Montag, 10. November 2008
Claudius Terlinden trank seinen Kaffee im Stehen und blickte aus dem Küchenfenster hinunter auf das Nachbarhaus. Wenn er sich beeilte, konnte er das Mädchen wieder mit hinunter an die Bushaltestelle nehmen. Als sein Prokurist Arne Fröhlich ihm vor ein paar Monaten seine fast erwachsene Tochter aus erster Ehe vorgestellt hatte, war es ihm nicht sofort aufgefallen. Die Piercings, die verrückte Frisur und die ausgefallene, schwarze Kleidung hatten ihn irritiert, ebenso wie ihr mürrisches Gesicht und die abweisende Haltung. Aber gestern, im Schwarzen Ross, als sie ihn angelächelt hatte, da hatte ihn die Erkenntnis wie ein Blitzschlag getroffen. Das Mädchen ähnelte auf beinahe schon unheimliche Weise Stefanie Schneeberger. Dieselben fein geschnittenen, alabasterblassen Gesichtszüge, der üppige Mund, die dunklen, wissenden Augen – einfach unglaublich!
»Schneewittchen«, murmelte er. In der letzten Nacht hatte er von ihr geträumt, ein eigenartiger, unheilvoller Traum, in dem sich Gegenwart und Vergangenheit auf verwirrende Weise vermischt hatten. Als er mitten in der Nacht schweißgebadet aufgewacht war, hatte er einen Moment gebraucht, um zu begreifen, dass es nur ein Traum gewesen war. Hinter sich hörte er Schritte und drehte sich um. Seine Frau erschien in der Küchentür, trotz der frühen Stunde perfekt frisiert.
»Du bist früh auf.« Er ging zur Spüle und ließ heißes Wasser über die Tasse laufen. »Hast du etwas vor?«
»Ich bin um zehn mit Verena in der Stadt verabredet.«
»Schön.« Es interessierte ihn nicht im Geringsten, wie seine Frau ihren Tag herumbrachte.
»Es geht wieder los«, sagte sie in diesem Augenblick. »Gerade, wo etwas Gras über das alles gewachsen ist.«
»Was meinst du?« Terlinden warf ihr einen irritierten Blick zu.
»Es wäre vielleicht wirklich besser gewesen, Sartorius' wären hier weggezogen.«
»Wo sollen sie denn hin? So eine Geschichte holt einen überall ein.«
»Trotzdem. Es wird Probleme geben. Die Leute im Dorf wetzen schon die Messer.«
»Das habe ich befürchtet.« Claudius Terlinden stellte seine Kaffeetasse in die Spülmaschine. »Übrigens ist Rita am Freitagabend bei einem Unfall schwer verletzt worden. Jemand soll sie von einer Brücke vor ein fahrendes Auto gestoßen haben.«
»Wie bitte?« Christine Terlinden riss erschüttert die Augen auf. »Woher weißt du das?«
»Ich habe gestern Abend noch kurz mit Tobias gesprochen.«
»Du hast – was? Warum erzählst du mir nichts davon?« Sie sah ihren Mann ungläubig an. Christine Terlinden war auch mit 5 1 Jahren noch immer eine bemerkenswert schöne Frau. Das naturblonde Haar trug sie zu einem modischen Pagenschnitt frisiert. Sie war klein und zierlich und schaffte es, selbst im Morgenmantel elegant zu wirken.
»Weil ich dich gestern Abend nicht mehr gesehen habe.«
»Du redest mit dem Jungen, besuchst ihn im Gefängnis, hilfst seinen Eltern – hast du vergessen, dass er dich damals in die ganze Sache mit hineingezogen hat?«
»Nein, das habe ich nicht«, erwiderte Claudius Terlinden. Sein Blick fiel auf die Küchenuhr an der Wand. Viertel nach sieben. In zehn Minuten würde Amelie das Haus verlassen. »Tobias hat damals der Polizei nur das gesagt, was er gehört hatte. Und eigentlich war es so auch besser, als wenn …« Er hielt inne. »Sei froh, dass alles so gekommen ist. Sonst stünde Lars heute ganz sicher nicht da, wo er steht.«
Terlinden hauchte seiner Frau pflichtschuldig einen Kuss auf die dargebotene Wange.
