Montag, 24. November 2008

»Dieses Hemd und die Krawatte hattest du doch gestern schon an«, bemerkte Pia mit scharfem Blick, als Bodenstein zu ihr in den noch leeren Besprechungsraum trat. »Und du bist nicht rasiert.«

»Deine Beobachtungsgabe ist wahrhaftig phänomenal«, erwiderte er trocken und ging zur Kaffeemaschine. »Bei meinem überstürzten Auszug konnte ich leider nicht meinen ganzen Kleiderschrank mitnehmen.«

»Soso.« Pia grinste. »Ich habe dich immer für jemanden gehalten, der selbst im Schützengraben noch jeden Tag frische Klamotten anzieht. Oder solltest du etwa meinen guten Rat befolgt haben?«

»Bitte keine unangemessenen Schlussfolgerungen.« Bodenstein setzte eine undurchdringliche Miene auf und gab einen Schuss Milch in seinen Kaffee. Pia wollte gerade etwas erwidern, als Ostermann in der Tür erschien.

»Welche schlechten Nachrichten bringen Sie mit, Herr Kriminaloberkommissar?«, fragte Bodenstein. Ostermann warf erst seinem Chef, dann Pia einen irritierten Blick zu. Die zuckte nur die Schultern.

»Tobias Sartorius hat sich gestern Nacht bei seinem Vater gemeldet. Er liegt in einem Krankenhaus in der Schweiz«, antwortete er. »Von Amelie, Thies oder Frau Dr. Lauterbach gibt es nach wie vor nichts Neues.«

Hinter ihm trat Kathrin Fachinger ein, gefolgt von Nicola Engel und Sven Jansen.

»Guten Morgen«, sagte die Kriminalrätin. »Ich bringe die versprochene Verstärkung. KK Jansen wird vorübergehend im Team des K 11 mitarbeiten, Bodenstein. Wenn Sie damit einverstanden sind.«

»Ja, bin ich.« Bodenstein nickte dem Kollegen vom Diebstahlsdezernat, der gestern mit Pia bei Terlinden gewesen war, zu und setzte sich an den Tisch. Die anderen folgten seinem Beispiel, nur Nicola Engel entschuldigte sich und ging zur Tür. Dort drehte sie sich noch einmal um. »Kann ich Sie noch einmal kurz unter vier Augen sprechen?«

Bodenstein stand wieder auf, folgte ihr hinaus auf den Flur und schloss die Tür hinter sich.

»Behnke hat eine einstweilige Verfügung gegen seine Suspendierung erwirkt und sich gleichzeitig krankgemeldet«, sagte Nicola Engel mit gesenkter Stimme. »Sein Rechtsbeistand ist ein Anwalt aus der Kanzlei von Dr. Anders. Wie kann er sich das leisten?«

»Anders macht so etwas gerne auch ohne Geld«, erwiderte Bodenstein. »Ihm sind doch nur die Schlagzeilen wichtig.«

»Na ja, warten wir ab, was passiert.« Nicola Engel musterte Bodenstein. »Ich habe eben noch etwas erfahren. Eigentlich wollte ich es dir in einem besseren Moment sagen, aber bevor du es durch irgendeine undichte Stelle von jemand anderem hörst …«

Er blickte sie aufmerksam an. Jetzt konnte alles folgen, angefangen von seiner Suspendierung bis zu der Neuigkeit, dass sie die Leitung des BKA übernehmen würde. Es war eine von Nicolas typischen Charaktereigenschaften, sich nie in die Karten schauen zu lassen.

»Herzlichen Glückwunsch zur Beförderung«, verkündete sie ihm zu seiner Überraschung. »Erster Kriminalhauptkommissar Oliver von Bodenstein. Inklusive Erhöhung der Besoldungsstufe. Was sagst du dazu?« Sie lächelte ihn erwartungsvoll an.

»Muss ich jetzt das Gefühl haben, ich hätte mich hochgeschlafen?«, entgegnete er. Die Kriminalrätin grinste, wurde dann aber ernst.

»Bereust du die letzte Nacht?«, wollte sie wissen. Bodenstein legte den Kopf schief.

»Das würde ich jetzt nicht behaupten«, antwortete er. »Und du?«

»Ich auch nicht. Obwohl mir Aufgewärmtes sonst nicht schmeckt.«

Er grinste, und sie wandte sich zum Gehen. »Ach, Frau Kriminalrätin …« Sie blieb stehen.

»Vielleicht … können wir es gelegentlich wiederholen.« Da grinste sie auch.

»Ich denke darüber nach, Herr Hauptkommissar. Bis später!«

Er blickte ihr nach, bis sie verschwunden war, dann legte er die Hand auf die Türklinke. Ganz plötzlich und unerwartet erfüllte ihn ein fast schmerzhaftes Glücksgefühl. Nicht etwa, weil er sich gerächt und nun seinerseits Cosima betrogen hatte – und das auch noch mit seiner Chefin, die sie von Herzen verabscheute –, sondern weil er sich in dieser Sekunde so frei fühlte wie eigentlich noch nie in seinem Leben. In der letzten Nacht hatte sich seine Zukunft mit atemberaubender Klarheit vor ihm entfaltet, ihm ungeahnte Möglichkeiten offenbart, nachdem er wochenlang tief gekränkt und voller Selbstmitleid in einem Tal der Tränen herumgekrebst war. Nicht dass er sich an Cosimas Seite jemals gefangen gefühlt hatte, aber nun ahnte er, dass mit dem Scheitern seiner Ehe nicht alles vorbei sein musste. Ganz im Gegenteil. Nicht alle Menschen bekamen mit fast fünfzig Jahren noch einmal eine neue Chance.

Amelies Beine waren zu Eis gefroren, trotzdem schwitzte sie am ganzen Körper. Mit aller Kraft versuchte sie, Thies' Kopf über Wasser zu halten. Allein der Auftrieb des Wassers, das mittlerweile gut vierzig Zentimeter über dem letzten Regalboden stand, hatte es ihr ermöglicht, seinen Körper in eine sitzende Position zu bringen. Glücklicherweise war das Regal fest in die Mauer geschraubt, sonst wäre es wahrscheinlich schon umgekippt. Amelie holte keuchend Luft und versuchte, ihre verkrampfte Muskulatur zu lockern. Mit ihrem rechten Arm hielt sie Thies umklammert, mit der linken Hand versuchte sie, die Decke zu berühren. Ein halber Meter Luft war noch übrig, mehr nicht.

»Thies!«, flüsterte sie und schüttelte ihn leicht. »Wach doch auf, Thies!«

Er reagierte nicht. Sie konnte ihn unmöglich noch höher ziehen, das ging über ihre Kräfte. Aber in ein paar Stunden würde sein Kopf unter Wasser sein. Amelie war nahe daran, aufzugeben. Es war so kalt! Und sie hatte eine so entsetzliche Angst vor dem Ertrinken. Immer wieder kamen ihr Bilder aus Titanic in den Sinn. Den Film hatte sie ein halbes Dutzend Mal gesehen und Rotz und Wasser geheult, als Leonardo DiCaprio von dem Brett abgeglitten und in den Tiefen des Meeres versunken war. Das Wasser des Nordatlantiks konnte kaum kälter gewesen sein als die Scheißbrühe hier!

Mit zitternden Lippen sprach sie unablässig auf Thies ein, bettelte ihn an, schüttelte ihn, kniff ihn in den Arm. Er musste einfach aufwachen!

»Ich will nicht sterben«, schluchzte sie und lehnte erschöpft ihren Kopf an die Wand. »Ich will nicht sterben, verdammt!«

Die Kälte lähmte ihre Bewegungen und ihre Gedanken. Mit größter Anstrengung strampelte sie mit den Beinen im Wasser hin und her, aber irgendwann wollte ihr auch das nicht mehr gelingen. Sie durfte nur nicht einschlafen! Wenn sie Thies losließ, würde er ertrinken und sie mit ihm.

Claudius Terlinden blickte unwillig von den Akten auf, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen, als seine Sekretärin Bodenstein und Pia Kirchhoff in sein Büro führte.

»Haben Sie meinen Sohn gefunden?« Er stand nicht von seinem Stuhl auf und gab sich keine Mühe, seinen Widerwillen zu überspielen. Aus der Nähe erkannte Pia, dass die Ereignisse der letzten Tage nicht spurlos an Terlinden vorübergegangen waren, wenngleich er äußerlich ungerührt wirkte. Er war blass und hatte dunkle Schatten unter den Augen. Flüchtete er sich in die tägliche Routine, um seine Sorgen zu vergessen?

»Nein«, bedauerte Bodenstein. »Leider nicht. Aber wir wissen, wer ihn aus der Psychiatrie entführt hat.«

Claudius Terlinden sah ihn fragend an.

»Gregor Lauterbach hat den Mord an Stefanie Schneeberger gestanden«, fuhr Bodenstein fort. »Seine Frau hat das vertuscht, um ihn und seine Karriere zu schützen. Sie wusste, dass Thies Augenzeuge der Tat gewesen war. Sie hat Ihren Sohn massiv bedroht und über Jahre hinweg mit Psychopharmaka behandelt, die er überhaupt nicht gebraucht hätte. Als sie befürchten musste, dass Amelie Fröhlich und Ihr Sohn ihrem Mann und ihr selbst gefährlich werden könnten, musste sie handeln. Wir befürchten, dass sie den beiden etwas angetan hat.«

Terlinden starrte ihn an. Seine Miene war wie versteinert.

»Wer, dachten Sie eigentlich, hat Stefanie ermordet?«, wollte Pia wissen. Claudius Terlinden nahm seine Brille ab und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Er holte tief Luft.

»Ich dachte tatsächlich, dass es Tobias gewesen ist«, gab er nach einer Weile zu. »Ich habe angenommen, er hat Gregor mit dem Mädchen beobachtet und ist dann vor Eifersucht durchgedreht. Mir war klar, dass mein Sohn Thies etwas beobachtet haben musste, aber da er nicht spricht, habe ich nie erfahren, was er gesehen hat. Jetzt erklärt sich natürlich einiges für mich. Deshalb war Daniela immer so besorgt um ihn. Und deshalb hatte Thies so eine schreckliche Angst vor ihr.«

»Sie hat ihm gedroht, ihn in eine Anstalt zu bringen, sollte er jemals ein Sterbenswörtchen sagen«, erläuterte Pia. »Aber selbst sie wusste wohl nicht, dass Thies die Leiche von Stefanie im Keller der Orangerie versteckt hielt. Das muss sie von Amelie erfahren haben. Deshalb hat Frau Dr. Lauterbach auch das Feuer in der Orangerie gelegt. Sie wollte nicht die Bilder vernichten, sondern die Mumie von Schneewittchen.«

»Großer Gott!« Terlinden erhob sich von seinem Stuhl, trat an die Fensterfront und starrte hinaus. Ahnte er, wie dünn das Eis war, auf dem er sich bewegte? Bodenstein und Pia wechselten hinter seinem Rücken einen Blick. Man würde ihn wegen zahlloser Vergehen zur Verantwortung ziehen, nicht zuletzt für die großangelegte Bestechungsaffäre, die Gregor Lauterbach in dem feigen Versuch, sich selbst reinzuwaschen, aufgedeckt hatte. Davon wusste Claudius Terlinden noch nichts, aber sicher wurde ihm allmählich klar, welch gigantische Schuld er mit seiner Politik des Verschweigens und Vertuschens auf sich geladen hatte.

»Lutz Richter hat gestern versucht, sich das Leben zu nehmen, als unsere Kollegen seinen Sohn verhaftet haben«, sagte Bodenstein in die Stille. »Er hat vor elf Jahren eine Art Bürgerwehr gegründet, um die wahren Ereignisse zu vertuschen. Laura Wagner lebte noch, als Richters Sohn und seine Freunde sie in den leeren Bodentank auf dem Flugplatzgelände in Eschborn geworfen haben. Richter hat das gewusst und den Tank zugeschüttet.«

»Und als Tobias aus dem Gefängnis gekommen ist, hat Richter die Sache wieder in die Hand genommen und den Überfall auf ihn organisiert«, ergänzte Pia. »Haben Sie das veranlasst?«

Terlinden wandte sich um.

»Nein. Ich hatte es ihnen sogar ausdrücklich verboten«, antwortete er mit heiserer Stimme.

»Manfred Wagner hat Tobias' Mutter von der Brücke gestoßen«, setzte Pia nach. »Hätten Sie damals Ihren Sohn Lars nicht gezwungen, die Wahrheit zu verschweigen, dann wäre all das nicht geschehen. Ihr Sohn würde womöglich noch leben, Familie Sartorius wäre nicht ruiniert, Wagners hätten irgendwann mit der ganzen Sache abschließen können. Ist Ihnen klar, dass Sie ganz alleine die Schuld an dem Leid tragen, das diese Familien durchmachen mussten? Mal ganz abgesehen von Ihrer eigenen Familie, die durch Ihre Feigheit durch die Hölle gegangen ist!«

»Wieso ich?« Terlinden schüttelte verblüfft den Kopf. »Ich habe mich doch nur um Schadensbegrenzung bemüht!«

Pia konnte es nicht fassen. Ganz offensichtlich hatte Claudius Terlinden Rechtfertigungen für sein Tun und sein Unterlassen gefunden und log sich seit Jahren selbst in die Tasche.

»Welchen schlimmeren Schaden wollten Sie denn begrenzen?«, fragte sie sarkastisch.

»Die Dorfgemeinschaft drohte zu zerbrechen«, antwortete Terlinden. »Meine Familie trägt schon seit Jahrzehnten, wenn nicht seit Jahrhunderten eine große Verantwortung in diesem Dorf. Dieser musste ich gerecht werden! Die Jungen hatten eine Dummheit gemacht, sie waren betrunken, und das Mädchen hatte sie provoziert.«

Er hatte mit unsicherer Stimme begonnen, doch nun sprach er im Brustton der Überzeugung.

