Donnerstag, 13. November 2008
»Die Polizei war gestern bei mir.« Tobias pustete in den heißen Kaffee, den Nadja ihm eingeschenkt hatte. Gestern Nacht hatte er nicht von dem Thema anfangen wollen, aber nun musste er ihr davon erzählen. »Sie haben das Skelett von Laura auf dem alten Flughafen in Eschborn gefunden. In einem Bodentank.«
»Wie bitte?« Nadja, die gerade einen Schluck aus ihrer Tasse nehmen wollte, erstarrte mitten in der Bewegung. Sie saßen an dem Tisch aus grauem Granit in der Küche, an dem sie neulich schon gemeinsam zu Abend gegessen hatten. Es war kurz nach sieben, und vor den Panoramafenstern herrschte noch tiefe Dunkelheit. Nadja musste um acht Uhr ihren Flug nach Hamburg erwischen, wo die Außendreharbeiten für die neue Folge der Serie stattfanden, in der sie die Kriminalkommissarin spielte.
»Wann …« Sie stellte die Tasse ab. »Ich meine … woher wissen sie, dass es Laura ist?«
»Keine Ahnung.« Tobias schüttelte den Kopf. »Viel mehr haben sie nicht gesagt. Zuerst wollten sie auch gar nicht damit herausrücken, wo sie das Skelett gefunden haben. Der Oberbulle meinte nur, ich wisse ja wohl, wo.«
»O mein Gott«, stieß Nadja schockiert hervor.
»Nadja.« Er beugte sich vor und legte seine Hand auf ihre. »Sag mir bitte, wenn du willst, dass ich verschwinde.«
»Aber wieso sollte ich das denn wollen?«
»Ich sehe doch, dass es dir vor mir graut.«
»So ein Unsinn.«
Er ließ sie los, stand auf und wandte ihr den Rücken zu. Einen Moment kämpfte er mit sich selbst. Die halbe Nacht hatte er wach gelegen, hatte ihren regelmäßigen Atemzügen gelauscht und sich gefragt, wann sie seiner wohl überdrüssig werden würde. Schon jetzt fürchtete er sich vor dem Tag, an dem sie ihn mit verlegenen Ausreden abwimmeln, ihm ausweichen, sich vor ihm verleugnen lassen würde. Dieser Tag musste kommen. Er war nicht der richtige Mann für sie. Niemals würde er in ihre Welt, in ihr Leben passen.
»Dieses Thema lässt sich nicht einfach ausklammern«, sagte er schließlich mit belegter Stimme. »Ich bin wegen Mordes verurteilt worden und habe zehn Jahre im Knast gesessen. Wir können nicht einfach so tun, als sei das alles nie geschehen und wir wären noch zwanzig.«
Er drehte sich um. »Ich habe keine Ahnung, wer Laura und Stefanie umgebracht hat. Ich kann nicht ausschließen, dass ich es war, aber ich müsste mich doch daran erinnern! Und das kann ich bis heute nicht. Es gibt da nur dieses … dieses schwarze Loch. Die Psychologin vor Gericht hat damals behauptet, das menschliche Gehirn würde bei so etwas mitunter wie bei einem Schock mit einer Art Amnesie reagieren. Aber glaubst du nicht, dass ich mich wenigstens an irgendetwas erinnern müsste? Daran, wie ich Laura in den Kofferraum gelegt habe und irgendwo hingefahren bin. Ich weiß einfach nichts mehr. Das Letzte, an das ich mich erinnere, ist, wie Stefanie mir gesagt hat, dass sie … dass sie … mich nicht mehr liebt. Und dann waren Felix und Jörg irgendwann an der Tür, da hatte ich aber so viel Wodka getrunken, dass mir nur noch schlecht war. Und plötzlich stehen die Bullen da und behaupten, ich hätte Laura und Stefanie umgebracht!«
Nadja saß da und blickte ihn aus ihren großen, jadegrünen Augen aufmerksam an.
»Verstehst du, Nadja.« Sein Tonfall wurde flehend. Der Schmerz in seinem Inneren war wieder da, mächtiger als je zuvor. Zu viel stand auf dem Spiel. Er wollte sich nicht auf eine Beziehung mit Nadja einlassen, wenn er wusste, dass sie mit einer weiteren Enttäuschung enden würde. »Es quält mich schrecklich, nicht zu wissen, was damals wirklich geschehen ist. Bin ich ein Mörder? Oder bin ich keiner?«
»Tobi«, sagte Nadja leise. »Ich liebe dich. Seit ich denken kann. Es spielt für mich keine Rolle, selbst wenn du es getan haben solltest.«
Tobias verzog verzweifelt das Gesicht. Sie wollte einfach nicht verstehen. Dabei brauchte er so dringend jemanden, der ihm glaubte. Der an ihn glaubte. Er war für ein Leben als Ausgestoßener nicht gemacht und würde daran zerbrechen.