»Ich muss los. Es kann spät werden heute Abend.«
Christine Terlinden wartete, bis sie die Haustür ins Schloss fallen hörte. Sie nahm eine Tasse vom Bord, stellte sie unter die Espressomaschine und drückte auf den Knopf für einen doppelten Espresso. Mit der Tasse in den Händen trat sie ans Fenster und beobachtete, wie der dunkle Mercedes ihres Gatten langsam die Auffahrt hinunterrollte. Wenig später hielt er vor dem Haus der Fröhlichs, die roten Bremslichter leuchteten in der Dunkelheit des frühen Morgens. Das Nachbarmädchen schien auf ihn gewartet zu haben und stieg nun zu ihm ins Auto. Christine Terlinden zog scharf die Luft ein, ihre Finger krampften sich um die Tasse. Sie hatte es kommen sehen, seit ihr Amelie Fröhlich das erste Mal begegnet war. Die unheilvolle Ähnlichkeit war ihr sofort aufgefallen. Es gefiel ihr nicht, dass das Mädchen eine Freundschaft mit Thies pflegte. Ihren behinderten Sohn aus alldem herauszuhalten war schon damals nicht leicht gewesen. Sollte sich etwa alles wiederholen? Das beinahe vergessene Gefühl hilfloser Verzweiflung machte sich in ihrem Innern breit.
»O nein, lieber Gott«, murmelte sie. »Bitte, bitte nicht noch einmal.«
Das Foto, das Ostermann aus dem Überwachungsvideo vom Bahnsteig herausgeschnitten hatte, war zwar nur in Schwarzweiß und ziemlich grobkörnig, dennoch war der Mann mit der Baseballkappe recht gut zu erkennen. Leider hatte der Winkel der Kamera nicht ausgereicht, um die Vorkommnisse auf der Brücke aufzuzeichnen, aber die glaubhafte Zeugenaussage des vierzehnjährigen Niklas Bender reichte aus, um den Mann, sollte man ihn finden, festnehmen zu können. Bodenstein und Pia waren auf dem Weg nach Altenhain, um das Foto Hartmut Sartorius und seinem Sohn zu zeigen. Aber auch nach mehrfachem Klingeln öffnete niemand.
»Lass uns rüber in den Laden gehen und das Bild dort herumzeigen«, schlug Pia vor. »Ich habe irgendwie das Gefühl, dass dieser Angriff wirklich mit Tobias zusammenhing.«
Bodenstein nickte. Pia besaß eine ähnlich gute Intuition wie seine Schwester und behielt mit ihren Vermutungen oft recht. Den ganzen gestrigen Abend über hatte Bodenstein an das Gespräch mit Theresa gedacht und vergeblich darauf gewartet, dass Cosima ihm erzählen würde, mit wem sie in der Schmiede telefoniert hatte. Wahrscheinlich, so hatte Bodenstein sich eingeredet, war es völlig belanglos gewesen, und Cosima hatte es aus diesem Grunde schon vergessen. Sie telefonierte viel und wurde häufig von ihren Mitarbeitern angerufen, auch sonntags. Heute Morgen beim Frühstück hatte er beschlossen, der Sache keine zu große Bedeutung beizumessen, zumal sich Cosima ihm gegenüber völlig normal verhielt. Heiter und gutgelaunt hatte sie ihm von ihren Plänen für den Tag berichtet: Arbeiten am Film im Schneideraum, Treffen mit dem Sprecher, der den Text des Films sprechen würde, Mittagessen mit dem Team in Mainz. Alles ganz normal. Zum Abschied hatte sie ihn geküsst, wie beinahe jeden Morgen in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren. Nein, er machte sich umsonst Sorgen.
Die Türglocke des kleinen Lebensmittelladens läutete, als sie das Geschäft betraten. Ein paar Frauen mit Einkaufskörben steckten zwischen den Regalen die Köpfe zusammen und tauschten wohl gerade den neuesten Dorfklatsch aus.