»Ich dachte, Tobias hätte Stefanie getötet. Er würde also auf jeden Fall ins Gefängnis gehen. Welche Rolle würde es spielen, ob er für ein oder für zwei Verbrechen verurteilt werden würde? Dafür, dass er seine vier Freunde aus der ganzen Sache herausgehalten hatte, habe ich seine Familie unterstützt und immer dafür gesorgt…«

»Jetzt hören Sie aber auf!«, unterbrach Bodenstein den Mann. »Sie wollten einzig und allein Ihren Sohn Lars heraushalten! Ihnen ging es nur um Ihren guten Namen, der unweigerlich in die Presse geraten wäre, hätte man Lars mit den Mordfällen in Verbindung gebracht. Die jungen Leute und die Dörfler waren Ihnen vollkommen gleichgültig. Und wie egal Ihnen Familie Sartorius war, zeigt sich allein schon daran, dass Sie als Konkurrenz zum Goldenen Hahn das Schwarze Ross eröffnet und Sartorius' Koch als Pächter eingesetzt haben.«

»Darüber hinaus haben Sie die Umstände eiskalt ausgenutzt«, übernahm Pia. »Albert Schneeberger wollte Ihnen niemals seine Firma verkaufen, aber Sie setzten ihn in dieser für ihn entsetzlichen Situation so massiv unter Druck, bis er es tat. Danach haben Sie entgegen der Vereinbarungen die Mitarbeiter entlassen und die Firma zerschlagen. Sie sind der Einzige, der von dem ganzen Unglück damals profitiert hat – in jeder Hinsicht!«

Claudius Terlinden schob die Unterlippe vor und blickte Pia feindselig an.

»Aber jetzt ist doch alles ganz anders gekommen, als Sie es für möglich gehalten haben.« Pia ließ sich nicht einschüchtern. »Die Menschen in Altenhain haben nicht auf weitere Anordnungen gewartet, sondern selbst gehandelt. Und dann tauchte auch noch Amelie auf und stellte auf eigene Faust Nachforschungen an, mit denen sie ungewollt das halbe Dorf unter Zugzwang setzte. Und Sie hatten längst nicht mehr genug Macht, um die Lawine aufzuhalten, die mit Tobias' Rückkehr losgetreten worden war.«

Terlindens Miene verfinsterte sich. Pia verschränkte die Arme und erwiderte seinen erbosten Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie hatte mit absoluter Präzision seinen wunden Punkt getroffen.

»Wenn Amelie und Thies sterben«, sagte sie mit drohendem Unterton, »dann tragen Sie ganz allein die Verantwortung dafür!«

»Wo können die beiden sein?«, ließ sich Bodenstein vernehmen. »Wo ist Frau Dr. Lauterbach?«

»Ich weiß es nicht«, knirschte Claudius Terlinden zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Ich weiß es verdammt noch mal wirklich nicht!«

Die tiefhängenden, dunkelgrauen Wolken über dem Taunus versprachen Schnee. In den letzten vierundzwanzig Stunden waren die Temperaturen um beinahe zehn Grad gefallen. Diesmal würde der Schnee liegen bleiben. Pia fuhr in Königstein durch die Fußgängerzone, ohne sich um die verärgerten Blicke der wenigen Passanten zu kümmern. Sie parkte vor dem Juweliergeschäft, über dem sich die Praxis von Dr. Daniela Lauterbach befand. Dort hielt eine Arzthelferin mittleren Alters tapfer die Stellung, bediente geduldig das unablässig klingelnde Telefon und vertröstete ungehaltene Patienten, die für den Tag einen Termin vereinbart hatten.

»Frau Dr. Lauterbach ist nicht da«, antwortete sie auf Bodensteins Frage. »Ich kann sie telefonisch nicht erreichen.«

»Auf dem Kongress in München ist sie aber auch nicht.«

»Nein, der war ja auch nur am Wochenende.« Die Frau hob hilflos die Hände, als das Telefon wieder klingelte. »Eigentlich wollte sie heute wieder da sein. Sie sehen ja, was hier los ist!«

»Wir vermuten, dass sie sich abgesetzt hat«, sagte Bodenstein. »Sie ist wahrscheinlich für das Verschwinden von zwei Menschen verantwortlich und weiß, dass wir ihr auf der Spur sind.«

Die Arzthelferin schüttelte mit großen Augen den Kopf.

»Aber das kann nicht sein!«, widersprach sie. »Ich arbeite seit zwölf Jahren für die Frau Doktor. Sie würde niemals einem Menschen Schaden zufügen. Ich meine, ich … ich kenne sie doch.«

»Wann haben Sie Frau Dr. Lauterbach das letzte Mal gesehen oder mit ihr gesprochen? Hat sie sich in den letzten Tagen irgendwie anders verhalten als sonst, oder war sie öfter weg?« Bodenstein warf einen Blick auf das Namensschildchen an der rechten Brusttasche des gestärkten weißen Kittels. »Frau Wiesmeier, bitte denken Sie nach! Ihre Chefin hat womöglich einen Fehler gemacht, obwohl sie es gut gemeint hat. Sie können ihr jetzt helfen, bevor etwas Schlimmeres geschieht.«

Die persönliche Ansprache und der dringliche Unterton in Bodensteins Stimme zeigten Wirkung. Waltraud Wiesmeier dachte so scharf nach, dass sich ihre Stirn in Falten legte.

»Ich habe mich gewundert, dass Frau Dr. Lauterbach letzte Woche alle Besichtigungstermine für die Villa von Frau Scheithauer abgesagt hat«, sagte sie nach einer Weile. »Sie hatte sich monatelang sehr bemüht, einen Käufer für den alten Kasten zu finden, und endlich gab es einen Interessenten, der am Donnerstag aus Düsseldorf kommen wollte. Aber ich musste ihm und zwei Maklern telefonisch absagen. Das war seltsam.«

»Was ist das für ein Haus?«

»Eine alte Villa im Grünen Weg mit Blick auf das Woogtal. Frau Scheithauer war eine langjährige Patientin. Sie hatte keine Erben, und als sie im April gestorben ist, hat sie ihr Vermögen einer Stiftung hinterlassen und Frau Dr. Lauterbach die Villa.« Sie lächelte verlegen. »Ich glaube, andersherum wäre es der Chefin lieber gewesen.«

»… erklärte ein Sprecher des Kultusministeriums auf einer Pressekonferenz heute Morgen den überraschenden Rücktritt von Kultusminister Gregor Lauterbach mit persönlichen Gründen …«, klang die Stimme des Nachrichtensprechers aus dem Autoradio, als Pia vom Ölmühlweg in den Grünen Weg einbog. Langsam fuhr sie an den Neubauten vorbei und bog in eine Stichstraße ein, die vor einem großen, schmiedeeisernen Tor endete.

»Aus der Staatskanzlei wurde bisher noch nicht offiziell Stellung genommen. Der Regierungssprecher …«

»Das muss es sein!« Bodenstein öffnete den Sicherheitsgurt und stieg aus, kaum dass Pia angehalten hatte. Das Tor war mit einer Kette und einem nagelneu aussehenden Vorhängeschloss zusätzlich gesichert, von der Villa war nur das Dach zu sehen. Pia rüttelte an den Gitterstäben, wandte den Blick nach links und nach rechts. Die Mauer war zwei Meter hoch und mit eisernen Spitzen bewehrt.

»Ich rufe einen Schlosser und Verstärkung.« Bodenstein zog sein Handy hervor. Sollte sich Daniela Lauterbach in der Villa aufhalten, war damit zu rechnen, dass sie sich nicht kampflos ergeben würde. Pia ging unterdessen an der Mauer des weitläufigen Anwesens entlang, stieß aber nur auf ein verschlossenes Törchen, das von dornigem Gestrüpp überwuchert war. Minuten später traf ein Schlosser ein; zwei Streifenwagen vom Königsteiner Revier hielten weiter oben in der Straße, die Beamten kamen zu Fuß näher.

»Die Villa steht seit ein paar Jahren leer«, wusste einer der Beamten. »Die alte Frau Scheithauer lebte im Rosenhof in Kronberg. Sie war weit über neunzig, als sie im April gestorben ist.«

»Und dann hat sie das ganze Anwesen ihrer Ärztin vermacht«, bemerkte Pia. »Wieso haben manche Leute nur so ein Glück?«

Der Schlosser hatte seinen Job getan und wollte wieder gehen, aber Bodenstein bat ihn, noch einen Moment zu warten. Die ersten winzigen Schneeflocken rieselten herab, als sie die geschotterte Auffahrt hinabgingen. Die Burgruine gegenüber war in den Wolken verschwunden, es war, als hätte die ganze Welt ringsum aufgehört, zu existieren. Ein weiterer Streifenwagen überholte sie im Schritttempo und blieb vor dem Eingangsportal stehen. Auch die Haustür war verschlossen, der Schlosser machte sich ans Werk.

»Hört ihr das?«, fragte Pia, die Augen und Ohren wie ein Luchs hatte. Bodenstein lauschte, aber er hörte nur das Rauschen des Windes in den hohen Tannen vor der Villa. Er schüttelte den Kopf. Die Tür ging auf, er trat in eine große, düstere Eingangshalle. Es roch unbewohnt und muffig.

»Hier ist niemand«, stellte er enttäuscht fest. Pia ging an ihm vorbei und drückte auf den Lichtschalter. Es tat einen Knall, Funken sprühten aus dem Schalter, und die beiden Kollegen vom Königsteiner Revier griffen nach ihren Waffen. Bodensteins Herz klopfte bis zum Hals.

»Nur ein Kurzschluss«, sagte Pia. »Entschuldigung.«

Sie gingen weiter von Raum zu Raum. Die Möbel waren mit weißen Laken abgedeckt, die Schlagläden vor den hohen Fenstern geschlossen. Bodenstein durchquerte den großen Raum, der sich links an die Eingangshalle anschloss. Der Parkettfußboden knarrte unter seinen Schritten. Er zog die klammen, mottenzerfressenen Samtvorhänge zur Seite, aber es wurde kaum heller.

»Da rauscht doch was«, sagte Pia von der Tür aus. »Seid doch mal leise!«

Die Beamten verstummten. Und tatsächlich, jetzt hörte Bodenstein es auch. Unten im Keller rauschte Wasser. Er ging zurück, folgte Pia bis zu einer Tür unterhalb der geschwungenen Freitreppe.

»Habt ihr zufällig eine Taschenlampe dabei?«, fragte sie und wollte die Tür öffnen, aber die bewegte sich nicht um einen Millimeter. Einer der Streifenpolizisten reichte Pia eine Stablampe.

»Ist nicht abgeschlossen und geht trotzdem nicht auf.« Pia bückte sich und leuchtete auf den Boden. »Schaut mal hier! Da hat jemand Silikon in die Türritze geklebt. Wieso das denn wohl?«

Der Königsteiner Kollege ging auf die Knie und ritzte mit seinem Taschenmesser das Silikon auf. Pia rüttelte an der Tür, bis sie aufsprang. Das Rauschen wurde lauter. Fünf oder sechs flinke Schatten huschten an ihr vorbei und verschwanden in den Tiefen des Hauses. »Ratten!« Bodenstein machte einen Satz nach hinten und prallte so heftig gegen den Streifenbeamten, dass dieser fast zu Boden gegangen wäre.

»Deswegen müssen Sie mich ja nicht gleich k.o. schlagen«, beschwerte sich der uniformierte Kollege. »Sie können jetzt auch von meinem Fuß runtergehen.«

Pia hörte ihnen nicht zu. Sie war in Gedanken ganz woanders.

»Wieso wurde die Kellertür mit Silikon abgedichtet?«, fragte sie sich laut, als sie die Treppe hinunterstieg und dabei mit der Taschenlampe vorausleuchtete. Nach zehn Stufen blieb sie wie angewurzelt stehen.

»Scheiße!«, fluchte sie. Sie stand bis an die Knöchel im eisigen Wasser. »Ein Wasserrohrbruch! Deshalb auch der Kurzschluss. Wahrscheinlich sitzt der Stromkasten unten.«

»Ich rufe beim Wasserwerk an«, sagte einer der Königsteiner Polizisten. »Die müssen die Hauptwasserleitung abdrehen.«

»Und am besten alarmieren Sie auch gleich die Feuerwehr.« Bodenstein hielt argwöhnisch Ausschau nach weiteren Ratten. »Komm, Pia. Die Lauterbach ist nicht hier.«

Pia hörte nicht auf ihn. In ihrem Kopf schrillten alle Alarmglocken. Das Haus stand leer und gehörte Daniela Lauterbach, die in der vergangenen Woche plötzlich lang geplante Besichtigungstermine mit potentiellen Käufern abgesagt hatte. Und das nicht deshalb, weil sie selbst sich in diesem Haus verstecken wollte! Da ihre Schuhe und ihre Hose ohnehin schon nass waren, ging Pia die Treppe weiter hinunter. Das Wasser gluckerte, die Kälte traf sie wie ein Schock.

»Was tust du denn da?«, rief Bodenstein ihr nach. »Komm da raus!«

Pia bückte sich und leuchtete um die Ecke in die Dunkelheit. Das Wasser reichte knapp einen Viertelmeter unter die Kellerdecke. Pia ging noch eine Stufe hinunter, klammerte sich mit einer Hand am Geländer fest. Jetzt stand sie bis an die Hüften im Wasser.

»Amelie!«, rief sie mit klappernden Zähnen. »Amelie? Hallo?«

Sie hielt den Atem an und lauschte angestrengt, die Kälte trieb ihr die Tränen in die Augen. Plötzlich erstarrte sie. Ein Adrenalinstoß zuckte so heftig durch ihren Körper, als habe man ihr einen Stromschlag versetzt.

»Hilfe!«, tönte es über das gleichmäßige Rauschen des Wassers. »Hilfe! Wir sind hier!«

Ungeduldig rauchend ging Pia in der Eingangshalle auf und ab. Sie spürte die nassen Kleider und Schuhe kaum, so aufgeregt war sie. Bodenstein zog es vor, im Schneefall vor dem Haus zu warten, bis der überflutete Keller endlich zugänglich war. Der Gedanke, sich mit einer Armada von Ratten unter einem Dach aufhalten zu müssen, verursachte ihm Unbehagen. Das Wasserwerk hatte die Hauptwasserleitung abgestellt, und die Männer der Königsteiner Freiwilligen Feuerwehr pumpten mit allen verfügbaren Schläuchen das Wasser aus dem Keller hangabwärts in den zugewucherten Park. Dank eines Notaggregates gab es Licht. Drei Notarztwagen waren eingetroffen, die Polizei hatte das Grundstück abgesperrt.

»Alle Lichtschächte, durch die das Wasser hätte ablaufen können, sind verstopft und mit Silikon abgedichtet worden«, berichtete der Einsatzleiter der Feuerwehr. »Unglaublich.«

Aber wahr. Es gab für Bodenstein und Pia keinen Zweifel, wer das getan hatte.

»Wir können reingehen!«, verkündete einer der Feuerwehrleute, der wie zwei seiner Kollegen eine wasserdichte Hose trug, die ihm bis zum Bauchnabel reichte.

»Ich gehe mit!« Pia warf ihre Zigarette achtlos auf den Parkettfußboden und trat sie aus.

