Dienstag, 18. November 2008
Die Tageszeitung lag aufgeschlagen vor ihm auf der Schreibtischplatte. Wieder war in Altenhain ein Mädchen verschwunden, und das kurz nachdem das Skelett von Laura Wagner gefunden worden war. Lars Terlinden war sich bewusst, dass man ihn in seinem gläsernen Büro vom Handelsraum und seinem Vorzimmer aus beobachten konnte, deshalb widerstand er dem Impuls, das Gesicht in den Händen zu vergraben. Wäre er doch bloß niemals nach Deutschland zurückgekehrt! In seiner Gier nach noch mehr Geld hatte er vor zwei Jahren seinen ohnehin schon hochbezahlten Job als Derivatehändler in London aufgegeben und war ins Management einer Schweizer Großbank nach Frankfurt gewechselt. Das hatte in der Szene damals für großes Aufsehen gesorgt, immerhin war er gerade 28 Jahre alt gewesen. Aber dem »German Wunderkind«, wie ihn das Wall Street Journal nannte, schien weiterhin alles zu gelingen – und er war der Illusion erlegen, er sei der Größte und Beste. Nun war er unsanft auf dem Boden der Tatsachen gelandet und musste darüber hinaus seiner Vergangenheit ins Auge sehen und erkennen, was er aus Feigheit angerichtet hatte. Lars Terlinden stieß einen tiefen Seufzer aus. Seine einzige, weitreichende Fehlentscheidung hatte darin bestanden, dass er ihnen damals von der Kerb aus heimlich gefolgt war, getrieben von dem wahnsinnigen Bedürfnis, Laura seine Liebe zu gestehen. Hätte er das doch nur seinlassen! Hätte er doch nur … Er schüttelte heftig den Kopf, faltete entschlossen die Zeitung zusammen und warf sie in den Papierkorb. Es nützte nichts, mit der Vergangenheit zu hadern. Er brauchte seine volle Konzentration für die Probleme, mit denen er im Moment konfrontiert wurde. Zu viel stand auf dem Spiel, als dass er sich von so einem Kram ablenken lassen durfte. Er hatte Familie und jede Menge finanzielle Verpflichtungen, denen er in den Zeiten der Wirtschaftskrise nur äußerst mühsam nachkommen konnte: Die riesige Villa im Taunus war nicht abbezahlt, die Finca auf Mallorca schon gar nicht, die Leasingraten für seinen Ferrari und den Geländewagen seiner Frau waren jeden Monat fällig. Ja, er war wieder in einer Spirale gefangen, so wie damals. Und diese Spirale, das merkte er immer deutlicher, raste in atemberaubender Geschwindigkeit abwärts. Zum Teufel mit Altenhain!
Seit drei Stunden saß er vor dem Haus im Karpfenweg und starrte in das Wasser des Hafenbeckens. Weder die ungemütliche Kälte noch die skeptischen Blicke der Hausbewohner, die im Vorbeigehen misstrauisch sein demoliertes Gesicht musterten, störten ihn. Zu Hause hatte er es nicht länger ausgehalten, und außer Nadja war ihm niemand eingefallen, mit dem er reden konnte. Und er musste reden, sonst würde er platzen. Amelie war verschwunden, in Altenhain drehte die Polizei in einer gigantischen Suchaktion jeden Stein um, genauso wie damals. Er fühlte sich – ebenfalls wie damals – unschuldig, aber der Zweifel nagte an ihm mit scharfen, kleinen Zähnchen. Dieser verdammte Alkohol! Nie mehr würde er auch nur einen einzigen Tropfen anrühren. Absätze klackten hinter ihm. Tobias hob den Kopf und erkannte Nadja, die mit schnellen Schritten auf ihn zukam, das Handy am Ohr.
Plötzlich fragte er sich, ob er ihr überhaupt willkommen sein würde. Ihr Anblick verstärkte das bedrückende Gefühl der Unzulänglichkeit, das ihn jedes Mal in ihrer Gegenwart überfiel. Er kam sich vor wie ein Penner, in seiner abgeschabten, billigen Lederjacke und mit der zerschlagenen Visage. Vielleicht sollte er besser von hier verschwinden und nie mehr wiederkommen.
»Tobi!« Nadja steckte das Telefon weg und eilte mit entsetzter Miene auf ihn zu. »Was tust du denn hier in der Kälte?«
»Amelie ist weg«, erwiderte er. »Die Polizei war schon bei mir.«
Mühsam richtete er sich auf. Seine Beine waren wie Eis, sein Rücken schmerzte.
»Wieso denn das?«
Er rieb seine Hände, pustete hinein.
»Na, einmal Mädchenmörder, immer Mädchenmörder. Außerdem habe ich kein Alibi für die Zeit, in der Amelie verschwunden ist.«
Nadja starrte ihn an. »Jetzt komm erst mal rein.« Sie zückte den Haustürschlüssel, schloss die Tür auf. Er folgte ihr mit steifen Schritten.
»Wo warst du?«, fragte er, als sie mit dem gläsernen Aufzug zum Penthouse hochglitten. »Ich warte seit ein paar Stunden auf dich.«
»Ich war in Hamburg, das weißt du doch.« Sie schüttelte den Kopf und legte besorgt ihre Hand auf seine. »Du solltest dir echt mal ein Handy anschaffen.«
Erst jetzt fiel ihm wieder ein, dass Nadja am Samstag zu Dreharbeiten nach Hamburg geflogen war. Sie half ihm, die Jacke auszuziehen, und schob ihn in Richtung Küche.
»Setz dich«, sagte sie. »Ich mach dir erst mal einen Kaffee zum Aufwärmen. Meine Güte!«
Sie warf ihren Mantel über eine Stuhllehne. Das Handy meldete sich mit einem polyphonen Klingelton, aber sie beachtete es nicht und machte sich stattdessen an der Espressomaschine zu schaffen.
»Ich mache mir echt Sorgen um Amelie«, sagte Tobias. »Ich habe ja keine Ahnung, was sie wirklich über damals weiß und mit wem sie darüber gesprochen hat. Wenn ihr irgendetwas zugestoßen ist, nur weil sie mir helfen wollte, dann ist das alles meine Schuld.«
»Du hast sie doch nicht gezwungen, in der Vergangenheit herumzuschnüffeln«, entgegnete Nadja. Sie stellte zwei Kaffeetassen auf den Tisch, nahm Milch aus dem Kühlschrank und setzte sich ihm gegenüber. Ungeschminkt, mit violetten Schatten unter den Augen, sah sie müde aus.
»Na komm.« Sie legte ihre Hand auf seine. »Jetzt trink deinen Kaffee. Und dann legst du dich in die Badewanne, damit du wieder auftaust.«
Warum verstand sie nicht, was in ihm vorging? Er wollte weder einen Scheißkaffee trinken noch in die Scheißbadewanne! Er wollte aus ihrem Mund hören, dass sie an seine Unschuld glaubte, und mit ihr gemeinsam überlegen, was mit Amelie geschehen sein könnte. Stattdessen redete sie von Kaffee und Aufwärmen, als sei das jetzt wichtig!
Nadjas Handy klingelte wieder, wenig später das Festnetztelefon. Mit einem Seufzer stand sie auf und nahm das Gespräch entgegen. Tobias starrte vor sich auf den Tisch. Obwohl ihm der Oberbulle ganz offensichtlich nicht geglaubt hatte, machte er sich mehr Sorgen um Amelie als um sich selbst. Nadja kehrte zurück, trat hinter ihn und schlang die Arme um seinen Hals. Sie küsste sein Ohr und seine unrasierte Wange. Tobias musste sich beherrschen, um sich nicht gewaltsam von ihr loszumachen. Ihm stand nicht der Sinn nach Zärtlichkeiten. Merkte sie das nicht? Er bekam eine Gänsehaut, als sie mit ihrem Zeigefinger die Strangmarke an seinem Hals entlangfuhr, die die Wäscheleine hinterlassen hatte. Nur damit sie aufhörte, ergriff er ihr Handgelenk, rückte mit dem Stuhl nach hinten und zog sie auf seinen Schoß.
»Ich war am Samstagabend mit Jörg und Felix und ein paar anderen in der Garage von Jörgs Onkel«, flüsterte er eindringlich. »Wir haben zuerst Bier getrunken, dann dieses Red-Bull-Zeug mit Wodka drin. Das hat mich total umgehauen. Als ich am Sonntagnachmittag aufgewacht bin, hatte ich einen Riesenkater und einen totalen Filmriss.«
Ihre Augen waren ganz dicht vor seinen, aufmerksam blickte sie ihn an.
»Hm«, machte sie nur. Er glaubte zu verstehen, was sie dachte.
