenn du nicht weißt, woran du bist.«
»Verdammt!«, fuhr er auf. »Ich wünschte, ich hätte sie nicht gesehen! Ich wünschte, ich hätte sie nicht angerufen!«
»Hast du aber. Und sie hat gelogen.«
Bodenstein holte tief Luft und fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. Selten hatte Pia ihren Chef so ratlos gesehen, nicht einmal als er herausgefunden hatte, dass die Tochter von Vera Kaltensee ihn unter Drogen gesetzt und zu sexuellen Handlungen genötigt hatte, um ihn erpressbar zu machen. Diese Sache hier ging ihm viel mehr an die Nieren.
»Was mache ich, wenn ich herausfinde, dass sie … dass sie mich betrügt?«
»Du hast schon mal völlig falsche Schlüsse aus ihrem Verhalten gezogen«, erinnerte Pia ihn besänftigend.
»Diesmal ist es anders«, sagte er. »Würdest du die Wahrheit wissen wollen, wenn du den Verdacht hättest, dass du betrogen wirst?«
»Aber hundertprozentig.«
»Und wenn …«, er brach ab. Pia sagte nichts. Sie hatten die Schreinerei von Manfred Wagner im Gewerbegebiet von Altenhain erreicht. Männer, dachte sie. Alle gleich. Kein Problem, im Job eine Entscheidung zu fällen. Aber sobald es um die Beziehung ging und Gefühle ins Spiel kamen, waren sie alle verdammte Feiglinge.
Amelie wartete, bis ihre Stiefmutter das Haus verlassen hatte. Barbara hatte ihr, ohne zu zögern, geglaubt, dass heute die erste Stunde ausfallen würde. Amelie grinste vor sich hin. Diese Frau war so was von gutgläubig, dass es schon langweilig war, sie zu belügen. Ganz anders als ihre misstrauische Mutter. Die glaubte ihr prinzipiell kein Wort, daher hatte Amelie es sich zur Gewohnheit gemacht, sie anzulügen. Oft schluckte sie die Lügen eher als die Wahrheit.
Amelie wartete, bis Barbara mit den beiden Kleinen in ihrem roten Mini davongebrummt war, dann schlüpfte sie aus der Haustür und rannte zum Hof der Sartorius. Es war noch dunkel und kein Mensch auf der Straße unterwegs, auch von Thies war weit und breit nichts zu sehen. Ihr Herz klopfte, als sie über den düsteren Hof schlich, vorbei an der Scheune und dem langgestreckten Stallgebäude, in dem schon lange keine Tiere mehr lebten. Sie hielt sich dicht an der Mauer, bog um die Ecke und bekam vor Schreck fast einen Herzinfarkt, als plötzlich zwei Gestalten mit vermummten Gesichtern vor ihr standen. Bevor sie schreien konnte, packte sie der eine und presste seine Hand auf ihren Mund. Brutal drehte er ihr die Arme auf den Rücken und stieß sie gegen die Mauer. Der Schmerz war so heftig, dass ihr die Luft wegblieb. Was fiel dem Kerl ein, ihr so weh zu tun? Und was hatten diese Typen hier morgens um halb acht zu suchen? Amelie hatte schon manch bedrohliche Situation in ihrem Leben gemeistert, und auch jetzt empfand sie nach dem ersten Schreck keine Angst, sondern Zorn. Verbissen kämpfte sie gegen die eiserne Umklammerung, sie trat um sich und versuchte, ihrem Angreifer die Maske mit den Augenschlitzen vom Kopf zu ziehen. Mit der Kraft der Verzweiflung gelang es ihr, den Mund freizubekommen. Sie sah ein Stück Haut direkt vor ihren Augen, eine bloße Stelle zwischen Handschuh und Jackenärmel, und biss zu, so kräftig sie konnte. Der Mann stieß einen unterdrückten Schmerzensschrei aus und stieß Amelie zu Boden. Weder er noch sein Kumpan hatten mit einer so heftigen Gegenwehr gerechnet, sie keuchten vor Anstrengung und Zorn. Schließlich versetzte der zweite Mann Amelie einen Tritt in die Rippen, der ihr den Atem nahm. Dann schlug er ihr mit der Faust ins Gesicht. Amelie sah nur noch Sternchen, und ihr Instinkt schrie ihr zu, besser liegen zu bleiben und die Klappe zu halten. Schritte entfernten sich eilig, dann war es ganz still, bis auf ihren eigenen heftigen Atem.