»Nein, bleib hier!«, rief Bodenstein von der Tür aus. »Du holst dir doch den Tod!«

»Ziehen Sie wenigstens Gummistiefel an.« Der Einsatzleiter wandte sich um. »Warten Sie, ich hole Ihnen welche.«

Fünf Minuten später folgte Pia den drei Feuerwehrleuten durch das noch immer kniehoch stehende Wasser durch den Keller. Im Licht der Handscheinwerfer öffneten sie eine Tür nach der anderen, bis sie die richtige gefunden hatten. Pia drehte den Schlüssel im Schloss und drückte gegen die Tür, die mit einem durchdringenden Quietschen nach innen aufschwang. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen, und sie bekam vor Erleichterung weiche Knie, als der Lichtkegel des Scheinwerfers in ein blasses, schmutziges Mädchengesicht leuchtete. Amelie Fröhlich blinzelte geblendet. Pia stolperte die beiden Treppenstufen hinunter in den tiefer gelegenen Raum, breitete die Arme aus und zog das hysterisch schluchzende Mädchen an sich.

»Ganz ruhig«, murmelte sie und streichelte das verfilzte Haar. »Jetzt wird alles gut, Amelie. Du musst keine Angst mehr haben.«

»Aber … aber Thies«, stieß Amelie hervor. »Ich … ich glaube, er ist tot!«

Die Erleichterung bei allen Mitarbeitern der Regionalen Kriminalinspektion war gewaltig. Amelie Fröhlich hatte die zehn Tage im Keller der alten Villa in Königstein ohne größere Verletzungen überstanden. Sie war erschöpft, dehydriert und abgemagert, würde aber von den schrecklichen Erlebnissen in physischer Hinsicht keine Schäden zurückbehalten. Man hatte sie und Thies ins Krankenhaus gebracht. Um Terlindens Sohn stand es nicht so gut. Er war in sehr schlechter körperlicher Verfassung und litt unter starken Entzugserscheinungen. Bodenstein und Pia fuhren nach der Besprechung im K 11 ins Krankenhaus nach Bad Soden und staunten nicht schlecht, als ihnen im Foyer Hartmut Sartorius und sein Sohn Tobias begegneten.

»Meine Exfrau ist aus dem Koma erwacht«, erklärte Sartorius. »Wir konnten eben kurz mit ihr sprechen. Es geht ihr den Umständen entsprechend gut.«

»Ach, das ist ja schön.« Pia lächelte. Ihr Blick fiel auf Tobias, der um Jahre gealtert wirkte. Er sah krank aus, unter seinen Augen lagen Schatten.

»Wo sind Sie gewesen?«, wandte sich Bodenstein an Tobias Sartorius. »Wir haben uns große Sorgen um Sie gemacht.«

»Nadja hat ihn auf einer Berghütte in der Schweiz zurückgelassen«, erklärte Hartmut Sartorius an dessen Stelle. »Mein Sohn ist zu Fuß durch den Schnee bis ins nächste Dorf gelaufen.«

Er legte seine Hand auf Tobias' Arm.

»Ich kann noch immer nicht fassen, dass ich mich so in Nadja geirrt haben soll.«

»Wir haben Frau von Bredow verhaftet«, sagte Bodenstein. »Und Gregor Lauterbach hat gestanden, dass er Stefanie Schneeberger erschlagen hat. Wir werden in den nächsten Tagen eine Wiederaufnahme der Verfahren gegen Sie beantragen. Sie werden freigesprochen.«

Tobias Sartorius zuckte nur mit den Schultern. Es war ihm offenbar gleichgültig. Die verlorenen zehn Jahre und den Ruin seiner Familie würde auch kein nachträglicher Freispruch wiedergutmachen.

»Laura hat noch gelebt, als die drei Jungen sie in den Bodentank geworfen haben«, fuhr Bodenstein fort. »Als sie Skrupel bekamen und das Mädchen wieder herausholen wollten, hat Lutz Richter das verhindert, indem er den Tank mit Erde bedeckt hat. Er war es auch, der in Altenhain eine Bürgerwehr gegründet und dafür gesorgt hat, dass alle ihren Mund hielten.«

Tobias reagierte nicht, aber sein Vater wurde leichenblass.

»Lutz?«

»Ja.« Bodenstein nickte. »Richter hat auch den Überfall auf Ihren Sohn in der Scheune organisiert, und er und seine Frau stecken hinter den Schmierereien an Ihrem Haus und den anonymen Briefen. Sie wollten mit allen Mitteln verhindern, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Als wir seinen Sohn verhaftet haben, hat Richter sich in den Kopf geschossen. Er liegt noch im Koma, aber er wird überleben und dann zur Rechenschaft gezogen werden.«

»Und Nadja?«, flüsterte Hartmut Sartorius. »Hat sie das etwa alles gewusst?«

»Allerdings«, erwiderte Bodenstein. »Sie war Augenzeugin, als Lauterbach Stefanie erschlagen hat. Und sie hatte zuvor ihren Freunden befohlen, Laura in den Tank zu werfen. Sie hätte Tobias' Verurteilung abwenden können, aber sie hat geschwiegen. Elf Jahre lang. Als er aus dem Gefängnis kam, wollte sie mit allen Mitteln verhindern, dass er nach Altenhain zurückkehrt.«

»Aber warum?« Die Stimme von Tobias klang heiser. »Ich verstehe das nicht. Sie … sie hat mir immer geschrieben, auf mich gewartet und …«

Er verstummte, schüttelte den Kopf.

»Nadja war in Sie verliebt«, erwiderte Pia. »Aber Sie haben sie immer wieder zurückgewiesen. Es kam ihr nur gelegen, dass Laura und Stefanie von der Bildfläche verschwanden. Wahrscheinlich rechnete sie nicht damit, dass man Sie tatsächlich verurteilen würde. Als es geschah, beschloss sie, auf Sie zu warten und Sie auf diese Weise für sich zu gewinnen. Aber dann tauchte Amelie auf. Nadja empfand sie als Konkurrenz, vor allem aber als echte Bedrohung, denn Amelie hatte ja offenbar etwas herausgefunden. Sie hat sich als Polizistin verkleidet, um bei Fröhlichs nach den Bildern von Thies zu suchen.«

»Ja, ich weiß. Aber sie hat sie nicht gefunden«, sagte Tobias.

»O doch, das hat sie«, antwortete Bodenstein. »Allerdings hat sie die Bilder vernichtet, denn Sie hätten sofort erkannt, dass Nadja Sie angelogen hatte.«

Tobias starrte Bodenstein fassungslos an. Er schluckte mühsam, als er die gewaltige Dimension von Nadjas Lügen und Täuschungen erfasste. Das war beinahe mehr, als er verkraften konnte.

»Jeder in Altenhain hat die Wahrheit gewusst«, fuhr Pia fort. »Claudius Terlinden hat geschwiegen, um seinen Sohn Lars und seinen Namen zu schützen. Weil er ein schlechtes Gewissen hatte, hat er Sie und Ihre Eltern finanziell unterstützt und …«

»Das war nicht der einzige Grund«, unterbrach Tobias sie. In seine starren Gesichtszüge kehrte das Leben zurück, er warf seinem Vater einen Blick zu. »Aber jetzt kapiere ich langsam alles. Ihm ging es nur um seine Macht und um …«

»Um was?«

Tobias schüttelte nur stumm den Kopf.

Hartmut Sartorius schwankte. Die Wahrheit über seine Nachbarn und ehemaligen Freunde war für ihn niederschmetternd. Das ganze Dorf hatte geschwiegen und gelogen und aus egoistischen Beweggründen ungerührt dabei zugesehen, wie seine Existenz, seine Ehe, sein guter Ruf, ja sein ganzes Leben ruiniert worden waren. Er ließ sich auf einen der Plastikstühle an der Wand sinken und vergrub das Gesicht in den Händen. Tobias setzte sich neben ihn und legte den Arm um die Schultern seines Vaters.

»Aber wir haben auch noch gute Nachrichten.« Bodenstein fiel erst jetzt wieder ein, weshalb er und Pia ins Krankenhaus gekommen waren. »Eigentlich waren wir gerade auf dem Weg zu Amelie Fröhlich und Thies Terlinden. Wir haben die beiden heute Mittag im Keller eines Hauses in Königstein gefunden. Frau Dr. Lauterbach hatte sie entführt und dort versteckt.«

»Amelie lebt?« Tobias richtete sich wie elektrisiert auf. »Geht es ihr gut?«

»Ja. Kommen Sie doch mit. Amelie wird sich freuen, Sie zu sehen.«

Tobias zögerte einen Moment, aber dann erhob er sich. Auch sein Vater blickte auf und lächelte zaghaft. Aber Sekunden später erlosch das Lächeln, seine Miene verzerrte sich vor Hass und Zorn. Er sprang auf und schoss mit einer Schnelligkeit, die Pia überraschte, auf einen Mann zu, der eben das Foyer des Krankenhauses betreten hatte.

»Nein, Papa! Nein!«, hörte sie Tobias' Stimme, erst dann erkannte sie in dem Mann Claudius Terlinden, begleitet von seiner Frau und dem Ehepaar Fröhlich. Offenbar waren sie auf dem Weg zu ihren Kindern. Hartmut Sartorius packte Terlinden am Hals und würgte ihn, Christine Terlinden, Arne und Barbara Fröhlich standen wie gelähmt daneben.

»Du Schwein!«, knirschte Sartorius voller Hass. »Du dreckiges, hinterhältiges Schwein! Du hast meine Familie auf dem Gewissen!«

Claudius Terlinden war rot angelaufen, er ruderte verzweifelt mit den Armen, trat nach seinem Angreifer. Bodenstein erfasste die Situation und setzte sich in Bewegung, auch Pia wollte eingreifen, wurde aber von Tobias grob zur Seite gestoßen. Sie prallte gegen Barbara Fröhlich, verlor das Gleichgewicht und stürzte. Leute blieben gaffend stehen. Tobias hatte seinen Vater erreicht und wollte dessen Arm ergreifen, aber in diesem Moment gelang es Claudius Terlinden, sich aus der Umklammerung zu befreien; die Todesangst verlieh ihm übermenschliche Kräfte. Er stieß Sartorius von sich. Pia kam wieder auf die Beine und sah wie in Zeitlupe, wie Hartmut Sartorius durch den heftigen Stoß stolperte und rückwärts in eine offenstehende Feuerschutztür krachte. Tobias begann zu schreien und warf sich über seinen Vater. Plötzlich war überall Blut. Pia erwachte aus ihrer Schreckstarre. Sie zerrte Barbara Fröhlich den Schal vom Hals, kniete sich ungeachtet der Blutlache, die rasch zu einem See wurde, neben Sartorius und presste in der verzweifelten Hoffnung, die heftige Blutung irgendwie stoppen zu können, den hellblauen Paschminaschal gegen die klaffende Wunde an Sartorius' Hinterkopf. Die Beine des Mannes zuckten krampfartig, er röchelte gurgelnd.

»Ein Arzt! Schnell!«, schrie Bodenstein. »Verdammt, hier muss doch irgendwo ein Arzt sein!«

Claudius Terlinden kroch hustend und würgend ein Stück zur Seite, die Hände um seinen Hals gelegt. Die Augen quollen ihm aus dem Kopf.

»Das hab ich nicht gewollt«, stammelte er immer wieder. »Das … das wollte ich nicht. Es war … es war ein Unfall …«

Pia hörte Schritte und Geschrei wie aus weiter Ferne. Ihre Jeans, ihre Hände, ihre Jacke waren voller Blut. Weiße Schuhe und Hosenbeine tauchten in ihrem Gesichtsfeld auf.

»Gehen Sie zur Seite!«, rief jemand. Sie rutschte ein Stück zurück, blickte auf und begegnete Bodensteins Blick. Es war zu spät. Hartmut Sartorius war tot.

»Ich konnte nichts machen.« Pia schüttelte schockiert den Kopf. »Es ging alles so rasend schnell.«

Sie zitterte noch immer am ganzen Körper und konnte die Cola, die Bodenstein ihr in die blutverschmierten Hände gedrückt hatte, kaum festhalten.

»Mach dir keine Vorwürfe«, erwiderte Bodenstein.

»Tue ich aber, verdammt. Wo ist Tobias?«

»Er war eben noch da.« Bodenstein blickte sich suchend um. Das Foyer war abgesperrt, dennoch wimmelte es von Menschen. Polizisten, Ärzte mit angespannten, schockierten Mienen und die Beamten vom Erkennungsdienst in ihren weißen Overalls sahen zu, wie gerade die Leiche von Hartmut Sartorius in einen Zinksarg gehoben wurde. Jede Hilfe war für Tobias' Vater zu spät gekommen. Er war nach dem Stoß, den Claudius Terlinden ihm versetzt hatte, offenbar so unglücklich gegen die Glastür gefallen, dass seine Schädeldecke zertrümmert worden war. Niemand hätte dem Mann mehr helfen können.

»Bleib hier sitzen.« Bodenstein legte Pia kurz seine Hand auf die Schulter und erhob sich. »Ich schaue mal nach Tobias und kümmere mich um ihn.«

Pia nickte und starrte auf das klebrige, getrocknete Blut an ihren Händen. Sie richtete sich auf, atmete tief ein und aus. Allmählich beruhigte sich ihr Herzschlag und sie konnte wieder klar denken. Ihr Blick fiel auf Claudius Terlinden, der zusammengesunken auf einem Stuhl saß und ins Leere stierte, vor ihm eine Polizistin, die offenbar versuchte, ein Protokoll der Geschehnisse aufzunehmen. Der Tod von Hartmut Sartorius war ein Unfall, daran gab es keinen Zweifel. Terlinden hatte in Notwehr und ohne Tötungsabsicht gehandelt, dennoch schien er allmählich zu begreifen, welche Schuld auf seinen Schultern lastete. Eine junge Ärztin ging vor Pia in die Hocke.

»Soll ich Ihnen etwas zur Beruhigung geben?«, fragte sie besorgt.

»Nein, ich bin okay«, erwiderte Pia. »Aber kann ich mir vielleicht irgendwo die Hände waschen?«

»Ja klar. Kommen Sie mit.«

Pia folgte der Ärztin mit zittrigen Knien. Sie hielt nach Tobias Sartorius Ausschau, sah ihn aber nirgendwo. Wo war er? Wie konnte er dieses entsetzliche Ereignis, den Anblick seines sterbenden Vaters, verkraften? Pia konnte eigentlich auch in Krisensituationen recht gut Distanz und einen kühlen Kopf bewahren, aber das Schicksal von Tobias Sartorius erschütterte sie zutiefst. Nach und nach hatte er alles verloren, was ein Mensch nur verlieren kann.