»Dein Einsatz, Chef«, sagte Pia leise zu Bodenstein, der die meisten weiblichen Wesen mit seinem unverschämt guten Aussehen und seinem Cary-Grant-Charme üblicherweise problemlos um den Finger wickeln konnte. Aber heute schien Bodenstein nicht in Form.
»Mach du das besser«, erwiderte er. Durch eine offene Tür konnte man in den Hof blicken, wo ein kräftiger, grauhaariger Mann gerade Steigen mit Obst und Gemüse aus einem Lieferwagen auslud. Pia zuckte die Schultern und steuerte direkt auf die Gruppe der Frauen zu.
»Guten Morgen.« Sie präsentierte ihren Ausweis. »Kripo Hofheim.«
Misstrauische und neugierige Blicke.
»Am Freitagabend wurde die Exfrau von Hartmut Sartorius Opfer eines hinterhältigen Angriffs.« Pia wählte ihre Worte mit Absicht ein wenig dramatisch. »Ich gehe mal davon aus, dass Sie Rita Cramer kennen?«
Allgemeines Kopfnicken.
»Wir haben hier ein Foto von dem Mann, der sie von einer Brücke direkt vor ein fahrendes Auto gestoßen hat.«
Das Ausbleiben entsetzter Reaktionen ließ vermuten, dass die Nachricht von dem Unfall bereits die Runde im Dorf gemacht hatte. Pia zog das Foto hervor und hielt es der Frau mit dem weißen Kittel, offenbar die Ladenbesitzerin, hin.
»Erkennen Sie diesen Mann?«
Die Frau betrachtete das Foto kurz mit zusammengekniffenen Augen, dann blickte sie auf und schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte sie und täuschte Bedauern vor. »Tut mir leid. Den habe ich noch nie gesehen.«
Auch die anderen drei schüttelten nacheinander ratlos die Köpfe, aber Pia war nicht der rasche Blick entgangen, den eine von ihnen mit der Ladenbesitzerin gewechselt hatte.
»Sind Sie ganz sicher? Schauen Sie noch mal genau hin. Die Bildqualität ist nicht besonders gut.«
»Wir kennen den Mann nicht.« Die Ladenbesitzerin hielt Pia das Foto hin und erwiderte ihren Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie log. Das war eindeutig.
»Schade.« Pia lächelte. »Darf ich fragen, wie Sie heißen?«
»Richter. Margot Richter.«
In dem Moment polterte der Mann aus dem Hof mit drei Kisten Obst in den Laden und stellte sie geräuschvoll ab.
»Lutz, das ist die Kriminalpolizei«, ließ sich Margot Richter vernehmen, bevor Pia auch nur den Mund öffnen konnte. Ihr Mann kam näher. Er war groß und korpulent, sein gutmütiges, knollennasiges Gesicht von Kälte und Anstrengung gerötet. Die Art, wie er seine Frau ansah, verriet, dass er unter ihrem Pantoffel stand und wenig zu melden hatte. Er ergriff das Foto mit seiner Pranke, aber bevor er es anschauen konnte, pflückte Margot Richter es ihm aus der Hand.
»Mein Mann kennt den Kerl auch nicht.« Pia bedauerte den Ehemann, der sicherlich nicht viel zu lachen hatte.
»Sie erlauben.« Sie nahm Frau Richter das Bild wieder ab und hielt es ihrem Mann, bevor sie dagegen protestieren konnte, erneut vor die Nase. »Haben Sie diesen Mann schon einmal gesehen? Er hat Ihre ehemalige Nachbarin am Freitag vor ein fahrendes Auto gestoßen. Rita Cramer liegt seitdem auf der Intensivstation im künstlichen Koma, und es steht noch nicht fest, ob sie überleben wird.«
Richter zögerte kurz, schien seine Antwort abzuwägen. Er war kein guter Lügner, aber ein gehorsamer Ehemann. Sein unsicherer Blick zuckte für eine Sekunde zu seiner Frau hinüber.