»Aber für mich spielt es eine Rolle«, erwiderte er eindringlich. »Ich habe zehn Jahre meines Lebens verloren. Ich habe keine Zukunft mehr. Irgendjemand hat sie mir kaputtgemacht. Und ich kann nicht einfach so tun, als wäre alles vorbei.«
»Was hast du stattdessen vor?«
»Ich will die Wahrheit wissen. Auch auf die Gefahr hin, herauszufinden, dass ich es wirklich getan habe.«
Nadja schob den Stuhl zurück. Sie kam mit leichten Schritten auf ihn zu, schlang ihre Arme um seine Mitte und blickte zu ihm auf.
»Ich glaube dir«, sagte sie leise. »Und wenn du willst, dann helfe ich dir bei allem, was du tun musst. Aber geh nicht zurück nach Altenhain. Bitte.«
»Wo soll ich denn sonst hin?«
»Bleib hier. Oder in meinem Haus im Tessin. Oder in Hamburg.« Sie lächelte, erwärmte sich für ihre Idee. »Genau! Komm doch gleich mit! Das Haus wird dir gefallen. Es liegt direkt am Wasser.«
Tobias zögerte. »Ich kann doch meinen Vater jetzt nicht alleine lassen. Und meine Mutter braucht mich auch. Wenn es ihr erst bessergeht, dann vielleicht.«
»Von hier bist du mit dem Auto in einer Viertelstunde bei deinem Vater.« Nadjas große grüne Augen waren dicht vor seinen. Er roch den Duft ihrer Haut, ihres Shampoos. Die halbe männliche Bevölkerung Deutschlands träumte davon, von Nadja von Bredow gebeten zu werden, bei ihr einzuziehen. Was hielt ihn davon ab?
»Tobi, bitte!« Sie legte ihre Handflächen an seine Wangen. »Ich habe Angst um dich. Ich will nicht, dass dir etwas zustößt. Wenn ich nur daran denke, dass diese Typen dich erwischt hätten statt dieses Mädchens …«
Amelie! An sie hatte er gar nicht mehr gedacht! Sie war in Altenhain, da, wo sich die Wahrheit über die schrecklichen Ereignisse irgendwo versteckte.
»Ich pass schon auf mich auf«, versicherte er. »Mach dir keine Sorgen.«
»Ich liebe dich, Tobi.«
»Ich liebe dich auch«, erwiderte er und zog sie fest an sich.
»Chef?« Kai Ostermann stand in der Tür seines Büros, in der Hand hielt er zwei Blätter.
Bodenstein blieb stehen. »Was gibt's?«, fragte er.
»Das ist eben per Fax gekommen.« Ostermann reichte ihm die Blätter und warf einen forschenden Blick auf Bodensteins Gesicht, aber da dieser nichts weiter sagte, enthielt auch Ostermann sich eines Kommentars.
»Danke«, sagte Bodenstein nur und ging mit klopfendem Herzen in sein Büro. Es war das Bewegungsprofil von Cosimas Handy im Zeitraum der letzten vierzehn Tage, das er vorgestern bei der Telekom angefordert hatte. Zum ersten Mal hatte er seine beruflichen Möglichkeiten ausgenutzt, um in einer Privatangelegenheit etwas in Erfahrung zu bringen. Der Drang, Gewissheit zu bekommen, war stärker als sein schlechtes Gewissen wegen eines Vorgehens, das ihm ein böswilliger Sachbearbeiter als Amtsmissbrauch auslegen könnte. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und wappnete sich innerlich. Was er lesen musste, raubte ihm jede Illusion. Sie war an genau zwei Tagen tatsächlich in Mainz gewesen, und das nur für jeweils eine Stunde. Dafür aber hatte sie ihre Vormittage an acht Tagen in Frankfurt verbracht. Bodenstein stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch, legte das Kinn auf seine Fäuste und überlegte einen Moment. Dann griff er zum Telefon und wählte die Nummer von Cosimas Büro. Kira Gasthuber, Cosimas Produktionsassistentin und Mädchen für alles, meldete sich nach dem zweiten Läuten. Cosima sei für kurze Zeit außer Haus. Weshalb er es nicht einfach auf ihrem Handy probiere.