»Scheiße«, fluchte sie und versuchte mühsam, sich aufzurichten. Ihre Klamotten waren klatschnass und dreckig. Blut lief ihr warm über das Kinn und tropfte auf ihre Hände. Diese Mistkerle hatten ihr richtig weh getan.
Die Schreinerei Wagner und das angebaute Wohnhaus vermittelten den Eindruck, als sei mitten im Bau das Geld knapp geworden. Unverputzte Mauern, der Hof halb gepflastert, halb asphaltiert, voller Schlaglöcher – hier sah es nicht weniger deprimierend aus als auf dem Hof von Sartorius. Überall stapelten sich Holzbohlen und Bretter, manche waren schon von Moos bedeckt und sahen aus, als lägen sie seit Jahren hier. In Plastik eingeschweißte Türen lehnten an der Wand der Werkstatt, alles war schmutzig.
Pia klingelte an der Haustür des Wohnhauses, dann an der Tür mit der Aufschrift Büro, aber nichts tat sich. Im Innern des Werkstattgebäudes brannte Licht, also drückte sie das Metalltor auf und ging hinein. Bodenstein folgte ihr. Es roch nach frischem Holz.
»Hallo?«, rief sie. Sie gingen quer durch die Werkstatt, die ein einziges Durcheinander war, und fanden hinter einem Bretterstapel einen jungen Mann, der Ohrstöpsel in den Ohren hatte und mit dem Kopf im Takt der Musik nickte. Er war damit beschäftigt, mit einer Hand irgendetwas zu lackieren, hatte dabei aber eine Zigarette im Mund. Als Bodenstein ihm auf die Schulter klopfte, fuhr er herum. Er zerrte die Ohrstöpsel aus den Ohren und machte ein schuldbewusstes Gesicht.
»Machen Sie die Zigarette aus«, sagte Pia zu ihm, und er gehorchte sofort. »Wir suchen Herrn oder Frau Wagner. Sind die hier irgendwo?«
»Im Büro drüben«, sagte der Junge. »Glaub ich zumindest.«
»Danke.« Pia sparte sich den Hinweis auf Brandschutzverordnungen und machte sich auf die Suche nach dem Chef, dem alles egal zu sein schien. Sie fanden Manfred Wagner in einem winzigen, fensterlosen Büro, das so vollgestopft war, dass man sich kaum zu dritt darin aufhalten konnte. Der Mann hatte den Hörer neben das Telefon gelegt und las die BILD-Zeitung. Auf Kundschaft legte man hier offenbar keinen großen Wert. Als Bodenstein nun an die geöffnete Tür klopfte, um sich bemerkbar zu machen, blickte er unwillig von seiner Lektüre auf.
»Ja?« Er war ungefähr Mitte fünfzig und roch trotz der frühen Tageszeit nach Alkohol. Sein brauner Arbeitsoverall wirkte, als habe er seit Wochen keine Waschmaschine mehr von innen gesehen.
»Herr Wagner?«, übernahm Pia. »Wir sind von der Kripo in Hofheim und möchten mit Ihnen und Ihrer Frau sprechen.«
Er wurde leichenblass, starrte sie aus rotgeränderten, wässrigen Augen an wie ein Kaninchen die Schlange. Im gleichen Moment fuhr draußen ein Auto vor, eine Autotür fiel ins Schloss.
»Da … da kommt … meine Frau«, stotterte Wagner. Andrea Wagner betrat die Werkstatt, ihre Absätze klapperten auf dem Betonfußboden. Sie hatte kurze, blondierte Haare und war sehr dünn. Früher einmal musste sie hübsch gewesen sein, aber jetzt sah sie verhärmt aus. Kummer, Verbitterung und die Ungewissheit über das Schicksal ihrer Tochter hatten tiefe Falten in ihr Gesicht gegraben.