»Tobi!« Amelie richtete sich in ihrem Bett auf und lächelte ungläubig. So oft hatte sie an ihn gedacht in den letzten schrecklichen Tagen und Nächten, sie hatte in Gedanken mit ihm geredet, sich immer wieder ausgemalt, wie es sein würde, ihn wiederzusehen. Die Erinnerung an die Wärme in seinen meerblauen Augen hatte sie davon abgehalten, verrückt zu werden, und nun stand er leibhaftig vor ihr. Ihr Herz tat vor Glück einen wilden Satz. »Oh, das freut mich ja, dass du mich besuchen kommst! Ich hab so viel …«

Ihr Lächeln erlosch, als sie im Halbdunkel Tobias' verstörten Gesichtsausdruck bemerkte. Er schloss die Tür des Krankenzimmers hinter sich, kam mit unsicheren Schritten näher und blieb am Fußende ihres Bettes stehen. Er sah entsetzlich aus, totenbleich, mit blutunterlaufenen Augen. Amelie ahnte, dass etwas Furchtbares geschehen sein musste.

»Was ist passiert?«, fragte sie leise.

»Mein Vater ist tot«, flüsterte er heiser. »Es ist eben gerade … unten … im Foyer passiert. Der Terlinden kam uns entgegen … und mein Vater … und er …«

Er verstummte. Sein Atem ging stoßweise, er presste seine Faust gegen den Mund und kämpfte um Selbstbeherrschung. Vergeblich.

»O Gott.« Amelie starrte ihn entsetzt an. »Aber wie … ich meine, warum …«

Tobias verzog das Gesicht zu einer Grimasse, er krümmte sich zusammen, seine Lippen zitterten.

»Papa hat sich auf dieses … Schwein gestürzt.« Seine Stimme war tonlos. »Und er hat ihn … gegen eine Glastür gestoßen …«

Er brach ab. Die Tränen strömten über sein eingefallenes Gesicht. Amelie warf die Bettdecke zurück und streckte die Arme nach ihm aus. Tobias sackte schwer auf den Rand ihres Bettes und ließ zu, dass Amelie ihn an sich zog. Er presste sein Gesicht an ihren Hals, sein Körper wurde von wildem, verzweifeltem Schluchzen geschüttelt. Amelie hielt ihn ganz fest. Die Kehle wurde ihr eng, als sie begriff, dass Tobias außer ihr keinen Menschen mehr auf dieser Welt hatte, zu dem er gehen, dem er seinen grenzenlosen Kummer mitteilen konnte.

Tobias Sartorius war spurlos aus dem Krankenhaus verschwunden. Bodenstein hatte eine Streife zum Haus seiner Eltern geschickt, aber dort war er bisher nicht aufgetaucht. Claudius Terlinden war mit seiner Frau nach Hause gefahren. Ihn traf keine unmittelbare Schuld an Sartorius' Tod, es war ein Unfall gewesen, ein unglücklicher Zufall mit tragischem Ausgang. Bodenstein warf einen Blick auf die Uhr. Heute war Montag, also würde Cosima bei ihrer Mutter sein. Die Bridge-Abende im Hause Rothkirch waren ein verlässliches, jahrzehntealtes Ritual, er konnte also ziemlich sicher sein, ihr nicht zu begegnen, wenn er sich frische Kleider holte, bevor er zurück aufs Kommissariat fuhr. Schmutzig und verschwitzt, sehnte er sich nach einer ausgiebigen Dusche.

Zu seiner Erleichterung lag das Haus im Dunkeln, nur die kleine Lampe auf der Anrichte im Eingang brannte. Der Hund begrüßte ihn mit überschwenglicher Freude. Bodenstein streichelte ihn und blickte sich um. Alles wirkte so normal und war so schmerzlich vertraut, aber er wusste, dass er hier nicht mehr zu Hause war. Bevor er sentimental werden konnte, ging er entschlossen die Treppe hoch zum Schlafzimmer. Er machte Licht und erschrak, als er Cosima erblickte, die im Sessel am Fenster saß. Sein Herz machte unvermittelt ein paar schnelle Schläge.

»Warum sitzt du hier im Dunkeln?«, fragte er, weil ihm nichts Besseres einfiel.

»Ich wollte in Ruhe nachdenken.« Sie blinzelte in die Helligkeit, stand auf und trat hinter den Sessel, als wolle sie vor ihm Schutz suchen.

»Es tut mir leid, dass ich heute Morgen so die Beherrschung verloren habe«, begann Bodenstein nach kurzem Zögern. »Es … war alles ein bisschen viel für mich.«

»Schon gut. Ich bin ja selbst schuld dran«, erwiderte Cosima. Sie sahen sich stumm an, bis das Schweigen unbehaglich wurde.

»Ich bin nur gekommen, um mir ein paar Kleider zu holen«, sagte Bodenstein und verließ das Schlafzimmer. Wie konnte es sein, dass man für einen Menschen, für den man über fünfundzwanzig Jahre nichts als Zuneigung verspürt hatte, plötzlich überhaupt nichts mehr empfand? War es Selbsttäuschung, eine Art seelischer Schutzmechanismus – oder schlicht und einfach der Beweis dafür, dass seine Gefühle für Cosima längst nur noch bloße Gewohnheit gewesen waren? Bei den vielen kleinen Streitereien in den vergangenen Wochen und Monaten war jedes Mal ein Stückchen Zuneigung zu Bruch gegangen. Bodenstein wunderte sich über die Nüchternheit, mit der er die Situation analysierte. Er öffnete den Einbauschrank im Flur und betrachtete nachdenklich die Koffer, die dort standen. Er wollte keinen der Koffer mitnehmen, die Cosima schon rund um die Welt begleitet hatten. Deshalb entschied er sich für zwei eingestaubte, aber nagelneue Hartschalenkoffer, die Cosima zu sperrig fand. Als er an der Tür von Sophias Zimmer vorbeiging, hielt er inne. Für einen kurzen Blick auf die Kleine sollte Zeit genug sein. Er stellte die Koffer ab und betrat das Zimmer, das von einem Lämpchen neben dem Bett erhellt wurde. Sophia schlief friedlich, das Däumchen im Mund, umgeben von ihren Stofftieren. Bodenstein betrachtete seine jüngste Tochter und seufzte. Er beugte sich über das Bett, streckte die Hand aus und berührte leicht das schlafwarme Gesicht des Kindes.

»Es tut mir leid, meine Süße«, flüsterte er leise. »Aber selbst dir zuliebe kann ich nicht so tun, als wäre nichts geschehen.«

Wie diese Polizistin mitten in der riesigen Blutlache gekniet hatte, diesen Anblick würde Tobias niemals mehr vergessen. Er hatte gespürt, dass sein Vater tot war, noch bevor jemand dieses endgültigste aller Wörter ausgesprochen hatte. Wie versteinert hatte er dagestanden, taub und gefühllos, hatte sich von Ärzten, Sanitätern, Polizisten zur Seite drängen lassen. In seinem Inneren war nach all den schrecklichen Nachrichten kein Platz mehr für irgendein Gefühl. Wie bei einem Schiff, das mit Wasser vollgelaufen war, hatten sich die letzten schützenden Schotts geschlossen, um zu verhindern, dass es sank.

Tobias hatte das Krankenhaus verlassen und war losgelaufen. Niemand hatte versucht, ihn aufzuhalten. Er war quer durch den dunklen Eichwald marschiert, und die Kälte hatte allmählich Klarheit in das Durcheinander seiner Gedanken gebracht. Nadja, Jörg, Felix, Papa. Alle hatten ihn verlassen, verraten oder enttäuscht, es gab niemanden mehr, zu dem er gehen konnte. In das starre Grau seiner Hilflosigkeit mischten sich grellrote Sprenkel des Zorns. Mit jedem Schritt, den er machte, wuchs sein Groll auf die Leute, die sein Leben zerstört hatten, drückte ihm die Luft ab und ließ ihn keuchend innehalten. Sein Herz schrie nach Rache für all das, was man ihm und seinen Eltern angetan hatte. Er hatte nichts mehr zu verlieren, gar nichts mehr. In seinem Kopf fanden immer mehr lose Enden zusammen, plötzlich ergab alles einen Sinn. Ihm wurde schlagartig bewusst, dass er nach dem Tod seines Vaters wohl der Letzte war, der das Geheimnis von Claudius Terlinden und Daniela Lauterbach kannte. Tobias ballte die Hände zu Fäusten, als er sich an das Ereignis vor zwanzig Jahren erinnerte, das zu vertuschen sein Vater den beiden geholfen hatte.

Er war damals sieben oder acht Jahre alt gewesen und hatte wie so häufig den Abend im Nebenraum der Gaststätte verbracht. Seine Mutter war nicht da gewesen, deshalb hatte niemand daran gedacht, ihn ins Bett zu schicken. Irgendwann war er auf dem Sofa aufgewacht, es war mitten in der Nacht gewesen. Er war aufgestanden, zur Tür geschlichen und hatte ein Gespräch mit angehört, das er sich nicht hatte erklären können. Am Tresen hatten nur noch Claudius Terlinden und der alte Dr. Fuchsberger gesessen, der beinahe jeden Abend im Goldenen Hahn zu Abend aß. Tobias hatte schon oft genug Betrunkene gesehen, um zu erkennen, dass der ehrwürdige Notar Dr. Herbert Fuchsberger sternhagelvoll war.

»Was ist denn schon dabei?«, hatte Claudius Terlinden gesagt und dem Vater ein Zeichen gegeben, das Glas des Notars erneut zu füllen. »Meinem Bruder kann es doch wurscht sein, er ist tot.«

»Ich komme in Teufels Küche«, hatte Fuchsberger undeutlich genuschelt. »Wenn das rauskommt!«

»Wie soll das denn rauskommen? Es weiß doch niemand, dass der Willi sein Testament geändert hat.«

»Nein, nein, nein! Das kann ich nicht machen«, hatte Fuchsberger gejammert.

»Ich erhöhe den Einsatz«, hatte Terlinden erwidert. »Nein, ich verdopple ihn. Hunderttausend. Ist das nichts?«

Tobias hatte gesehen, wie Terlinden seinem Vater zugezwinkert hatte. So war es noch eine Weile weitergegangen, bis der alte Mann irgendwann nachgegeben hatte.

»Gut«, hatte er gesagt. »Aber du bleibst hier. Ich will nicht, dass dich einer zufällig in meiner Kanzlei sieht.«

Daraufhin war Tobias' Vater mit Dr. Fuchsberger im Schlepptau verschwunden, Claudius Terlinden hatte am Tresen die Stellung gehalten. Tobias hätte wohl nie verstanden, um was es an diesem Abend gegangen war, wenn er nicht Jahre später im Büro seines Vaters auf der Suche nach einer Deckungskarte für die Versicherung im Tresor ein Testament gefunden hätte. Er hatte sich nur kurz gewundert, weshalb das Testament von Wilhelm Terlinden im Tresor seines Vaters lag, aber die Zulassung seines ersten eigenen Autos war ungleich wichtiger gewesen. All die Jahre über hatte Tobias nicht mehr daran gedacht, es verdrängt und schließlich vergessen, aber als ob der Schock über den Tod seines Vaters eine geheime Kammer in seinem Gehirn geöffnet hätte, war plötzlich alles wieder präsent.

»Wo fahren wir hin?«

Amelies Stimme riss Tobias aus seinen düsteren Erinnerungen. Er blickte sie an, legte seine Hand auf die ihre, und ihm wurde warm ums Herz. Ihre dunklen Augen waren voll aufrichtiger Sorge um ihn. Ohne das ganze Metall in ihrem Gesicht und diese verrückte Frisur war sie wunderschön. Viel schöner, als Stefanie es jemals gewesen war. Amelie hatte keine Sekunde gezögert, mit ihm heimlich das Krankenhaus zu verlassen, als er gesagt hatte, dass er noch eine offene Rechnung zu begleichen habe. Ihre ruppige, kratzbürstige Art war nur Fassade, das hatte er gleich bei ihrer ersten Begegnung vor der Kirche erkannt. Nachdem man ihn so oft enttäuscht und verraten hatte, war Tobias immer wieder aufs Neue erstaunt über Amelies selbstlose Ehrlichkeit und das Fehlen jeglicher Berechnung.

»Wir fahren kurz zu mir nach Hause, und dann muss ich mit Claudius Terlinden sprechen«, erwiderte er nun. »Aber du bleibst solange im Auto. Ich will nicht, dass dir noch etwas passiert.«

»Ich lass dich doch nicht alleine mit diesem Schwein«, widersprach sie. »Wenn wir zusammen sind, wird er dir schon nichts tun.«

Trotz allem musste Tobias lächeln. Mutig war sie noch obendrein. Eine winzige Hoffnung flackerte in seinem Innern, wie eine Kerze, deren Licht einen Weg durch Nebel und Dunkelheit suchte. Vielleicht gab es ja doch noch eine Zukunft für ihn, wenn das hier alles vorbei war.

Cosima hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Noch immer stand sie hinter dem Sessel und sah nun zu, wie Bodenstein die Koffer öffnete und den Inhalt seines Kleiderschrankes hineinpackte.

»Das hier ist dein Haus«, sagte sie nach einer Weile. »Du musst nicht ausziehen.«

»Das werde ich aber.« Er sah sie nicht an. »Das war unser Haus. Ich will hier nicht mehr wohnen. Ich kann die Wohnung im alten Kutscherhaus auf dem Gut bekommen, sie steht seit einer Weile leer. Das ist die beste Lösung. Wenn du dann weg bist, können meine Eltern oder Quentin und Marie-Louise auf Sophia aufpassen.«

»Das ging ja schnell«, sagte Cosima spitz. »Du hast also schon einen Schlussstrich gezogen.«

Bodenstein seufzte.

»Nein, nicht ich«, entgegnete er. »Das warst du. Ich akzeptiere lediglich deine Entscheidung, wie ich es schon immer getan habe, und versuche, mich mit der neuen Situation zu arrangieren. Du hast dich für einen anderen Mann entschieden, dagegen kann ich nichts tun. Ich habe aber vor, ungeachtet dessen weiterzuleben.«

Für eine Sekunde überlegte er, ob er Cosima von der Liebesnacht mit Nicola erzählen sollte. Er erinnerte sich an einige spitze Bemerkungen, die Cosima über Nicola gemacht hatte, seitdem sie wusste, dass er mit seiner Ex zusammenarbeitete. Aber das wäre niveaulos und billig.

»Alexander und ich arbeiten zusammen«, sagte Cosima gerade. »Ich habe mich nicht für ihn … entschieden.«

Bodenstein fuhr fort, seine Hemden in den Koffer zu schichten.