›Damit sie mich nicht anlügt, du dumme Nuss‹, dachte Bodenstein. Er wollte gerade das Gespräch beenden, da hörte er das helle Stimmchen seiner jüngsten Tochter im Hintergrund. Sofort schrillten alle Alarmglocken in seinem Kopf. Cosima nahm Sophia normalerweise immer und überallhin mit. Warum hatte sie das Kind heute im Büro gelassen? Auf seine Frage antwortete die schlagfertige Kira, Cosima sei ja nicht lange weg, und Sophia amüsiere sich bestens bei ihr und Rene. Als er aufgelegt hatte, saß Bodenstein noch eine ganze Weile an seinem Schreibtisch. Seine Gedanken kreisten. Fünfmal war Cosimas Telefon in der Funkzelle geortet worden, die sich im Frankfurter Nordend zwischen der Glauburg-Straße, dem Oeder Weg, der Eckenheimer Landstraße und der Eschersheimer Anlage befand. Auf dem Stadtplan mochte das klein aussehen, aber das Gebiet umfasste Hunderte von Häusern mit Tausenden von Wohnungen. Verdammt. Wo trieb sie sich herum? Und vor allen Dingen mit wem? Wie würde er reagieren, wenn sich herausstellte, dass sie ihn tatsächlich betrog? Und wieso glaubte er überhaupt, dass sie es nötig hatte, ihn zu betrügen? Gut, ihr Sexleben war nicht mehr so rege wie noch vor Sophias Geburt, das brachte die Anwesenheit eines kleinen Kindes eben mit sich. Aber es war ja nicht so, dass Cosima etwas vermisste. Oder? Zu seiner Schande konnte er sich gar nicht mehr genau erinnern, wann er das letzte Mal mit seiner Frau geschlafen hatte. Er dachte nach und rechnete zurück. Doch! An dem Abend, als sie leicht beschwipst und bester Laune von der Geburtstagsfeier eines Freundes zurückgekommen waren. Bodenstein suchte seinen Terminplaner heraus und schaute nach. Ihn beschlich ein eigenartiges Gefühl, das sich verstärkte, je weiter er zurückblätterte. Hatte er gar vergessen, Bernhards Geburtstag einzutragen? Nein, hatte er nicht. Bernhard hatte am 20. September seinen Fünfzigsten gefeiert, auf Schloss Johannisberg im Rheingau. Das konnte doch nicht wahr sein! Er zählte nach und stellte beschämt fest, dass er seit acht Wochen nicht mehr mit Cosima geschlafen hatte. War er am Ende selbst daran schuld, wenn sie fremdging? Es klopfte an der Tür, Nicola Engel trat ein. »Was gibt's?«, fragte er.
»Wann«, sagte sie mit frostiger Miene, »wolltest du mir mitteilen, dass Kriminaloberkommissar Behnke einem nicht genehmigten Nebenjob in einer Kneipe in Sachsenhausen nachgeht?«
Verdammt! Das hatte er doch glatt vergessen über seine privaten Probleme. Er fragte nicht, woher sie schon wieder Bescheid wusste, und verzichtete auch auf jede Art der Rechtfertigung.
»Ich wollte erst selbst mit ihm sprechen«, antwortete er nur. »Dazu hatte ich bisher noch keine Gelegenheit.«
»Heute Abend um 18:30 hast du sie. Ich habe Behnke hierherbestellt, ob krank oder nicht. Sieh zu, wie du die Kuh vom Eis kriegst.«
Sein Handy klingelte schon, als er an der Zollkontrolle vorbei zum Ausgang ging. Lars Terlinden wechselte den Aktenkoffer in die andere Hand und nahm das Gespräch entgegen. Den ganzen Tag hatte er sich in Zürich vom Vorstand fertigmachen lassen müssen, dabei hatten sie ihn noch vor ein paar Monaten für genau diesen Deal, für den sie ihn heute ans Kreuz schlagen wollten, gefeiert wie den Heiland. Verdammt, er war auch kein Hellseher! Wie hatte er wissen sollen, dass Dr. Markus Schönhausen in Wirklichkeit Matthias Mutzier hieß, nicht aus Potsdam stammte, sondern aus einem Dorf auf der Schwäbischen Alb und ein Hochstapler der allerübelsten Sorte war! Es war schließlich nicht sein Problem, wenn die Rechtsabteilung seiner Bank ihre Hausaufgaben nicht richtig machte. Da waren schon Köpfe gerollt, und seiner würde der nächste sein, wenn ihm nicht einfiel, womit er den Totalausfall in dreistelliger Millionenhöhe wettmachen konnte.