»Wir sind gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass man die sterblichen Überreste Ihrer Tochter Laura gefunden hat«, sagte Bodenstein, nachdem er sich Frau Wagner vorgestellt hatte. Einen Moment herrschte Schweigen. Manfred Wagner schluchzte auf. Eine Träne rann über seine unrasierte Wange, und er verbarg das Gesicht in den Händen. Seine Frau blieb ruhig und gefasst.
»Wo?«, fragte sie nur.
»Auf dem Gelände des alten Militärflughafens in Eschborn.«
Andrea Wagner stieß einen tiefen Seufzer aus. »Endlich.«
In diesem einen Wort lag so viel Erleichterung, wie sie es mit zehn Sätzen nicht hätte ausdrücken können. Wie viele Tage und Nächte des vergeblichen Hoffens und verzweifelten Bangens lagen hinter diesen beiden Menschen? Wie musste es sein, ständig von den Gespenstern der Vergangenheit verfolgt zu werden? Die Eltern des anderen Mädchens waren weggezogen, aber Wagners hatten den Betrieb, ihre Existenzgrundlage, nicht aufgeben können. Sie hatten bleiben müssen, während ihre Hoffnung auf eine Rückkehr der Tochter immer geringer wurde. Elf Jahre Ungewissheit mussten die Hölle gewesen sein. Vielleicht würde es helfen, wenn sie ihre Tochter nun beerdigen und von ihr Abschied nehmen konnten.
»Nein, lass«, wehrte Amelie ab. »Ist nicht so tragisch. Gibt 'n blauen Fleck, mehr nicht.«
Sie würde sich ganz sicher nicht ausziehen und Tobias die Stelle zeigen, wo dieser eine Penner sie mit dem Schuh erwischt hatte. Es war ihr ohnehin schon peinlich genug, so dreckig und hässlich vor ihm zu sitzen.
»Aber die Platzwunde sollte besser genäht werden.«
»Quatsch. Das wird schon wieder.«
Tobias hatte sie angestarrt wie einen Geist, als sie um kurz nach halb acht vor der Haustür gestanden hatte, blutverschmiert und schmutzig, und ihm erzählte, dass sie soeben von zwei maskierten Männern überfallen worden war, draußen, auf seinem Hof! Er hatte sie auf einen Küchenstuhl gesetzt und ihr vorsichtig das Blut aus dem Gesicht getupft. Das Nasenbluten hatte aufgehört, aber der Riss über ihrer Augenbraue, dessen Ränder er nur mit zwei Pflastern notdürftig zusammengeklebt hatte, würde wieder zu bluten anfangen.
»Du machst das echt gut.« Amelie grinste schief und zog an der Zigarette. Sie fühlte sich zittrig, ihr Herz klopfte, und das hatte nichts mit dem Überfall zu tun, sondern mit Tobias. Aus der Nähe und bei Tageslicht betrachtet, sah er noch viel besser aus, als sie zuerst angenommen hatte. Die Berührung seiner Hände elektrisierte sie, und wie er sie immer wieder aus seinen unglaublich blauen Augen anblickte, so besorgt und nachdenklich – das war fast zu viel für ihre Nerven. Kein Wunder, dass früher alle Mädchen in Altenhain hinter ihm her gewesen waren!
»Ich frag mich, was die hier gewollt haben«, überlegte sie, während Tobias sich an der Kaffeemaschine zu schaffen machte. Sie blickte sich neugierig um. In diesem Haus waren also die zwei Mädchen ermordet worden, Schneewittchen und Laura.
»Wahrscheinlich haben sie auf mich gewartet, und du bist ihnen in die Quere gekommen«, erwiderte er. Er stellte zwei Tassen auf den Tisch, dazu die Zuckerdose, und holte Milch aus dem Kühlschrank.
