Sonntag, 23. November 2008
Pia hatte eine schlaflose Nacht hinter sich und war schon auf den Beinen, als um 5:15 Uhr der Anruf des Überwachungsteams kam: Nadja von Bredow sei soeben in ihre Wohnung am Westhafen in Frankfurt zurückgekehrt. Allein.
»Ich komme sofort«, sagte Pia. »Wartet auf mich.«
Sie warf das Heu, das sie unter den Arm geklemmt hatte, über die Boxentür und steckte das Handy weg. Es war nicht nur der Fall, der sie wach gehalten hatte. Morgen um 15:30 Uhr hatte sie mit dem Bauamt der Stadt Frankfurt einen Ortstermin auf dem Birkenhof. Wenn man die Abrissverfügung nicht zurücknahm, würden sie, Christoph und die Tiere in Kürze obdachlos sein.
Christoph hatte sich in den letzten Tagen intensiv um die Angelegenheit gekümmert, und sein anfänglicher Optimismus hatte sich rasch verflüchtigt. Die Verkäufer des Birkenhofes hatten Pia verschwiegen, dass das Grundstück, auf dem das Haus stand, wegen der Hochspannungsleitungen der MKW überhaupt nicht bebaut werden durfte. Der Vater der Verkäufer hatte irgendwann nach dem Krieg einen Schuppen errichtet und diesen im Laufe der Jahre ohne jede Genehmigung ausgebaut. Sechzig Jahre lang hatte niemand etwas gemerkt, bis sie in Unkenntnis der Illegalität einen Bauantrag gestellt hatte. Pia fütterte noch schnell das Federvieh, dann rief sie Bodenstein an. Als er nicht abnahm, schrieb sie ihm eine SMS und ging nachdenklich zurück zum Haus, das ihr plötzlich fremd vorkam. Auf Zehenspitzen schlich sie ins Schlafzimmer.
»Musst du weg?«, fragte Christoph.
»Ja. Hab ich dich geweckt?« Sie machte das Licht an.
»Nein. Ich konnte auch nicht schlafen.« Er betrachtete sie, den Kopf in die Hand gestützt. »Ich habe die halbe Nacht überlegt, was wir tun können, wenn die Ernst machen.«
»Ich auch.« Pia setzte sich auf die Bettkante. »Auf jeden Fall verklage ich diese Mistkerle, die mir damals den Hof verkauft haben. Die haben mich arglistig getäuscht, ganz klar!«
»Das müssen wir denen aber erst mal nachweisen«, gab Christoph zu bedenken. »Ich bespreche das heute mit einem Freund von mir, der sich mit solchen Sachen auskennt. Vorher tun wir nichts.«
Pia seufzte. »Ich bin so froh, dass du da bist«, sagte sie leise. »Ich wüsste nicht, was ich jetzt alleine machen sollte.«
»Wäre ich nicht in deinem Leben aufgetaucht, hätten wir nie einen Bauantrag gestellt, und es wäre nichts passiert.« Christoph grinste schief. »Jetzt lass den Kopf nicht hängen. Mach deinen Job, und ich kümmere mich um diese Sache, okay?«
»Okay.« Pia gelang ein Lächeln. Sie beugte sich zu Christoph hinüber und gab ihm einen Kuss. »Ich habe leider keine Ahnung, wann ich heute nach Hause komme.«
»Mach dir um mich keine Gedanken.« Christoph lächelte auch. »Ich hab Dienst im Zoo.«
Er erkannte die vertraute Gestalt schon von weitem. Sie stand im Licht der Straßenlaterne neben seinem Auto auf dem Parkplatz, ihr rotes Haar war der einzige Farbtupfer in der diesigen Dunkelheit. Bodenstein zögerte einen Moment, bevor er entschlossen auf sie zuging. Cosima war eben keine Frau, die sich einfach von ihm das Telefon auflegen ließ. Eigentlich hätte er damit rechnen müssen, dass sie ihn früher oder später abpassen würde, doch der Fall hatte ihn zu sehr in Beschlag genommen. Deshalb fühlte er sich unvorbereitet und im Nachteil.
»Was willst du?«, fragte er unfreundlich. »Ich habe jetzt keine Zeit.«
»Du rufst mich ja nicht zurück«, erwiderte Cosima. »Ich muss mit dir reden.«
»Ach, auf einmal?« Er blieb vor ihr stehen, musterte ihr blasses, beherrschtes Gesicht. Sein Herz klopfte heftig, es gelang ihm nur mit Mühe, ruhig zu bleiben. »Wochenlang hattest du dieses Bedürfnis nicht. Rede mit deinem Russenfreund, wenn dir nach Reden zumute ist.«
Er zückte seinen Autoschlüssel, aber sie wich nicht von der Stelle und blieb vor der Autotür stehen.
»Ich will dir erklären …«, begann sie. Bodenstein ließ sie nicht ausreden. Er hatte in der Nacht kaum geschlafen und musste dringend weg, denkbar schlechte Voraussetzungen für ein so wichtiges Gespräch wie dieses.
»Ich will es nicht hören«, unterbrach er sie. »Und ich habe jetzt wirklich keine Zeit.«
»Oliver, glaub mir bitte, ich wollte dir nicht weh tun!« Cosima streckte die Hand nach ihm aus, ließ sie aber wieder sinken, als er vor ihr zurückwich. Ihr Atem stand wie eine weiße Wolke in der kalten Morgenluft. »Ich wollte ja gar nicht so weit gehen, aber …«
»Hör auf!«, schrie er unvermittelt. »Du hast mir weh getan! So weh, wie mir überhaupt noch nie ein Mensch getan hat! Ich will keine Entschuldigungen und Rechtfertigungen von dir hören, denn egal, was du auch sagst, du hast alles kaputtgemacht! Alles!« Cosima schwieg.
»Wer weiß, wie oft du mich schon betrogen hast, so routiniert, wie du mich getäuscht und angelogen hast«, fuhr er mit zusammengebissenen Zähnen fort. »Was hast du auf all deinen Reisen getrieben? Durch wie viele Betten hast du dich gewälzt, während dein treudoofer, gutgläubiger Spießermann brav mit den Kindern zu Hause gesessen und auf dich gewartet hat? Vielleicht hast du sogar über mich gelacht, weil ich so dämlich war, dir zu vertrauen!«
Wie giftige Lava quollen diese Worte aus seinem gekränkten Innern empor; endlich entlud sich die aufgestaute Enttäuschung. Cosima ließ seinen Ausbruch über sich ergehen, ohne eine Miene zu verziehen.
»Wahrscheinlich ist Sophia überhaupt nicht mein Kind, sondern das von irgendeinem dieser zotteligen, windigen Filmtypen, mit denen du dich so gerne umgibst!«
Er verstummte, als ihm bewusst wurde, wie ungeheuerlich dieser Vorwurf war. Doch nun, da er ihn ausgesprochen hatte, ließ er sich nicht mehr zurücknehmen.
»Ich hätte für unsere Ehe beide Hände ins Feuer gelegt«, sagte er mit gepresster Stimme. »Aber du hast mich belogen und betrogen. Ich werde dir niemals wieder vertrauen können.«
Cosima straffte die Schultern.
»Ich hätte mir denken können, dass du so reagierst«, entgegnete sie kühl. »Selbstgerecht und kompromisslos. Du siehst die ganze Sache nur aus deinem egoistischen Blickwinkel.«
»Aus welchem soll ich sie sonst sehen? Aus dem von deinem Russenliebhaber, oder was?« Er schnaubte. »Die Egoistin von uns beiden, die bist du! Zwanzig Jahre lang hast du nicht nach mir gefragt und bist wochenlang unterwegs gewesen. Mir hat das nie gefallen, aber ich habe es akzeptiert, weil deine Arbeit eben ein Teil von dir ist. Dann warst du schwanger. Du hast mich gar nicht gefragt, ob ich noch ein Kind will, das hast du für dich entschieden und mich vor vollendete Tatsachen gestellt. Dabei wusstest du genau, dass du mit einem kleinen Kind nicht mehr um die Welt gondeln kannst. Aus lauter Langeweile hast du dich in eine Affäre gestürzt – und jetzt willst du mir vorwerfen, ich sei ein Egoist? Wäre es nicht alles so traurig, dann würde ich lachen!«
»Als Lorenz und Rosi klein waren, konnte ich trotzdem arbeiten. Da hast du auch mal die Verantwortung übernommen«, wandte Cosima ein. »Aber ich will mit dir auch nicht diskutieren. Es ist passiert. Ich habe einen großen Fehler gemacht, aber ich werde ganz sicher nicht in Sack und Asche gehen, bis du beliebst, mir zu verzeihen.«
»Und warum bist du dann gekommen?« Das Handy in seiner Manteltasche klingelte und vibrierte, aber er beachtete es nicht.
»Ich werde nach Weihnachten für vier Wochen die Expedition von Gavrilow durch die Nordostpassage begleiten«, verkündete Cosima ihm. »Du wirst dich in dieser Zeit um Sophia kümmern müssen.«
Bodenstein starrte seine Frau sprachlos an, als habe sie ihm soeben ins Gesicht geschlagen. Cosima war nicht etwa gekommen, um ihn um Verzeihung zu bitten, nein, sie hatte längst eine Entscheidung über ihre Zukunft getroffen. Eine Zukunft, in der für ihn offenbar nur noch der Job des Babysitters vorgesehen war. Seine Knie wurden weich wie Butter.
»Das ist jetzt nicht dein Ernst«, flüsterte er.
»Doch. Ich habe den Vertrag schon vor ein paar Wochen unterschrieben. Es war mir klar, dass es dir nicht gefallen würde.« Sie zuckte die Schultern. »Es tut mir leid, wie es gekommen ist, ehrlich. Aber ich habe in den letzten Monaten viel nachgedacht. Ich würde es bis ans Ende meines Lebens bereuen, wenn ich diesen Film nicht mache …«
Sie redete noch weiter, aber ihre Worte kamen nicht mehr bei ihm an. Das Wichtigste hatte er begriffen: Innerlich hatte sie ihn längst verlassen, ihr gemeinsames Leben von sich abgeschüttelt. Eigentlich war er sich ihrer nie ganz sicher gewesen. All die Jahre hatte er geglaubt, die völlige Gegensätzlichkeit ihrer Charaktere sei das Besondere an ihrer Beziehung, das Salz in der Suppe, aber nun wurde ihm klar, dass sie einfach nicht zueinander passten. Sein Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen.