»Nein«, sagte er schließlich. »Den kenne ich nicht.«
»Na gut. Vielen Dank auch.« Pia zwang sich zu einem Lächeln. »Einen schönen Tag noch.«
Sie verließ den Laden, gefolgt von Bodenstein. »Sie kannten ihn alle.«
»Ja, ganz sicher.« Bodenstein blickte die Hauptstraße hinunter. »Da drüben ist ein Friseurladen. Lass es uns da versuchen.«
Sie gingen die paar Meter den schmalen Bürgersteig entlang, aber als sie den kleinen altmodischen Salon betraten, hängte die Friseurin gerade mit schuldbewusstem Gesichtsausdruck das Telefon ein.
»Guten Morgen«, grüßte Pia und nickte in Richtung Telefon. »Frau Richter hat Sie sicherlich schon über unser Anliegen informiert. Da kann ich mir meine Frage ja sparen.«
Die Frau guckte dämlich aus der Wäsche, ihr Blick wanderte von Pia zu Bodenstein und blieb an ihm hängen. Wäre ihr Chef heute besser drauf gewesen, hätte die Friseurin keine Chance gehabt.
»Was ist denn mit dir?«, erkundigte sich Pia leicht verärgert, als sie eine Minute später wieder auf der Straße standen. »Du hättest die Friseurtante doch nur einmal anlächeln müssen, dann wäre sie dahingeschmolzen und hätte dir wahrscheinlich Name, Adresse und Telefonnummer unseres Verdächtigen gegeben.«
»Entschuldige«, erwiderte Bodenstein nur lahm. »Ich bin heute irgendwie nicht richtig bei der Sache.«
Ein Auto rauschte in der engen Straße vorbei, ein zweites, dann ein Lkw. Sie mussten sich an die Hauswand pressen, um nicht von einem Außenspiegel gestreift zu werden.
»Auf jeden Fall lasse ich mir heute Mittag gleich die alten Akten von dem Sartorius-Fall kommen«, sagte Pia. »Ich schwöre dir, das hängt alles zusammen.«
Eine Nachfrage im Blumenladen blieb genauso ergebnislos wie die im Kindergarten und im Sekretariat der Grundschule. Margot Richter hatte ihre Instruktionen bereits weitergegeben. Die Dorfgemeinschaft vollführte einen kollektiven Schulterschluss und übte sich in sizilianisch anmutendem Schweigen, um einen der Ihren zu schützen.
Amelie lag in der Hängematte, die Thies eigens für sie zwischen zwei Topfpalmen angebracht hatte, und ließ sich sanft hin und her wiegen. Vor den Sprossenfenstern rauschte der Regen herab und trommelte auf das Dach der Orangerie, die versteckt hinter einer mächtigen Trauerweide im weitläufigen Park der Terlinden'schen Villa lag. Hier war es warm und behaglich, es roch nach Ölfarbe und Terpentin, denn Thies nutzte das langgestreckte Gebäude, in dem die empfindlichen mediterranen Pflanzen aus dem Park überwinterten, als Atelier. Hunderte von bemalten Leinwänden reihten sich an den Wänden auf, akkurat nach Größe geordnet. In leeren Marmeladegläsern standen Dutzende von Pinseln. Thies war in allem, was er tat, zwanghaft ordentlich. Sämtliche Kübelpflanzen – Oleander, Palmen, Wandelröschen, Zitronen- und Orangenbäumchen – standen nebeneinander wie die Zinnsoldaten, ebenfalls geordnet nach ihrer Größe. Nichts war willkürlich abgestellt. Die Werkzeuge und Geräte, die Thies im Sommer für die Pflege des großen Parks brauchte, hingen an der Wand oder standen in Reih und Glied darunter. Manchmal verrückte Amelie etwas oder ließ mit Absicht eine Zigarettenkippe irgendwo liegen, um Thies damit zu ärgern. Er korrigierte diesen für ihn unerträglichen Zustand jedes Mal unverzüglich. Auch bemerkte er sofort, wenn sie Pflanzen vertauscht hatte.