»Das sagst du so einfach! Hast du denn keine Angst?«
Tobias lehnte sich an die Arbeitsplatte und verschränkte die Arme vor der Brust. Mit schiefgelegtem Kopf sah er sie an. »Was soll ich denn machen? Mich verstecken? Weglaufen? Den Gefallen tue ich ihnen nicht.«
»Weißt du denn, wer das gewesen sein könnte?«
»Nicht genau. Aber ich kann es mir schon denken.«
Amelie spürte, wie ihr unter seinem Blick heiß wurde. Was war bloß los? So etwas war ihr noch nie passiert! Sie traute sich kaum, ihm in die Augen zu sehen, am Ende merkte er noch, was für ein Gefühlschaos er in ihrem Inneren auslöste. Die Kaffeemaschine gab ungesunde, röchelnde Töne von sich und stieß Dampfschwaden aus.
»Die müsste mal wieder entkalkt werden«, stellte sie fest. Ein jähes Lächeln erhellte sein düsteres Gesicht und veränderte es auf eine unglaubliche Weise. Amelie starrte ihn an. Plötzlich verspürte sie das unsinnige Verlangen, ihn zu beschützen, ihm zu helfen.
»Die Kaffeemaschine hat nicht unbedingt die oberste Priorität.« Er grinste. »Erst muss ich draußen aufräumen.«
Im gleichen Moment schrillte die Klingel der Haustür. Tobias trat ans Fenster, das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht.
»Schon wieder die Bullen«, sagte er mit plötzlicher Anspannung. »Verschwinde besser. Ich will nicht, dass man dich hier sieht.«
Sie nickte und stand auf. Er führte sie durch die Diele und wies auf eine Tür.
»Da geht es durch die Milchküche in den Stall. Schaffst du das alleine?«
»Klar. Ich hab keine Angst. Jetzt, wo es hell ist, werden die Kerle kaum noch draußen rumlungern«, erwiderte sie betont cool. Sie blickten sich an, Amelie senkte die Augen.
»Danke«, sagte Tobias leise. »Du bist ein mutiges Mädchen.«
Amelie machte eine abwehrende Handbewegung und wandte sich zum Gehen. Da schien Tobias etwas einzufallen. »Warte mal«, hielt er sie zurück.
»Ja?«
»Warum warst du eigentlich auf dem Hof?«
»Ich hab auf dem Bild in der Zeitung den Mann erkannt, der deine Mutter von der Brücke gestoßen hat«, antwortete Amelie nach einem kurzen Zögern. »Es ist Manfred Wagner. Der Vater von Laura.«
»Sie schon wieder.« Tobias Sartorius machte keinen Hehl daraus, dass ihm die Polizei nicht sonderlich willkommen war. »Ich habe wenig Zeit. Was gibt es noch?«
Pia schnupperte. In der Luft hing der Duft von frisch gebrühtem Kaffee.
»Haben Sie Besuch?«, fragte sie. Bodenstein hatte eben geglaubt, eine zweite Person durch das Küchenfenster gesehen zu haben, eine Frau mit dunklem Haar.
»Nein, habe ich nicht.« Tobias blieb mit verschränkten Armen in der Haustür stehen. Er bat sie nicht hinein, obwohl es angefangen hatte zu regnen. Auch gut.
»Sie müssen wie ein Verrückter gearbeitet haben«, stellte Pia fest und lächelte freundlich. »Hier sieht es toll aus.«
Ihre Freundlichkeit verfehlte ihre Wirkung. Tobias Sartorius blieb abweisend, seine ganze Körperhaltung strahlte Ablehnung aus.
»Wir wollten Ihnen nur mitteilen, dass man die sterblichen Überreste von Laura Wagner gefunden hat«, sagte Bodenstein nun.
»Wo?«
»Das müssten Sie eigentlich besser wissen als wir«, entgegnete Bodenstein kühl. »Immerhin haben Sie die Leiche von Laura doch am Abend des 6. September 1997 im Kofferraum Ihres Autos dorthin transportiert.«
»Nein, das habe ich nicht.« Tobias runzelte die Stirn, doch seine Stimme blieb ruhig. »Ich habe Laura überhaupt nicht mehr gesehen, nachdem sie weggelaufen ist. Aber das habe ich sicher schon hundertmal gesagt, nicht wahr?«
»Lauras Skelett wurde bei Bauarbeiten auf dem alten Militärflughafen in Eschborn gefunden«, sagte Pia. »In einem Bodentank.«
Tobias sah sie an und schluckte. In seinen Augen lag Verständnislosigkeit.