»Ich bin in zwanzig Minuten im Büro«, sagte er zu seiner Sekretärin, als sich die Milchglasscheiben vor ihm öffneten. Er war erschöpft, ausgebrannt, fertig mit den Nerven und der Welt. Und das mit gerade mal dreißig Jahren. Schlafen konnte er nur noch mit Tabletten, das Essen fiel ihm schwer, nur trinken, das ging noch. Lars Terlinden wusste, dass er auf dem besten Weg war, ein Alkoholiker zu werden, aber um das Problem konnte er sich später kümmern, wenn dieses Drama überstanden war. Wobei ein Ende nicht in Sicht war. Die Weltwirtschaft wankte, die größten Banken Amerikas gingen bankrott. Lehman Brothers war nur der Anfang gewesen. Sein eigener Arbeitgeber, immerhin eine der größten Schweizer Banken, hatte im letzten Jahr schon 5000 Mitarbeiter weltweit entlassen, in den Büros und Fluren herrschte nackte Existenzangst. Das Telefon klingelte wieder, er steckte es in die Tasche und beachtete es nicht. Die Nachricht von der Pleite von Schönhausens Immobilienimperium vor sechs Wochen hatte ihn völlig unerwartet getroffen, noch zwei Tage zuvor hatte er mit Schönhausen im Adlon in Berlin zu Mittag gegessen. Da hatte der Mann längst gewusst, dass die Insolvenz bevorstand, dieser aalglatte Schweinehund, der mittlerweile von Interpol gesucht wurde, weil er sich aus dem Staub gemacht hatte. In einem Kraftakt war es Lars Terlinden wenigstens noch geglückt, einen großen Teil des Kreditportfolios zu verbriefen und an Investoren zu verkaufen, aber 350 Millionen Euro waren futsch.
Eine Frau trat ihm in den Weg, er wollte ihr ausweichen, denn er hatte es eilig, aber sie blieb beharrlich stehen und sprach ihn an. Da erst erkannte er seine Mutter, die er seit acht Jahren nicht mehr gesehen hatte.
»Lars!«, wiederholte sie bittend. »Lars, bitte warte doch!«
Sie sah aus wie immer. Zierlich und gepflegt, das goldblonde Haar zu einem perfekten Pagenschnitt frisiert. Dezentes Make-up, die Perlenkette am sonnengebräunten Dekollete. Sie lächelte demütig, und das brachte ihn sofort auf die Palme.
»Was willst du?«, fragte er unfreundlich. »Hat dein Mann dich geschickt?«
Die Worte mein Vater brachte er nicht über die Lippen.
»Nein, Lars. So bleib doch stehen. Bitte.«
Er verdrehte die Augen und gehorchte. Als Kind hatte er seine Mutter verehrt, sie angehimmelt und schmerzlich vermisst, wenn sie wieder einmal für Tage oder mehrere Wochen auf Reisen war und ihn und Thies der Haushälterin überlassen hatte. Er hatte ihr alles verziehen, um ihre Liebe gebuhlt, aber nie mehr bekommen als ein Lächeln, schöne Worte und Versprechungen. Erst sehr viel später hatte er begriffen, dass sie nicht mehr geben konnte, weil sie nicht mehr hatte. Christine Terlinden war ein leeres Gefäß, eine geistlose Schönheit ohne jede Persönlichkeit, die es sich zur Lebensaufgabe gemacht hatte, die perfekte repräsentative Ehefrau des erfolgreichen Konzernlenkers Claudius Terlinden zu sein.
»Gut siehst du aus, Junge. Ein bisschen mager vielleicht.« Sie blieb sich auch jetzt treu. Nach all der Zeit reichte es wieder nur zu einer ihrer Floskeln. Lars Terlinden hatte angefangen, seine Mutter zu verachten, als ihm klargeworden war, dass sie ihn sein ganzes Leben lang getäuscht hatte.
»Was willst du, Mutter?«, wiederholte er ungeduldig.
»Tobias ist aus dem Gefängnis zurück«, sagte sie mit gesenkter Stimme. »Und die Polizei hat das Skelett von Laura gefunden. Auf dem alten Flugplatz in Eschborn.«
Er biss die Zähne zusammen. Unversehens raste sein Leben im Zeitraffertempo zurück in die Vergangenheit. Er hatte das entsetzliche Gefühl, mitten in der Ankunftshalle des Frankfurter Flughafens wieder zu einem pickligen Neunzehnjährigen zusammenzuschrumpfen, dem die nackte Angst im Genick saß. Laura! Nie würde er ihr Gesicht vergessen, ihr Lachen, ihre unbekümmerte Lebensfreude, der so jäh ein Ende gesetzt worden war. Er hatte nicht einmal mehr mit Tobias sprechen können, so schnell hatte sein Vater alle Entscheidungen für ihn getroffen und ihn in Windeseile auf das Landgut irgendeines Bekannten im tiefsten Oxfordshire verbannt. Denk an deine Zukunft, Junge! Halt dich da raus, halt nur den Mund. Dann wird nichts passieren. Er hatte natürlich auf seinen Vater gehört. Sich rausgehalten und geschwiegen. Es war zu spät gewesen, als er von Tobis Verurteilung gehört hatte. Elf Jahre lang hatte er alles getan, um nicht mehr daran denken zu müssen, an diesen schrecklichen Abend, an sein Entsetzen, an seine Angst. Elf beschissene Jahre lang hatte er beinahe rund um die Uhr gearbeitet, nur um vergessen zu können. Und jetzt kam seine Mutter im Pelzmäntelchen angetrippelt und riss mit puppenhaftem Lächeln die alten Wunden auf.