Und jetzt tat sie dasselbe wie so viele Male zuvor: Sie hatte eine Entscheidung getroffen, die er zu akzeptieren hatte. Sie war diejenige, die die Richtung bestimmte. Sie hatte das Geld, mit dem sie das Grundstück in Kelkheim gekauft und das Haus gebaut hatten. Er hätte sich das alles nie und nimmer leisten können. Es tat weh, aber zum ersten Mal sah er in Cosima an diesem düsteren Novembermorgen nicht mehr die schöne, selbstbewusste, aufregende Gefährtin an seiner Seite, sondern nur noch die Frau, die rücksichtslos ihren Willen und ihre Pläne durchsetzte. Wie dumm und wie blind er die ganze Zeit gewesen war!
Das Blut rauschte in seinen Ohren. Sie hatte aufgehört zu reden und blickte ihn ungerührt an, als warte sie auf seine Antwort. Er blinzelte. Ihr Gesicht, das Auto, der Parkplatz – alles verschwamm vor seinen Augen. Sie würde weggehen, mit einem anderen Mann. Sie würde ihr Leben leben, in dem für ihn kein Platz mehr war. Plötzlich überwältigten ihn Eifersucht und Hass. Er machte einen Schritt auf Cosima zu, packte ihr Handgelenk. Erschrocken wollte sie vor ihm zurückweichen, aber er hielt ihre Hand umklammert wie ein Schraubstock. Ihre kühle Überlegenheit war schlagartig verschwunden, sie riss angsterfüllt die Augen auf und öffnete den Mund, um zu schreien.
Um halb sieben entschied Pia, alleine die Wohnung von Nadja von Bredow aufzusuchen. Bodenstein ging nicht an sein Handy und hatte auch auf keine SMS reagiert. Gerade als sie auf die Klingel drücken wollte, öffnete sich die Haustür, ein Mann kam heraus. Pia und die beiden Kollegen in Zivil, die die Wohnung überwacht hatten, gingen an ihm vorbei.
»Stopp!« Der Mann, ein leicht ergrauter Mittfünfziger mit runder Hornbrille, trat ihnen in den Weg. »So geht das hier nicht! Zu wem wollen Sie?«
»Das geht Sie nichts an«, entgegnete Pia schroff.
»Das tut es sehr wohl.« Der Mann baute sich vor dem Aufzug auf, verschränkte die Arme und musterte sie überheblich. »Ich bin der Vorsitzende der Eigentümergemeinschaft dieser Wohnanlage. Hier kann nicht jedermann einfach hereinspazieren.«
»Wir sind von der Kripo.«
»Ach ja? Haben Sie einen Ausweis?«
Pia begann vor Zorn zu kochen. Sie zückte ihre Marke und hielt sie dem Mann vor die Nase. Ohne ein weiteres Wort ging sie in Richtung Treppe.
»Du wartest hier unten«, wies sie einen der Kollegen an. »Wir beide gehen hoch.«
Kaum waren sie vor die Tür des Penthouseappartements getreten, ging diese auf. Ein kurzer Ausdruck des Erschreckens flog über das Gesicht von Nadja von Bredow.
»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Sie unten warten sollen«, sagte sie wenig freundlich. »Aber wenn Sie schon mal da sind, können Sie die Koffer gleich mitnehmen.«
»Sie verreisen?« Pia begriff, dass Nadja von Bredow sie nicht erkannte und wohl für die Taxifahrerin hielt. »Sie sind doch gerade erst nach Hause gekommen.«
»Was geht Sie das wohl an?«, entgegnete diese gereizt.
»Ich schätze, eine Menge.« Pia hielt ihr die Marke hin. »Pia Kirchhoff, Kripo Hofheim.«
Nadja von Bredow musterte sie und schob die Unterlippe vor. Sie trug eine dunkelbraune Wellensteyn-Jacke mit Pelzkragen, Jeans und Stiefel. Das blonde Haar hatte sie zu einem strengen Knoten frisiert, aber selbst das reichlich aufgetragene Make-up konnte nicht die Schatten unter ihren geröteten Augen verdecken.
»Sie kommen ungünstig. Ich muss dringend zum Flughafen.«
»Dann müssen Sie Ihren Flug verschieben«, entgegnete Pia. »Ich habe ein paar Fragen an Sie.«
»Ich habe jetzt keine Zeit für so was.« Sie drückte auf den Knopf des Aufzugs.
»Wo sind Sie gewesen?«, fragte Pia.
»Verreist.«
»Aha. Und wo ist Tobias Sartorius?« Nadja von Bredow blickte Pia aus ihren grasgrünen Augen erstaunt an.
»Woher soll ich das denn wissen?« Ihre Überraschung wirkte echt, aber sie war nicht umsonst eine der bestbezahlten Schauspielerinnen Deutschlands.
»Weil Sie mit ihm nach der Beerdigung von Laura Wagner weggefahren sind, anstatt ihn bei uns zur Vernehmung abzuliefern.«
»Wer behauptet das denn?«
»Tobias' Vater. Also?«
Der Aufzug kam, die Tür glitt zur Seite. Nadja von Bredow wandte sich Pia zu und lächelte spöttisch.
»Ich hoffe, Sie glauben nicht alles, was der so erzählt.« Sie blickte Pias Kollegen an. »Die Polizei, dein Freund und Helfer. Würden Sie mir helfen, mein Gepäck in den Aufzug zu tragen?«
Als dieser tatsächlich Anstalten machte, die Koffer zu ergreifen, platzte Pia der Kragen.
»Wo ist Amelie? Was haben Sie mit dem Mädchen gemacht?«
»Ich?« Nadja von Bredow riss die Augen auf. »Gar nichts! Warum sollte ich mit ihr etwas machen?«
»Weil Thies Terlinden Amelie Bilder gegeben hat, die eindeutig beweisen, dass Sie nicht nur dabei waren, als Ihre Freunde Laura vergewaltigt haben, sondern auch zugesehen haben, wie Gregor Lauterbach mit Stefanie Schneeberger in der Scheune von Sartorius Sex hatte. Danach haben Sie Stefanie mit einem Wagenheber erschlagen.«
Zu Pias Überraschung begann Nadja von Bredow zu lachen.
»Wo haben Sie denn diesen Quatsch her?«
Pia konnte sich nur noch mit Mühe beherrschen. Am liebsten hätte sie die Frau gepackt und geohrfeigt.
»Ihre Freunde Jörg, Felix und Michael haben ein Geständnis abgelegt«, sagte sie. »Laura hat noch gelebt, als Sie den dreien damals den Auftrag gaben, sie wegzuschaffen. Sie mussten befürchten, dass Amelie durch Thies und seine Bilder die Wahrheit herausgefunden hatte. Deshalb lag es in Ihrem Interesse, das Mädchen aus dem Weg zu räumen.«
»Mein Gott.« Nadja blieb gänzlich unberührt. »So einen hanebüchenen Unsinn denken sich nicht einmal Drehbuchschreiber aus. Ich habe diese Amelie ein einziges Mal gesehen und weiß nicht, wo sie jetzt ist.«
»Sie lügen. Sie waren an dem Samstag auf dem Parkplatz vom Schwarzen Ross und haben den Rucksack von Amelie in ein Gebüsch geworfen.«
»Ach, tatsächlich?« Nadja von Bredow blickte Pia mit hochgezogenen Augenbrauen an, als sei sie unerträglich angeödet. »Wer behauptet das denn?«
»Sie wurden gesehen.«
»Ich kann ja einiges«, erwiderte sie sarkastisch. »Aber zur gleichen Zeit an zwei Orten sein, das kann ich noch nicht. Ich war an dem Samstag in Hamburg, dafür gibt es Zeugen.«
»Wen?«
»Ich kann Ihnen Namen und Telefonnummern geben.«
»Was haben Sie in Hamburg gemacht?«
»Gearbeitet.«
»Stimmt nicht. Ihr Manager hat uns gesagt, dass Sie an dem Abend keinen Drehtermin hatten.«
Nadja von Bredow blickte auf ihre teure Armbanduhr und verzog das Gesicht, als habe sie diese Zeitvergeudung satt.
»Ich war in Hamburg und habe vor schätzungsweise vierhundert Gästen zusammen mit meinem Kollegen Torsten Gottwald eine Gala moderiert, die vom NDR aufgezeichnet wurde«, sagte sie. »Ich kann Ihnen zwar nicht die Nummern aller anwesenden Gäste geben, aber die vom Regisseur, von Torsten und einigen anderen. Reicht das als Beweis dafür, dass ich zu dieser Zeit wohl kaum auf einem Parkplatz in Altenhain herumgelaufen sein kann?«
»Sparen Sie sich Ihren Sarkasmus«, entgegnete Pia scharf. »Suchen Sie sich einen von Ihren Koffern aus, den trägt mein Kollege gerne für Sie zu unserem Auto.«
»Ach, das ist ja toll. Die Polizei übernimmt Taxidienste.«
»Sogar mit dem größten Vergnügen«, erwiderte Pia kalt. »Und zwar direkt in die Zelle.«
»Das ist doch lachhaft!« Nadja von Bredow schien allmählich zu begreifen, dass sie ernsthaft in der Klemme steckte. Eine tiefe Falte erschien zwischen ihren sorgfältig gezupften Augenbrauen. »Ich habe einen wichtigen Termin in Hamburg.«
»Jetzt nicht mehr. Sie sind vorübergehend festgenommen.«
»Und weshalb, wenn ich fragen darf?«
»Weil Sie den Tod Ihrer Klassenkameradin Laura Wagner billigend in Kauf genommen haben.« Pia lächelte süffisant. »Sie kennen das ja sicher aus Ihren Drehbüchern. Man nennt das auch Beihilfe zum Mord.«
Nachdem die beiden zivilen Kollegen mit Nadja von Bredow auf dem Rücksitz in Richtung Hofheim aufgebrochen waren, versuchte Pia erneut, Bodenstein zu erreichen. Endlich ging er dran.