»Auf dem Flughafen«, sagte er leise zu sich selbst. »Darauf wäre ich nie gekommen.«
Alles Abweisende war mit einem Mal von ihm abgefallen, er wirkte betroffen, geradezu verstört. Pia machte sich bewusst, dass er elf Jahre Zeit gehabt hatte, sich auf diesen Augenblick der Konfrontation mit seiner Tat vorzubereiten.
Er musste damit gerechnet haben, dass man die Leichen der Mädchen eines Tages finden würde. Vielleicht hatte er seine Reaktion einstudiert, hatte eingehend darüber nachgedacht, wie er glaubwürdig den Überraschten spielen konnte. Andererseits – wozu sollte er das tun? Er hatte seine Strafe verbüßt, es konnte ihm egal sein, wenn man die Leichen fand. Ihr fiel ein, wie Hasse den Mann charakterisiert hatte: arrogant, überheblich, eiskalt. Stimmte das?
»Uns würde interessieren, ob Laura schon tot war, als Sie sie in den Tank geworfen haben«, sagte Bodenstein. Pia beobachtete Tobias genau. Er war sehr blass, es zuckte um seinen Mund, als wolle er in Tränen ausbrechen.
»Darauf kann ich Ihnen keine Antwort geben«, erwiderte er tonlos.
»Wer dann?«, fragte Pia.
»Diese Frage beschäftigt mich seit elf Jahren beinahe Tag und Nacht.« Seine Stimme klang mühsam beherrscht. »Es ist mir egal, ob Sie mir das glauben oder nicht. Ich habe mich längst daran gewöhnt, für den Bösen gehalten zu werden.«
»Ihrer Mutter könnte es jetzt erheblich bessergehen, wenn Sie damals gesagt hätten, was Sie mit dem Mädchen gemacht haben«, bemerkte Bodenstein. Tobias schob die Hände in die Taschen seiner Jeans.
»Heißt das, dass Sie herausgefunden haben, welches Schwein meine Mutter von der Brücke gestoßen hat?«
»Nein, das haben wir noch nicht«, räumte Bodenstein ein. »Aber wir gehen mittlerweile davon aus, dass es jemand aus dem Dorf war.«
Tobias lachte. Ein kurzes Schnauben ohne Heiterkeit.
»Herzlichen Glückwunsch zu dieser unglaublich scharfsinnigen Erkenntnis«, sagte er spöttisch. »Ich könnte Ihnen ja weiterhelfen, denn ich weiß, wer's gewesen ist. Aber warum sollte ich das tun?«
»Weil derjenige eine Straftat begangen hat«, erwiderte Bodenstein. »Sie müssen uns sagen, was Sie wissen.«
»Ich muss einen Scheißdreck.« Tobias Sartorius schüttelte den Kopf. »Vielleicht seid ihr ja besser als eure Kollegen damals. Meiner Mutter, meinem Vater und mir würde es nämlich ebenfalls erheblich bessergehen, wenn die Polizei damals ordentlicher gearbeitet und den wirklichen Mörder gefasst hätte.«
Pia wollte etwas Beschwichtigendes einwenden, aber Bodenstein kam ihr zuvor. »Natürlich.« Seine Stimme klang sarkastisch. »Sie sind ja unschuldig. Das kennen wir. Unsere Gefängnisse sind voll mit Unschuldigen.«
Tobias musterte ihn mit steinerner Miene. In seinen Augen flackerte mühsam unterdrückte Wut. »Ihr Bullen seid doch alle gleich – überheblich und selbstherrlich«, zischte er verächtlich. »Ihr habt doch keinen blassen Schimmer, was hier abgeht. Und jetzt verschwindet von hier! Lasst mich endlich in Ruhe!«
Bevor Pia oder Bodenstein noch etwas sagen konnten, knallte er ihnen die Haustür vor der Nase zu.