»Du zweifelst an mir«, warf er ihr vor und schob sie von sich. »Du denkst, ich hätte Amelie … umgebracht, so wie damals Laura und Stefanie! Stimmt's?«
»Nein! Nein, das tue ich nicht!«, beteuerte Nadja. »Warum hättest du Amelie etwas antun sollen? Sie wollte dir doch helfen!«
»Ja, eben. Ich verstehe es ja auch nicht.« Er stand auf, lehnte sich an den Kühlschrank und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Fakt ist, dass ich mich an die Zeit zwischen halb zehn abends und vier Uhr Sonntagnachmittag nicht mehr erinnere. Im Prinzip hätte ich es tun können, und so sehen es auch die Bullen. Dazu kommt, dass Amelie zigmal versucht hat, mich anzurufen. Und mein Vater sagt, ich sei um halb zwei nachts von der Lauterbach nach Hause gebracht worden. Sie hat mich besoffen an der Bushaltestelle vor der Kirche gefunden.«
»Scheiße«, sagte Nadja und setzte sich hin.
»Du sagst es.« Tobias entspannte sich ein wenig, griff nach den Zigaretten, die auf dem Tisch lagen, und zündete sich eine an. »Die Bullen haben mir gesagt, dass ich mich zur Verfügung halten soll.«
»Aber wieso denn das?«
»Weil ich verdächtig bin, ganz einfach.«
»Aber … aber das können sie doch nicht machen«, begann Nadja.
»Sie können«, unterbrach Tobias sie. »Sie haben es schon einmal getan. Das hat mich zehn Jahre gekostet.«
Er inhalierte den Rauch der Zigarette, starrte an Nadja vorbei in die neblige, graue Düsternis. Die kurze Schönwetterphase war vorüber, der November zeigte sich von seiner ungemütlichsten Seite. Dichter Regen rauschte aus tiefhängenden, schwarzen Wolken gegen die großen Scheiben. Die Friedensbrücke war nur als schwache Silhouette zu erkennen.
»Es muss jemand gewesen sein, der die Wahrheit kennt«, sinnierte Tobias und griff nach der Kaffeetasse.
»Wovon redest du?« Nadja betrachtete ihn mit schräggelegtem Kopf. Tobias blickte auf. Es ärgerte ihn, dass sie so ruhig und beherrscht wirkte. »Von Amelie«, erwiderte er und registrierte ein kurzes Hochschnellen ihrer Augenbrauen. »Ich bin mir sicher, dass sie irgendetwas Gefährliches herausgefunden hat. Sie muss von Thies ein oder mehrere Bilder bekommen haben, aber was genau darauf zu sehen war, hat sie mir nicht mehr gesagt. Ich glaube, jemand fühlte sich durch sie bedroht.«
Das hohe, mit vergoldeten Spitzen versehene Tor vor dem Anwesen der Familie Terlinden war geschlossen, auch auf mehrfaches Klingeln öffnete niemand. Nur die kleine Kamera mit dem rot blinkenden Licht folgte jeder ihrer Bewegungen. Pia signalisierte ihrem Chef, der telefonierend im Auto saß, mit einem Schulterzucken die Ergebnislosigkeit ihrer Bemühungen. Zuvor hatten sie bereits vergeblich versucht, Claudius Terlinden in seiner Firma zu sprechen. Er sei wegen eines privaten Problems nicht im Büro, hatte seine Sekretärin bedauernd mitgeteilt.
»Wir fahren zu Sartorius.« Bodenstein ließ den Motor an und fuhr ein Stück rückwärts, um zu wenden. »Terlinden läuft uns nicht weg …«
Sie fuhren an der rückwärtigen Ausfahrt des Sartorius-Hofes vorbei, auf dem es vor Beamten wimmelte. Der Durchsuchungsbeschluss war anstandslos erteilt worden. Kathrin Fachinger hatte Pia gestern Abend noch spät angerufen, um ihr das mitzuteilen. In erster Linie hatte sie ihr aber erzählen wollen, wie die Sache mit den internen Ermittlern ausgegangen war. Tatsächlich war es mit der Nachsicht, die Behnke bisher genossen hatte, vorbei, daran hatte auch Bodensteins Versuch einer Intervention nichts ändern können. Da Behnke keine Genehmigung für seinen Zweitjob eingeholt hatte, musste er nun mit einem Disziplinarverfahren, einer Rüge in seiner Personalakte und höchstwahrscheinlich sogar mit einer Rückstufung des Dienstgrades rechnen. Außerdem hatte Dr. Engel ihm klipp und klar ins Gesicht gesagt, dass sie, sollte er sich Kathrin Fachinger gegenüber in irgendeiner Weise unangemessen verhalten oder sie gar bedrohen, seine sofortige Suspendierung vom Dienst veranlassen würde. Pia selbst hätte wohl nie eine offizielle Beschwerde gegen ihn eingereicht. War das ein Zeichen von Feigheit oder von Loyalität unter Kollegen? Offen gestanden bewunderte sie ihre jüngere Kollegin für ihre Courage, einen Kollegen bei der Dienstaufsicht anzuzeigen. Sie alle hatten Kathrin offensichtlich unterschätzt.
Der sonst leere Parkplatz vor dem Goldenen Hahn war ebenfalls voller Polizeifahrzeuge. Auf dem Bürgersteig gegenüber hatten sich trotz des Regens Neugierige eingefunden. Sechs oder sieben ältere Leute, die nichts Besseres zu tun hatten. Bodenstein und Pia stiegen aus. Hartmut Sartorius war gerade damit beschäftigt, einen neuen Schriftzug mit der Wurzelbürste von der Fassade der ehemaligen Gaststätte zu entfernen. Ein hoffnungsloses Unterfangen. ACHTUNG, stand da, HIER WOHNT EIN MÄDCHENMÖRDER!
»Das kriegen Sie mit Seifenlauge nicht weg«, sagte Bodenstein. Der Mann wandte sich um. In seinen Augen standen Tränen, er bot ein Bild des Jammers mit dem nassen Haar und dem durchweichten blauen Kittel.
»Warum lassen sie uns nicht in Ruhe?«, fragte er verzweifelt. »Früher waren wir gute Nachbarn. Unsere Kinder haben zusammen gespielt. Und jetzt ist da nur noch Hass!«
»Gehen wir ins Haus«, schlug Pia behutsam vor. »Wir schicken Ihnen jemanden, der das entfernt.«
Sartorius ließ die Wurzelbürste in den Eimer fallen. »Ihre Leute stellen das Haus und den Hof auf den Kopf.« Seine Stimme klang anklagend. »Das ganze Dorf redet schon wieder deshalb. Was wollen Sie von meinem Sohn?«
»Ist er da?«
»Nein.« Er hob die Schultern. »Ich weiß nicht, wohin er gefahren ist. Ich weiß gar nichts mehr.«
Sein Blick irrte an Pia und Bodenstein vorbei. Urplötzlich, und mit einer Wut, die sie beide überraschte, ergriff er den Eimer und rannte über den Parkplatz. Er schien vor ihren Augen zu wachsen, wurde für einen Moment zu dem Mann, der er früher einmal gewesen sein musste.
»Haut ab, ihr verdammten Arschlöcher!«, brüllte er und schleuderte den Eimer mit heißer Seifenlauge quer über die Straße auf die Leute, die sich dort versammelt hatten. »Verpisst euch endlich! Lasst uns in Ruhe!«
Seine Stimme überschlug sich, er war drauf und dran, sich auf die Gaffer zu stürzen, als Bodenstein seinen Arm zu fassen bekam. Der Energieschub verpuffte so schnell, wie er gekommen war. Sartorius fiel unter Bodensteins festem Griff in sich zusammen wie ein Luftballon, dem die Luft entweicht.
»Entschuldigung«, sagte er leise. Ein zittriges Lächeln huschte über sein Gesicht. »Aber das hätte ich schon längst einmal tun sollen.«
Da das Haus von den Kollegen der Spurensicherung durchsucht wurde, schloss Hartmut Sartorius den Hintereingang zur Gaststätte auf und führte Pia und Bodenstein in den großen, rustikal eingerichteten Gastraum, in dem alles so aussah, als sei lediglich für die Mittagspause abgeschlossen worden. Stühle standen auf den Tischen, auf dem Boden war kein Stäubchen zu sehen, in Kunstleder gebundene Speisekarten lagen in einem ordentlichen Stapel neben der Kasse. Der Tresen war auf Hochglanz gewienert, die Bierzapfanlage blitzte, die Barhocker standen in Reih und Glied. Pia blickte sich um und fröstelte. Hier schien die Zeit stehengeblieben zu sein.