»Wo steckst du denn?«, fragte Pia ärgerlich. Sie klemmte das Handy zwischen Ohr und Schulter und angelte nach dem Sicherheitsgurt. »Ich versuche seit anderthalb Stunden, dich zu erreichen! Den Weg nach Frankfurt kannst du dir sparen. Ich habe Nadja von Bredow eben festgenommen und aufs Kommissariat bringen lassen.«
Bodenstein erwiderte etwas, aber er sprach so undeutlich, dass sie ihn nicht verstehen konnte.
»Ich hör dich nicht«, sagte sie gereizt. »Was ist denn los?«
»… hatte einen Unfall … auf den Abschleppwagen warten … Abfahrt Messe … Tankstelle …«
»Auch das noch! Dann warte dort. Ich hole dich ab.«
Fluchend drückte Pia das Gespräch weg und fuhr los. Sie hatte das Gefühl, allein auf weiter Flur zu stehen, und das ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, in dem sie sich keinen Fehler erlauben und nicht den Überblick verlieren durfte. Eine winzige Unachtsamkeit, und der Fall wäre erledigt! Sie gab Gas. Die Straßen der Stadt waren um die frühe Uhrzeit an einem Sonntagmorgen wie leergefegt, sie benötigte für die Strecke quer durchs Gutleutviertel zum Hauptbahnhof und von dort aus Richtung Messe, für die sie an einem Wochentag eine halbe Stunde gebraucht hätte, kaum zehn Minuten. Im Radio lief ein Lied von Amy MacDonald, das Pia anfangs gefallen hatte; seit die Radiosender es jedoch rund um die Uhr bis zum Erbrechen spielten, ging es ihr auf die Nerven. Es war kurz vor acht, als sie auf der Gegenfahrbahn im heller werdenden Grau des Morgens die orangefarbenen Warnlichter des Abschleppwagens blinken sah, der gerade die Reste von Bodensteins BMW auflud. Sie wechselte am Westkreuz die Fahrtrichtung und hielt ein paar Minuten später vor dem Abschleppwagen und einem Streifenwagen. Bodenstein saß mit bleichem Gesicht auf der Leitplanke, die Ellbogen auf den Knien, und stierte ins Leere.
»Was ist passiert?«, fragte Pia einen der uniformierten Kollegen, nachdem sie sich ihm vorgestellt hatte, und beobachtete ihren Chef aus dem Augenwinkel.
»Ist angeblich einem Tier ausgewichen«, erwiderte der Beamte. »Das Auto ist Schrott, aber ihm ist wohl nichts passiert. Ins Krankenhaus will er auf jeden Fall nicht.«
»Ich kümmere mich um ihn. Vielen Dank.«
Sie wandte sich um. Der Abschleppwagen setzte sich in Bewegung, aber Bodenstein hob nicht einmal den Kopf.
»Hey.« Pia blieb vor ihm stehen. Was sollte sie zu ihm sagen? Nach Hause – wo auch immer das jetzt sein mochte – würde er wohl kaum wollen. Davon abgesehen durfte er jetzt nicht auch noch ausfallen. Bodenstein stieß einen tiefen Seufzer aus. Ein Ausdruck der Verlorenheit lag auf seinem Gesicht.
»Sie geht mit ihm vier Wochen auf Weltreise, gleich nach Weihnachten«, sagte er tonlos. »Ihre Arbeit ist ihr wichtiger als ich oder die Kinder. Sie hat schon im September den Vertrag unterschrieben.«
Pia zögerte. Eine blöde Floskel wie Das wird schon wieder oder Kopf hoch war hier völlig fehl am Platz. Er tat ihr aufrichtig leid, dennoch drängte die Zeit. Auf dem Kommissariat wartete nicht nur Nadja von Bredow, sondern jeder verfügbare Beamte der RKI.
»Komm, Oliver.« Obwohl sie ihn am liebsten am Arm gepackt und ins Auto gezerrt hätte, zwang sie sich zur Geduld. »Wir können hier nicht auf dem Seitenstreifen herumsitzen.«
Bodenstein schloss die Augen und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel.
»Ich befasse mich jetzt seit 26 Jahren mit Mördern und Totschlägern«, sagte er mit heiserer Stimme. »Aber ich konnte mir nie richtig vorstellen, was einen Menschen dazu treibt, einen anderen umzubringen. Heute Morgen habe ich zum ersten Mal begriffen, wie das ist. Ich glaube, ich hätte sie vorhin auf dem Parkplatz erwürgt, wenn mein Vater und mein Bruder nicht dazwischengegangen wären.«
Er schlang die Arme um seinen Oberkörper, als ob er fröre, und blickte Pia aus blutunterlaufenen Augen an. »Ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nie so beschissen gefühlt.«
Der Besprechungsraum fasste kaum alle Beamten, die Ostermann in die Regionale Kriminalinspektion beordert hatte. Da Bodenstein nach dem Unfall außerstande schien, die Leitung des Einsatzes zu übernehmen, ergriff Pia das Wort. Sie bat um Ruhe, umriss die Situation, zählte die Fakten auf und erinnerte die Kollegen daran, was höchste Priorität hatte, nämlich das Auffinden von Amelie Fröhlich und Thies Terlinden. In Abwesenheit von Behnke stellte niemand Pias Autorität in Frage, jeder hörte aufmerksam zu. Pias Blick fiel auf Bodenstein, der ganz hinten neben Kriminalrätin Dr. Engel an der Wand lehnte. Sie hatte ihm an der Tankstelle einen Kaffee geholt und ein Fläschchen Cognac hineingeleert. Er hatte getrunken, ohne zu protestieren, und jetzt schien es ihm etwas besserzugehen. Aber er stand offenbar noch immer unter Schock.
»Hauptverdächtig sind Gregor Lauterbach, Claudius Terlinden und Nadja von Bredow«, sagte Pia nun und trat an die Leinwand, auf die Ostermann eine Karte von Altenhain und Umgebung projiziert hatte. »Diese drei haben am meisten zu verlieren, sollte herauskommen, was damals in Altenhain wirklich geschehen ist. Terlinden und Lauterbach kamen an dem Abend aus dieser Richtung.« Sie wies auf die Feldstraße. »Zuvor waren sie in Idstein gewesen, aber das Haus haben wir schon durchsucht. Wir konzentrieren uns jetzt auf das Schwarze Ross. Der Inhaber und seine Frau stecken mit Terlinden unter einer Decke, es ist durchaus denkbar, dass sie ihm einen Gefallen getan haben. Möglicherweise hat Amelie die Gaststätte überhaupt nicht verlassen. Außerdem wird nochmals jeder Anwohner rings um den Parkplatz befragt. Kai, sind die Haftbefehle da?«
Ostermann nickte.
»Gut. Jörg Richter, Felix Pietsch und Michael Dombrowski werden hierhergebracht, das übernimmt Kathrin mit Kollegen vom Streifendienst. Zwei Zweierteams sprechen gleichzeitig mit Claudius Terlinden und mit Gregor Lauterbach. Für die beiden haben wir ebenfalls Haftbefehle.«
»Wer fährt zu Lauterbach und Terlinden?«, fragte einer der Beamten.
»Hauptkommissar Bodenstein und Kriminalrätin Dr. Engel übernehmen Lauterbach«, erwiderte Pia. »Ich fahre zu Terlinden.«
»Mit wem?«
Gute Frage. Behnke und Hasse waren nicht mehr dabei. Pia betrachtete der Reihe nach die Gesichter der vor ihr sitzenden Kollegen, dann traf sie eine Entscheidung.
»Sven fährt mit mir.«
Der angesprochene Kollege vom SB 21 riss erstaunt die Augen auf und deutete fragend mit dem Finger auf sich. Pia nickte.
»Noch Fragen?«
Es gab keine mehr. Die Versammlung löste sich unter Stimmengewirr und Stühlerücken auf. Pia drängelte sich zu Bodenstein und Nicola Engel durch.
»War das okay, dass ich Sie mit eingeteilt habe?«, wollte sie wissen.
»Ja, natürlich.« Die Kriminalrätin nickte, dann nahm sie Pia beiseite.
»Warum haben Sie sich für KK Jansen entschieden?«
»Spontane Eingebung.« Pia zuckte die Achseln. »Ich habe des Öfteren von seinem Chef gehört, wie zufrieden er mit Sven ist.«
Nicola Engel nickte. Der unergründliche Ausdruck in ihren Augen hätte Pia unter anderen Umständen an ihrer Entscheidung zweifeln lassen, aber dazu war jetzt keine Zeit. Kriminalkommissar Sven Jansen trat zu ihnen. Während sie hinuntergingen, erklärte Pia rasch, was sie sich von der zeitgleichen Befragung der beiden Verdächtigen versprach und wie sie vorzugehen gedachte. Auf dem Parkplatz trennten sie sich. Bodenstein hielt Pia für einen Moment zurück.
»Gut gemacht«, sagte er nur. »Und – danke.«
Bodenstein und Nicola Engel warteten schweigend im Auto, bis Pias Anruf kam, dass sie und Jansen vor Terlindens Haustür standen. Dann stiegen sie aus und klingelten in derselben Sekunde bei Lauterbach, in der Pia dasselbe bei Terlinden tat. Es dauerte einen Moment, bis Gregor Lauterbach die Tür öffnete. Er trug einen Frotteebademantel, auf dessen Brusttasche das Logo einer internationalen Hotelkette prangte.
»Was wollen Sie?«, fragte er und musterte sie aus verquollenen Augen. »Ich habe Ihnen schon alles gesagt.«
»Wir stellen Fragen gerne mehrfach«, entgegnete Bodenstein höflich. »Ist Ihre Frau nicht da?«
»Nein. Sie ist auf einem Kongress in München. Wieso fragen Sie?«
»Nur so.«
Nicola Engel hielt noch immer das Handy am Ohr und nickte Bodenstein nun zu. Pia und Sven Jansen standen mittlerweile auch im Foyer von Terlindens Villa. Verabredungsgemäß stellte Bodenstein dem Kultusminister die erste Frage.
»Herr Lauterbach«, begann er. »Es geht noch mal um den Abend, als Sie mit Ihrem Nachbarn auf dem Parkplatz vor dem Schwarzen Ross auf Amelie gewartet haben.«
Lauterbach nickte unsicher. Sein Blick wanderte zu Nicola Engel. Es schien ihn zu irritieren, dass sie telefonierte.