»Das interessiert mich nicht mehr, Mutter«, sagte er scharf. »Ich habe nichts damit zu tun.«
»Aber …«, setzte sie an, doch er ließ sie nicht ausreden.
»Lass mich in Ruhe!«, zischte er. »Hast du verstanden? Ich wünsche nicht, dass du mich noch mal kontaktierst! Halt dich einfach von mir fern, wie du es dein Leben lang getan hast!«
Damit drehte er sich um, ließ sie stehen und marschierte zu der Rolltreppe, die hinunter zum S-Bahnhof führte.
Sie standen in der Garage und tranken Bier direkt aus der Flasche, ganz wie früher. Tobias fühlte sich unbehaglich, und allen anderen schien es ebenso zu gehen. Weshalb war er überhaupt hierhergekommen? Sein alter Freund Jörg hatte ihn zu seiner Überraschung am Nachmittag angerufen und ihn eingeladen, mit ihm, Felix und ein paar Kumpels ein Bierchen zu trinken. In der großen Garage, die Jörgs Onkel gehörte, hatten sie als Jugendliche oft zusammen an ihren Mofas, später dann an den Mopeds und schließlich an ihren Autos herumgeschraubt. Jörg war ein begnadeter Automechaniker, der schon als Junge davon geträumt hatte, Rennfahrer zu werden. Es roch in der Garage genauso wie in Tobias' Erinnerung, nach Motoröl und Lack, nach Leder und Politur. Sie saßen auf derselben alten Werkbank, auf umgedrehten Bierkästen und Autoreifen. Nichts um sie herum hatte sich verändert. Tobias hielt sich aus dem Gespräch heraus, das wohl wegen seiner Anwesenheit so gezwungen launig geriet. Jeder hatte ihn zwar mit Handschlag begrüßt, aber die Wiedersehensfreude hielt sich in Grenzen. Nach einer Weile ergab es sich, dass Tobias, Jörg und Felix zusammenstanden. Felix war Dachdecker geworden, im Betrieb seines Vaters. Schon als Teenager war er von kräftiger Statur gewesen, die schwere Arbeit und eifriger Bierkonsum hatten ihn über die Jahre zu einem Koloss gemacht. Seine gutmütigen Augen verschwanden beinahe in einer Fettschicht, wenn er lachte. Tobias musste an ein Rosinenbrötchen denken. Jörg hingegen sah noch fast aus wie damals, nur sein Haaransatz war weit die Stirn hinaufgerutscht.
»Was ist eigentlich aus Lars geworden?«, fragte Tobias.
»Nicht das, was sein Alter sich erhofft hatte.« Felix grinste boshaft. »Auch die Reichen haben Probleme mit ihren Kindern. Der eine ist ein Depp, und der andere hat ihm was geschissen.«
»Lars hat richtig fett Karriere gemacht«, erklärte Jörg. »Hat mir meine Mutter erzählt, die weiß es von seiner. Investmentbanking. Großes Geld. Ist verheiratet, zwei Kinder, und hat 'ne Riesenvilla in Glashütten gekauft, nachdem er aus England zurückgekommen ist.«
»Ich dachte immer, er wollte Theologie studieren und Priester werden«, bemerkte Tobias. Der Gedanke an den besten Freund, der so plötzlich und ohne jeden Abschied aus seinem Leben verschwunden war, schmerzte zu seinem Erstaunen tatsächlich.
»Ich wollte auch nie Dachdecker werden.« Felix öffnete mit seinem Feuerzeug eine neue Flasche Bier. »Aber beim Bund wollten sie mich nicht und bei der Polizei auch nicht, und die Lehre als Bäcker hab ich ja geschmissen, kurz nachdem … äh … ihr wisst schon …«
Er brach ab, senkte verlegen den Blick.