»Ich finde es total aufregend«, sagte Amelie. »Am liebsten würde ich noch mehr rausfinden, aber ich weiß nicht, wie.«
Sie erwartete keine Antwort, warf aber dennoch einen raschen Blick zu Thies hinüber. Er stand vor seiner Staffelei und malte konzentriert. Seine Bilder waren zum größten Teil abstrakt und in düsteren Farben gehalten, nichts für Wohnungen von depressiven Menschen, wie Amelie fand. Auf den ersten Blick sah Thies ganz normal aus. Wären seine Gesichtszüge nicht so steinern, wäre er sogar ein ziemlich hübscher Mann, mit dem ovalen Gesicht, der geraden, schmalen Nase und dem weichen, vollen Mund. Die Ähnlichkeit mit seiner schönen Mutter war nicht zu übersehen. Er hatte ihr helles Blondhaar geerbt und die großen nordischblauen Augen, umkränzt von dichten, dunklen Wimpern. Am liebsten mochte Amelie aber seine Hände. Thies besaß die sensiblen, feingliedrigen Hände eines Pianisten, denen auch die Gartenarbeit nicht geschadet hatte. Wenn er sich aufregte, führten sie mitunter ein Eigenleben, flatterten hin und her wie aufgescheuchte Vögel in einem Käfig. Jetzt aber war er ganz ruhig, wie fast immer, wenn er malte.
»Ich frage mich«, fuhr Amelie nachdenklich fort, »was Tobias mit den beiden Mädchen wohl gemacht hat. Wieso hat er das nie gesagt? Dann wäre er vielleicht gar nicht so lange im Gefängnis gewesen. Schon komisch. Aber irgendwie gefällt er mir. Er ist so ganz anders als die anderen Typen hier in diesem Kaff.«
Sie verschränkte die Arme hinter dem Kopf, schloss die Augen und gab sich einem behaglichen Gruseln hin. »Ob er sie zerstückelt hat? Vielleicht hat er sie sogar irgendwo auf seinem Hof einbetoniert.«
Thies arbeitete ungerührt weiter, mischte auf seiner Palette ein dunkles Grün mit einem Rubinrot, verwarf das Ergebnis nach kurzem Überlegen und fügte ein wenig Weiß hinzu. Amelie hielt die Hängematte an.
»Findest du mich eigentlich hübscher, wenn ich meine Piercings draußen habe?«
Thies schwieg. Amelie stemmte sich vorsichtig aus der schwankenden Hängematte hoch und ging zu ihm hinüber. Sie warf einen Blick über seine Schulter auf die Leinwand. Ihr klappte der Mund auf, als sie erkannte, was er in den vergangenen zwei Stunden gemalt hatte.
»Boah«, sagte sie beeindruckt und überrascht zugleich. »Das ist ja geil.«
Vierzehn abgegriffene Aktenordner waren aus dem Archiv des Frankfurter Polizeipräsidiums gekommen und standen in Kisten neben Pias Schreibtisch. 1997 hatte es im Main-Taunus-Kreis noch kein eigenes Dezernat für Gewaltdelikte gegeben; im Falle von Mord, Vergewaltigung und Totschlag war bis zur Reform der hessischen Polizei vor ein paar Jahren das K11 in Frankfurt zuständig gewesen. Aber das Aktenstudium musste noch warten, Dr. Nicola Engel hatte für vier Uhr eine dieser nutzlosen Teambesprechungen angesetzt, die sie so sehr liebte.
Es war warm und stickig im Besprechungsraum. Da nichts Spektakuläres auf der Tagesordnung stand, war die Stimmung schläfrig bis gelangweilt. Vor den Fenstern rauschte der Regen vom wolkenverhangenen Himmel, es wurde schon dunkel.
»Das Fahndungsfoto des Unbekannten geht heute an die Presse«, ordnete die Kriminalrätin an. »Irgendjemand wird ihn erkennen und sich melden.«
Andreas Hasse, der am Morgen bleich und wortkarg wieder zum Dienst erschienen war, nieste.
»Warum bleibst du nicht einfach noch zu Hause, bevor du uns hier alle verpestest?«, fuhr ihn Kai Ostermann, der direkt neben ihm saß, gereizt an. Hasse blieb die Antwort schuldig.
»Gibt es sonst noch etwas?« Der aufmerksame Blick von Dr. Nicola Engel wanderte von einem zum anderen, doch ihre Untergebenen mieden wohlweislich direkten Blickkontakt, denn sie schien jedem direkt ins Gehirn blicken zu können. Mit ihrem seismographischen Gespür hatte sie längst die unterschwellige Spannung bemerkt, die in der Luft lag und deren Ursache sie zu ergründen suchte.