»Sie haben Nadja von Bredow gesehen.«
Lauterbach nickte wieder.
»Sind Sie da ganz sicher?«
»Ja, das bin ich.«
»Woran haben Sie Frau von Bredow erkannt?«
»Ich … ich weiß nicht. Ich kenne sie eben.«
Er schluckte nervös, als Nicola Engel Bodenstein nun ihr Handy reichte. Bodenstein überflog die SMS, die Sven Jansen ihnen geschrieben hatte. Claudius Terlinden wollte – im Gegensatz zu Lauterbach – an jenem Samstagabend auf dem Parkplatz vor dem Schwarzen Ross keine bestimmte Person gesehen haben. Mehrere Leute seien in die Gaststätte hineingegangen, andere hinaus. Außerdem habe er eine Gestalt an der Bushaltestelle sitzen sehen, aber nicht erkannt, um wen es sich handelte.
»Tja.« Bodenstein holte tief Luft. »Sie und Herr Terlinden hätten sich vielleicht ein wenig besser absprechen sollen. Im Gegensatz zu Ihnen will Herr Terlinden nämlich überhaupt niemanden erkannt haben.«
Lauterbach lief rot an. Er stotterte eine Weile herum, bestand darauf, Nadja von Bredow gesehen zu haben, wollte das sogar beschwören.
»Sie war an dem Abend in Hamburg«, schnitt Bodenstein ihm das Wort ab. Gregor Lauterbach hatte irgendetwas mit dem Verschwinden von Amelie zu tun, das glaubte er nun mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu wissen. Aber im selben Augenblick kamen ihm schon wieder Zweifel. Was, wenn Nadja von Bredow log? Hatten die beiden vielleicht gemeinsam die potentielle Gefahr aus dem Weg geschafft? Oder log Claudius Terlinden? Die Gedanken wirbelten in Bodensteins Kopf herum, und plötzlich erfüllte ihn die niederschmetternde Gewissheit, irgendetwas extrem Wichtiges übersehen zu haben. Er begegnete dem Blick von Nicola Engel, die ihn fragend ansah. Was zum Teufel hatte er gerade sagen wollen? Als habe sie seine Unsicherheit gespürt, ergriff die Kriminalrätin das Wort.
»Sie lügen, Herr Lauterbach«, sagte sie kühl. »Warum? Wie kommen Sie darauf, dass ausgerechnet Nadja von Bredow auf dem Parkplatz gewesen sein soll?«
»Ich sage ohne meinen Anwalt jetzt gar nichts mehr.« Lauterbach war mit den Nerven am Ende, wurde abwechselnd rot und blass.
»Das ist Ihr gutes Recht.« Dr. Nicola Engel nickte. »Bestellen Sie ihn nach Hofheim. Wir nehmen Sie nämlich jetzt mit.«
»Sie können mich nicht einfach verhaften«, protestierte Lauterbach. »Ich habe Immunität.«
Bodensteins Handy klingelte. Es war Kathrin Fachinger. Sie klang, als ob sie kurz vor einem hysterischen Anfall stünde.
»… weiß nicht, was ich machen soll! Der hatte plötzlich eine Waffe in der Hand und hat sich in den Kopf geschossen! Scheiße, Scheiße, Scheiße! Hier drehen alle durch!«
»Kathrin, bleiben Sie ganz ruhig!« Bodenstein wandte sich ab, während Nicola Engel Lauterbach den Haftbefehl präsentierte. »Wo sind Sie jetzt?«
Im Hintergrund hörte er Geschrei und Tumult.
»Wir wollten Jörg Richter festnehmen.« Kathrin Fachingers Stimme bebte. Sie war vollkommen überfordert mit der Situation, die offenbar eskalierte. »Sind zu seinen Eltern gefahren, haben ihm den Haftbefehl gezeigt. Und auf einmal geht der Vater zu einer Schublade, nimmt eine Pistole raus, hält sie sich an den Kopf und drückt ab! Und jetzt hat die Mutter die Pistole in der Hand und will uns daran hindern, ihren Sohn mitzunehmen! Was soll ich denn jetzt tun?«
Die Panik in der Stimme seiner jüngsten Kollegin riss Bodenstein aus seiner eigenen Verwirrung. Plötzlich funktionierte sein Gehirn wieder.
»Sie tun jetzt gar nichts, Kathrin«, sagte er. »Ich bin in ein paar Minuten da.«
Die Hauptstraße in Altenhain war gesperrt. Vor dem Laden der Richters standen zwei Notarztwagen mit blinkenden Lichtern, mehrere Streifenwagen standen quer. Schaulustige drängten sich hinter den Absperrbändern. Bodenstein fand Kathrin Fachinger im Hof. Sie saß auf einer Treppenstufe, die zur Haustür hinter dem Laden führte, schneeweiß im Gesicht und unfähig, sich zu rühren. Er legte ihr kurz die Hand auf die Schulter und vergewisserte sich, dass sie unverletzt war. Im Innern des Hauses herrschte heilloses Chaos. Notarzt und Sanitäter versorgten Lutz Richter, der in einer Blutlache auf dem Fliesenboden der Diele lag, ein anderer Arzt kümmerte sich um seine Frau.
»Was ist passiert?«, erkundigte Bodenstein sich. »Wo ist die Waffe?«
»Hier.« Ein Streifenbeamter reichte ihm einen Plastikbeutel. »Eine Schreckschusspistole. Der Mann lebt noch, die Frau hat einen Schock.«
»Wo ist Jörg Richter?«
»Auf dem Weg nach Hofheim.«
Bodenstein blickte sich um. Durch das Ornamentglas einer geschlossenen Tür sah er verschwommen das Orange und Weiß von Sanitäteruniformen. Er öffnete die Tür und erstarrte beim Anblick des Wohnzimmers für einen Moment. Der Raum war bis unter die Decke vollgestopft, an den Wänden hingen Jagdtrophäen und allerhand Militaria – Säbel, historische Gewehre, Helme und Waffen –, auf der Anrichte, im offenen Schrank, auf dem Couchtisch, mehreren Beistelltischchen und auf dem Boden stapelten sich Zinngeschirr, Apfelweinbembel und so viel Ramsch, dass es ihm kurz den Atem verschlug. In einem der Plüschsessel saß mit erstarrter Miene Margot Richter, einen Tropf in der Armvene. Neben ihr stand eine Sanitäterin und hielt den Infusionsbeutel.
»Ist sie ansprechbar?«, wollte Bodenstein wissen. Der Notarzt nickte.
»Frau Richter.« Bodenstein ging vor der Frau in die Hocke, was angesichts des herumstehenden Krempels nicht ganz einfach war. »Was ist hier passiert? Warum hat Ihr Mann das getan?«
»Sie dürfen meinen Jungen nicht verhaften«, murmelte Frau Richter. Alle Energie und Bosheit schienen ihren mageren Körper verlassen zu haben, ihre Augen lagen tief in den Höhlen. »Er hat doch gar nichts getan.«
»Wer denn dann?«
»Mein Mann ist an allem schuld.« Ihr Blick irrte hin und her, streifte Bodenstein kurz und wanderte dann wieder in die Ferne. »Der Jörg wollte das Mädchen ja wieder da rausholen, aber mein Mann hat gesagt, er soll das seinlassen, das war besser so. Er ist dann hingefahren, hat eine Platte über den Tank gelegt und Erde draufgeschüttet.«
»Wieso hat er das getan?«
»Damit endlich Ruhe ist. Die Laura hätte den Jungs das ganze Leben ruiniert, dabei ist ja eigentlich gar nichts passiert. Das war doch nur Spaß.«
Bodenstein traute seinen Ohren nicht.
»Dieses kleine Flittchen wollte ihre Freunde anzeigen, zur Polizei gehen. Dabei war sie selbst schuld daran. Sie hat die Jungs den ganzen Abend provoziert.« Übergangslos wechselte sie von der Vergangenheit in die Gegenwart. »Alles war in Ordnung, aber der Jörg, der musste ja unbedingt jedem erzählen, was damals los war! So ein Dummkopf!«
»Ihr Sohn hat eben ein Gewissen«, entgegnete Bodenstein kühl und erhob sich. Jegliches Mitgefühl für die Frau war in ihm erloschen. »Gar nichts war in Ordnung – im Gegenteil! Das, was Ihr Sohn getan hat, war kein Kavaliersdelikt. Vergewaltigung und Beihilfe zum Mord sind Kapitalverbrechen.«
»Pah!« Margot Richter machte eine verächtliche Handbewegung und schüttelte den Kopf. »Keiner hat mehr über die alte Geschichte geredet«, sagte sie bitter. »Und dann kriegen sie Schiss, nur weil der Tobias wieder aufgetaucht ist. Dabei wäre gar nichts rausgekommen, wenn sie nur die Klappe gehalten hätten, diese … diese Weichlinge!«
Nadja von Bredow nickte nur gleichgültig, als Pia ihr mitteilte, dass ihr Alibi für den Samstagabend überprüft worden und in Ordnung sei.
»Sehr gut.« Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. »Dann kann ich jetzt ja wohl gehen.«
»Nein, noch nicht.« Pia schüttelte den Kopf. »Wir haben noch ein paar Fragen.«
»Na dann. Schießen Sie los.« Nadja sah Pia aus großen Augen gelangweilt an, als könne sie nur mit Mühe ein Gähnen unterdrücken. Sie wirkte nicht im mindesten nervös, und Pia konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie eine Rolle spielte. Wie mochte wohl die echte Nathalie sein, die sich hinter der schönen, makellosen Fassade der Kunstfigur Nadja von Bredow verbarg? Gab es sie überhaupt noch?
»Warum haben Sie Jörg Richter gebeten, Tobias am Abend zu sich einzuladen und dafür zu sorgen, dass er so lange wie möglich bei ihm bleibt?«
»Ich habe mich um Tobi gesorgt«, erwiderte Nadja glatt. »Er hat den Überfall in der Scheune nicht wirklich ernst genommen. Ich wollte ihn einfach in Sicherheit wissen.«
»Tatsächlich?« Pia schlug die Akte auf und suchte, bis sie Ostermanns Übersetzung aus Amelies Tagebuch gefunden hatte. »Wollen Sie hören, was Amelie in ihrer letzten Tagebucheintragung über Sie geschrieben hat?«
»Sie werden es wohl gleich vorlesen.« Nadja verdrehte die Augen und schlug die langen Beine übereinander.