»Ich bin jeden Tag hier«, erklärte Sartorius. »Schon meine Eltern und Großeltern haben den Hof bewirtschaftet und den Goldenen Hahn betrieben. Ich bringe es einfach nicht über mich, hier alles herauszureißen.«
Er nahm die Stühle von einem runden Tisch in der Nähe des Tresens, bot Bodenstein und Pia mit einer Handbewegung Platz an.
»Möchten Sie etwas trinken? Einen Kaffee vielleicht?«
»Ja, das wäre nett.« Bodenstein lächelte. Sartorius ging geschäftig hinter dem Tresen hin und her, nahm Tassen aus dem Schrank, füllte Kaffeebohnen in die Maschine. Vertraute, tausendmal ausgeführte Handgriffe, die ihm Sicherheit gaben. Dabei erzählte er lebhaft von früher, als er noch selbst geschlachtet, gekocht und seinen eigenen Apfelwein gekeltert hatte.
»Aus Frankfurt sind die Leute hierhergekommen«, sagte er mit unüberhörbarem Stolz in der Stimme. »Nur wegen unserm Ebbelwoi. Und wer schon alles hier war! Oben, im großen Saal, da wurde jede Woche gefeiert. Früher, bei meinen Eltern, gab's Kino und Boxkämpfe und was nicht alles. Damals hatten die Leute noch keine Autos und fuhren nicht woandershin zum Essen.«
Bodenstein und Pia wechselten einen stummen Blick. Hier, in seinem Reich, war Hartmut Sartorius wieder der Chef, dem das Wohl seiner Gäste am Herzen lag und den die Schmierereien an der Fassade ärgerten, nicht mehr länger der geduckte, gedemütigte Schatten, zu dem ihn die Umstände gemacht hatten. Erst jetzt erfasste Pia die ganze Tragweite des Verlustes, den dieser Mann erlitten hatte, und empfand tiefes Mitgefühl. Sie hatte ihn fragen wollen, weshalb er nach den Vorfällen damals nicht aus Altenhain weggezogen war, aber nun erübrigte sich diese Frage. Hartmut Sartorius war mit dem Dorf, in dem seine Familie seit Generationen lebte, so fest verwurzelt wie die Kastanie draußen im Hof.
»Sie haben den Hof aufgeräumt«, begann Bodenstein das Gespräch. »Das muss viel Arbeit gewesen sein.«
»Das hat Tobias gemacht. Er will, dass ich alles verkaufe«, erwiderte Sartorius. »Eigentlich hat er recht damit, wir werden hier nie wieder auf einen grünen Zweig kommen. Aber das Problem ist, dass mir der Hof nicht mehr gehört.«
»Wem denn?«
»Wir mussten viel Geld aufnehmen, um den Anwalt für Tobias zu bezahlen«, erzählte Sartorius bereitwillig. »Es überstieg unsere Möglichkeiten, zumal wir uns ohnehin schon verschuldet hatten, um die neue Küche in der Gaststätte, einen Traktor und verschiedene andere Sachen zu bezahlen. Drei Jahre konnte ich noch die Schulden abstottern, aber dann … Die Gäste blieben weg. Ich musste das Lokal schließen. Wäre Claudius nicht gewesen, wir hätten von heute auf morgen auf der Straße gestanden.«
»Claudius Terlinden?«, fragte Pia nach und zückte ihren Block. Plötzlich begriff sie, was Andrea Wagner neulich mit der Bemerkung gemeint hatte, sie wolle nicht in dieselbe Lage geraten wie Sartorius. Lieber gehe sie arbeiten, als sich in die Abhängigkeit von Claudius Terlinden zu begeben.
»Ja. Claudius war der Einzige, der zu uns hielt. Er hatte den Anwalt besorgt und Tobias später regelmäßig im Gefängnis besucht.«
»Aha.«
»Die Familie Terlinden gibt es in Altenhain schon genauso lange wie unsere. Der Urgroßvater von Claudius war der Schmied im Dorf, bis er eine technische Erfindung gemacht hat, aus der sich eine Schlosserei entwickelt hat. Claudius' Großvater schließlich hat daraus die Firma gemacht und die Villa oben am Wald gebaut«, erzählte Hartmut Sartorius. »Die Terlindens waren immer sozial eingestellt und haben viel für das Dorf, ihre Mitarbeiter und deren Familien getan. Sie hätten es heute nicht mehr nötig, aber Claudius hat für jeden ein offenes Ohr. Er hilft jedem, der in der Bredouille ist. Ohne seine Unterstützung hätten die Vereine im Dorf keine Chance. Der Feuerwehr hat er vor ein paar Jahren ein neues Löschfahrzeug geschenkt, er ist im Vorstand vom SV und sponsert die 1. und 2. Mannschaft. Ja, auch den Kunstrasenplatz verdanken sie ihm.«
Er blickte einen Moment versonnen vor sich hin, aber Bodenstein und Pia hüteten sich, seinen Redefluss zu unterbrechen. Nach einer Weile sprach Sartorius weiter.
»Claudius hat Tobias sogar einen Job in seiner Firma angeboten. Bis er etwas anderes gefunden hätte. Lars war ja auch damals Tobias' bester Freund. Er ist bei uns ein und aus gegangen wie ein zweiter Sohn, und Tobias war auch bei Terlindens wie daheim.«
»Lars«, bemerkte Pia. »Er ist geistig behindert, nicht wahr?«
»O nein, nicht Lars.« Sartorius schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Das ist Thies, der Ältere der beiden. Und er ist auch nicht geistig behindert. Thies ist Autist.«
»Wenn ich mich recht erinnere«, sagte Bodenstein, der sich mit Pias Unterstützung über den alten Fall ausführlich informiert hatte, »dann fiel seinerzeit auch ein Verdacht auf Claudius Terlinden. Hatte nicht Ihr Sohn behauptet, Terlinden habe etwas mit Laura gehabt? Eigentlich kann er auf Tobias ja nicht besonders gut zu sprechen sein.«
»Ich glaube nicht, dass da etwas zwischen Claudius und dem Mädchen gewesen ist«, erwiderte Sartorius nach kurzem Überlegen. »Die Kleine war hübsch und ein bisschen kess. Ihre Mutter war Haushälterin oben in der Villa, und Laura war deshalb oft dort. Sie hat Tobias erzählt, dass Claudius hinter ihr her wäre, wohl um ihn eifersüchtig zu machen. Es hat sie ziemlich gekränkt, dass er mit ihr Schluss gemacht hat. Aber Tobias war bis über beide Ohren in Stefanie verliebt, da hatte Laura keine Chance mehr. Hm, die war auch ein ganz anderes Kaliber, die Stefanie. Schon eine richtige junge Frau, sehr schön und sehr selbstbewusst.«
»Schneewittchen«, sagte Pia.
»Ja, so wurde sie genannt, nachdem sie die Rolle bekommen hatte.«
»Welche Rolle?«, wollte Bodenstein wissen.
»Ach, in einem Theaterstück in der Schule. Die anderen Mädchen waren sehr neidisch. Stefanie war schließlich die Neue und hatte trotzdem gleich die begehrte Hauptrolle in der Theater AG bekommen.«
»Aber Laura und Stefanie waren doch Freundinnen, oder nicht?«, fragte Pia nach.
»Die beiden und Nathalie waren in einer Klasse. Sie verstanden sich gut und gehörten alle zur selben Clique.« Sartorius' Gedanken schweiften in eine friedlichere Vergangenheit.
»Wer?«
»Laura, Nathalie und die Jungs: Tobias, Jörg, Felix, Michael und wie sie alle hießen. Als Stefanie nach Altenhain kam, gehörte sie schnell dazu.«
»Und Tobias hat wegen ihr mit Laura Schluss gemacht.«
»Ja.«
»Aber dann hat Stefanie mit ihm Schluss gemacht. Warum eigentlich?«
»Das weiß ich auch nicht so genau.« Sartorius hob die Schultern. »Wer weiß schon, was in den jungen Leuten vorgeht? Angeblich hatte sie sich in ihren Lehrer verguckt.«
»In Gregor Lauterbach?«
»Ja.« Seine Miene verfinsterte sich. »Daraus haben sie ja auch vor Gericht ein Motiv gedrechselt. Tobias sei eifersüchtig auf den Lehrer gewesen und habe Stefanie deswegen … umgebracht. Aber das ist Unsinn.«
»Wer hat denn die Hauptrolle in dem Theaterstück bekommen, nachdem Stefanie sie nicht mehr spielen konnte?«
»Wenn ich mich richtig erinnere, dann war das Nathalie.«
Pia warf Bodenstein einen Blick zu.
»Nathalie – also Nadja«, sagte sie, »hat Ihrem Sohn immer die Treue gehalten. Bis heute. Warum?«
»Ungers sind unsere direkten Nachbarn«, antwortete Sartorius. »Nathalie war für Tobias wie eine kleine Schwester. Später war sie seine beste Freundin. Sie war – ein Kumpel.