»Und ich konnte nach meinem Unfall eine Karriere als Rennfahrer abschreiben«, fügte Jörg eilig hinzu, bevor das Schweigen noch peinlicher wurde. »Deshalb bin ich auch nicht in der Formel 1 gelandet, sondern im Schwarzen Ross. Du weißt ja, dass meine Schwester den Jagielski geheiratet hat, oder?«
Tobias nickte. »Mein Vater hat's mir damals erzählt.«
»Tja.« Jörg nahm einen Schluck aus der Bierflasche. »Scheint ganz so, als ob keiner von uns das erreicht hat, wovon er mal geträumt hat.«
»Nathalie schon«, entgegnete Felix. »Mensch, was haben wir sie immer ausgelacht, wenn sie gesagt hat, dass sie eine berühmte Schauspielerin werden will!«
»Zielstrebig war sie schon immer«, sagte Jörg. »Was die uns rumkommandiert hat! Aber dass sie mal so eine Berühmtheit wird, hätte ich auch nie gedacht.«
»Na ja.« Tobias grinste ein bisschen. »Ich hätte auch nicht gedacht, dass ich mal im Knast eine Schlosserlehre und ein Wirtschaftsstudium mache.«
Seine Freunde zögerten erst einen Moment verlegen, aber dann lachten sie. Der Alkohol lockerte die Stimmung. Nach der fünften Flasche Bier wurde Felix redselig.
»Ich mach mir heute noch Vorwürfe, dass ich damals den Bullen erzählt hab, dass wir noch mal bei dir waren, Alter«, sagte er zu Tobias und legte ihm schwer die Hand auf die Schulter.
»Ihr habt nur die Wahrheit gesagt.« Tobias zuckte die Achseln. »Es konnte ja keiner ahnen, wohin das alles führen würde. Ist aber jetzt auch egal. Ich bin wieder da, und ich bin echt froh, dass ihr mir nicht aus dem Weg geht, wie die meisten hier im Dorf.«
»Quatsch.« Jörg klopfte ihm auf die andere Schulter. »Wir sind doch Freunde, Mann! Weißt du noch, wie wir den alten Opel, den mein Onkel in tausend Stunden Fummelarbeit restauriert hat, zu Schrott gefahren haben? Mensch, da war was los!«
Tobias erinnerte sich, Felix auch. Und schon waren sie mittendrin im Weißt du noch? Die Party bei Terlindens, bei der sich die Mädchen ausgezogen hatten und mit Mutter Terlindens Pelzmänteln durchs Haus gerannt waren. Der Geburtstag von Micha, als die Bullen anrückten. Die Mutproben auf dem Friedhof. Die Italienreise mit der C-Jugend. Das Feuer beim Martinsumzug, das außer Kontrolle geraten war, weil Felix einen Kanister Benzin als Brandbeschleuniger benutzt hatte. Sie kamen aus den Erinnerungen und aus dem Lachen nicht mehr heraus. Jörg wischte sich die Lachtränen vom Gesicht.
»Mensch, könnt ihr euch erinnern, wie meine Schwester den Schlüsselbund von meinem Alten für den Flugplatz geklaut hat und wir in dem alten Flugzeughangar Rennen gefahren sind? Mann, das war geil!«
Amelie saß an ihrem Schreibtisch und surfte im Internet, als es an der Haustür klingelte. Sie klappte ihren Laptop zu und sprang auf. Es war Viertel vor elf! Verflucht! Hatten die Alten den Haustürschlüssel vergessen? Auf Strümpfen sauste sie die Treppe hinunter, bevor es noch einmal klingelte und die Kleinen wach wurden, die sie mit Mühe und Not vor einer Stunde ins Bett befördert hatte. Sie warf einen Blick auf den kleinen Monitor, der mit den beiden Kameras links und rechts der Haustür verbunden war. Das unscharfe Schwarzweißbild zeigte einen Mann mit hellen Haaren. Amelie riss die Tür auf und staunte nicht schlecht, als Thies vor ihr stand. Seit sie ihn kannte, war er noch nie bis an ihre Haustür gekommen, und geklingelt hatte er erst recht nicht. Ihr Erstaunen verwandelte sich in Besorgnis, als sie erkannte, in welchem Zustand der Freund war. So nervös hatte sie Thies noch nie erlebt. Seine Hände flatterten hin und her, seine Augen flackerten, er zuckte am ganzen Körper.
»Was ist denn los?«, fragte Amelie leise. »Ist was passiert?«
Statt zu antworten, hielt Thies ihr eine Papierrolle hin, die sorgfältig mit einem breiten Band verschnürt war. Amelies Füße verwandelten sich auf dem kalten Treppenabsatz in Eisklumpen, aber sie machte sich echte Sorgen um den Freund.
»Willst du nicht reinkommen?«
Thies schüttelte heftig den Kopf und sah sich immer wieder um, als befürchte er, verfolgt zu werden.
»Die Bilder darf niemand sehen«, sagte er plötzlich mit seiner wie immer etwas heiser klingenden Stimme. »Du musst sie verstecken.«
»Klar«, sagte sie. »Mach ich.«
Die Scheinwerfer eines Autos krochen durch den Nebel die Straße hoch und erfassten sie für einen Moment, als der Wagen in die Einfahrt der Lauterbachs einbog. Die Garage befand sich nur knapp fünf Meter unterhalb der Treppe, auf der Amelie gerade stand – allein, wie sie plötzlich feststellte; Thies war wie vom Erdboden verschluckt. Daniela Lauterbach stellte den Motor ab und stieg aus.