»Stimmt.« Pia lächelte. »… Wie diese Blondie sich vorhin auf Tobias gestürzt hat, fand ich schon komisch. Und wie die mich angeguckt hat! Total eifersüchtig, als ob sie mich am liebsten aufgefressen hätte. Thies hat voll die Panik gekriegt, als ich den Namen ›Nadja‹ erwähnt hab. Da stimmt doch was nicht mit der …«
Pia blickte auf.
»Es passte Ihnen nicht, dass Amelie so vertraut mit Tobias war«, sagte sie. »Sie haben Jörg Richter als Aufpasser benutzt und dann dafür gesorgt, dass Amelie verschwand.«
»Quatsch!« Das gleichgültige Lächeln war von Nadjas Gesicht verschwunden. Ihre Augen sprühten plötzlich zornige Funken. Pia erinnerte sich an die Bemerkung von Jörg Richter, Nadja habe schon als junges Mädchen etwas an sich gehabt, das anderen Menschen Angst einjagen konnte. Als rücksichtslos hatte er sie bezeichnet.
»Sie waren eifersüchtig.« Pia kannte den Inhalt von Amelies Tagebuch. »Vielleicht hat Tobias Ihnen ja erzählt, dass Amelie hin und wieder bei ihm war. Ich glaube, Sie hatten ganz einfach Angst, dass zwischen Tobias und Amelie etwas laufen könnte. Ganz ehrlich, Frau von Bredow, Amelie sieht Stefanie Schneeberger ziemlich ähnlich. Und Stefanie war seine große Liebe.«
Nadja von Bredow beugte sich etwas vor.
»Was wissen Sie schon von der großen Liebe?«, flüsterte sie mit dramatisch gesenkter Stimme und weit geöffneten Augen, als habe sie eine Regieanweisung bekommen. »Ich liebe Tobias, seitdem wir uns kennen. Zehn Jahre lang habe ich auf ihn gewartet. Er brauchte meine Hilfe und meine Liebe, um nach dem Gefängnis im Leben wieder Fuß zu fassen.«
»Da machen Sie sich wohl etwas vor. Ihre Liebe beruhte ja offenbar nicht auf Gegenseitigkeit«, stichelte Pia und sah mit Befriedigung, wie ihre Worte ins Schwarze trafen. »Wenn Sie ihm nicht einmal für vierundzwanzig Stunden vertrauen konnten.«
Nadja von Bredow presste die Lippen zusammen. Ihr schönes Gesicht verzerrte sich für den Bruchteil einer Sekunde.
»Das, was zwischen Tobias und mir ist, geht Sie nichts an!«, antwortete sie heftig. »Was soll überhaupt diese Scheißfragerei nach dem Samstagabend? Ich war nicht da, und ich weiß nicht, wo dieses Mädchen ist. Punkt. Aus.«
»Wo ist Ihre große Liebe denn jetzt eigentlich?«, bohrte Pia weiter.
»Keine Ahnung.« Lodernde grüne Augen sahen, ohne zu blinzeln, in ihre. »Ich liebe ihn zwar, aber ich bin nicht sein Kindermädchen. Also, darf ich gehen?«
In Pia keimte Enttäuschung auf. Sie konnte Nadja von Bredow nicht nachweisen, dass sie etwas mit Amelies Verschwinden zu tun hatte.
»Sie haben sich bei Frau Fröhlich als Polizistin ausgegeben«, meldete sich Bodenstein aus dem Hintergrund. »Das nennt man Amtsanmaßung. Sie haben die Bilder gestohlen, die Thies Amelie gegeben hatte. Und später haben Sie die Orangerie angezündet, um sicherzugehen, dass es keine weiteren Bilder mehr gibt.«
Nadja von Bredow blickte sich nicht nach Bodenstein um.
»Ich gebe zu, dass ich die Polizeimarke und eine Perücke aus der Requisite benutzt habe, um die Bilder in Amelies Zimmer zu finden. Aber den Brand habe ich nicht gelegt.«
»Was haben Sie mit den Bildern gemacht?«
»Ich habe sie in kleine Stücke geschnitten und durch den Reißwolf gelassen.«
»Klar. Weil die Bilder Sie als Mörderin entlarvt hätten.« Pia zog die Fotoabzüge der Bilder aus der Akte und legte sie auf den Tisch.
»Ganz im Gegenteil.« Nadja von Bredow lehnte sich zurück und lächelte kalt. »Die Bilder beweisen meine Unschuld. Thies ist wirklich ein phantastischer Beobachter. Im Gegensatz zu Ihnen.«
»Wieso?«
»Grün ist bei Ihnen gleich grün. Und kurzhaarig gleich kurzhaarig. Schauen Sie sich doch mal die Person, die Stefanie erschlägt, genauer an. Vergleichen Sie sie mit der Person, die zugesehen hat, wie Laura vergewaltigt wurde.« Sie beugte sich vor, betrachtete kurz die Bilder und tippte auf eine der Figuren. »Hier, sehen Sie. Die Person bei Stefanie hat eindeutig dunkle Haare, und wenn Sie dieses Bild mit Laura anschauen – da sind die Haare viel heller und lockig. Ich muss Ihnen dazu erklären, dass an jenem Abend in Altenhain beinahe jeder so ein grünes T-Shirt vom Kerbeverein anhatte. Da stand noch irgendein Spruch drauf, wenn ich mich richtig erinnere.«
Bodenstein verglich die beiden Bilder.
»Sie haben recht«, räumte er ein. »Aber wer ist dann die andere Person?«
»Lauterbach«, behauptete Nadja von Bredow und bestätigte damit, was Bodenstein ohnehin schon glaubte. »Ich hatte im Hof, hinten an der Scheune, auf Stefanie gewartet, weil ich unbedingt mit ihr reden wollte, wegen der Schneewittchen-Rolle. Ihr war die Rolle eigentlich völlig wurscht, sie hat das nur gemacht, um auch offiziell mehr Zeit mit Lauterbach verbringen zu können.«
»Moment«, unterbrach Bodenstein sie. »Herr Lauterbach hat uns gesagt, er habe nur ein einziges Mal Geschlechtsverkehr mit Stefanie gehabt. Nämlich an diesem Abend.«
»Da hat er gelogen.« Nadja schnaubte. »Die beiden hatten eine Affäre, den ganzen Sommer lang, obwohl sie offiziell mit Tobi zusammen war. Der Lauterbach war völlig verrückt nach ihr, und sie fand das toll. Ich stand also an der Scheune, als Stefanie aus Sartorius' Haus kam. Gerade als ich sie ansprechen wollte, tauchte Lauterbach auf. Ich versteckte mich in der Scheune und habe meinen Augen nicht getraut, als sie auch in die Scheune kamen und es miteinander im Heu trieben, keinen Meter von meinem Versteck entfernt. Ich hatte keine Chance, zu verschwinden, und musste mir das ansehen, eine geschlagene halbe Stunde lang. Und anhören, wie sie beide über mich hergezogen haben.«
»Und da wurden Sie so wütend, dass Sie Stefanie anschließend erschlagen haben«, vermutete Bodenstein.
»O nein. Ich habe keinen Ton gesagt. Plötzlich fiel dem Lauterbach auf, dass er beim Bumsen seinen Schlüsselbund verloren hatte. Hysterisch ist er auf allen vieren überall herumgekrochen und hätte fast geheult. Stefanie hat ihn ausgelacht. Da wurde er fuchsteufelswild.« Nadja von Bredow lachte gehässig. »Er hatte eine Riesenpanik vor seiner Frau, immerhin hatte die ja die Kohle, und ihr gehörte das Haus. Er war nur ein mickriger, kleiner, geiler Lehrer, der sich vor seinen Schülern wie der große Mann aufgespielt hat. Zu Hause hatte er nichts zu sagen!«
Bodenstein musste schlucken. Das kam ihm alles bekannt vor. Cosima hatte das Geld und er nicht viel zu sagen. Und heute Morgen, als ihm das bewusst geworden war, hätte er sie am liebsten umgebracht.
»Irgendwann ist Stefanie sauer geworden. Sie hatte sich das wohl alles romantischer vorgestellt und merkte, was für ein ängstlicher Spießer ihr großartiger Liebhaber in Wirklichkeit war. Sie schlug vor, seine Frau zu holen, damit sie ihm beim Suchen hilft. Das war natürlich als Spaß gemeint, aber Lauterbach verstand keinen Spaß mehr. Stefanie glaubte wohl, sie hätte die Situation im Griff. Sie reizte ihn immer mehr und drohte ihm, ihre Affäre bekannt zu machen, bis er durchdrehte. Als sie die Scheune verlassen wollte, hielt er sie fest. Sie haben miteinander gekämpft, sie hat ihn angespuckt, er hat sie geohrfeigt. Da wurde Stefanie böse, und der Lauterbach checkte, dass sie es tatsächlich fertigbringen und zu seiner Frau marschieren würde. Er griff sich den erstbesten Gegenstand, den er in die Finger bekam, und schlug zu. Dreimal.«
Pia nickte. Die Mumie von Stefanie Schneeberger wies drei Schädelfrakturen auf. Allerdings war es noch kein Beweis für Nadjas Unschuld, denn es konnte sich auch um Täterwissen handeln.
»Dann rannte er los, wie von der Tarantel gestochen. Übrigens in einem grünen T-Shirt. Das coole Jeanshemd hatte er beim Vögeln ausgezogen. Ich habe den Schlüsselbund gefunden. Und als ich aus der Scheune rauskam, hockte Thies neben Stefanie auf dem Boden. ›Dann pass mal schön auf dein teures Schneewittchen auf‹, hab ich zu ihm gesagt und bin gegangen. Den Wagenheber habe ich in Lauterbachs Mülltonne geworfen. Genau so war es und kein bisschen anders.«
»Sie haben also gewusst, dass Tobias weder Laura noch Stefanie getötet hat«, stellte Pia fest. »Wie konnten Sie zulassen, dass er ins Gefängnis gehen musste, wenn Sie ihn doch so sehr geliebt haben?«
Nadja von Bredow antwortete nicht sofort. Sie saß stocksteif da, ihre Finger spielten mit einem der Fotoabzüge.