Ziemlich burschikos und überhaupt nicht zickig. Ein Mädel zum Pferdestehlen. Tobias und seine Freunde haben sie immer wie einen Jungen behandelt, weil sie alles mitgemacht hat. Sie ist Moped gefahren, auf Bäume geklettert und hat sich mit ihnen geprügelt, als sie noch jünger waren.«
»Um noch mal auf Claudius Terlinden zurückzukommen«, begann Bodenstein, aber in diesem Augenblick marschierte Behnke, gefolgt von zwei weiteren Beamten, durch die nur angelehnte Hintertür in die Gaststube. Am Morgen hatte Bodenstein ihn mit der Leitung der Hausdurchsuchung betraut. Er baute sich vor dem Tisch auf, die Kollegen wie zwei Flügeladjutanten zu seinen Seiten.
»Wir haben etwas Interessantes im Zimmer Ihres Sohnes gefunden, Herr Sartorius.«
Pia bemerkte das triumphierende Glitzern in Behnkes Augen, den überheblichen Zug um seinen Mund. Mit Genuss spielte er in Situationen wie dieser die Überlegenheit aus, die er kraft seines Amtes besaß. Ein schäbiger Charakterzug, den Pia zutiefst verabscheute.
Wie von einem Zauberstab berührt, sackte Sartorius wieder in sich zusammen.
»Das«, verkündete Behnke, ohne Sartorius aus den Augen zu lassen, »steckte in der Gesäßtasche einer Jeans im Zimmer Ihres Sohnes.« Er blähte siegesgewiss die Nasenflügel. »Gehört das Ihrem Sohn? Hm? Wohl kaum! Hier auf der Rückseite stehen nämlich mit Eddingstift Initialen, schauen Sie mal!«
Bodenstein räusperte sich nachdrücklich und streckte die Hand aus, dazu machte er noch eine auffordernde Bewegung mit dem Zeigefinger. Pia hätte ihren Chef dafür küssen können, sie musste sich alle Mühe geben, nicht breit zu grinsen. Ohne große Worte wies er Behnke in seine Schranken – und das vor den Kollegen von der Spurensicherung. Behnkes erbostes Zähneknirschen war beinahe zu hören, als er seinem Chef nun widerwillig den Plastikbeutel mit seiner Beute reichte.
»Danke«, sagte Bodenstein, ohne ihn auch nur anzusehen. »Ihr könnt draußen weitermachen.«
Behnkes mageres Gesicht wurde erst blass, dann rot vor Zorn über diese Maßregelung. Wehe dem armen Tropf, der ihm jetzt über den Weg lief und einen Fehler machte! Sein Blick streifte den von Pia, aber es gelang ihr, eine gänzlich unbeteiligte Miene zu bewahren. Bodenstein betrachtete unterdessen eingehend den Fund in der Plastiktüte und legte die Stirn in Falten.
»Das scheint das Handy von Amelie Fröhlich zu sein«, sagte er ernst, als Behnke und die beiden anderen Beamten verschwunden waren. »Wie kann das in die Hosentasche Ihres Sohnes gelangt sein?«
Hartmut Sartorius war blass geworden und schüttelte verwirrt den Kopf.
»Ich … ich habe keine Ahnung«, flüsterte er. »Wirklich nicht.«
Nadjas Handy klingelte und vibrierte, aber sie warf nur einen raschen Blick auf das Display und legte es wieder weg.
»Geh doch dran.« Tobias ging die Melodie allmählich auf die Nerven. »Der gibt ja doch keine Ruhe.«
Sie griff nach dem Gerät und nahm das Gespräch entgegen. »Hallo, Hartmut«, sagte sie und blickte Tobias an. Dieser richtete sich unwillkürlich auf. Was wollte sein Vater von Nadja?
»Ach? … Aha … Ja, ich verstehe.« Sie hörte zu, ohne ihn aus den Augen zu lassen. »Nein … tut mir leid. Er ist nicht hier … Nein, ich weiß nicht, wo er sein könnte. Ich bin eben erst aus Hamburg zurückgekommen … Ja, ja natürlich. Sollte er sich bei mir melden, werde ich es ihm sagen.«
Sie legte auf. Einen Augenblick war es ganz still.
»Du hast gelogen«, stellte Tobias fest. »Wieso?«
Nadja antwortete nicht sofort. Sie senkte den Blick, seufzte. Als sie wieder aufblickte, kämpfte sie mit den Tränen.
»Die Polizei durchsucht gerade euer Haus«, sagte sie dann mit gepresster Stimme. »Sie wollen mit dir reden.«
Eine Hausdurchsuchung? Wieso das denn? Tobias erhob sich abrupt. Unmöglich konnte er seinen Vater in dieser Situation allein lassen. Das Maß dessen, was er ertragen konnte, war ohnehin längst voll.
»Bitte, Tobi!«, bat Nadja. »Fahr nicht hin! Ich … ich … lasse nicht zu, dass sie dich wieder verhaften!«
»Wer sagt denn, dass sie mich verhaften wollen?«, entgegnete Tobias erstaunt. »Wahrscheinlich haben sie nur noch ein paar Fragen.«
»Nein!« Sie sprang auf, der Stuhl krachte auf den Granitfußboden. Ihre Miene war verzweifelt, die Tränen quollen aus ihren Augen.
»Aber was hast du denn?«
Sie schlang ihre Arme um seinen Hals, drängte sich an ihn. Er konnte sich keinen Reim auf ihr Verhalten machen, streichelte ihren Rücken und hielt sie in seinen Armen.
»Sie haben in einer Jeans von dir Amelies Handy gefunden.« Ihre Stimme klang dumpf an seinem Hals. Das verschlug Tobias die Sprache. Bestürzt löste er sich aus Nadjas Umklammerung. Es musste sich um einen Irrtum handeln! Wie sollte Amelies Handy in seine Jeans gelangen?
»Geh nicht«, bettelte Nadja. »Lass uns irgendwohin fahren! Ganz weit weg, bis sich hier alles aufgeklärt hat!«
Tobias starrte stumm vor sich hin. Angestrengt versuchte er, seine Fassungslosigkeit unter Kontrolle zu bekommen. Er ballte seine Hände zu Fäusten und lockerte sie wieder. Was war nur geschehen, in den Stunden, an die er keine Erinnerung hatte?
»Sie werden dich verhaften!«, sagte Nadja wieder einigermaßen beherrscht und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen von der Wange. »Das weißt du doch auch! Und dann hast du keine Chance mehr.«
Sie hatte recht, das wusste er. Die Ereignisse wiederholten sich auf geradezu unheimliche Weise. Damals war Lauras Halskette, die in der Milchküche gefunden worden war, als Indiz für seine Schuld gewertet worden. Er spürte das Prickeln der Panik seinen Rücken hinaufkriechen und ließ sich schwer auf den Küchenstuhl sinken. Kein Zweifel, er war der ideale Täter. Man würde ihm aus der Tatsache, dass Amelies Handy in seiner Hosentasche gesteckt hatte, einen Strick drehen und den um seinen Hals legen, sobald er sich ihnen stellte. Plötzlich brach die alte Qual wieder auf, wie giftiger Eiter krochen die Selbstzweifel durch seine Adern, seinen Körper, durch jede Windung seines Gehirns. Mörder, Mörder, Mörder! Sie hatten es ihm so lange gesagt, bis er selbst überzeugt gewesen war, es getan zu haben. Er sah Nadja an.
»Okay«, flüsterte er heiser. »Ich fahre nicht hin. Aber … was ist, wenn ich es wirklich getan habe?«
»Kein Wort zur Presse oder zu irgendjemandem wegen des Handys!«, ordnete Bodenstein an. Alle an der Hausdurchsuchung beteiligten Beamten hatten sich unter der Toreinfahrt versammelt. Es goss in Strömen, dazu waren die Temperaturen in den vergangenen vierundzwanzig Stunden um zehn Grad gefallen. In den Regen mischten sich erste Schnee flocken.