»Das hättest du nicht sagen sollen«, sagte Pia vorwurfsvoll, als sie zurück zum Auto gingen. »Jetzt hast du ihn richtig gegen uns aufgebracht, und wir wissen immer noch nicht mehr.«
»Ich hatte doch recht!« Bodenstein blieb stehen. »Hast du seine Augen gesehen? Der Kerl ist zu allem fähig, und falls er wirklich weiß, wer seine Mutter von der Brücke gestoßen hat, dann ist derjenige in Gefahr.«
»Du bist voreingenommen«, warf Pia ihm vor. »Er kommt nach über zehn Jahren Knast, in dem er möglicherweise wirklich zu Unrecht gesessen hat, nach Hause und muss feststellen, dass sich hier alles verändert hat. Seine Mutter wird angegriffen und schwer verletzt, Unbekannte aus dem Dorf beschmieren das Haus seiner Eltern. Ist es da ein Wunder, dass er wütend ist?«
»Ich bitte dich, Pia! Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass man den Kerl fälschlicherweise wegen Doppelmordes verurteilt hat!«
»Ich glaube gar nichts. Aber ich bin in den alten Fallakten auf Unstimmigkeiten gestoßen und habe so meine Zweifel bekommen.«
»Der Mann ist eiskalt. Und was die Reaktionen der Dörfler angeht, kann ich sie sogar verstehen.«
»Sag mal, du wirst doch nicht gutheißen, dass die Hauswände beschmieren und kollektiv einen Straftäter decken!« Pia schüttelte ungläubig den Kopf.
»Ich behaupte ja nicht, dass ich das gutheiße«, erwiderte Bodenstein. Sie standen unter dem Torbogen und zankten wie ein altes Ehepaar, dabei bemerkten sie nicht, wie Tobias Sartorius das Haus verließ und über den rückwärtigen Hof verschwand.
Andrea Wagner konnte nicht schlafen. Man hatte Lauras Leiche gefunden, oder eher das, was von ihr übrig war. Endlich, endlich war die Ungewissheit vorbei. Auf ein Wunder gehofft hatte sie schon lange nicht mehr. Zuerst hatte sie nichts als grenzenlose Erleichterung empfunden, aber dann war die Trauer gekommen. Elf Jahre lang hatte sie sich Tränen und Trauer verboten, hatte Stärke gezeigt und ihren Mann gestützt, der sich seinem Kummer um das verlorene Kind hemmungslos hingegeben hatte. Sie selbst hatte es sich nicht leisten können, zusammenzubrechen. Da war die Firma, die laufen musste, damit sie die Schulden bei der Bank bezahlen konnten. Und da waren ihre jüngeren Kinder, die ein Recht auf ihre Mutter hatten. Nichts war mehr so, wie es einmal gewesen war. Manfred hatte jede Energie und Lebensfreude verloren, war ihr ein Klotz am Bein geworden mit seinem weinerlichen Selbstmitleid und seiner Trunksucht. Manchmal verachtete sie ihn deswegen. Er machte es sich so leicht mit seinem Hass auf Tobias' Familie.
Andrea Wagner öffnete die Tür zu Lauras Zimmer, in dem seit elf Jahren nichts verändert worden war. Manfred bestand darauf, und sie akzeptierte es. Sie schaltete das Licht ein, nahm das Foto von Laura vom Schreibtisch und setzte sich auf das Bett. Vergeblich wartete sie auf die Tränen. Ihre Gedanken wanderten zu jenem Augenblick vor elf Jahren, als die Polizei vor der Haustür gestanden und ihr mitgeteilt hatte, dass man nach Auswertung der Spurenlage Tobias Sartorius für den Mörder ihrer Tochter halte.