»Ich war damals stinkwütend auf ihn«, sagte sie schließlich leise. »Jahrelang musste ich mir anhören, was er mit der und der geredet und gemacht hat, wie verliebt er war oder auch nicht mehr. Er ließ sich von mir Ratschläge geben, wie er seine Tussis am besten ins Bett kriegen oder loswerden konnte. Ich war seine beste Freundin, pah!«
Sie lachte bitter auf.
»Als Frau war ich für ihn uninteressant. Ich war eine Selbstverständlichkeit für ihn. Dann war er mit Laura zusammen, und die wollte nicht, dass ich dabei bin, wenn sie ins Kino gegangen sind oder ins Schwimmbad oder auf Feten. Ich war das fünfte Rad am Wagen, und Tobi hat das überhaupt nicht gemerkt!«
Nadja von Bredow presste die Lippen aufeinander, ihre Augen schwammen in Tränen. Plötzlich war sie wieder das gekränkte, eifersüchtige Mädchen, die Lückenbüßerin, die als Vertraute des coolsten Jungen im Dorf keine Aussicht darauf hatte, ihn jemals für sich zu gewinnen. Trotz aller Erfolge, die sie seitdem gefeiert hatte, hatten diese Enttäuschungen Narben auf ihrer Seele hinterlassen, die sie ihr ganzes Leben mit sich herumtragen würde.
»Und plötzlich war diese bescheuerte Stefanie da.« Ihre Stimme war tonlos, aber ihre Finger, die eines der Fotos in kleine Fetzen rissen, zeigten, wie es in ihrem Innern aussah. »Sie drängte sich in unsere Clique, schnappte sich Tobi. Alles war plötzlich anders. Und dann verdrehte sie auch noch Lauterbach den Kopf und bekam die Schneewittchen-Rolle, die er mir versprochen hatte. Mit Tobi war nicht mehr zu reden. Er wollte von niemandem mehr etwas wissen, für ihn gab's nur noch Stefanie, Stefanie, Stefanie!«
Nadjas Gesicht verzerrte sich vor Hass, sie schüttelte den Kopf.
»Niemand von uns konnte ahnen, dass die Polizei so blöd sein und man Tobi wirklich verknacken könnte. Ich dachte, ein paar Wochen U-Haft würden ihm nur recht geschehen. Als ich kapiert habe, dass man ihm den Prozess machen würde, da war es längst zu spät, um noch etwas zu sagen. Wir alle hatten schon zu viel gelogen und verschwiegen. Aber ich habe ihn nie im Stich gelassen. Ich habe ihm regelmäßig geschrieben und auf ihn gewartet. Ich wollte alles wieder gutmachen, ja, ich wollte alles für ihn tun. Und ihn davon abhalten, wieder nach Altenhain zurückzukehren, aber er war so stur!«
»Sie wollten ihn nicht davon abhalten«, bemerkte Bodenstein, »Sie mussten ihn davon abhalten. Denn es hätte ja sein können, dass er Ihre Rolle bei diesem traurigen Theaterstück durchschaut hätte. Und genau das durfte nicht passieren. Sie haben ihm ja die treue Freundin vorgespielt.«
Nadja von Bredow lächelte frostig und schwieg.
»Aber Tobias ist zu seinem Vater gegangen«, fuhr Bodenstein fort. »Sie konnten ihn nicht daran hindern. Und dann tauchte auch noch Amelie Fröhlich auf, die fatalerweise aussieht wie Stefanie Schneeberger.«
»Diese dumme kleine Kuh hat ihre Nase in Dinge gesteckt, die sie einen Scheißdreck angehen«, knirschte Nadja zornig. »Tobi und ich hätten irgendwo auf der Welt ein neues Leben angefangen. Ich habe genug Geld. Irgendwann wäre Altenhain nur noch eine böse Erinnerung gewesen.«
»Und Sie hätten ihm niemals die Wahrheit gesagt.« Pia schüttelte den Kopf. »Was für eine tolle Basis für eine Beziehung.«
Nadja würdigte sie keines Blickes.
»Sie haben Amelie als Bedrohung erkannt«, sagte Bodenstein. »Also haben Sie Lauterbach die anonymen Briefe und E-Mails geschrieben. Denn Sie konnten damit rechnen, dass er etwas unternehmen würde, um sich zu schützen.«
Nadja von Bredow zuckte die Schultern.
»Damit haben Sie Fürchterliches angerichtet.«
»Ich wollte verhindern, dass Tobias wieder verletzt wird«, behauptete sie. »Er hat schon genug gelitten, und ich …«
»Papperlapapp!«, schnitt Bodenstein ihr das Wort ab. Er trat an den Tisch heran und nahm ihr gegenüber Platz, so dass sie ihn ansehen musste. »Sie wollten verhindern, dass er herausfindet, was Sie damals getan – oder besser gesagt: nicht getan haben! Sie hätten ihn als Einzige vor der Verurteilung und dem Gefängnis bewahren können, haben das aber unterlassen. Aus gekränkter Eitelkeit, aus kindischer Eifersucht. Sie haben mit angesehen, wie seine Familie in diesem Dorf gedemütigt und vernichtet wurde, haben Ihrer großen Liebe aus purem Egoismus zehn Jahre seines Lebens gestohlen, nur damit er eines Tages ganz Ihnen gehören würde. Das ist so ziemlich der niedrigste Beweggrund, der mir seit langem untergekommen ist!«
»Sie verstehen das nicht!«, entgegnete Nadja von Bredow mit plötzlicher Verbitterung. »Sie haben ja keine Ahnung, wie es ist, ständig zurückgewiesen zu werden!«
»Und jetzt hat er Sie wieder zurückgewiesen, nicht wahr?« Bodenstein beobachtete scharf ihr Gesicht, registrierte ihr Mienenspiel, das von Hass über Selbstmitleid zu wütendem Trotz reichte. »Er glaubte, tief in Ihrer Schuld zu stehen, aber das reicht nicht. Er liebt Sie heute so wenig wie damals. Und Sie können ja nicht immer darauf hoffen, dass jemand Ihre Konkurrentinnen aus dem Weg schafft.«
Nadja von Bredow starrte ihn hasserfüllt an. Für einen Moment war es totenstill im Verhörraum.
»Was haben Sie mit Tobias Sartorius gemacht?«, fragte Bodenstein.
»Er hat gekriegt, was er verdient hat«, erwiderte sie. »Wenn ich ihn nicht haben kann, dann soll ihn auch keine andere haben.«
»Die ist ja total krank im Kopf«, sagte Pia fassungslos, als Nadja von Bredow von mehreren Polizisten abgeführt worden war. Sie hatte getobt und geschrien, als sie begriffen hatte, dass man sie nicht gehen lassen würde. Den Haftbefehl hatte Bodenstein mit drohender Fluchtgefahr begründet, schließlich besaß Nadja von Bredow Häuser und Wohnungen im Ausland.
»Eine Psychopathin«, bestätigte er nun. »Zweifellos. Als ihr klarwurde, dass Tobias Sartorius sie noch immer nicht liebt, trotz allem, was sie für ihn getan hat, da hat sie ihn umgebracht.«
»Glaubst du, dass er tot ist?«
»Ich befürchte es zumindest.« Bodenstein erhob sich von seinem Stuhl, als Gregor Lauterbach nun von einem Beamten hereingeführt wurde. Sein Anwalt erschien nur Sekunden später.
»Ich will mich mit meinem Mandanten besprechen«, verlangte Dr. Anders.
»Das können Sie später tun«, erwiderte Bodenstein und musterte Lauterbach, der wie ein Häufchen Elend auf dem Plastikstuhl saß. »So, Herr Lauterbach. Jetzt reden wir Tacheles. Nadja von Bredow hat Sie soeben schwer belastet. Sie haben Stefanie Schneeberger am Abend des 6. September 1997 vor der Scheune des Sartorius-Hofes mit einem Wagenheber erschlagen, weil Sie befürchten mussten, dass Stefanie Ihrer Frau von Ihrer Affäre erzählen würde. Damit hatte Stefanie Ihnen gedroht. Was sagen Sie dazu?«
»Er sagt gar nichts dazu«, antwortete sein Anwalt an Lauterbachs Stelle.
»Sie hatten Thies Terlinden als Augenzeugen Ihrer Tat in Verdacht und haben ihn unter Druck gesetzt, damit er schweigt.«
Pias Handy meldete sich. Sie warf einen Blick auf das Display, stand auf und ging ein paar Meter vom Tisch weg. Es war Henning. Er hatte die Medikamente analysiert, die Frau Dr. Lauterbach Thies seit Jahren verschrieben hatte.
»Ich habe mit einem Kollegen von der psychiatrischen Kardiologie gesprochen«, sagte Henning. »Er kennt sich mit Autismus bestens aus und war schockiert, als ich ihm das Rezept gefaxt habe. Diese Medikamente sind absolut kontraproduktiv für die Behandlung eines Asperger-Erkrankten.«
»Inwiefern?«, fragte Pia und hielt sich das andere Ohr zu, denn ihr Chef hatte seine Stimme erhoben und feuerte aus allen Kanonen auf Lauterbach und seinen Anwalt, der immer wieder »Kein Kommentar!« dazwischenrief, als befände er sich bereits inmitten der Pressemeute vor dem Gerichtsgebäude.
»Wenn man Benzodiazepine mit anderen zentral wirkenden Pharmaka wie Neuroleptika und Sedativa kombiniert, verstärkt sich ihre Wirkung wechselseitig. Diese Neuroleptika, die ihr gefunden habt, werden eigentlich bei akuten psychotischen Störungen mit Wahnvorstellungen und Halluzinationen eingesetzt, Sedativa zur Beruhigung und Benzodiazepine zur Angstlösung. Aber Letztere haben noch eine andere Wirkung, die für euch interessant sein könnte: Sie wirken amnestisch. Das bedeutet, dem Patienten fehlt für die Wirkdauer die Erinnerung. Auf jeden Fall gehört dem Arzt, der einem Autisten diese Mittel über einen längeren Zeitraum verschrieben hat, die Approbation entzogen. Das ist mindestens schwere Körperverletzung.«
»Kann dein Kollege ein Gutachten schreiben?«
»Ja, ganz sicher.«
Pias Herz begann vor Aufregung zu klopfen, als sie begriff, was das alles bedeutete. Frau Dr. Lauterbach hatte Thies über elf Jahre hinweg mit bewusstseinsverändernden Drogen vollgestopft, um ihn unter Kontrolle zu halten. Seine Eltern mochten geglaubt haben, die verschriebene Medikation würde ihrem Sohn nützen. Warum Daniela Lauterbach das getan hatte, lag klar auf der Hand. Sie wollte ihren Mann schützen. Aber plötzlich war Amelie aufgetaucht, und Thies hatte seine Medikamente nicht mehr genommen.