»Aber wieso nicht?«, begehrte Behnke auf. »Der Kerl macht sich in Ruhe aus dem Staub, und wir stehen da wie die Idioten!«
»Ich will hier keine Hexenjagd vom Zaun brechen«, entgegnete Bodenstein. »Die Stimmung im Dorf ist aufgeheizt genug. Es besteht eine absolute Informationssperre, bis ich mit Tobias Sartorius gesprochen habe. Ist das klar?«
Die Männer und Frauen nickten, nur Behnke verschränkte trotzig die Arme und schüttelte den Kopf. Die Demütigung von vorhin glomm in ihm wie eine brennende Lunte, das wusste Bodenstein. Darüber hinaus hatte Behnke genau begriffen, was sein Einsatz bei der Spurensicherung bedeutete: Diese Degradierung war eine Strafe. Bodenstein hatte ihm bei seinem Vieraugengespräch klargemacht, wie bitter enttäuscht er von Behnkes Vertrauensbruch war. In den vergangenen zwölf Jahren hatte Bodenstein immer großzügig die Probleme ausgebügelt, die sich Behnke wegen seines explosiven Temperaments regelmäßig eingehandelt hatte. Aber nun, das hatte er ihm deutlich gesagt, war Schluss damit. Dieser Verstoß gegen die Regeln war auch mit familiären Problemen nicht zu entschuldigen. Bodenstein hoffte, dass Behnke sich an seine Anweisung halten würde, denn sonst gab es keine Möglichkeit mehr, ihn vor einer drohenden Suspendierung zu bewahren. Er wandte sich ab und folgte Pia mit schnellen Schritten zum Auto.
»Gib eine Fahndung nach Tobias Sartorius durch.« Er ließ den Motor an, fuhr aber noch nicht los. »Verdammt, ich war mir sicher, dass wir auf dem Hof noch irgendeine Spur von dem Mädchen finden würden!«
»Du glaubst, er war's, stimmt's?« Pia griff zum Telefon und rief bei Ostermann an. Die Scheibenwischer schrammten über die Windschutzscheibe, das Gebläse der Heizung lief auf Hochtouren. Bodenstein biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. Wenn er ehrlich war, blickte er überhaupt nicht durch. Immer wenn er versuchte, sich auf den Fall zu konzentrieren, schob sich das Bild einer nackten Cosima, die sich mit einem fremden Mann in den Laken wälzte, vor sein inneres Auge. Hatte sie sich gestern wieder mit dem Kerl getroffen? Als er spätabends nach Hause gekommen war, hatte sie schon im Bett gelegen und geschlafen. Er hatte die Gelegenheit genutzt, ihr Handy zu kontrollieren, und dabei festgestellt, dass sämtliche Ruflisten und SMS gelöscht worden waren. Diesmal hatte er nicht einmal mehr ein schlechtes Gewissen verspürt, auch nicht, als er ihre Tasche und ihren Mantel gefilzt hatte. Beinahe hätte er seinen Verdacht schon wieder verworfen, als er in ihrem Portemonnaie, versteckt zwischen den Kreditkarten, zwei Kondome gefunden hatte.
»Oliver!« Pias Stimme schreckte ihn aus seinen Gedanken. »Kai ist in Amelies Tagebuch auf eine Stelle gestoßen, an der sie schreibt, dass ihr Nachbar offenbar jeden Morgen darauf warte, sie mit zur Bushaltestelle nehmen zu können.«
»Ja und?«
»Der Nachbar ist Claudius Terlinden.«
Bodenstein begriff nicht, worauf Pia hinauswollte. Er konnte nicht nachdenken. Er war überhaupt nicht frei im Kopf, um diese Ermittlung leiten zu können.
»Wir müssen mit ihm reden«, sagte Pia mit einem Anflug von Ungeduld in der Stimme. »Wir wissen noch viel zu wenig vom Umfeld des Mädchens, als dass wir uns auf Tobias Sartorius als einzigen möglichen Täter festlegen sollten.«
»Ja, du hast recht.« Er legte den Rückwärtsgang ein und fuhr auf die Straße.
»Achtung! Der Bus!«, schrie Pia, aber zu spät. Bremsen quietschten, Metall krachte auf Metall, das Auto wurde von einem heftigen Stoß erschüttert. Bodensteins Kopf knallte unsanft gegen das Seitenfenster.
»Na super.« Pia öffnete ihren Gurt und stieg aus. Benommen blickte Bodenstein über die Schulter nach hinten und erkannte durch die regennasse Scheibe die Umrisse eines großen Fahrzeugs. Etwas Warmes lief über sein Gesicht, er berührte seine Wange und starrte verwirrt auf das Blut an seiner Hand. Erst dann realisierte er, was geschehen war. Der Gedanke, jetzt hinaus in den Regen zu gehen und mitten auf der Straße mit einem erbosten Busfahrer zu diskutieren, kotzte ihn an. Alles kotzte ihn an. Die Tür wurde geöffnet.
»Mensch, du blutest ja!« Pias Stimme klang erst erschrocken, aber dann prustete sie plötzlich los. Hinter ihr auf der Straße im Regen herrschte Gedränge. Beinahe jeder Kollege, der bei der Hausdurchsuchung mitgewirkt hatte, wollte offenbar den Schaden an BMW und Bus begutachten.
»Was gibt's denn da wohl zu lachen?« Bodenstein blickte sie gekränkt an.
»Entschuldige bitte.« Die Anspannung der letzten Stunden entlud sich in einem beinahe hysterischen Lachanfall. »Aber irgendwie dachte ich, dein Blut wäre blau und nicht rot.«
Es war schon fast dunkel, als Pia den ziemlich zerbeulten, aber immerhin noch fahrbereiten BMW durch das Tor des Terlinden-Anwesens lenkte, das diesmal weit geöffnet war. Es war purer Zufall, dass sich Frau Dr. Lauterbach in ihrer »Zweigstelle«, wie sie es nannte, aufgehalten hatte. Normalerweise hatte sie in ihrer Praxis im alten Rathaus in Altenhain nur mittwochnachmittags Sprechstunde, aber sie hatte gerade eine Krankenakte für einen Patientenbesuch holen wollen, als es auf der Straße krachte. Sie hatte die Platzwunde an Bodensteins Kopf sachkundig und rasch verarztet und ihm geraten, sich für den Rest des Tages hinzulegen, denn eine Gehirnerschütterung sei nicht auszuschließen. Aber das hatte er entschieden abgewehrt. Pia, die ihren Heiterkeitsausbruch schnell wieder unter Kontrolle bekommen hatte, ahnte, was ihren Chef beschäftigte, auch wenn er Cosima und seinen Verdacht nicht mehr erwähnt hatte.
Sie fuhren die geschwungene, von niedrigen Laternen beleuchtete Auffahrt entlang, die durch einen Park mit herrlichen alten Bäumen, Buchsbaumhecken und winterlich kahlen Blumenrabatten führte. Hinter einer Kurve tauchte in der nebligen Dämmerung des hereinbrechenden Abends das Haus auf, eine große, alte Villa im Fachwerkstil mit Erkern, Türmen, spitzgiebligen Dächern und einladend beleuchteten Fenstern. Sie fuhr in den Innenhof und hielt direkt vor der dreistufigen Treppe. Unter dem von massiven Holzpfosten getragenen Vordach grinste ihnen ein Arrangement von Halloween-Kürbissen entgegen. Pia betätigte die Türglocke, sofort erhob sich im Innern des Hauses vielstimmiges Hundegebell. Durch die altmodischen Milchglasscheiben der Haustür erkannte sie undeutlich eine ganze Meute von Hunden, die bellend an der Tür hochsprangen; am höchsten schaffte es ein langbeiniger Jack-Russel-Terrier, der wie ein Irrsinniger kläffte. Ein kalter Wind trieb den feinen Regen, der allmählich zu scharfen, kleinen Schneekristallen wurde, unter das Vordach. Pia klingelte erneut, woraufhin sich das Gebell der Hunde zu einem ohrenbetäubenden Crescendo steigerte.
»Vielleicht kommt bald mal einer«, schimpfte sie und schlug den Kragen ihrer Jeansjacke hoch.
»Früher oder später wird schon jemand aufmachen.« Bodenstein lehnte sich an das hölzerne Geländer, verzog keine Miene. Pia warf ihm einen missmutigen Blick zu. Seine stoische Geduld brachte sie manchmal auf die Palme. Endlich näherten sich Schritte, die Hunde verstummten und verschwanden wie von Geisterhand. Die Haustür ging auf, und im Türrahmen erschien eine mädchenhaft zierliche Blondine, gekleidet in eine pelzumsäumte Weste über einem Rollkragenpullover, einen knielangen Karorock und modische hochhackige Stiefel. Auf den ersten Blick hätte Pia die Frau für Mitte zwanzig gehalten. Sie hatte ein alterslos glattes Gesicht und große, blaue Puppenaugen, mit denen sie erst Pia, dann Bodenstein mit höflicher Zurückhaltung musterte.