Wieso Tobias?, hatte sie verwirrt gedacht. Auf Anhieb waren ihr zehn andere eingefallen, die mehr Gründe gehabt hätten, sich an Laura zu rächen, als Tobias. Andrea Wagner hatte gewusst, was man im Dorf hinter vorgehaltener Hand über ihre Tochter redete. Als Flittchen hatte man sie bezeichnet, als berechnendes kleines Aas mit Drang nach Höherem. Während Manfred seine älteste Tochter abgöttisch und kritiklos liebte und für ihr Fehlverhalten immer eine Entschuldigung fand, so hatte Andrea auch Lauras Schwächen gesehen und gehofft, sie würden sich im Laufe der Jahre verwachsen. Dazu hatte das Mädchen keine Gelegenheit mehr bekommen. Seltsam eigentlich, dass sie sich im Zusammenhang mit Laura nur mit Mühe an schöne Ereignisse erinnern konnte. Viel lebhafter war die Erinnerung an die unerfreulichen Dinge, von denen es einige gegeben hatte. Laura hatte ihren Vater geringgeschätzt und sich für ihn geschämt. Sie wünsche sich einen Vater wie Claudius Terlinden, der Manieren und Macht besaß, das hatte sie Manfred ins Gesicht gesagt, zu jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit. Manfred hatte diese Kränkungen eingesteckt, ohne mit der Wimper zu zucken, der Liebe zu seiner hübschen Tochter hatten sie keinen Abbruch getan. Andrea hingegen hatte schockiert begriffen, wie wenig sie ihre Tochter kannte und dass sie offensichtlich in der Erziehung etwas versäumt hatte. Gleichzeitig hatte sie Angst bekommen. Was, wenn Laura herausfand, dass sie mit Claudius, ihrem Chef, ein Verhältnis hatte?
Nächtelang hatte sie wach gelegen und über ihre Tochter nachgegrübelt. In den darauffolgenden Jahren hatte sie noch viel mehr Gründe zur Besorgnis gehabt, denn Laura trieb es toll mit den Jungs im Dorf – bis sie endlich mit Tobias zusammenkam. Ganz plötzlich war sie wie ausgewechselt gewesen, zufrieden und fröhlich. Tobias tat ihr gut. Zweifellos war er etwas Besonderes, er sah gut aus, er war ein hervorragender Schüler und Sportler, die anderen Jungen hörten auf ihn. Er war genau das, was Laura sich immer gewünscht hatte, und sein Glanz färbte auf sie, seine Freundin, ab. Ein halbes Jahr ging alles gut – bis Stefanie Schneeberger nach Altenhain kam. Laura hatte sie sofort als Konkurrentin erkannt und sich mit ihr angefreundet, aber vergeblich. Tobias verliebte sich in Stefanie und machte mit Laura Schluss. Diese Niederlage hatte sie kaum verkraftet. Was genau sich in jenem Sommer zwischen den jungen Leuten abgespielt hatte, wusste Andrea Wagner nicht, wohl aber, dass Laura mit dem Feuer gespielt hatte, als sie die Freunde gegen Stefanie aufgestachelt hatte. Sie hatte Laura am Kopierer im Büro angetroffen, wo sie einen ganzen Stapel Kopien angefertigt hatte. Laura war ausgerastet, als sie einen Blick darauf hatte werfen wollen. Es war zu einem heftigen Streit gekommen, und Laura hatte in der Aufregung die Kopiervorlage auf dem Kopierer vergessen. Nur ein einziger Satz in Fettschrift stand auf dem weißen Blatt: SCHNEEWITTCHEN MUSS STERBEN. Andrea Wagner hatte das Blatt zusammengefaltet und aufgehoben, aber weder ihrem Mann noch der Polizei gezeigt. Der Gedanke, dass ihr Kind einem anderen Menschen den Tod wünschte, war für sie unerträglich gewesen. War Laura vielleicht Opfer ihrer eigenen Intrige geworden? Sie hatte den Mund gehalten, den Dingen ihren Lauf gelassen und Abend für Abend zugehört, wenn Manfred seine Tochter glorifizierte.
»Laura«, murmelte sie und streichelte das Foto mit dem Zeigefinger. »Was hast du getan?«
Plötzlich rollte eine Träne über ihre Wange, dann noch eine. Sie blinzelte, fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Es war keine Trauer, die ihr die Tränen in die Augen trieb, sondern das schlechte Gewissen darüber, dass sie ihre Tochter nicht geliebt hatte.