Bodenstein öffnete gerade die Tür; Lauterbach hatte sein Gesicht in den Händen verborgen und schluchzte wie ein kleines Kind, während Dr. Anders seine Aktentasche packte. Ein Beamter kam herein und führte den weinenden Gregor Lauterbach ab.
»Er hat gestanden.« Bodenstein wirkte äußerst zufrieden. »Er hat Stefanie Schneeberger erschlagen, ob im Affekt oder mit Vorsatz, spielt erst mal keine Rolle. Tobias ist auf jeden Fall unschuldig.«
»Das wusste ich die ganze Zeit schon«, entgegnete Pia. »Aber wir wissen noch immer nicht, wo Amelie und Thies sind. Wer die beiden aus dem Weg geschafft hat, ist mir jetzt allerdings klar. Wir waren die ganze Zeit auf der falschen Spur.«
Es war kalt, kalt, kalt. Der eisige Wind heulte und tobte, die Schneeflocken stachen wie winzige Nadeln in sein Gesicht. Er konnte nichts mehr sehen, alles um ihn herum war weiß, und seine Augen tränten so stark, dass er wie blind war. Füße, Nase, Ohren und Fingerspitzen spürte er nicht mehr, er taumelte durch den Schneesturm von einem Katzenauge zum nächsten, um nur ja nicht völlig die Orientierung zu verlieren. Zeitgefühl hatte er längst keines mehr und ebenso wenig Hoffnung auf einen zufällig vorbeikommenden Schneepflug. Warum lief er überhaupt noch weiter? Wo wollte er hin? Es gelang ihm kaum noch, seine zu Eisklumpen gefrorenen Füße in den dünnen Turnschuhen aus dem Schnee zu ziehen, und es bedurfte schier übermenschlicher Anstrengung, sich Schritt für Schritt durch diese weiße Hölle zu kämpfen. Wieder stürzte er, landete auf allen vieren im Schnee. Tränen liefen ihm über das Gesicht und gefroren zu Eis. Tobias ließ sich nach vorne sinken und blieb einfach liegen. Jede Faser seines Körpers schmerzte; sein linker Unterarm, den sie mit dem eisernen Schürhaken getroffen hatte, war völlig taub. Wie eine Wahnsinnige war sie über ihn hergefallen, hatte ihn geschlagen, getreten und angespuckt in einem rasenden, hasserfüllten Zorn. Dann war sie aus der Hütte gelaufen und einfach weggefahren, hatte ihn zurückgelassen im Nirgendwo der Schweizer Alpen. Stundenlang hatte er nackt auf dem Boden gelegen, unfähig, sich zu bewegen, wie unter Schock. Er hatte gleichzeitig gehofft und gefürchtet, sie würde zurückkommen und ihn holen. Aber das war nicht geschehen.
Was war überhaupt passiert? Sie hatten einen wunderbaren Tag im Schnee verbracht, unter stahlblauem Himmel, gemeinsam gekocht und gegessen und sich dann leidenschaftlich geliebt. Wie aus heiterem Himmel war Nadja ausgerastet. Aber warum nur? Sie war doch seine Freundin, seine allerbeste, engste, älteste Freundin, die ihn niemals im Stich gelassen hatte. Plötzlich durchzuckte ihn die Erinnerung wie ein gleißender Blitz. »Amelie«, murmelte er mit erstarrten Lippen. Er hatte Amelies Namen erwähnt, weil er sich um sie sorgte, und daraufhin war Nadja ausgerastet. Tobias presste die Fäuste an die Schläfen und zwang sich zum Nachdenken. Allmählich stellte sein benebeltes Gehirn die Zusammenhänge her, die er bis dahin nicht hatte erkennen wollen. Nadja war schon früher in ihn verliebt gewesen, aber er hatte es nie kapiert. Wie sehr musste es ihr weh getan haben, wenn er ihr von jeder Einzelheit seiner zahlreichen Abenteuer berichtet hatte! Aber sie hatte sich nie etwas anmerken lassen, ihm Tipps und Ratschläge gegeben, wie es eben ein guter Kumpel tat. Tobias hob benommen den Kopf. Der Sturm hatte nachgelassen. Er widerstand dem Drang, einfach im Schnee liegen zu bleiben, arbeitete sich keuchend auf die steifen Knie. Er rieb sich die Augen. Tatsächlich! Da unten im Tal konnte er Lichter erkennen! Er zwang sich, weiterzugehen. Nadja war eifersüchtig auf seine Freundinnen gewesen, auch auf Laura und auf Stefanie. Und als sie ihn neulich am Waldrand beiläufig gefragt hatte, ob ihm Amelie gefallen würde, hatte er arglos mit »Ja« geantwortet. Aber wie hätte er auch darauf kommen sollen, dass Nadja, die berühmte Schauspielerin, eifersüchtig auf ein siebzehnjähriges Mädchen sein könnte? Hatte Nadja Amelie etwas angetan? Großer Gott! Die Verzweiflung brachte ihn auf die Füße und trieb ihn talabwärts. Nadja hatte einen Vorsprung von einer Nacht und einem Tag. Wenn Amelie etwas zustieß, dann war er ganz alleine daran schuld, denn er hatte Nadja von Thies' Bildern erzählt und davon, dass Amelie ihm helfen wollte. Er blieb stehen und öffnete den Mund zu einem wilden, zornigen Schrei, der von den Bergen zurückgeworfen wurde. Er schrie, bis seine Stimmbänder schmerzten und seine Stimme versagte.
Dr. Daniela Lauterbach war wie vom Erdboden verschluckt. In ihrer Praxis wähnte man sie auf dem Ärztekongress in München, aber Nachforschungen ergaben, dass sie dort nie angekommen war. Ihr Handy war ausgeschaltet, ihr Auto unauffindbar. Es war zum Verrücktwerden. In der Psychiatrie hielt man es für möglich, dass Dr. Lauterbach Thies abgeholt hatte. Sie war Belegärztin im Krankenhaus, und es fiel niemandem auf, wenn sie eine Station betrat. An jenem Samstagabend hatte sie keinen Notfalldienst gehabt. Sie hatte den Anruf vorgetäuscht und sich vor dem Schwarzen Ross auf die Lauer gelegt. Amelie kannte sie und war sicherlich ohne jeden Argwohn bei ihr ins Auto gestiegen. Um den Verdacht auf Tobias zu lenken, hatte Daniela Lauterbach Amelies Handy in seine Hosentasche geschoben, als sie ihn später nach Hause gebracht hatte. Es war perfekt eingefädelt, dazu war ihr der eine oder andere Zufall noch zu Hilfe gekommen. Die Wahrscheinlichkeit, Amelie Fröhlich oder Thies Terlinden lebend zu finden, tendierte gegen null.
Bodenstein und Pia saßen abends um zehn Uhr im Besprechungsraum und schauten sich das Hessenjournal an, in dem der Fahndungsaufruf nach Dr. Daniela Lauterbach gesendet und von der Verhaftung Nadja von Bredows berichtet wurde. Noch immer lungerten vor dem Kommissariat Reporter und zwei Fernsehteams herum, begierig auf Nachrichten über Nadja von Bredow.
»Ich glaube, ich fahre nach Hause.« Pia gähnte und streckte sich. »Kann ich dich irgendwohin fahren?«
»Nein, nein. Fahr nur«, erwiderte Bodenstein. »Ich nehme mir einen von den Dienstwagen.«
»Bist du so weit okay?«
»So weit ja.« Bodenstein zuckte die Schultern. »Das wird schon wieder. Irgendwie.«
Sie warf ihm noch einen zweifelnden Blick zu, dann ergriff sie Jacke und Tasche und ging hinaus. Bodenstein erhob sich und schaltete den Fernseher aus. Den ganzen Tag über hatte er die unerfreuliche Begegnung mit Cosima durch hektische Betriebsamkeit aus seinem Kopf verbannen können, aber jetzt kehrte die Erinnerung in einer üblen, gallebitteren Welle zurück. Wie hatte er nur derart die Beherrschung verlieren können? Er löschte das Neonlicht und ging langsam den Flur entlang zu seinem Büro. Das Gästezimmer im Haus seiner Eltern lockte ihn so wenig wie eine Kneipe. Genauso gut konnte er die Nacht auch hinter seinem Schreibtisch verbringen. Er schloss die Tür hinter sich und stand für einen Moment unschlüssig mitten im Raum, der von der Außenbeleuchtung in ein schwaches Licht getaucht wurde. Er war ein Versager als Mann und als Polizist. Cosima zog ihm einen Fünfunddreißigjährigen vor, und Amelie, Thies und Tobias waren wahrscheinlich längst tot, weil er sie nicht rechtzeitig gefunden hatte. Die Vergangenheit lag in Trümmern hinter ihm, und die Zukunft schien nicht viel rosiger.
Wenn sie sich herabbeugte und den Arm ausstreckte, konnte sie mit den Fingerspitzen die Wasseroberfläche berühren. Das Wasser stieg viel schneller, als Amelie gedacht hatte, offenbar gab es nirgendwo einen Ablauf. Nicht mehr lange, und sie würden auch hier oben auf dem Regal im Wasser sitzen. Und selbst wenn sie nicht ertranken, weil das Wasser durch das Oberlicht abfloss, dann würden sie erfrieren. Es war nämlich scheißkalt. Zudem hatte sich Thies' Zustand dramatisch verschlechtert. Er zitterte und schwitzte, sein Körper glühte im Fieber. Meistens schien er zu schlafen, den Arm um sie gelegt, aber wenn er wach war, dann redete er. Was er sagte, war so fürchterlich und unheimlich, dass Amelie am liebsten geweint hätte.