»Frau Terlinden?« Pia suchte in den Taschen der Daunenweste, dann in der Jeansjacke darunter nach ihrer Marke, während Bodenstein stumm wie ein Fisch blieb. Die Frau nickte. »Mein Name ist Kirchhoff, das ist mein Kollege Bodenstein. Wir kommen vom K11in Hofheim. Ist Ihr Mann zu Hause?«
»Nein, tut mir leid.« Frau Terlinden reichte ihnen freundlich lächelnd die Hand, die ihr wahres Alter verriet. Sie musste die fünfzig seit ein paar Jahren überschritten haben, ihr jugendliches Outfit wirkte plötzlich wie eine Verkleidung. »Kann ich Ihnen helfen?«
Sie machte keine Anstalten, sie ins Haus zu bitten. Durch die geöffnete Tür erhaschte Pia dennoch einen Blick in das Innere und sah eine breite Freitreppe, deren Stufen mit bordeauxrotem Teppich ausgelegt waren, eine Eingangshalle mit Marmorboden im Schachbrettmuster und düstere, gerahmte Ölgemälde an hohen, safrangelb tapezierten Wänden.
»Sie wissen ja sicher, dass die Tochter Ihrer Nachbarn seit Samstagabend vermisst wird«, begann Pia. »Die Suchhunde haben gestern immer wieder in der Nähe Ihres Hauses angeschlagen, und wir fragen uns, weshalb.«
»Kein Wunder. Amelie ist ja oft bei uns.« Frau Terlindens Stimme klang wie Vogelgezwitscher, ihr Blick wanderte von Pia zu Bodenstein und wieder zurück. »Sie ist mit unserem Sohn Thies befreundet.«
Mit einer unbewusst wirkenden Geste strich sie sich vorsichtig über den perfekt sitzenden Pagenkopf und schaute wieder kurz und ein wenig irritiert zu Bodenstein hinüber, der sich schweigend im Hintergrund hielt. Das Pflaster an seiner Stirn leuchtete hellweiß im dämmrigen Licht.
»Befreundet? Ist Amelie die Freundin Ihres Sohnes?«
»Nein, nein, das nicht. Sie verstehen sich nur gut, die beiden«, entgegnete Frau Terlinden zurückhaltend. »Das Mädchen hat keine Berührungsängste und lässt ihn nicht spüren, dass er … anders ist.«
Obwohl es Pia war, die das Gespräch führte, wanderten ihre Blicke immer wieder zu Bodenstein, als erhoffte sie Unterstützung von ihm. Pia kannte diesen Frauentypus, diese gekonnt einstudierte Mischung aus weiblicher Hilflosigkeit und Koketterie, die in beinahe jedem Mann den Beschützerinstinkt weckte. Die wenigsten Frauen waren tatsächlich so, die meisten hatten diese Rolle im Laufe der Zeit als wirkungsvolle Manipulationsmethode für sich entdeckt.
»Wir würden gerne mit Ihrem Sohn sprechen«, sagte sie. »Vielleicht kann er uns etwas über Amelie erzählen.«
»Das geht leider nicht.« Christine Terlinden zupfte am Pelzkragen ihrer Weste, strich wieder über ihren blonden Helm. »Thies geht es nicht gut. Er hatte gestern einen Anfall, wir mussten die Ärztin rufen.«
»Was für einen Anfall?«, hakte Pia nach. Sollte Frau Terlinden gehofft haben, die Polizei würde sich mit vagen Andeutungen zufriedengeben, so sah sie sich jetzt im Irrtum. Pias Frage schien sie unangenehm zu berühren.
»Nun ja. Thies ist sehr labil. Schon kleine Veränderungen in seinem Lebensumfeld können ihn mitunter völlig aus der Bahn werfen.«
Das klang, als habe sie das auswendig gelernt. Der Mangel jeglicher Empathie in ihren Worten war bemerkenswert. Offensichtlich interessierte es Frau Terlinden nur wenig, was mit dem Nachbarmädchen geschehen war. Sie hatte nicht einmal aus Höflichkeit nachgefragt. Das war seltsam. Pia erinnerte sich an die Mutmaßungen der Frauen im Dorfladen, die es durchaus für möglich hielten, dass Thies dem Mädchen etwas angetan haben könnte, wenn er nachts durch die Straßen schlich.
»Was macht Ihr Sohn den ganzen Tag?«, wollte Pia wissen. »Geht er arbeiten?«
»Nein. Fremde Menschen überfordern ihn«, antwortete Christine Terlinden. »Er kümmert sich um unseren Garten und um die Gärten von einigen Nachbarn. Er ist ein sehr guter Gärtner.«
Unwillkürlich fiel Pia das alte Lied von Reinhard Mey ein, das dieser als Parodie auf die Edgar-Wallace-Filme aus den 6oer Jahren geschrieben hatte. Der Mörder ist immer der Gärtner. War es so einfach? Wussten die Terlindens mehr und versteckten ihren behinderten Sohn, um ihn zu schützen?
Der Regen war endgültig in Schnee übergegangen. Ein feiner, weißer Belag hatte sich auf dem Asphalt der Straße gebildet, und Pia hatte alle Mühe, den schweren BMW mit den Sommerreifen vor dem Tor des Firmengeländes von Terlinden zum Stehen zu bekommen.
»Du solltest mal die Reifen wechseln lassen«, sagte sie zu ihrem Chef. »Winterreifen von O bis O.«
»Was?« Bodenstein runzelte irritiert die Stirn. Er war in Gedanken irgendwo, aber ganz sicher nicht bei ihrem Fall. Sein Handy summte.
»Hallo, Frau Dr. Engel …«, meldete er sich nach einem Blick aufs Display.
»Oktober bis Ostern«, murmelte Pia, ließ die Scheibe herunter und zeigte dem Portier ihre Kripomarke. »Herr Terlinden erwartet uns.«
Das stimmte zwar nicht ganz, aber der Mann nickte nur, strebte zurück in sein warmes Häuschen und fuhr die Schranke hoch. Pia gab vorsichtig Gas, um nicht ins Rutschen zu geraten, und steuerte das Auto über leere Parkplätze vor die gläserne Front des Hauptgebäudes. Direkt vor der Eingangstür stand ein schwarzer S-Klasse-Mercedes. Pia hielt dahinter und stieg aus. Konnte Bodenstein sein Gespräch mit der Engel nicht abkürzen? Ihre Füße waren Eisklumpen, die kurze Fahrt durch Altenhain hatte die Heizung des Autos kaum in Gang gebracht. Der Schneefall wurde dichter. Wie sollte sie den BMW später noch bis nach Hofheim chauffieren, ohne im Straßengraben zu landen? Ihr Blick fiel auf eine hässliche Delle am linken hinteren Kotflügel des schwarzen Mercedes, und sie sah genauer hin. Sehr alt konnte der Schaden nicht sein, sonst hätte sich Rost gebildet.
Sie hörte, wie eine Autotür hinter ihr zuschlug, und wandte sich um. Bodenstein hielt ihr die Tür auf, sie betraten die Empfangshalle. Hinter einem Tresen aus poliertem Walnussholz saß ein junger Mann; an der meterhohen weißen Wand hinter ihm prangte nur der Name TERLINDEN in goldenen Lettern. Schlicht und dennoch imposant. Pia erläuterte ihm ihr Anliegen, und nach einem kurzen Telefonat begleitete er sie und Bodenstein zu einem Aufzug im hinteren Teil der Halle. Schweigend fuhren sie in den 4. Stock, wo sie bereits von einer gepflegten Dame mittleren Alters erwartet wurden. Sie war offenbar im Aufbruch in den Feierabend begriffen und trug schon Mantel, Schal und ihre Tasche über der Schulter, führte sie aber pflichtschuldig zum Büro ihres Chefs.
Nach allem, was Pia bisher über Claudius Terlinden gehört hatte, hatte sie einen jovialen Patriarchen erwartet und war zuerst ein wenig enttäuscht, als sie den ziemlich durchschnittlich aussehenden Mann in Anzug und Krawatte hinter einem völlig überladenen Schreibtisch sitzen sah. Er erhob sich, als sie eintraten, knöpfte sein Jackett zu und kam ihnen entgegen.
»Guten Abend, Herr Terlinden.« Bodenstein war aus seiner Starre erwacht. »Entschuldigen Sie die späte Störung, aber wir haben heute schon mehrfach versucht, Sie zu erreichen.«
»Guten Abend«, erwiderte Claudius Terlinden und lächelte. »Meine Sekretärin hat mir Ihre Nachricht hinterlassen. Ich hätte mich gleich morgen früh gemeldet.«
Er war etwa Mitte bis Ende fünfzig, sein dichtes, dunkles Haar wurde an den Schläfen grau. Aus der Nähe betrachtet, sah er alles andere als durchschnittlich aus, stellte Pia fest. Claudius Terlinden war kein schöner Mann, seine Nase war zu groß, das Kinn zu kantig, sein Mund für einen Mann etwas zu voll, dennoch strahlte er etwas aus, das sie faszinierte.