»Aber vielleicht passt er besser zu dir, als ich es je getan habe.« Er blickte auf. »Warum, Cosima? Haben dir die Abenteuer in deinem Leben so sehr gefehlt?«

»Nein, das nicht.« Cosima zuckte die Schultern. »Es gibt keine vernünftige Erklärung. Und auch keine Entschuldigung. Alex ist mir einfach zum falschen Zeitpunkt über den Weg gelaufen. Ich hatte mich über dich geärgert, auf Mallorca.«

»Und da bist du gleich mit ihm ins Bett gesprungen. Weil du dich über mich geärgert hattest.« Bodenstein schüttelte den Kopf und schloss einen der Koffer. Er richtete sich auf. »Na super.«

»Oliver, bitte schmeiß nicht alles weg.« Cosimas Stimme klang bittend. »Ich habe einen Fehler gemacht, das weiß ich. Es tut mir aufrichtig leid. Aber es gibt so viel, das uns verbindet.«

»Und noch mehr, das uns trennt«, erwiderte er. »Ich werde dir nie mehr vertrauen können, Cosima. Und ohne Vertrauen kann und will ich nicht leben.«

Bodenstein ließ sie stehen und ging ins Badezimmer hinüber. Er schloss die Tür hinter sich, zog sich aus und trat unter die Dusche. Unter dem heißen Wasser lockerten sich seine verkrampften Muskeln, die Anspannung ließ ein wenig nach. Seine Gedanken wanderten zur vergangenen Nacht und zu den vielen Nächten, die in seinem Leben noch kommen würden. Nie wieder würde er wach liegen und sich mit der Sorge quälen müssen, was Cosima auf der anderen Hälfte der Erdhalbkugel gerade tat, ob es ihr gutging oder nicht, ob sie in Gefahr war, einen Unfall hatte oder gar mit einem anderen Kerl im Bett lag. Es überraschte ihn, dass er bei dieser Vorstellung keinerlei Wehmut empfand, nur tiefe Erleichterung. Er musste nicht länger nach Cosimas Spielregeln leben. Und er würde, das nahm er sich in genau diesem Moment fest vor, überhaupt nie wieder nach anderen Spielregeln leben als nach seinen eigenen.

Er hoffte, dass sie nicht zu spät kamen, aber sie hatten kaum eine Viertelstunde im Auto gewartet, als der schwarze Mercedes auftauchte und kurz vor dem spitzenbewehrten Tor der Terlinden-Werke anhielt. Wie von Geisterhand glitt das Tor zur Seite. Die Bremslichter des Mercedes erloschen, er fuhr an und verschwand.

»Schnell jetzt!«, zischte Tobias. Sie sprangen aus dem Auto, rannten los und schafften es gerade noch durch das Tor, bevor es sich wieder schloss. Das Häuschen des Portiers war leer. Nachts bewachten nur die Kameras das Gelände, einen Werkschutz wie früher gab es längst nicht mehr, das hatte Tobias von seinem Kumpel Michael erfahren, der bei Terlinden arbeitete. Gearbeitet hatte, verbesserte er sich in Gedanken. Jetzt saß Michael im Knast, genau wie Jörg und Felix und Nadja.

Leichter Schneefall hatte eingesetzt. Stumm folgten sie den Reifenspuren, die Terlindens Mercedes hinterlassen hatte. Tobias verlangsamte seine Schritte ein wenig. Amelies Hand fühlte sich eiskalt an in seiner. Sie hatte in den Tagen der Gefangenschaft stark abgenommen und war eigentlich viel zu schwach für eine Aktion wie diese. Aber sie hatte darauf bestanden, ihn zu begleiten. Schweigend gingen sie an den großen Werkshallen vorbei. Als sie um die Ecke bogen, sahen sie, wie im obersten Stockwerk des Verwaltungsgebäudes das Licht anging. Unten vor dem Eingangsportal stand der schwarze Mercedes im orangefarbenen Schein der Nachtbeleuchtung. Tobias und Amelie huschten über den unbeleuchteten Parkplatz und erreichten den Eingang des Gebäudes.

»Die Tür ist auf«, wisperte Amelie.

»Mir wäre es lieber, du würdest hier warten«, sagte Tobias und blickte sie an. Ihre Augen wirkten riesengroß in dem spitzen, blassen Gesicht, sie schüttelte entschlossen den Kopf.

»Auf keinen Fall. Ich komme mit.«

»Na gut.« Er holte tief Luft, dann umarmte er sie kurz und heftig. »Danke, Amelie. Danke für alles.«

»Quatsch nicht rum«, antwortete sie schroff. »Lass uns reingehen.«

Ein Lächeln flog über sein Gesicht, und er nickte. Sie durchquerten die große Eingangshalle, gingen am Aufzug vorbei und betraten das Treppenhaus, das ebenfalls unverschlossen war. Claudius Terlinden schien keine Einbrecher zu fürchten. Im vierten Stock war Amelie außer Atem und lehnte sich für einen Moment an das Geländer, bis sie wieder Luft bekam. Die schwere Glastür klackte, als Tobias sie öffnete. Er verharrte kurz und lauschte in die dunklen Flure, die nur von kleinen Lämpchen in Fußbodennähe schwach erhellt wurden. Hand in Hand schlichen sie den Flur entlang. Tobias spürte, wie sein Herz vor Aufregung gegen seine Rippen hämmerte. Er blieb stehen, als durch eine halbgeöffnete Tür an der Stirnseite des Flures die Stimme von Claudius Terlinden drang.

»… beeilen. Wenn es noch stärker schneit, wird die Maschine vielleicht gar nicht starten können.«

Tobias und Amelie wechselten einen kurzen Blick. Terlinden schien zu telefonieren. Offenbar waren sie gerade noch rechtzeitig gekommen, denn es hörte sich ganz so an, als ob er sich mit dem Flugzeug irgendwohin absetzen wollte. Sie gingen weiter. Plötzlich hörten sie eine zweite Stimme. Amelie fuhr bei ihrem Klang erschrocken zusammen und ergriff Tobias' Hand.

»Was ist mir dir?«, fragte Dr. Daniela Lauterbach. »Warum stehst du so herum?«

Die Tür ging ganz auf, heller Lichtschein flutete in den Flur. Tobias gelang es gerade noch rechtzeitig, die Tür eines Büros hinter sich zu öffnen. Er drängte Amelie in die Dunkelheit und blieb mit rasendem Herzklopfen neben ihr stehen.

»Scheiße, was macht die denn hier?«, flüsterte Amelie fassungslos. »Sie wollte mich und Thies umbringen! Das weiß der Terlinden doch!«

Tobias nickte angespannt. Er überlegte fieberhaft, wie er die beiden aufhalten konnte. Er musste verhindern, dass sie sich absetzten und für immer verschwanden. Wäre er allein gewesen, hätte er sie einfach zur Rede gestellt. Aber er durfte Amelie unter gar keinen Umständen in Gefahr bringen! Sein Blick fiel auf den Schreibtisch.

»Versteck dich da drunter«, sagte er leise. Amelie wollte protestieren, aber Tobias blieb stur. Er wartete, bis sie unter den Schreibtisch gekrochen war, dann nahm er den Telefonhörer ab und presste ihn ans Ohr. Im schwachen Schein der Außenbeleuchtung konnte er das Gerät kaum richtig erkennen. Er drückte eine Taste, von der er hoffte, dass es die für eine Amtsleitung war. Und tatsächlich! Das Freizeichen ertönte. Mit bebenden Fingern wählte er die 110.

Er stand vor dem geöffneten Safe, massierte mit einer Hand gedankenverloren seinen schmerzenden Hals und starrte vor sich hin. Seit diesem Unglück vorhin im Krankenhaus war er völlig durcheinander. Immer wieder glaubte er, sein Herz würde stolpern und für ein paar Schläge aussetzen. Ob das an dem kurzzeitigen Sauerstoffmangel lag? Sartorius war wie ein Berserker auf ihn losgegangen und hatte ihn mit unerwarteter Kraft gewürgt, bis er feurige Punkte vor den Augen gesehen hatte. Für ein paar Sekunden war er sicher gewesen, dass sein letztes Stündlein geschlagen hatte. Noch niemals zuvor war er körperlich angegriffen worden, der Ausdruck »Todesangst« war für ihn bis heute eine leere Worthülse gewesen. Aber nun wusste er, wie es sich anfühlte, dem Tod ins Auge zu blicken. Er konnte sich nicht erinnern, wie es ihm gelungen war, sich aus dem Klammergriff dieses Wahnsinnigen zu befreien, aber plötzlich hatte Sartorius auf dem Boden gelegen, in einer Blutlache. Einfach entsetzlich, absolut entsetzlich! Claudius Terlinden wurde bewusst, dass er noch immer unter Schock stand.

Sein Blick fiel auf Daniela, die unter seinem Schreibtisch kniete und mit konzentrierter Miene das Gehäuse des Computers wieder zusammenschraubte. Die Festplatte, die sie gegen eine andere getauscht hatte, steckte schon in einem der Koffer. Daniela hatte darauf bestanden, obwohl er es für unnötig hielt. Auf seinem Computer hatte er nichts gespeichert, was für die Polizei von Interesse sein könnte. Alles war anders gekommen, als er es geplant hatte. Im Nachhinein musste Claudius Terlinden sich eingestehen, dass die Vertuschung von Lars' Verstrickung in den Mord an Laura Wagner eine schwerwiegende Fehlentscheidung gewesen war. Er hatte nicht ausreichend bedacht, was es nach sich ziehen würde, wenn er den Jungen aus der Schusslinie nahm. Diese eine an und für sich unbedeutende Entscheidung hatte Dutzende anderer notwendig gemacht; das Geflecht der Lügen war so dicht und unübersichtlich geworden, dass es zu bedauerlichen, aber unvermeidlichen Kollateralschäden gekommen war. Wenn doch diese dummen Bauern nur auf ihn gehört hätten, anstatt auf eigene Faust zu handeln! Nichts wäre geschehen! Aber so war aus dem schmalen Riss, der durch die Rückkehr von Tobias Sartorius entstanden war, rasch ein gewaltiges Loch geworden, ein gähnender, schwarzer Abgrund. Und sein ganzes Leben, seine Regeln, die täglichen Rituale, die ihm Sicherheit gaben – alles wurde von diesem Strudel infernalischer Ereignisse mitgerissen.

»Was ist mit dir? Warum stehst du so herum?«

Die Stimme von Daniela riss ihn aus seinen Gedanken. Ächzend kam sie wieder auf die Füße und musterte ihn mit einem verächtlichen Gesichtsausdruck. Claudius Terlinden bemerkte, dass er noch immer seine Kehle umklammert hielt, und wandte sich ab. Sie musste seit langem damit gerechnet haben, dass alles auffliegen könnte. Ihr Fluchtplan war perfekt und bis ins kleinste Detail ausgeklügelt. Ihn hingegen hatte es kalt erwischt. Neuseeland! Was sollte er dort? Hier war sein Lebensmittelpunkt, hier, in diesem Dorf, in diesem Gebäude, in diesem Raum! Er wollte nicht aus Deutschland weg, selbst wenn das im ärgsten Fall ein paar Jahre Gefängnis bedeuten konnte. Der Gedanke, mit einer falschen Identität in irgendeinem fremden Land zu sitzen, verursachte ihm Unbehagen, ja Angst. Hier war er jemand, man kannte und respektierte ihn, und sicher würde sich alles wieder beruhigen. In Neuseeland würde er ein Nichts sein, ein namenloser Flüchtling, für immer und ewig.

Sein Blick wanderte durch den großen Raum. Sollte er das alles heute wirklich zum letzten Mal sehen? Nie mehr sein Haus betreten, die Gräber seiner Eltern und Großeltern auf dem Friedhof besuchen, das vertraute Panorama des Taunus betrachten? Die Vorstellung war unerträglich und trieb ihm tatsächlich die Tränen in die Augen. Er hatte doch so sehr gekämpft, um das Lebenswerk seiner Vorfahren zu noch größerem Erfolg zu führen – und nun sollte er alles stehen und liegen lassen?

»Mensch, Claudius, jetzt mach schon!« Danielas Stimme klang schneidend. »Es schneit immer stärker draußen! Wir müssen los!«

Er schob die Unterlagen, die er hier zurücklassen würde, in den Safe. Dabei berührte seine Hand den Kasten, in dem er die Pistole aufbewahrte.

Ich will nicht weg, dachte er. Lieber bringe ich mich um.

Er erstarrte. Wie war dieser Gedanke in seinen Kopf gekommen? Nie hatte er verstanden, wie jemand so feige sein und einen Selbstmord als einzigen Ausweg sehen konnte. Aber alles war anders geworden, nachdem ihm der Tod ins Gesicht gegrinst hatte.

»Ist außer uns noch jemand im Gebäude?«, fragte Daniela.

»Nein«, krächzte Terlinden und zog den Kasten mit der Waffe aus dem Safe.

»Aber eine der externen Telefonleitungen ist besetzt.« Sie beugte sich über die Telefonanlage, die mitten auf seinem Schreibtisch stand. »Die Nebenstelle 23.«

»Das ist die Buchhaltung. Da ist niemand mehr.«

»Hast du hinter dir abgeschlossen, als du reingekommen bist?«

»Nein.« Er erwachte aus seiner Erstarrung, öffnete den Kasten und betrachtete die Beretta.

Das Restaurant oberhalb des Opel-Zoos war voll. Es war düster, warm und laut, und das war Pia gerade recht. Christoph und sie saßen an einem Tisch direkt an der Fensterfront, aber Pia hatte weder ein Ohr für das, was die Leute vom Bauamt heute gesagt hatten, noch einen Blick für die Lichter Kronbergs oder die glitzernde Frankfurter Skyline in der Ferne. Vor ihr auf dem Teller lag ein verführerisch duftendes Rinderfiletsteak, perfekt gegrillt, aber ihr Magen war wie zugeschnürt.

Sie war vom Krankenhaus direkt nach Hause gefahren, hatte ihre Kleider in die Waschmaschine gesteckt und anschließend so lange geduscht, bis kein heißes Wasser mehr im Boiler war. Trotzdem fühlte sie sich noch immer schmutzig und besudelt. Pia war an Leichen gewöhnt, nicht aber daran, dass ein Mensch unter ihren Händen starb. Darüber hinaus noch ein Mann, den sie kannte, mit dem sie noch eine Minute zuvor gesprochen und für den sie tiefes Mitgefühl empfunden hatte. Sie schauderte.

»Sollen wir lieber nach Hause fahren?«, fragte Christoph in diesem Moment. Die Besorgnis in seinen dunklen Augen brachte Pia an den Rand ihrer Selbstbeherrschung. Plötzlich kämpfte sie mit den Tränen. Wo Tobias wohl war? Hoffentlich tat er sich nicht noch etwas an!