Als ob man den schwarzen Vorhang in ihrem Kopf zur Seite gezogen hätte, war die Erinnerung an die Ereignisse, die sie in dieses Kellerloch geführt hatten, wieder glasklar. Die Lauterbach musste irgendein Gift ins Wasser und in die Kekse getan haben, deshalb war sie jedes Mal eingeschlafen, nachdem sie gegessen oder getrunken hatte. Aber nun wusste sie wieder alles. Sie hatte sie angerufen und auf dem Parkplatz gewartet, freundlich und besorgt, hatte sie gebeten, mit ihr zu Thies zu kommen, es gehe ihm schlecht. Amelie war, ohne zu zögern, in das Auto der Ärztin gestiegen – und in diesem Keller aufgewacht. Sie hatte geglaubt, sie habe in den Abrisshäusern, den Obdachlosenheimen und auf den Straßen Berlins schon alles gesehen, was es an Üblem auf dieser Welt gab, dabei hatte sie keinen blassen Schimmer gehabt, wie grausam Menschen sein konnten. In Altenhain, diesem idyllischen Dörfchen, das sie für so langweilig und öde gehalten hatte, lebten gnadenlose, brutale Monster, getarnt durch Masken spießiger Harmlosigkeit. Sollte sie jemals lebend aus diesem Keller herauskommen, würde sie niemals wieder in ihrem ganzen Leben jemandem vertrauen. Wie konnte ein Mensch einem anderen Menschen so etwas Entsetzliches antun? Warum hatten Thies' Eltern nie erkannt, was die nette, freundliche Nachbarin mit ihrem Sohn gemacht hatte? Wie konnte ein ganzes Dorf schweigend dabei zusehen, wie ein junger Mann für zehn Jahre unschuldig ins Gefängnis ging, während die wahren Täter unbehelligt blieben? In den langen Stunden in der Dunkelheit hatte ihr Thies nach und nach alles erzählt, was er über die schaurigen Ereignisse in Altenhain wusste, und das war eine Menge. Kein Wunder, dass Dr. Lauterbach ihn am liebsten töten wollte. Im gleichen Moment, als sie das dachte, erfüllte Amelie die niederschmetternde Gewissheit, dass genau das eintreten würde. Die Lauterbach war nicht dumm. Sie hatte ganz sicher dafür gesorgt, dass sie hier niemand fand. Oder erst dann, wenn es zu spät war.
Bodenstein hatte das Kinn in die Hand gestützt und betrachtete das leere Cognacglas. Wie hatte er sich so in Daniela Lauterbach täuschen können? Ihr Mann hatte Stefanie Schneeberger im Affekt erschlagen, aber sie war diejenige gewesen, die seine Tat eiskalt gedeckt und Thies Terlinden über Jahre hinweg bedroht, mit Medikamenten zugedröhnt und eingeschüchtert hatte. Sie hatte zugelassen, dass Tobias Sartorius ins Gefängnis gehen musste und seine Eltern durch die Hölle. Bodenstein griff nach der Flasche Remy Martin, die er irgendwann einmal geschenkt bekommen hatte und die seit über einem Jahr unangebrochen in seinem Schrank stand. Er verabscheute das Zeug, aber ihm war nach etwas Alkoholischem zumute. Den ganzen Tag über hatte er keinen Bissen gegessen, dafür zu viel Kaffee getrunken. In einem Zug leerte er das dritte Glas innerhalb der letzten Viertelstunde und verzog das Gesicht. Der Cognac entfachte ein kleines, wohltuendes Feuer in seinem Magen, strömte durch seine Adern und entspannte ihn. Sein Blick wanderte zu dem gerahmten Foto von Cosima neben dem Telefon. Sie lächelte ihn an, wie seit Jahren. Er nahm es ihr übel, dass sie ihm heute Morgen aufgelauert und ihn provoziert hatte, Ungeheuerliches zu sagen und zu tun. Längst bereute er, derart die Kontrolle über sich verloren zu haben. Obwohl sie es war, die alles zerstört hatte, fühlte er sich im Unrecht. Und das ärgerte ihn mindestens genauso sehr wie sein überheblicher Glaube, eine perfekte Ehe zu führen. Cosima betrog ihn mit einem Jüngeren, weil er ihr als Mann nicht mehr genügt hatte. Sie hatte sich an seiner Seite gelangweilt und sich deshalb einen anderen gesucht, einen Abenteurer wie sie selbst. Dieser Gedanke machte seinem Selbstwertgefühl sehr viel mehr zu schaffen, als er es je für möglich gehalten hatte. Es klopfte an der Tür, als er seinen vierten Cognac herunterkippte. »Ja?«
Nicola Engel steckte den Kopf zur Tür herein. »Störe ich?«
»Nein. Komm rein.« Er rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel. Sie betrat sein Büro, schloss die Tür hinter sich und kam näher.
»Ich habe eben Bescheid bekommen, dass man die Immunität von Lauterbach aufgehoben hat. Das Gericht hat den Haftbefehl für ihn und Frau von Bredow bestätigt.« Sie blieb vor seinem Schreibtisch stehen und musterte ihn. »Mein Gott, wie siehst du denn aus? Nimmt dich der Fall so sehr mit?«
Was sollte er darauf erwidern? Er war zu müde für eine taktisch kluge Antwort. Noch immer konnte er Nicola nicht richtig einschätzen. Fragte sie aus echtem menschlichen Interesse oder weil sie ihm aus seinen Fehlern und seinem Versagen den finalen Strick drehen wollte, der seine Tätigkeit als Leiter des K n beendete?
»Die Begleitumstände nehmen mich mit«, gab er schließlich zu. »Behnke, Hasse. Dieses ganze dumme Gerede über Pia und mich.«
»Da ist doch nichts dran, oder?«
»Ach was.« Er lehnte sich zurück. Sein Nacken schmerzte, er verzog das Gesicht. Ihr Blick fiel auf den Cognac. »Hast du noch ein Glas?«
»Im Schrank. Links unten.«
Sie drehte sich um, öffnete die Schranktür, nahm ein Glas heraus und setzte sich auf einen der Besucherstühle vor seinem Schreibtisch. Er schenkte ein, ihr einen Fingerbreit, für sich selbst beinahe randvoll. Nicola Engel hob die Augenbrauen, sagte aber nichts. Er prostete ihr zu und trank, ohne abzusetzen.
»Was ist wirklich los?«, wollte sie wissen. Sie war eine scharfe Beobachterin, und sie kannte ihn. Schon sehr lange. Bevor er Cosima kennengelernt und recht bald geheiratet hatte, waren sie zwei Jahre lang ein Paar gewesen, Nicola und er. Wozu sollte er ihr etwas vormachen? Bald würde es sowieso jeder wissen, spätestens wenn er eine neue Adresse angab.
»Cosima hat einen anderen«, sagte er daher und versuchte, seine Stimme so gleichmütig wie möglich klingen zu lassen. »Ich hatte die ganze Zeit schon den Verdacht. Vor ein paar Tagen hat sie es zugegeben.«
»Ach.« Das klang nicht nach Schadenfreude. Zu einem Das tut mir leid konnte sie sich jedoch nicht durchringen. Es war ihm auch egal. Er ergriff die Flasche, füllte sein Glas erneut. Nicola sah ihm stumm dabei zu. Er trank. Spürte die Wirkung des Alkohols auf leeren Magen und konnte verstehen, weshalb Menschen unter bestimmten Umständen zu Trinkern wurden. Cosima verschwand ganz weit hinten in seinem Bewusstsein, und mit ihr verflüchtigten sich die Gedanken an Amelie, Thies und Daniela Lauterbach.
»Ich bin kein guter Polizist«, sagte er. »Und auch kein guter Chef. Du solltest nach jemand anderem suchen, der meinen Job macht.«
»Auf gar keinen Fall«, antwortete sie entschieden. »Als ich letztes Jahr hier angefangen habe, war das zwar meine Absicht, das gebe ich zu. Aber ich hatte jetzt ein Jahr Zeit, deine Arbeitsweise zu beobachten und auch die Art, wie du deine Mitarbeiter führst. Von deiner Sorte könnte ich hier noch ein paar gebrauchen.«
Er erwiderte nichts darauf, wollte sich einen nächsten Cognac einschenken, aber die Flasche war leer. Achtlos warf er sie in den Papierkorb und ließ das Foto von Cosima gleich folgen. Als er den Kopf hob, begegnete er Nicolas forschendem Blick.
»Du solltest für heute Schluss machen«, sagte sie mit einem Blick auf die Uhr. »Es ist gleich Mitternacht. Komm, ich fahr dich nach Hause.«
»Ich habe kein Zuhause mehr«, erinnerte er sie. »Ich wohne wieder bei meinen Eltern. Komisch, oder?«
»Besser als ein Hotel. Na, komm schon. Steh auf.«
Bodenstein rührte sich nicht. Er wandte seinen Blick nicht von ihrem Gesicht. Plötzlich erinnerte er sich daran, wie er sie damals, vor mehr als siebenundzwanzig Jahren, auf der Party eines Kommilitonen zum ersten Mal getroffen hatte. Mit ein paar Jungs hatte er den ganzen Abend in der winzigen Küche gestanden und Bier getrunken. Die anwesenden Mädchen hatte er gar nicht richtig wahrgenommen, denn die Enttäuschung über seine Jugendliebe Inka war zu frisch gewesen, als dass ihm der Sinn nach einer neuen Beziehung gestanden hätte. Vor der Klotür war ihm Nicola begegnet. Sie hatte ihn von Kopf bis Fuß gemustert und in ihrer unnachahmlich direkten Art etwas zu ihm gesagt, das ihn veranlasst hatte, auf der Stelle mit ihr gemeinsam die Party zu verlassen, ohne sich bei seinem Gastgeber zu verabschieden. Damals war er ähnlich angetrunken und ähnlich verletzt gewesen wie heute. Unvermittelt jagte eine Hitzewelle durch seinen Körper, schoss in seinen Unterleib wie glühende Lava.
»Du gefällst mir«, wiederholte er ihre Worte von damals mit rauer Stimme. »Hast du Lust auf Sex?«
Nicola sah ihn überrascht an, ein Lächeln schlich sich in ihre Mundwinkel.
»Warum nicht?« Sie hatte ihren allerersten Dialog so wenig vergessen wie er. »Ich muss nur noch mal schnell aufs Klo.«