»Großer Gott, Sie haben ja eiskalte Hände!«, stellte er besorgt fest, als er ihr eine angenehm warme, trockene Hand reichte, und legte ganz kurz auch seine andere Hand um die ihre. Pia zuckte zusammen, es fühlte sich an, als hätte sie einen elektrischen Schlag erhalten. Ein kurzer Ausdruck des Erstaunens huschte über Terlindens Gesicht.
»Soll ich Ihnen einen Kaffee holen oder einen heißen Kakao, damit Sie ein wenig auftauen?«
»Nein, nein, schon gut«, erwiderte Pia, verunsichert von der Intensität seines Blicks, die ihr unwillkürlich das Blut ins Gesicht trieb. Sie sahen sich ein wenig länger an als notwendig. Was war da eben passiert? Handelte es um eine simple, physikalisch zu erklärende statische Entladung oder etwas ganz anderes?
Bevor sie oder Bodenstein die erste Frage stellen konnten, erkundigte Terlinden sich nach Amelie.
»Ich mache mir große Sorgen«, sagte er ernst. »Amelie ist die Tochter meines Prokuristen, ich kenne sie gut.«
Pia erinnerte sich dunkel, dass sie eigentlich vorgehabt hatte, ihn hart anzugehen und ihm zu unterstellen, er sei scharf auf das Mädchen gewesen. Aber dieser Vorsatz war plötzlich wie weggeblasen.
»Wir haben leider noch keine neuen Erkenntnisse«, sagte Bodenstein. Ohne lange Vorrede kam er zur Sache. »Man hat uns erzählt, dass Sie Tobias Sartorius einige Male im Gefängnis besucht haben. Welchen Grund hatten Sie dafür? Und weshalb haben Sie die Schulden seiner Eltern übernommen?«
Pia schob die Hände in die Taschen ihrer Weste und versuchte sich zu erinnern, was sie Terlinden so dringend hatte fragen wollen. Aber ihr Gehirn war plötzlich so leer wie eine frisch formatierte Computerfestplatte.
»Hartmut und Rita wurden nach dieser schrecklichen Sache von den Leuten im Dorf wie Aussätzige behandelt«, antwortete Claudius Terlinden. »Ich halte nichts von Sippenhaft. Was auch immer ihr Sohn getan haben mag, sie konnten nun wirklich nichts dafür.«
»Obwohl Tobias Sie damals verdächtigte, etwas mit dem Verschwinden eines der beiden Mädchen zu tun zu haben? Sie sind durch seine Behauptung in ziemliche Schwierigkeiten geraten.«
Terlinden nickte. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und legte den Kopf schief. Es schien seiner Selbstsicherheit nicht abträglich zu sein, dass Bodenstein ihn um einen Kopf überragte und er zu ihm aufblicken musste.
»Das habe ich Tobias nicht übelgenommen. Er stand unter immensem Druck, wollte sich einfach mit allen Mitteln verteidigen. Und es war ja tatsächlich so, dass Laura mich damals zweimal in äußerst peinliche Situationen gebracht hat. Als Tochter unserer Haushälterin war sie häufig bei uns im Haus und bildete sich ein, in mich verliebt zu sein.«
»Was für Situationen waren das?«, fragte Bodenstein nach.
»Das eine Mal hatte sie sich in mein Bett gelegt, als ich gerade im Bad war«, erwiderte Terlinden mit sachlicher Stimme. »Das zweite Mal zog sie sich vor mir im Wohnzimmer nackt aus. Meine Frau war verreist, Laura wusste das. Sie sagte mir in aller Deutlichkeit, dass sie mit mir schlafen wollte.«
Aus unerfindlichen Gründen zerrten seine Worte an Pias Nerven. Sie vermied es, ihn anzusehen, und betrachtete stattdessen die Einrichtung des Büros. Der mächtige Schreibtisch aus Massivholz mit imposanten Schnitzereien an den Seiten ruhte auf vier riesigen Löwentatzen. Vermutlich war er sehr alt und wertvoll, aber Pia hatte selten etwas Hässlicheres gesehen. Neben dem Schreibtisch stand ein antiker Globus, und an den Wänden hingen düstere, expressionistische Gemälde in schlichten Goldrahmen, ähnlich denen, die sie vorhin über die Schulter von Frau Terlinden in deren Villa erspäht hatte.
»Und was passierte dann?«, erkundigte sich Bodenstein.
»Als ich sie zurückwies, brach sie in Tränen aus und rannte weg. Genau in diesem Moment kam mein Sohn herein.«
Pia räusperte sich. Sie hatte sich wieder unter Kontrolle.
»Sie haben Amelie Fröhlich des Öfteren in Ihrem Auto mitgenommen«, sagte sie. »Das hat sie in ihrem Tagebuch geschrieben. Sie hatte den Eindruck, Sie würden regelrecht auf sie warten.«
»Gewartet habe ich nicht«, Claudius Terlinden lächelte, »aber ich habe sie ein paarmal mitgenommen, wenn sie mir auf dem Weg zur Bushaltestelle oder vom Dorf aus den Berg hoch zufällig begegnet ist.«
Er sprach ruhig und gelassen und machte nicht gerade den Eindruck, als habe er ein schlechtes Gewissen.
»Sie haben ihr den Kellnerjob im Schwarzen Ross besorgt. Warum?«
»Amelie wollte Geld verdienen, und der Wirt vom Schwarzen Ross suchte eine Kellnerin.« Er hob die Schultern. »Ich kenne hier im Dorf jeden, und wenn ich helfen kann, dann tue ich das gern.«
Pia betrachtete den Mann. Sein forschender Blick begegnete ihrem, und sie hielt ihm stand. Sie stellte Fragen, und er antwortete. Gleichzeitig lief zwischen ihnen etwas völlig anderes ab, aber was? Worin bestand diese eigentümliche Anziehung, die der Mann auf sie ausübte? Waren es seine dunklen Augen? Seine angenehme, sonore Stimme? Die Aura gelassener Selbstsicherheit, die von ihm ausging? Kein Wunder, dass er ein junges Mädchen wie Amelie beeindruckt hatte, wenn er sogar sie als erwachsene Frau in seinen Bann schlug.
»Wann haben Sie Amelie das letzte Mal gesehen?«, fragte nun wieder Bodenstein.
»Das weiß ich nicht genau.«
»Wissen Sie denn noch, wo Sie am vergangenen Samstagabend gewesen sind? Uns interessiert ganz konkret die Zeit zwischen 22 Uhr und 2 Uhr morgens.«
Claudius Terlinden nahm die Hände aus den Taschen und verschränkte die Arme vor der Brust. Über den Rücken seiner linken Hand zog sich ein blutiger Kratzer, der ziemlich frisch aussah.
»Ich war abends mit meiner Frau in Frankfurt essen«, erwiderte er nach kurzem Überlegen. »Weil Christine starke Kopfschmerzen hatte, habe ich sie zuerst zu Hause abgesetzt, dann bin ich hierhergefahren und habe den Schmuck in den Safe gelegt.«
»Wann sind Sie aus Frankfurt gekommen?«
»Gegen halb elf.«
»Also sind Sie zweimal am Schwarzen Ross vorbeigefahren«, bemerkte Pia.
»Ja.« Terlinden betrachtete sie mit der Konzentration eines Kandidaten bei einer Fernsehshow, wenn der Quizmaster die alles entscheidende Frage stellt, während er Bodensteins Fragen fast beiläufig beantwortet hatte. Diese Aufmerksamkeit irritierte Pia, und Bodenstein schien es ebenfalls zu bemerken.
»Und Ihnen ist dort nichts aufgefallen?«, fragte er. »Haben Sie irgendjemanden auf der Straße gesehen? Einen späten Spaziergänger vielleicht?«
»Nein, mir ist nichts aufgefallen«, antwortete Claudius Terlinden nachdenklich. »Aber ich fahre diese Strecke jeden Tag ein paarmal und achte nicht sonderlich auf die Umgebung.«
»Woher stammt der Kratzer da an Ihrer Hand?«, fragte Pia.
Terlindens Gesicht verdunkelte sich. Er lächelte nicht mehr. »Ich hatte eine Auseinandersetzung mit meinem Sohn.«
Thies – natürlich! Beinahe hätte Pia vergessen, was sie überhaupt hierher geführt hatte! Auch Bodenstein schien nicht mehr daran gedacht zu haben, bekam aber elegant die Kurve.
»Richtig«, sagte er. »Ihre Frau sagte uns eben, dass Ihr Sohn Thies gestern Abend eine Art Anfall erlitten hat.«
Claudius Terlinden zögerte kurz, dann nickte er.