»Nein, schon gut.« Sie zwang sich zu einem Lächeln, aber der Anblick des Steaks, das im Fleischsaft auf dem Teller vor ihr lag, verursachte ihr Brechreiz. Sie schob den Teller weg. »Tut mir leid, dass ich heute keine besonders amüsante Gesellschaft bin. Ich mache mir nur solche Vorwürfe.«

»Das verstehe ich. Aber was hättest du denn tun sollen?« Christoph beugte sich vor, streckte die Hand aus und berührte ihre Wange. »Du hast doch selbst gesagt, dass alles rasend schnell ging.«

»Ja, natürlich. Es ist Quatsch. Ich konnte nichts tun, überhaupt nichts. Aber trotzdem …« Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. »In Augenblicken wie diesen hasse ich meinen Job aus tiefstem Herzen.«

»Na komm, Schatz. Wir fahren nach Hause, machen eine Flasche Rotwein auf und …«

Das Klingeln von Pias Telefon ließ ihn verstummen. Sie hatte Bereitschaft.

»Das, was nach dem ›und‹ kommen sollte, würde mich jetzt interessieren.« Pia grinste schwach, und Christoph hob vielsagend die Augenbrauen. Sie ergriff das Handy und meldete sich.

»Ein Tobias Sartorius hat vor sieben Minuten einen Notruf abgesetzt«, teilte ihr der KvD aus der Einsatzzentrale mit. »Er ist im Gebäude der Firma Terlinden in Altenhain und hat gesagt, eine Frau Lauterbach sei dort. Ich habe schon eine Streife hingeschickt…«

»Oh, Scheiße«, unterbrach Pia den Kollegen. Ihre Gedanken überschlugen sich. Was tat Daniela Lauterbach bei Claudius Terlinden? Warum war Tobias dort? Wollte er sich rächen? Zweifellos war Tobias Sartorius nach allem, was geschehen war, eine tickende Zeitbombe. Sie sprang auf. »Funk bitte sofort die Jungs an. Sie sollen um Gottes willen ohne Blaulicht und Sirene da hinfahren. Und sie sollen auf Bodenstein und mich warten!«

»Was ist passiert?«, fragte Christoph. Pia erklärte es ihm mit knappen Worten, während sie Bodensteins Nummer in ihrem Handy aufrief. Zu ihrer Erleichterung hatte sie ihren Chef nur Sekunden später am Ohr. Christoph signalisierte derweil dem Inhaber des Restaurants, den er als Direktor des benachbarten Zoos gut kannte, dass er später vorbeikommen und bezahlen würde.

»Ich fahre dich«, sagte er zu Pia. »Drei Sekunden, bis ich unsere Jacken geholt habe.«

Sie nickte, ging schon hinaus und wartete ungeduldig im Schneegestöber vor der Tür des Restaurants. Warum hatte Tobias einen Notruf abgesetzt? War ihm etwas zugestoßen? Hoffentlich kamen sie nicht zu spät!

»Verdammt«, flüsterte Tobias in hilflosem Zorn. Claudius Terlinden und Daniela Lauterbach hatten das Büro verlassen und gingen mit Koffern und Aktentaschen beladen den Flur entlang zum Aufzug. Was konnte er tun, um sie aufzuhalten? Wie lange brauchten die Bullen, bis sie hier waren? Verdammt, verdammt! Er drehte sich zu Amelie um, die unter dem Schreibtisch hervorlugte.

»Du bleibst hier«, sagte er mit vor Anspannung heiserer Stimme.

»Wo gehst du hin?«

»Ich muss sie in ein Gespräch verwickeln, bis die Polizei da ist.«

»Nein, bitte tu das nicht, Tobi!« Amelie schlüpfte aus ihrem Versteck. Im matten Lichtschein der Außenbeleuchtung wirkten ihre Augen riesengroß. »Bitte, Tobi, lass sie gehen! Ich hab Angst!«

»Ich kann sie doch nicht einfach abhauen lassen, nach allem, was sie getan haben! Das musst du doch verstehen!«, entgegnete er heftig. »Bleib hier, Amelie! Versprich mir das!«

Sie schluckte, schlang die Arme um ihren Oberkörper und nickte leicht. Er holte tief Luft und legte seine Hand auf die Türklinke.

»Tobi!«

»Ja?«

Sie kam auf ihn zu und berührte mit ihrer Handfläche seine Wange.

»Pass auf dich auf«, flüsterte sie. Eine Träne quoll aus ihrem Auge. Tobias starrte sie an. Für den Bruchteil einer Sekunde war er versucht, sie in die Arme zu nehmen, sie zu küssen und einfach bei ihr zu bleiben. Aber dann überwog der wilde Wunsch nach Rache, der ihn hierhergetrieben hatte. Er durfte Terlinden und die Lauterbach nicht entwischen lassen. Auf keinen Fall!

»Ich bin gleich zurück«, murmelte er. Bevor er es sich anders überlegen konnte, trat er hinaus auf den Flur und rannte los. Der Aufzug war bereits auf dem Weg nach unten, deshalb riss er die Feuerschutztür auf und lief die Treppe hinunter, immer drei oder vier Stufen auf einmal nehmend. Er erreichte die Halle genau in dem Augenblick, als die beiden aus dem Aufzug traten.

»Halt!«, schrie er, und seine Stimme hallte. Wie elektrisiert fuhren beide herum und starrten ihn fassungslos an. Terlinden ließ die Koffer fallen. Tobias spürte, dass er am ganzen Körper zitterte. Obwohl er sich am liebsten auf sie gestürzt und auf sie eingeprügelt hätte, musste er sich beherrschen und ruhig bleiben.

»Tobias!« Claudius Terlinden hatte sich als Erster gefasst. »Ich … es … es tut mir entsetzlich leid, was da passiert ist. Wirklich, du musst mir glauben, das wollte ich nicht …«

»Hören Sie auf!«, schrie Tobias und ging in einem Halbkreis um die beiden herum, ohne sie aus den Augen zu lassen. »Ich kann die Scheißlügen nicht mehr hören! Sie sind doch an allem schuld! Sie und diese … diese hinterhältige Hexe!«

Er zeigte anklagend mit dem Finger auf Daniela Lauterbach.

»Ihr habt immer so verständnisvoll getan, dabei habt ihr die ganze Zeit die Wahrheit gewusst! Trotzdem habt ihr zugelassen, dass man mich ins Gefängnis geschickt hat! Und jetzt wollt ihr euch wohl aus dem Staub machen, was? Nach mir die Sintflut, ha! Aber das kommt nicht in Frage. Ich habe die Polizei angerufen, sie wird gleich hier sein.«

Ihm entging nicht der rasche Blick, den Terlinden und die Lauterbach wechselten.

»Ich werde ihnen alles erzählen, was ich über euch weiß. Und das ist eine Menge! Mein Vater ist tot, er kann nichts mehr dazu sagen, aber ich weiß auch, was ihr damals getan habt!«

»Jetzt beruhige dich«, sagte Daniela Lauterbach und lächelte ihr freundliches Lächeln, mit dem sie die ganze Welt getäuscht hatte. »Wovon redest du überhaupt?«

»Ich rede von Ihrem ersten Mann.« Tobias kam näher und blieb direkt vor ihr stehen. Kalte braune Augen bohrten sich in seine. »Von Wilhelm, Onkel Willi, Claudius' älterem Bruder, und seinem Testament!«

»Aha.« Daniela Lauterbach lächelte ihn unverwandt an. »Und wieso glaubst du, dass das die Polizei interessieren könnte?«

»Weil es nicht das richtige Testament war«, entgegnete Tobias. »Das hat nämlich Dr. Fuchsberger meinem Vater gegeben, nachdem Claudius ihn betrunken gemacht und ihm hunderttausend Mark versprochen hatte.«

Das Lächeln auf dem Gesicht von Daniela Lauterbach wurde starr.

»Ihr erster Mann war todkrank, aber er fand es nicht so toll, dass Sie ihn mit seinem Bruder betrogen haben, deshalb hat er sein Testament zwei Wochen vor seinem Tod geändert und euch beide enterbt. Er hat die Tochter seines Chauffeurs als Alleinerbin eingesetzt, weil er kurz vor seinem Tod erfahren hatte, dass Claudius sie im Mai 1976 geschwängert hatte und Sie das Kind auf seinen Befehl hin abgetrieben haben.«

»Hat dein Vater dir diesen Unsinn erzählt?«, mischte sich Claudius Terlinden ein.

»Nein.« Tobias ließ Daniela Lauterbach nicht aus den Augen. »Das musste er gar nicht. Dr. Fuchsberger hatte ihm das Testament gegeben, er sollte es vernichten, aber das hat mein Vater nicht getan. Er hat es aufgehoben, bis heute.«

Nun blickte er Claudius Terlinden an.

»Deshalb haben Sie dafür gesorgt, dass er in Altenhain bleiben musste, nicht wahr? Weil er das alles wusste. Eigentlich gehört Ihnen die Firma nicht und auch nicht das Haus. Und Frau Dr. Lauterbach hätte auch ihr Haus und das ganze Geld nicht bekommen, wäre es nach ihrem ersten Mann gegangen. Laut Testament gehört das alles der Tochter von Wilhelm Terlindens früherem Chauffeur, Kurt Cramer …« Tobias schnaubte. »Leider hatte mein Vater nie den Mumm, das Testament wiederauftauchen zu lassen. Schade, eigentlich …«

»Ja, wahrhaftig schade«, sagte Daniela Lauterbach. »Aber da fällt mir etwas ein.«

Terlinden und Dr. Lauterbach standen mit dem Rücken zum Treppenhaus und konnten Amelie, die durch die Tür trat, nicht sehen, aber sie bemerkten, dass Tobias' Aufmerksamkeit für einen Moment abgelenkt war. Daniela Lauterbach griff nach dem Kasten, der unter Terlindens Arm klemmte, und Tobias blickte plötzlich in den Lauf einer Pistole.

»Ich hätte diesen grässlichen Abend beinahe vergessen, wenn du mich nicht gerade daran erinnert hättest. Du erinnerst dich, Claudius, wie Wilhelm plötzlich in der Tür vom Schlafzimmer stand und mit genau dieser Pistole auf uns gezielt hat…« Sie lächelte Tobias an. »Danke, dass du mich auf die Idee gebracht hast, du kleiner Dummkopf.«

Ohne eine Sekunde zu zögern, drückte Daniela Lauterbach ab. Ein ohrenbetäubender Knall zerriss die Stille. Tobias verspürte einen heftigen Stoß und hatte das Gefühl, seine Brust würde explodieren. Ungläubig starrte er die Ärztin an, die sich bereits abwandte. Er hörte, wie Amelie mit schriller Stimme verzweifelt seinen Namen rief, wollte etwas sagen, bekam aber keine Luft. Die Beine knickten unter ihm weg. Tobias Sartorius spürte nicht mehr, wie er auf dem Granitfußboden aufschlug. Um ihn herum war alles schwarz und totenstill.

Sie berieten gerade, wie sie auf das hermetisch abgeriegelte Gelände der Terlinden-Werke gelangen konnten, als sich von der anderen Seite des Tores mit aufgeblendeten Scheinwerfern und hoher Geschwindigkeit eine dunkle Limousine näherte. Das Tor glitt lautlos zur Seite.

»Das ist er!«, rief Pia und machte den Kollegen ein Zeichen. Claudius Terlinden, der am Steuer seines Mercedes saß, musste scharf bremsen, als ihm plötzlich zwei Streifenwagen den Weg versperrten.

»Er ist alleine im Auto«, stellte Bodenstein fest. Pia trat mit gezogener Waffe neben ihn und bedeutete Terlinden, die Scheibe herunter zu lassen. Zwei weitere Polizeibeamte verliehen Pias Aufforderung Nachdruck, indem sie das Auto umstellten, die Waffen im Anschlag.

»Was wollen Sie von mir?«, fragte Terlinden. Er saß stocksteif da, seine Hände umklammerten das Lenkrad. Trotz der Kälte glänzte sein Gesicht vor Schweiß.

»Steigen Sie aus, öffnen Sie alle Türen und den Kofferraum«, befahl Bodenstein. »Wo ist Tobias Sartorius?«

»Woher soll ich das denn wissen?«

»Und wo ist Frau Dr. Lauterbach? Jetzt steigen Sie schon aus!«

Terlinden rührte sich nicht. In seinen weit aufgerissenen Augen lag nackte Panik.

»Er steigt nicht aus«, ertönte eine Stimme aus dem Inneren des Wagens, das hinter getönten Scheiben verborgen war. Bodenstein beugte sich ein wenig vor und erkannte Daniela Lauterbach auf der Rückbank. Und die Pistole, die sie Terlinden an den Hinterkopf presste.

»Machen Sie sofort den Weg frei, sonst erschieße ich den Mann«, drohte sie. Bodenstein spürte, wie ihm nun selbst der Schweiß ausbrach. Er zweifelte nicht an Daniela Lauterbachs Entschlossenheit. Die Frau hatte eine Waffe in der Hand und nichts mehr zu verlieren – eine äußerst gefährliche Kombination. Bei dem Mercedes verschlossen sich die Türen nach ein paar Metern Fahrt selbsttätig von innen, weder Bodenstein noch die Polizisten auf der anderen Seite hatten also die Möglichkeit, einfach die Türen aufzureißen und die Ärztin zu überwältigen.

»Ich glaube, sie meint es ernst«, flüsterte Terlinden heiser. Seine Unterlippe zitterte, er stand ganz offensichtlich unter Schock. Bodenstein überlegte fieberhaft. Sie würden kaum entkommen. Bei dem Wetter konnte auch ein S-Klasse-Mercedes mit Winterreifen höchstens 120 fahren.

»Ich lasse Sie gehen«, sagte er schließlich. »Aber sagen Sie mir erst, wo Tobias ist.«

»Wahrscheinlich bei seinem Papa im Himmel«, erwiderte Daniela Lauterbach an Terlindens Stelle und lachte kalt.

Bodenstein und ein Streifenwagen folgten dem schwarzen Mercedes aus dem Gewerbegebiet hinaus hoch zur B 8, während Pia über Funk Verstärkung anforderte und einen Rettungswagen zum Werk beorderte. Terlinden bog nach rechts auf die vierspurig ausgebaute Bundesstraße Richtung Autobahn ab. Schon bei Bad Soden schlossen sich ihnen zwei weitere Streifenwagen an, wenige Kilometer weiter tauchten noch drei auf. Zum Glück war der Feierabendverkehr vorbei. In einem Stau könnte die Sache leicht eskalieren, allerdings würde Daniela Lauterbach ihrem Chauffeur kaum während der Fahrt in den Kopf schießen. Bodenstein sah in den Rückspiegel. Mittlerweile folgten ihnen ein Dutzend Einsatzfahrzeuge mit eingeschaltetem Blaulicht und blockierten alle drei Fahrspuren für den nachfolgenden Verkehr.