»Ich habe mir die Akten des Falles Sartorius kommen lassen«, meldete sich Pia zu Wort. »Irgendwie habe ich das Gefühl, der Angriff auf Frau Cramer könnte im direkten Zusammenhang mit der Freilassung von Tobias Sartorius stehen. Die Leute in Altenhain haben heute alle den Mann auf dem Foto erkannt, dies aber geleugnet. Sie wollen ihn schützen.«
»Sehen Sie das auch so?«, wandte sich Nicola Engel an Bodenstein, der die ganze Zeit abwesend vor sich hin starrte.
»Das ist durchaus möglich.« Bodenstein nickte. »Die Reaktion der Leute war auf jeden Fall seltsam.«
»Gut.« Nicola Engel blickte Pia an. »Sie sehen die Akten durch. Aber halten Sie sich nicht zu lange mit dem alten Kram auf. Wir erwarten ja auch noch die Ergebnisse zu dem Skelett aus der Rechtsmedizin, und das hat dann Vorrang.«
»Tobias Sartorius ist in Altenhain verhasst«, sagte Pia. »Man hat das Haus seines Vaters mit einem Spruch beschmiert, und als wir am Samstag hinkamen, um die Nachricht vom Unfall zu überbringen, standen drei Frauen auf der anderen Straßenseite und haben ihn beschimpft.«
»Ich habe den Kerl damals erlebt.« Hasse räusperte sich ein paarmal. »Dieser Sartorius war ein eiskalter Killer. Ein arroganter, überheblicher Schönling, der allen weismachen wollte, er hätte einen Filmriss gehabt und könnte sich an nichts erinnern. Dabei war die Spurenlage offensichtlich. Er hat gelogen, bis er in den Knast ging.«
»Aber jetzt hat er seine Strafe abgesessen. Er hat ein Recht auf Resozialisierung«, entgegnete Pia. »Und das Verhalten der Dorfleute irritiert mich. Wieso lügen sie? Wen wollen sie schützen?«
»Das glaubst du aus den alten Akten herauslesen zu können?« Hasse schüttelte den Kopf. »Der Kerl hat seine Freundin erschlagen, als sie mit ihm Schluss gemacht hat, und weil seine Exfreundin das beobachtet hatte, musste sie auch sterben.«
Pia wunderte sich über das ungewöhnliche Engagement, das ihr sonst eher gleichgültiger Kollege plötzlich an den Tag legte.
»Das mag ja sein«, erwiderte sie. »Dafür hat er ja auch zehn Jahre gesessen. Aber vielleicht stoße ich in den alten Verhörprotokollen auf denjenigen, der Rita Cramer von der Brücke gestoßen hat.«
»Aber was willst du mit …«, begann Hasse wieder, doch Nicola Engel beendete die Diskussion energisch.
»Frau Kirchhoff sieht die Akten durch, bis es Fakten über das Skelett gibt.«
Da es sonst nichts zu besprechen gab, war die Sitzung beendet. Nicola Engel verschwand in ihr Büro, das versammelte K 11 löste sich auf.
»Ich muss nach Hause«, sagte Bodenstein unvermittelt, nach einem Blick auf seine Uhr. Pia beschloss, ebenfalls heimzufahren und einen Teil der Akten mitzunehmen. Hier würde sich kaum noch etwas Wichtiges ereignen.
»Soll ich Ihnen den Koffer ins Haus tragen, Herr Minister?«, fragte der Chauffeur, aber Gregor Lauterbach schüttelte den Kopf.