»Um was für einen Anfall handelte es sich? Ist er Epileptiker?«
»Nein. Thies ist Autist. Er lebt in seiner eigenen Welt und empfindet jede Veränderung in seinem gewohnten Lebensumfeld als Bedrohung. Und darauf reagiert er mit autoaggressivem Verhalten.« Terlinden seufzte. »Ich fürchte, Amelies Verschwinden war der Auslöser für seinen Anfall.«
»Im Dorf geht das Gerücht um, Thies könne etwas damit zu tun haben«, sagte Pia.
»Das ist Unsinn«, widersprach Claudius Terlinden ohne jede Empörung, eher gleichgültig, als sei ihm dieses Gerede zur Genüge bekannt. »Thies mag das Mädchen ausgesprochen gern. Aber einige Leute im Dorf sind der Meinung, er gehöre in eine Anstalt. Natürlich sagen sie mir das nicht ins Gesicht, aber ich weiß es.«
»Wir würden gerne mit ihm sprechen.«
»Das ist im Augenblick leider nicht möglich.« Terlinden schüttelte bedauernd den Kopf. »Wir mussten ihn in die Psychiatrie bringen lassen.«
»Was passiert dort mit ihm?« Pia hatte sofort grausige Bilder von Menschen im Kopf, die gefesselt und mit Stromstößen traktiert wurden.
»Man versucht, ihn zu beruhigen.«
»Wie lange wird es dauern, bis wir mit ihm sprechen können?«
Claudius Terlinden hob die Schultern. »Ich weiß es nicht. Einen so schweren Anfall hatte Thies seit vielen Jahren nicht mehr. Ich fürchte, dass er durch dieses Ereignis in seiner Entwicklung wieder völlig zurückgeworfen wird. Das wäre eine Katastrophe. Für uns und für ihn.«
Er versprach, Bodenstein und Pia zu informieren, sobald die behandelnden Ärzte grünes Licht für ein Gespräch mit Thies gaben. Als er sie zum Aufzug begleitete und ihnen zum Abschied die Hand reichte, lächelte er wieder.
»Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen«, sagte er. Diesmal versetzte seine Berührung Pia keinen elektrischen Schlag, dennoch fühlte sie sich eigentümlich benommen, als sich endlich die Aufzugstür hinter ihnen schloss. Auf der Fahrt nach unten bemühte sie sich, ihrer Verwirrung Herr zu werden.
»Na, der ist aber auf dich abgefahren«, bemerkte Bodenstein. »Und du auch auf ihn.« In seiner Stimme schwang leiser Spott.
»Quatsch!«, widersprach Pia und zog den Reiß verschloss ihrer Jacke bis zum Kinn. »Ich habe nur versucht, ihn einzuschätzen.«
»Und? Zu welchem Ergebnis bist du gekommen?«
»Ich glaube, er war aufrichtig.«
»Ach ja? Ich glaube das Gegenteil.«
»Wieso? Er hat, ohne zu zögern, alle Fragen beantwortet, auch die unangenehmen. Er hätte uns zum Beispiel nicht erzählen müssen, dass Laura ihn damals zweimal in eine peinliche Situation gebracht hatte.«
»Genau das halte ich für seinen Trick«, entgegnete Bodenstein. »Ist es nicht ein eigenartiger Zufall, dass Terlindens Sohn just in dem Augenblick, in dem das Mädchen verschwindet, aus der Schusslinie gebracht wird?«
Der Aufzug hielt im Erdgeschoss, die Türen gingen auf.
»Wir sind kein bisschen weitergekommen«, stellte Pia mit plötzlicher Ernüchterung fest. »Niemand will das Mädchen gesehen haben.«
»Vielleicht will es uns auch nur niemand sagen«, entgegnete Bodenstein. Sie durchquerten die Halle, nickten dem jungen Mann hinter dem Empfangstresen zu und traten hinaus ins Freie. Eisiger Wind pfiff ihnen entgegen. Pia drückte auf die Fernbedienung des Autoschlüssels, und die Türen des BMW entriegelten sich.
»Wir müssen noch einmal mit Frau Terlinden sprechen.« Bodenstein blieb an der Beifahrertür stehen und blickte Pia über das Autodach an.
»Du verdächtigst also Thies und seinen Vater.«
»Ist doch möglich. Thies hat dem Mädchen etwas angetan, sein Vater will es vertuschen und steckt seinen Sohn in die Psychiatrie.«
Sie stiegen ein, Pia ließ den Motor an und fuhr unter dem schützenden Vordach hervor. Sofort bedeckte Schnee die Windschutzscheibe, die Scheibenwischer setzten sich dank feiner Sensoren in Bewegung.
»Ich will wissen, welcher Arzt Thies behandelt hat«, sagte Bodenstein nachdenklich. »Und ob die Terlindens am Samstagabend wirklich in Frankfurt essen waren.«
Pia nickte nur. Die Begegnung mit Claudius Terlinden hatte ein zwiespältiges Gefühl in ihr hinterlassen. Normalerweise ließ sie sich nicht so schnell von jemandem blenden, aber der Mann hatte sie tief beeindruckt, und sie wollte ergründen, woran das lag.
Nur die Wache war noch besetzt, als Pia um halb zehn das Gebäude der RKI betrat. Der Schnee hatte sich in Höhe von Kelkheim wieder in Regen verwandelt, und Bodenstein hatte trotz seiner Kopfverletzung darauf bestanden, allein nach Hause zu fahren. Eigentlich hatte Pia auch für heute Schluss machen wollen, Christoph wartete sicher schon auf sie, aber die Begegnung mit Claudius Terlinden ließ ihr keine Ruhe. Und Christoph hatte Verständnis dafür, dass sie hin und wieder länger arbeiten musste.
Sie ging durch die menschenleeren Flure und Treppenhäuser bis zu ihrem Büro, schaltete das Licht ein und setzte sich an ihren Schreibtisch. Christine Terlinden hatte ihnen den Namen der Ärztin genannt, die Thies seit vielen Jahren behandelte. Es war keine Überraschung, dass es sich dabei um Frau Dr. Daniela Lauterbach handelte, immerhin war sie eine langjährige Nachbarin der Terlindens und konnte in Krisensituationen schnell vor Ort sein.
Sie tippte ihr Passwort in die Tastatur. Seitdem sie das Büro von Claudius Terlinden verlassen hatten, ging sie in Gedanken wieder und wieder das Gespräch durch, versuchte, sich jedes Wort, jede Formulierung, alle subtilen Andeutungen in Erinnerungen zu rufen. Wieso war Bodenstein so davon überzeugt, dass Terlinden in Amelies Verschwinden verstrickt war, sie hingegen überhaupt nicht? Hatte die Anziehung, die er auf sie ausgeübt hatte, ihre Objektivität getrübt?
Sie gab Terlindens Name bei einer Suchmaschine ein und landete Tausende von Treffern. In der nächsten halben Stunde erfuhr sie einiges über seine Firma und Familie, über Claudius Terlindens vielseitiges soziales und karitatives Engagement. Er war in zig Aufsichts- und Stiftungsräten verschiedener Verbände und Organisationen aktiv, hatte Stipendien für begabte junge Menschen aus sozial schwachen Familien vergeben. Terlinden tat viel für junge Leute. Warum? Sein offizielles Statement dazu lautete, dass er als ein vom Schicksal begünstigter Mensch der Gesellschaft etwas zurückgeben wolle. Ein durchaus edles Motiv, an dem nichts auszusetzen war. Aber steckte vielleicht noch etwas anderes dahinter? Er hatte behauptet, Laura Wagner zweimal abgewiesen zu haben, als sie ihm eindeutige Avancen gemacht hatte. Stimmte das? Pia klickte die Fotos an, die die Suchmaschine von ihm gefunden hatte, und betrachtete nachdenklich den Mann, der so heftige Gefühle in ihr ausgelöst hatte. Wusste seine Frau, dass ihr Mann auf junge Mädchen stand, und kleidete sich deshalb so übertrieben jugendlich? Hatte er Amelie etwas angetan, weil sie sich seinen Annäherungen widersetzt hatte? Pia kaute auf ihrer Unterlippe. Sie mochte das einfach nicht glauben. Schließlich loggte sie sich aus dem Internet aus und gab seinen Namen bei POLAS, dem Computer-Fahndungssystem, ein. Nichts. Er war nicht vorbestraft, nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Plötzlich fiel ihr Blick auf einen Link, der rechts unten eingeblendet war. Sie richtete sich auf. Am Sonntag, den 16. November 2008 hatte jemand um 1:15 Uhr Anzeige gegen Claudius Terlinden erstattet. Pia holte sich den Vorgang auf den Bildschirm. Ihr Herz begann zu klopfen, während sie las.
»Na, schau mal einer an«, murmelte sie.