»Hallo, Amelie!«, rief sie freundlich.
»Hallo, Frau Dr. Lauterbach«, erwiderte Amelie.
»Was stehst du denn vor der Haustür herum? Hast du dich ausgesperrt?«
»Ich bin grad von der Arbeit gekommen«, sagte Amelie schnell, ohne recht zu wissen, warum sie die Nachbarin anlog.
»Na dann. Grüß deine Eltern. Gute Nacht!« Dr. Lauterbach winkte ihr zu und ließ per Fernbedienung das elektrische Tor der Doppelgarage hochfahren. Sie ging hinein, und das Tor senkte sich wieder hinter ihr.
»Thies?«, zischte Amelie. »Wo bist du?«
Sie fuhr erschrocken zusammen, als er hinter der großen Eibe hervortrat, die neben der Haustür stand.
»Was soll das?«, flüsterte sie. »Warum …?«
Ihr blieben die Worte im Hals stecken, als sie Thies' Gesicht sah. In seinen Augen stand nackte Angst – wovor fürchtete er sich? Tief besorgt streckte sie die Hand nach ihm aus und berührte seinen Arm, um ihn zu beruhigen. Er zuckte zurück.
»Du musst gut auf die Bilder aufpassen.« Die Worte klangen abgehackt, seine Augen glänzten fiebrig. »Keiner darf die Bilder sehen. Auch du nicht! Du musst es versprechen!«
»Ja, ja. Ich versprech's dir. Aber was …«
Bevor sie die Frage vollenden konnte, war Thies in der nebligen Dunkelheit verschwunden. Amelie blickte ihm kopfschüttelnd nach. Sie konnte sich keinen Reim auf das eigenartige Verhalten ihres Freundes machen. Aber man musste Thies eben so nehmen, wie er war.
Cosima lag tief und fest schlafend auf der Couch im Wohnzimmer, der Hund hatte sich in ihren Kniekehlen zusammengerollt und hob nicht einmal den Kopf, sondern wedelte nur faul mit der Schwanzspitze, als Bodenstein hereinkam und stehen blieb, um das friedvolle Bild in sich aufzunehmen. Cosima schnarchte ganz leise, die Lesebrille war ihr auf die Nase gerutscht, das Buch, in dem sie gelesen hatte, lag auf ihrer Brust. Normalerweise wäre er jetzt zu ihr hingegangen und hätte sie mit einem Kuss geweckt, vorsichtig, um sie nicht zu erschrecken. Doch die unsichtbare Mauer, die plötzlich zwischen ihnen stand, hielt ihn davon ab. Das Gefühl der Zärtlichkeit, das sich sonst in ihm ausbreitete, sobald er seine Frau sah, blieb zu seinem Erstaunen aus. Es war höchste Zeit für eine offene Konfrontation, bevor das Misstrauen seine Ehe vergiftete. Eigentlich sollte er sie jetzt an der Schulter packen und schütteln und sie fragen, warum sie ihn angelogen hatte, doch seine feige Harmoniesucht und die Angst vor einer Wahrheit, die er nicht würde ertragen können, hielten ihn davon ab. Er wandte sich ab und ging in die Küche. Der Hund, von verfressener Hoffnung getrieben, sprang von der Couch, um ihm zu folgen, und weckte Cosima damit. Sie erschien mit verschlafenem Gesicht in der Küche, als er sich einen Joghurt aus dem Kühlschrank nahm. »Hallo«, sagte er.
»Ich bin wohl eingeschlafen«, erwiderte sie. Er löffelte den Joghurt und betrachtete sie unauffällig. Auf einmal bemerkte er Falten in ihrem Gesicht, die ihm zuvor nie aufgefallen waren, schlaffer werdende Haut an ihrem Hals und Wassereinlagerungen unter ihren müden Augen. Sie sah aus wie eine Frau von fünfundvierzig Jahren. War mit dem Vertrauen auch plötzlich der Weichzeichner seiner Zuneigung verschwunden?
»Wieso hast du heute im Büro angerufen und nicht bei mir auf dem Handy?«, fragte sie beiläufig, während sie suchend in den Kühlschrank blickte.