»Das schaffe ich schon noch.« Er lächelte. »Sehen Sie zu, dass Sie nach Hause kommen, Forthuber. Morgen früh brauche ich Sie erst um acht.«
»In Ordnung. Dann noch einen schönen Abend, Herr Minister.«
Lauterbach nickte und ergriff den kleinen Koffer. Drei Tage war er nicht zu Hause gewesen, erst hatte er Termine in Berlin gehabt, dann die Kultusministerkonferenz in Stralsund, bei der sich die Kollegen aus Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen über die Festlegung der Leitlinien zur Deckung des Lehrkräftebedarfs heftig in die Wolle gekriegt hatten. Er hörte das Telefon klingeln, als er die Haustür aufschloss und mit einem Handgriff die Alarmanlage abschaltete. Der Anrufbeantworter sprang an, aber der Anrufer machte sich nicht die Mühe, aufs Band zu sprechen. Gregor Lauterbach stellte den Koffer vor der Treppe ab, machte Licht und ging in die Küche. Er warf einen Blick auf die Post, die sich auf dem Küchentisch stapelte, von der Putzfrau fein säuberlich in zwei Stapel getrennt. Daniela war noch nicht zu Hause. Wenn er sich recht erinnerte, hielt sie heute Abend einen Vortrag bei einem Ärztekongress in Marburg. Lauterbach ging weiter ins Wohnzimmer und betrachtete eine Weile die Flaschen auf dem Sideboard, bevor er sich für einen zweiundvierzig Jahre alten Black Bowmore Scotch Whisky entschied. Ein Geschenk von irgendjemandem, der sich bei ihm anbiedern wollte. Er schraubte die Flasche auf und goss zwei Fingerbreit in ein Glas. Seit er Kultusminister in Wiesbaden war, trafen er und Daniela sich nur noch zufällig oder um ihre Terminkalender abzugleichen. Im selben Bett schliefen sie seit zehn Jahren nicht mehr. Lauterbach besaß eine geheime Wohnung in Idstein, in der er sich einmal pro Woche mit einer diskreten Geliebten traf. Er hatte ihr von vorneherein unmissverständlich klargemacht, dass er nicht vorhabe, sich jemals von Daniela scheiden zu lassen, und so spielte dieses Thema bei ihren Treffen keine Rolle. Ob Daniela ihrerseits ein Verhältnis hatte, wusste er nicht, und er würde sie nicht danach fragen. Er lockerte seine Krawatte, zog seine Anzugsjacke aus, warf sie nachlässig über die Lehne eines Sofas und nahm einen Schluck Scotch. Das Telefon klingelte erneut. Dreimal, dann übernahm wieder der Anrufbeantworter.
»Gregor.« Die männliche Stimme hatte einen dringlichen Unterton. »Wenn du da bist, geh bitte dran. Es ist sehr wichtig!«
Lauterbach zögerte einen Moment. Er erkannte die Stimme. Immer und überall schien alles sehr wichtig zu sein. Aber schließlich stieß er einen Seufzer aus und nahm ab. Der Anrufer hielt sich nicht mit höflichen Floskeln auf. Während Lauterbach zuhörte, spürte er, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Er richtete sich unwillkürlich auf. Das Gefühl der Bedrohung sprang ihn so plötzlich an wie ein Raubtier.
»Danke, dass du angerufen hast«, sagte er mit heiserer Stimme und drückte das Gespräch weg. Wie erstarrt stand er im Halbdunkel. Ein Skelett in Eschborn. Tobias Sartorius zurück in Altenhain. Seine Mutter war von einem Unbekannten von einer Brücke gestoßen worden. Und eine ehrgeizige Beamtin vom K 11 in Hofheim wühlte in alten Akten. Verdammt. Der teure Whisky schmeckte bitter. Achtlos stellte er das Glas ab und ging eilig die Treppe hinauf in sein Schlafzimmer. Es musste nichts bedeuten. Das alles konnte Zufall sein, versuchte er sich zu beruhigen. Aber es gelang ihm nicht. Lauterbach setzte sich auf das Bett, streifte die Schuhe von den Füßen und ließ sich zurücksinken. Eine Flut unwillkommener Bilder rauschte durch seinen Kopf. Wie konnte es sein, dass eine einzige, an sich unbedeutende falsche Entscheidung so katastrophale Auswirkungen hatte? Er schloss die Augen. Die Müdigkeit kroch durch seinen Körper. Seine Gedanken glitten von der Gegenwart auf verschlungenen Pfaden in die Welt der Träume und Erinnerungen. Weiß wie Schnee, rot wie Blut, schwarz wie Ebenholz …