»Sie fahren in die Stadt«, stellte Pia fest, als sich der schwarze Mercedes am Eschborner Dreieck rechts hielt. Unter Missachtung des Rauchverbots in sämtlichen Dienstwagen zündete sie sich eine Zigarette an. Aus dem Funkgerät quakten verschiedene Stimmen hektisch durcheinander. Die Kollegen in Frankfurt waren informiert und würden versuchen, die Straßen frei zu halten, sollte Terlinden tatsächlich in die City fahren.

»Vielleicht will sie zum Flughafen«, überlegte Bodenstein laut.

»Hoffentlich nicht«, erwiderte Pia, die auf Nachrichten von Tobias Sartorius wartete. Bodenstein warf einen raschen Seitenblick auf das vor Anspannung blasse Gesicht seiner Kollegin. Was für ein Tag! Kaum war der immense Druck der vergangenen Wochen durch die Entdeckung von Thies und Amelie von ihnen gewichen, hatten sich die Ereignisse plötzlich überschlagen. War es wirklich erst heute Morgen gewesen, dass er in Nicolas Bett aufgewacht war?

»Sie fahren in die Stadt!«, rief Pia in diesem Augenblick ins Funkgerät, denn Terlinden rauschte geradeaus am Westkreuz vorbei, statt auf die A 5 abzubiegen. »Was haben sie vor?«

»Sie wollen uns in der Innenstadt abhängen«, vermutete Bodenstein. Die Scheibenwischer kratzten im Schnellgang über die Windschutzscheibe. Der Schnee hatte sich in starken Regen verwandelt, und Terlinden fuhr sehr viel schneller als erlaubt. Er würde wohl kaum an einer roten Ampel anhalten, und das Letzte, was sie jetzt noch brauchten, war ein überfahrener Fußgänger!

»Er ist jetzt an der Messe, biegt rechts in die Friedrich-Ebert-Anlage ein«, gab Pia durch. »Er hat mindestens achtzig drauf, haltet uns die Straßen frei!«

Bodenstein musste sich konzentrieren. Die regennasse Fahrbahn reflektierte die roten Bremslichter der Autos an den Straßenrändern und das Blaulicht der Streifenwagen, die tatsächlich sämtliche Seitenstraßen blockierten.

»Ich glaub, ich brauche bald eine Brille«, murmelte er und trat stärker aufs Gas, um Terlinden, der bereits die dritte rote Ampel überfuhr, nicht zu verlieren. Was hatte die Lauterbach vor? Wo wollte sie hin?

»Hast du dir mal überlegt, dass sie vielleicht …«, begann Pia, aber dann schrie sie: »Abbiegen! Rechts! Er biegt ab!«

Völlig unvermittelt, ohne das Tempo zu reduzieren oder gar den Blinker zu setzen, war Terlinden am Platz der Republik in die Mainzer Landstraße eingebogen. Bodenstein riss das Lenkrad ebenfalls nach rechts und biss die Zähne zusammen, als der Opel ins Schleudern kam und um ein Haar mit einer Straßenbahn kollidierte.

»Verdammt, das war knapp«, zischte er. »Wo ist er hin? Ich sehe ihn nicht mehr!«

»Links! Links!« Pia war in der Aufregung der Straßenname entfallen, obwohl sie viele Jahre genau gegenüber im alten Polizeipräsidium gearbeitet hatte. Sie fuchtelte mit dem Finger vor Bodensteins Gesicht herum. »Da ist er reingefahren, da!«

»Wo?«, quakte es aus dem Funkgerät. »Wo sind sie?«

»In die Ottostraße eingebogen«, erwiderte Bodenstein. »Ich sehe sie wieder, nein, doch nicht. Verdammt!«

»Die anderen sollen geradeaus weiter zum Bahnhof fahren!«, schrie Pia in das Funkgerät. »Vielleicht will er uns nur abschütteln!«

Sie beugte sich vor.

»Rechts oder links?«, rief Bodenstein, als sie die Poststraße an der Nordseite des Hauptbahnhofs erreicht hatten. Er musste scharf auf die Bremse treten, weil von rechts ein Auto angeschossen kam. Heftig fluchend gab er wieder Gas und entschied sich intuitiv, nach links abzubiegen.

»Meine Güte«, sagte Pia, ohne den Blick von der Straße zu wenden. »Ich wusste ja gar nicht, dass du solche Ausdrücke kennst!«

»Ich habe Kinder«, erwiderte Bodenstein und verlangsamte auf Schritttempo. »Siehst du das Auto irgendwo?«

»Hier stehen Hunderte von Autos herum«, beschwerte sich Pia. Sie hatte die Fensterscheibe heruntergelassen und spähte in die Dunkelheit. Weiter vorne standen Streifenwagen mit zuckenden Blaulichtern, Passanten blieben trotz des strömenden Regens stehen und blickten neugierig herüber.

»Da!«, schrie Pia so plötzlich, dass Bodenstein erschrocken zusammenzuckte. »Da sind sie! Sie kommen aus dem Parkplatz raus!«

Tatsächlich! Sekunden später war der schwarze Mercedes wieder vor ihnen und beschleunigte auf der Baseler Straße so stark, dass Bodenstein alle Mühe hatte, sich nicht abhängen zu lassen. Sie rasten über den Baseler Platz auf die Friedensbrücke, und Bodenstein schickte stumme Stoßgebete zum Himmel. Pia gab unentwegt ihre Position durch. Mit 120 Stundenkilometern jagte der Mercedes die Kennedyallee entlang, gefolgt von einer Kolonne von Streifenwagen. Mittlerweile fuhren die Kollegen auch vorneweg, versuchten aber nicht, ihn zu stoppen.

»Sie wollen doch zum Flughafen«, sagte Pia in Höhe der Niederräder Rennbahn. Kaum hatte sie das ausgesprochen, zog Terlinden sein Auto von rechts quer über die dreispurige Fahrbahn ganz nach links, schrammte über den Bordstein und geriet auf den Straßenbahngleisen kurz ins Schleudern. Pia konnte kaum so schnell sprechen, wie Terlinden die Richtung wechselte. Die Streifenwagen vor ihm waren schon auf der Flughafenstraße und konnten nicht mehr wenden, aber Bodenstein und Pia blieben hinter dem Mercedes, als er in einem halsbrecherischen Manöver in die Isenburger Schneise einschwenkte. Auf der schnurgeraden Straße gab Terlinden rücksichtslos Gas, und Bodenstein schwitzte Blut und Wasser, als er es ihm gezwungenermaßen nachtat. Doch plötzlich leuchteten Bremslichter vor ihm auf, der schwere Mercedes schlingerte und geriet auf die Gegenfahrbahn. Bodenstein trat so heftig auf die Bremse, dass auch sein Auto ins Rutschen geriet. Hatte die Lauterbach etwa ihre Geisel bei voller Fahrt erschossen?

»Der Hinterreifen ist geplatzt!«, rief Pia, die die Situation sofort erfasst hatte. »Jetzt kommen sie nicht mehr weit!« Und tatsächlich – Terlinden setzte nach der rasenden, irrsinnigen Fahrt brav den Blinker nach links und bog zur Oberschweinstiege ein. Er tuckerte mit vierzig durch den Wald, überquerte die Bahngleise und hielt schließlich auf dem Waldparkplatz einige hundert Meter weiter an. Bodenstein stoppte ebenfalls, Pia sprang aus dem Auto und bedeutete den Kollegen in den Streifenwagen, einen Kreis um den Mercedes zu bilden, dann stieg sie wieder ein. Per Funk gab Bodenstein die Anweisung, in den Autos zu bleiben. Daniela Lauterbach war noch immer bewaffnet; er wollte kein unnötiges Risiko eingehen und das Leben von Kollegen aufs Spiel setzen, zumal ein Mobiles Einsatzkommando in Kürze eintreffen würde. Doch plötzlich öffnete sich die Fahrertür des Mercedes. Bodenstein hielt die Luft an und richtete sich auf. Terlinden stieg aus. Er taumelte leicht, hielt sich an der offenen Autotür fest und blickte sich um. Dann hob er die Hände in die Luft. Im Licht der Scheinwerfer stand er reglos da.

»Was ist da los?«, klang es undeutlich aus dem Funkgerät.

»Er hat angehalten und ist ausgestiegen«, sagte Bodenstein. »Wir gehen jetzt raus.«

Er nickte Pia zu, sie stiegen aus und näherten sich Terlinden. Pia hielt ihre Waffe auf den Mercedes gerichtet, bereit, bei der kleinsten Bewegung abzudrücken.

»Sie müssen auf niemanden schießen«, sagte Claudius Terlinden und ließ die Arme sinken. Pias Nerven waren zum Zerreißen gespannt, als sie die hintere Tür des Mercedes aufriss und ins Innere zielte. Die Anspannung fiel von ihr ab und verwandelte sich in grenzenlose Enttäuschung. Die Rückbank war leer.

»Sie stand plötzlich vor mir in meinem Büro und bedrohte mich mit einer Pistole.« Claudius Terlinden sprach stockend.

Bleich und zusammengesunken saß er an dem schmalen Tisch in einem der Mannschaftswagen; augenscheinlich stand er unter schwerem Schock.

»Weiter«, forderte Bodenstein ihn auf. Terlinden wollte sich mit der Hand über das Gesicht fahren, als ihm wieder einfiel, dass er Handschellen trug. Trotz Nickelallergie, dachte Pia zynisch und betrachtete ihn mitleidslos.

»Sie … sie zwang mich, den Safe zu öffnen«, fuhr Terlinden mit zittriger Stimme fort. »Ich kann mich gar nicht mehr genau erinnern, was passiert ist. Unten in der Halle tauchte auf einmal Tobias auf. Mit dem Mädchen. Er …«

»Mit welchem Mädchen?«, unterbrach Pia ihn.

»Mit dieser … dieser … ich kann mich nicht an ihren Namen erinnern.«

»Amelie?«

»Ja. Ja, so heißt sie wohl.«

»Gut. Reden Sie weiter.«

»Daniela hat Tobias, ohne zu zögern, niedergeschossen. Dann hat sie mich gezwungen, ins Auto zu steigen.«

»Was war mit Amelie?«

»Weiß ich nicht.« Terlinden hob die Schultern. »Ich weiß überhaupt nichts mehr. Ich bin nur gefahren, immer weiter. So, wie sie es mir befohlen hat.«

»Und am Hauptbahnhof ist sie ausgestiegen«, sagte Bodenstein.

»Ja. Sie rief: Jetzt rechts! Und dann: Jetzt links! Ich habe genau das gemacht, was sie gesagt hat.«

»Kann ich verstehen.« Bodenstein nickte, dann beugte er sich vor, und seine Stimme wurde scharf. »Was ich allerdings nicht verstehe, ist, warum Sie nicht schon am Bahnhof ausgestiegen sind! Weshalb noch diese lebensgefährliche Verfolgungsjagd quer durch die Stadt? Haben Sie eine Ahnung, wie leicht es einen Unfall hätte geben können?«

Pia kaute an ihrer Unterlippe und ließ Terlinden nicht aus den Augen. Gerade als Bodenstein sich zu ihr umwandte, beging Claudius Terlinden einen Fehler. Er tat etwas, was niemand unter schwerem Schock tun würde: Er blickte auf seine Armbanduhr.

»Sie lügen wie gedruckt!«, fuhr Pia ihn wütend an. »Das war alles ein abgekartetes Spiel! Sie wollten nur Zeit schinden! Wo ist die Lauterbach hin?«

Terlinden versuchte noch ein paar Minuten lang, die Tarnung aufrechtzuerhalten, aber Pia ließ nicht locker.

»Sie haben recht«, gestand er schließlich. »Wir wollten zusammen verschwinden. Die Maschine geht um 23:45 Uhr. Wenn Sie sich beeilen, erwischen Sie sie vielleicht noch.«

»Wohin? Wo wollten Sie hinfliegen?« Pia musste sich beherrschen, um den Mann nicht an den Schultern zu packen und durchzuschütteln. »Jetzt machen Sie schon den Mund auf! Die Frau hat einen Menschen erschossen! Das nennt man Mord. Und wenn Sie jetzt nicht allmählich mit der Wahrheit herausrücken, dann sind Sie mit dran, das schwöre ich Ihnen! Also, wird's bald? Welchen Flug will Daniela Lauterbach nehmen? Und unter welchem Namen?«

»Den nach Sáo Paulo«, flüsterte Terlinden und schloss die Augen. »Als Consuela la Roca.«

»Ich fahre zum Flughafen«, entschied Bodenstein draußen vor dem Mannschaftswagen. »Du machst mit Terlinden weiter.«

Pia nickte. Es machte sie ganz nervös, dass sie noch nichts von den Kollegen aus Altenhain gehört hatte. Was war mit Amelie? Hatte die Lauterbach das Mädchen etwa auch erschossen? Sie bat einen der Streifenbeamten, sich nach Amelies Befinden zu erkundigen, und kletterte zurück in den VW-Bus.

»Wie konnten Sie das nur tun?«, fragte Pia. »Daniela Lauterbach hat um ein Haar Ihren Sohn Thies getötet, nachdem sie ihn jahrelang mit Drogen vollgepumpt hat!«

Terlinden schloss für einen Moment die Augen.

»Sie verstehen das ja doch nicht«, erwiderte er müde und wandte den Blick ab.

»Dann erklären Sie es mir«, forderte Pia ihn auf. »Erklären Sie mir, warum Daniela Lauterbach Thies so misshandelt und die Orangerie angezündet hat.«

Claudius Terlinden öffnete die Augen und starrte Pia an. Eine Minute verstrich, eine zweite.

»Ich habe mich in Daniela verliebt, als mein Bruder sie das erste Mal mit nach Hause brachte«, sagte er unvermittelt. »Das war an einem Sonntag. Am 14. Juni 1976. Es war Liebe auf den ersten Blick. Trotzdem hat sie ein Jahr später meinen Bruder geheiratet, obwohl sie überhaupt nicht zueinander passten. Sie waren kreuzunglücklich miteinander. Daniela hatte großen Erfolg in ihrem Beruf, mein Bruder stand in ihrem Schatten. Er schlug sie immer häufiger, auch vor dem Personal. Im Sommer 1977 erlitt sie eine Fehlgeburt, ein Jahr später eine zweite und dann eine dritte. Mein Bruder wollte einen Erben, er war wütend und gab ihr die Schuld. Als meine Frau dann auch noch Zwillingssöhne bekam, war es ganz aus.«

Pia hörte schweigend zu und hütete sich davor, ihn zu unterbrechen.