Es war halb zwei, als er vor ihrem Haus stand. Drei Stunden lang war er ziellos in der Gegend herumgefahren. So viel war heute auf ihn eingestürmt, dass er es daheim einfach nicht mehr ausgehalten hatte. Erst Amelie, die blutüberströmt vor ihm gestanden hatte. Der Schock bei ihrem Anblick. Es war nicht das Blut in ihrem Gesicht, das seinen Adrenalinspiegel in die Höhe des Mount Everest hatte schnellen lassen, sondern ihre unglaubliche Ähnlichkeit mit Stefanie. Dabei war sie ganz anders. Nicht die eitle kleine Schönheitskönigin, die ihn betört, verführt und eingewickelt hatte, nur um ihn dann eiskalt abzuservieren. Amelie war ein beeindruckendes Mädchen. Und sie schien überhaupt keine Berührungsängste zu haben.
Dann waren die Bullen aufgetaucht. Man hatte Lauras Leiche gefunden. Weil es so stark geregnet hatte, hatte er die Aufräumarbeiten im Hof sein lassen und seine Wut ins Ausmisten seines Zimmers gesteckt. Er hatte die albernen Poster von den Wänden gerissen, den Inhalt der Schränke und sämtlicher Schubladen kurz entschlossen in blaue Müllsäcke gestopft. Nur weg mit dem ganzen Kram! Plötzlich hatte er eine CD in der Hand gehalten. Time to say goodbye von Sarah Brightman und Andrea Bocelli. Stefanie hatte ihm diese CD geschenkt, weil sie sich bei diesem Lied zum ersten Mal geküsst hatten, im Juni, auf der Abiparty. Er hatte die CD aufgelegt, nicht gefasst auf das Gefühl der Leere, das ihn mit dem ersten Akkord jäh ergriffen und bis jetzt nicht mehr losgelassen hatte. Nie zuvor hatte er sich so einsam, so verlassen gefühlt, nicht einmal im Gefängnis. Da hatte er noch auf bessere Zeiten hoffen können, aber jetzt wusste er, dass sie nicht kommen würden. Sein Leben war vorbei.
Es dauerte einen Moment, bis Nadja ihn hereinließ. Er hatte schon befürchtet, sie sei nicht zu Hause. Er war nicht gekommen, um mit ihr zu schlafen, daran hatte er gar nicht gedacht, aber als sie jetzt vor ihm stand und verschlafen ins helle Licht blinzelte, das blonde Haar wirr auf ihren Schultern, so süß und warm, da durchzuckte ihn der Blitz des sexuellen Begehrens mit einer Heftigkeit, die er nicht für möglich gehalten hatte.
»Was …«, fragte sie, aber Tobias erstickte den Rest der Frage mit einem Kuss, zog sie an sich, wartete beinahe darauf, dass sie sich wehren, ihn von sich stoßen würde. Aber das Gegenteil war der Fall. Sie streifte ihm die nasse Lederjacke von den Schultern, knöpfte sein Hemd auf und schob sein T-Shirt hoch. Im nächsten Moment lagen sie schon auf dem Boden, er drang ungestüm in sie ein, spürte ihre Zunge in seinem Mund und ihre Hände auf seinem Hinterteil, die ihn drängten, härter und schneller zuzustoßen. Viel zu bald spürte er die Flutwelle heranrasen, die Hitze, die ihm den Schweiß aus allen Poren trieb. Dann brach es über ihn herein, so herrlich, so erleichternd, dass er aufstöhnte, ein Stöhnen, das zu einem dumpfen Schrei wurde. Mit rasendem Herzschlag lag er für ein paar Sekunden auf ihr und konnte kaum glauben, was er getan hatte. Er ließ sich zur Seite rutschen, blieb mit geschlossenen Augen auf dem Rücken liegen und schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Ihr leises Lachen veranlasste ihn dazu, die Augen zu öffnen. »Was ist?«, flüsterte er verwirrt.
»Ich glaube, wir müssen noch ein bisschen üben«, erwiderte sie. Mit einer grazilen Bewegung kam sie auf die Füße und hielt ihm die Hand hin. Er ergriff sie, erhob sich ächzend und folgte ihr ins Schlafzimmer, nachdem er sich seiner Schuhe und der Jeans entledigt hatte. Die Geister der Vergangenheit waren verschwunden. Wenigstens für den Moment.