»Weiß ich gar nicht mehr«, log er und kratzte konzentriert den Joghurtbecher aus. »Ich bin wohl aus Versehen auf die falsche Nummer gekommen, und danach hab ich nicht mehr dran gedacht. War nicht wichtig.«
»Na ja, ich war nur im Main-Taunus-Zentrum ein paar Sachen einkaufen.« Cosima schloss den Kühlschrank und gähnte. »Kira hat mir Sophiechen abgenommen. Ohne sie geht alles ein bisschen schneller.«
»Hm, natürlich.« Er stellte dem Hund den leeren Becher hin. Einen Moment lang überlegte er, ob er sie fragen sollte, was sie denn eingekauft hatte, denn er glaubte ihr kein Wort. Und plötzlich wurde ihm klar, dass er das nie mehr tun würde.
Amelie hatte die Rolle mit den Bildern in ihrem Kleiderschrank versteckt und sich wieder an den Laptop gesetzt. Aber sie konnte sich nicht mehr konzentrieren. Es kam ihr vor, als würden ihr die Bilder leise zurufen: »Schau uns an! Komm schon! Hol uns raus!«
Sie drehte sich auf ihrem Stuhl um und starrte den Schrank an, haderte mit ihrem Gewissen. Unten knallten Autotüren, die Haustür ging auf.
»Wir sind wieder da!«, rief ihr Vater. Amelie ging kurz nach unten, um die Leute, bei denen sie wohnte, zu begrüßen. Obwohl Barbara und die kleinen Nervensägen sie freundlich aufgenommen hatten, brachte sie es nie über sich, »meine Familie« zu denken oder gar zu sagen. Dann kehrte sie in ihr Zimmer zurück, legte sich aufs Bett und überlegte. Nebenan rauschte die Toilettenspülung. Was konnte auf den Bildern drauf sein? Thies malte immer so einen abstrakten Kram, mal abgesehen von diesem geilen Porträt von ihr, das sie vorgestern gesehen hatte. Aber warum wollte er die Bilder unbedingt verstecken? Es schien ihm verdammt wichtig gewesen zu sein, immerhin hatte er bei ihr geklingelt und sie gebeten, die Dinger niemandem zu zeigen. Das war schon sehr eigenartig.
Amelie wartete, bis Ruhe im Haus eingekehrt war, dann ging sie zum Schrank und nahm die Rolle heraus. Sie war ziemlich schwer, es mussten mehr als nur zwei oder drei Bilder sein. Und sie rochen auch nicht so intensiv nach Farbe wie frisch gemalte Bilder. Vorsichtig öffnete sie die zahlreichen Knoten des Bandes, mit dem Thies die Rolle umwickelt hatte. Es waren acht Bilder in einem relativ kleinen Format. Und sie waren völlig anders, gar nicht Thies' üblicher Malstil, sondern sehr gegenständlich und detailgetreu mit Menschen, die … Amelie erstarrte und betrachtete das erste Bild genauer. Sie spürte ein Kribbeln im Genick, ihr Herzschlag beschleunigte sich. Vor einer großen Scheune mit weit geöffnetem Tor beugten sich zwei Jungen über ein am Boden liegendes blondes Mädchen, dessen Kopf in einer Blutlache lag. Ein weiterer Junge mit dunklen Locken stand daneben, ein vierter rannte mit panischem Gesichtsausdruck direkt auf den Betrachter zu. Und dieser vierte war – Thies! Fieberhaft blätterte sie die anderen Bilder durch.
»O Gott«, flüsterte sie. Die Scheune mit dem offenen Tor, daneben ein etwas flacheres Stallgebäude, dieselben Personen. Thies saß neben der Scheune, der Junge mit den dunklen Locken stand an der offenen Tür des Stalles und beobachtete die Vorgänge im Innern des Stalls. Einer der Jungen vergewaltigte das blonde Mädchen, der andere Junge hielt es fest. Amelie schluckte und blätterte weiter. Wieder die Scheune, ein anderes Mädchen mit langen, schwarzen Haaren und einem knappen hellblauen Kleid, das sich mit einem Mann küsste. Er hatte eine Hand auf ihrer Brust und sie ein Bein um seinen Oberschenkel geschlungen. Die Situation wirkte unglaublich lebensecht. Im Hintergrund der dunklen Scheune war der lockige Junge von den anderen Bildern zu erkennen. Die Bilder ähnelten Fotografien; Thies hatte jedes Detail eingefangen, die Farben der Kleider, die Halskette des Mädchens, eine Schrift auf einem T-Shirt. Unglaublich! Die Bilder zeigten unzweifelhaft den Hof der Familie Sartorius. Und sie stellten die Ereignisse vom September 1997 dar. Amelie glättete mit beiden Händen das letzte Bild und erstarrte. Im Haus war es so still, dass sie ihren Puls in den Ohren pochen hörte. Das Bild zeigte den Mann, der sich mit dem schwarzhaarigen Mädchen geküsst hatte, von vorne. Sie kannte ihn. Sie kannte ihn gut.