»Vielleicht hätte Daniela sich scheiden lassen, aber ein paar Jahre später erkrankte mein Bruder an Krebs. Unheilbar. Sie wollte ihn in diesem Zustand nicht mehr verlassen. Er starb im Mai 1985.«

»Wie praktisch für Sie beide«, bemerkte Pia sarkastisch. »Das erklärt aber nicht, warum Sie ihr zur Flucht verhelfen wollten, obwohl diese Frau Amelie und Thies entführt hatte und in einem Keller eingesperrt hat. Hätten wir die beiden nicht zufällig gefunden, wären sie ertrunken, denn Frau Lauterbach hatte den Keller geflutet.«

»Was reden Sie denn da?« Claudius Terlinden blickte irritiert auf.

Plötzlich dämmerte Pia, dass Terlinden vielleicht wirklich nicht wusste, was Daniela Lauterbach getan hatte. Er war vorhin im Krankenhaus auf dem Weg zu seinem Sohn ge wesen, zu einem Gespräch war es aber durch den tragischen Zwischenfall wahrscheinlich nicht mehr gekommen. Davon abgesehen hätte Thies seinem Vater wohl kaum etwas erzählen können. Pia berichtete Claudius Terlinden also haarklein von Daniela Lauterbachs hinterhältigem Mordversuch an Amelie und Thies.

»Das ist nicht wahr«, flüsterte er immer wieder mit wachsender Fassungslosigkeit.

»Doch, das ist es. Daniela Lauterbach wollte Thies umbringen, weil er Augenzeuge war, als ihr Mann Stefanie Schneeberger erschlagen hat. Und Amelie sollte sterben, weil sie durch Thies hinter dieses Geheimnis gekommen war.«

»Großer Gott!« Terlinden fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht.

»Mir scheint, Sie haben Ihre große Liebe nicht wirklich gut gekannt, wenn Sie tatsächlich mit ihr fliehen wollten.« Pia schüttelte den Kopf.

Terlinden starrte vor sich hin.

»Ich Idiot. Ich bin an allem schuld! Ich selbst habe Albert Schneeberger damals das Haus angeboten.«

»Was hat denn Schneeberger damit zu tun?«

»Diese Stefanie hat Thies völlig den Kopf verdreht. Er war ganz verrückt nach ihr, und dann hat er irgendwann gesehen, wie sie mit Gregor … na ja … Sie wissen schon. Er hat einen Wutanfall bekommen und Gregor angegriffen, wir mussten ihn in die Psychiatrie bringen. Eine Woche bevor das Unglück passiert ist, kam er zurück nach Hause. Er war wieder ganz vernünftig. Die Medikamente haben bei ihm Wunder gewirkt. Und dann hat Thies gesehen, wie Gregor Stefanie erschlagen hat.«

Pia stockte der Atem, beinahe wäre ihr der Mund aufgeklappt.

»Gregor wollte weglaufen, aber da stand Thies plötzlich vor ihm. Er stand einfach da, starrte ihn an und sagte kein Wort, wie es so seine Art ist. Gregor rannte in Panik nach Hause, er hat geheult wie ein Baby.« Terlindens Stimme bekam einen verächtlichen Klang. »Daniela rief mich an, wir trafen uns an Sartorius' Scheune. Thies saß neben dem toten Mädchen. Mir erschien es in dem Moment als das Beste, die Leiche irgendwo zu verstecken, und mir fiel dafür nur der alte Bunker unter der Orangerie ein. Aber es war unmöglich, Thies wegzuschicken. Er hielt Stefanies Hand umklammert. Da kam Daniela auf die Idee, ihm zu sagen, dass er auf Stefanie aufpassen solle. Es war nicht ungefährlich, aber es klappte. Elf Jahre lang. Bis diese Amelie aufgetaucht ist. Dieses neugierige, kleine Aas hat alles kaputt gemacht.«

Er und Daniela Lauterbach hatten die Wahrheit über Laura und Stefanie all die Jahre gewusst und geschwiegen. Wie hatten sie mit diesem entsetzlichen Wissen nur leben können?

»Und wer«, fragte Pia, »dachten Sie, hat das Mädchen und Ihren Sohn entführt?«

»Nadja«, erwidert Claudius Terlinden dumpf. »Ich hatte sie an dem Abend, als Gregor Stefanie erschlagen hat, in der Scheune gesehen, aber niemandem davon erzählt.«

Er stieß einen tiefen Seufzer aus.

»Später habe ich mit ihr darüber gesprochen«, fuhr er fort.

»Sie war ganz vernünftig, und als ich ihr über einen alten Freund einen Kontakt beim Fernsehen verschafft habe, versprach sie mir, niemals ein Wort darüber zu sagen. Sie verließ Altenhain, wie sie es immer vorgehabt hatte, und machte eine großartige Karriere. Damit war Ruhe eingekehrt. Alles war in Ordnung.« Er rieb sich die Augen. »Es wäre nichts passiert, hätte sich jeder an die Spielregeln gehalten.«

»Menschen sind keine Schachfiguren«, entgegnete Pia scharf.

»Doch«, widersprach Terlinden. »Die meisten Menschen sind glücklich und zufrieden, wenn ihnen jemand die Verantwortung für ihr mickriges Leben abnimmt und Entscheidungen trifft, zu denen sie selbst nicht fähig sind. Jemand muss den Überblick über das Große und Ganze behalten, die Fäden ziehen, wenn es nötig ist. Und dieser Jemand bin ich.« Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht, mit einer Spur von Stolz darin.

»Falsch«, entgegnete Pia nüchtern, nachdem sie nun alle Zusammenhänge verstanden hatte. »Das waren nicht Sie, sondern Daniela Lauterbach. Sie waren auch nur ein Bauer in ihrem Schachspiel, den sie nach Belieben hin und her geschoben hat.«

Terlindens Lächeln verschwand.

»Hoffen Sie, dass mein Chef sie am Flughafen noch erwischt. Sonst sind Sie nämlich der Einzige, der fette Schlagzeilen bekommt und für den Rest seines Lebens ins Gefängnis geht.«

»Nicht zu fassen.« Ostermann schüttelte den Kopf und blickte Pia an. »Wenn ich das richtig verstehe, dann gehört Tobias' Mutter von Rechts wegen halb Altenhain.«

»Genau.« Pia nickte. Vor ihnen auf dem Tisch lag der dreiseitige Letzte Wille des Wilhelm Julius Terlinden, aufgesetzt und notariell beglaubigt am 25. April 1985, in dem er seine Ehefrau Daniela Terlinden geborene Kroner und seinen Bruder Claudius Paul Terlinden enterbte. Amelie hatte das Dokument in einem dicken Briefumschlag einem Kollegen gegeben, bevor sie in den Notarztwagen gestiegen war, der Tobias Sartorius ins Krankenhaus brachte. Der junge Mann hatte Glück im Unglück gehabt, denn die Waffe, mit der Daniela Lauterbach auf ihn geschossen hatte, hatte dank ihrer geringen Durchschlagskraft keine tödliche Wirkung gehabt. Dennoch hatte Tobias sehr viel Blut verloren und war auch nach der Notoperation noch nicht außer Lebensgefahr.

»Ich verstehe nicht ganz, warum das Testament von Wilhelm Terlinden im Besitz von Hartmut Sartorius war«, sagte Pia. »Es wurde nur ein paar Wochen vor seinem Tod aufgesetzt.«

»Wahrscheinlich hatte er da erst erfahren, dass die beiden ihn über Jahre hinweg betrogen hatten.«

»Hm.« Pia unterdrückte nur mit Mühe ein Gähnen. Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren, war todmüde und gleichzeitig aufgekratzt. Tobias und seine Familie waren Opfer von üblen Intrigen, Geld- und Machtgier geworden, aber dank des Testaments, das Hartmut Sartorius aufbewahrt hatte, zeichnete sich zumindest in finanzieller Hinsicht ein einigermaßen gutes Ende für Tobias und seine Mutter ab.

»Komm, hau schon ab«, sagte Ostermann zu Pia. »Der Papierkram hat auch noch Zeit bis morgen.«

»Weshalb hat Hartmut Sartorius dieses Testament bloß nie geltend gemacht?«, fragte Pia.

»Vielleicht hatte er Angst vor den Konsequenzen, oder er hatte selbst Dreck am Stecken. Irgendwie ist er ja an dieses Testament gekommen, und das sicher nicht auf legalem Weg«, erwiderte Ostermann. »Außerdem gelten in so einem Dorf andere Gesetze. Ich kenne das.«

»Wieso?«

Ostermann grinste und erhob sich.

»Du willst doch jetzt nicht etwa um halb vier morgens meine Lebensgeschichte hören, oder?«

»Halb vier? Mein Gott …« Pia gähnte und streckte sich. »Wusstest du, dass Frank von seiner Frau verlassen wurde? Oder dass Hasse mit dem Kultusminister befreundet ist?«

»Ersteres ja, letzteres nein«, antwortete Ostermann und schaltete seinen Computer ab. »Warum fragst du?«

»Ich weiß auch nicht.« Pia zuckte nachdenklich die Schultern. »Aber da verbringt man mehr Zeit mit seinen Kollegen als mit seinem Partner und weiß doch nichts voneinander. Warum ist das so?«

Ihr Handy klingelte mit dem speziellen Klingelton, der Christoph vorbehalten war. Er wartete unten auf dem Parkplatz auf sie. Pia erhob sich mit einem Ächzen und angelte nach ihrer Tasche.

»Das macht mir echt zu schaffen.«

»Na, jetzt werd mal nicht philosophisch«, sagte Ostermann von der Tür aus. »Morgen erzähl ich dir alles über mich was du wissen willst.«

Pia grinste müde.

»Wirklich alles?«

»Klar.« Ostermann drückte auf den Lichtschalter. »Ich hab ja nichts zu verbergen.«

Auf der kurzen Fahrt von Hofheim nach Unterliederbach fielen Pia vor Erschöpfung die Augen zu. Sie bekam nicht mit, dass Christoph ausstieg, um das Hoftor zu öffnen. Als er sanft an ihrer Schulter rüttelte und ihre Wange küsste, schlug sie verwirrt die Augen auf.

»Soll ich dich ins Haus tragen?«, bot Christoph an.

»Lieber nicht.« Pia gähnte und grinste gleichzeitig. »Dann muss ich nächste Woche die Futtersäcke selber schleppen, weil du dir einen Bruch gehoben hast.«

Sie stieg aus und taumelte zur Haustür. Die Hunde begrüßten sie mit fröhlichem Gebell und forderten eine kurze Streicheleinheit. Erst als sie sich ihrer Jacke entledigte und die Stiefel von den Füßen streifte, fiel Pia der Termin mit dem Bauamt ein.

»Was ist eigentlich dabei herausgekommen?«, erkundigte sie sich. Christoph machte das Licht in der Küche an.

»Leider nichts Gutes«, antwortete er ernst. »Weder das Haus noch die Scheune sind jemals genehmigt worden. Und es ist so gut wie unmöglich, eine nachträgliche Genehmigung zu bekommen, wegen der Überlandleitungen.«

»Das kann doch nicht sein!« Pia hatte das Gefühl, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggezogen. Das hier war ihr Haus, ihr Heim! Wo sollte sie denn hingehen mit all den Tieren? Sie starrte Christoph schockiert an. »Und jetzt? Was passiert jetzt?«

Er kam zu ihr, nahm sie in die Arme.

»Die Abrissverfügung bleibt bestehen. Mit einem Einspruch kann man das noch etwas herauszögern, aber leider nicht ewig. Außerdem gibt es noch ein kleines Problem.«

»Oh bitte nicht«, murmelte Pia, den Tränen nahe. »Was denn noch?«

»Eigentlich hat das Land Hessen ein Vorkaufsrecht für das Grundstück, weil irgendwann eine Autobahnabfahrt hierher gebaut werden soll«, erwiderte Christoph.

»Na super. Dann werde ich noch enteignet!« Pia machte sich aus seiner Umarmung los und setzte sich an den Küchentisch. Einer der Hunde stupste sie mit der Schnauze an, und sie streichelte ihm gedankenverloren den Kopf. »Das ganze Geld ist futsch!«

»Nein, nein, hör mir zu.« Christoph nahm ihr gegenüber Platz und ergriff ihre Hand. »Es gibt nämlich auch eine ganz gute Nachricht. Du hast drei Euro für den Quadratmeter bezahlt. Das Land zahlt dir fünf.«

Pia blickte ungläubig auf.

»Woher weißt du das?«

»Tja, ich kenne viele Leute. Und ich habe heute viel telefoniert.« Christoph lächelte. »Dabei habe ich etwas Interessantes erfahren.«

Da musste Pia auch lächeln.

»Wie ich dich kenne, hast du schon einen neuen Hof gefunden.«

»Du kennst mich gut, stelle ich fest«, erwiderte Christoph belustigt, wurde dann aber ernst. »Tatsächlich ist es so, dass der Tierarzt, der früher unsere Tiere im Zoo betreut hat, seine ehemalige Pferdeklinik im Taunus verkaufen will. Ich habe mir den Hof vor einer Weile mal angesehen, weil wir ja etwas suchen, wo man neue Tiere zur Quarantäne unterbringen kann. Dafür eignet sich der Hof nicht, aber … für dich und für mich und für deine Tiere wäre er ein Traum. Ich habe mir heute die Schlüssel geholt. Wenn du magst, fahren wir morgen einfach mal hin, hm?«

Pia blickte in seine dunklen Augen. Plötzlich verspürte sie ein tiefes, warmes Glücksgefühl in sich aufsteigen. Egal, was auch passierte – selbst wenn sie das Haus abreißen und den Birkenhof verlassen musste –, sie war nicht allein. Christoph stand ihr bei, wie Henning es nie getan hatte. Er würde sie nie im Stich lassen.

»Danke«, sagte sie leise und streckte die Hand nach ihm aus. »Danke, mein Schatz. Du bist einfach unglaublich.«

Er nahm ihre Hand und legte sie an seine raue Wange.

»Ich mache das alles nur, weil ich bei dir einziehen möchte«, entgegnete er lächelnd. »Dir ist wohl klar, dass du mich so schnell nicht mehr loswirst.«

Pia wurde die Kehle eng.

»Hoffentlich nie mehr«, flüsterte sie und lächelte auch.