Samstag, 15. November 2008
Gregor Lauterbach ging ruhelos im Wohnzimmer auf und ab. Er hatte schon drei Gläser Whisky getrunken, aber die beruhigende Wirkung des Alkohols blieb diesmal aus. Den ganzen Tag über hatte er den bedrohlichen Inhalt des anonymen Briefes verdrängen können, doch kaum hatte er sein Haus betreten, war die Angst über ihn hergefallen. Daniela hatte schon im Bett gelegen, er hatte sie nicht stören wollen. Einen Moment hatte er daran gedacht, seine Geliebte anzurufen und sich mit ihr in seiner Wohnung zu treffen, einfach um sich abzulenken, aber den Gedanken hatte er wieder verworfen. Diesmal musste er alleine damit fertig werden. Er hatte also eine Schlaftablette genommen und sich ins Bett gelegt. Aber das Klingeln des Telefons hatte ihn um ein Uhr morgens aus dem Schlaf gerissen. Anrufe um diese Uhrzeit verhießen nie etwas Gutes. Zitternd hatte er im Bett gelegen, schweißnass und wie verrückt vor Angst. Daniela hatte von ihrem Zimmer aus das Gespräch entgegengenommen, wenig später war sie den Flur entlanggegangen, leise, um ihn nicht zu wecken. Erst als die Haustür hinter ihr ins Schloss gefallen war, war er aufgestanden und nach unten gegangen. Es kam vor, dass sie nachts zu einem Patienten fahren musste. Er hatte ihre Bereitschaftsdienste nicht im Kopf. Mittlerweile war es kurz nach drei, und er stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Wer konnte ihm diesen Brief geschickt haben? Wer wusste von Schneewittchen und ihm und dem verlorenen Schlüsselbund? Herrje! Seine Karriere stand auf dem Spiel, sein Ansehen, sein ganzes Leben! Wenn dieser Brief oder ein ähnlicher in falsche Hände geriet, war er erledigt. Die Presse wartete doch nur auf einen fetten Skandal! Gregor Lauterbach wischte seine schweißfeuchten Handflächen am Bademantel ab. Er schenkte sich noch einen Whisky ein, einen dreifachen diesmal, und setzte sich auf das Sofa. Nur das Licht in der Eingangshalle brannte, im Wohnzimmer war es dunkel. Daniela konnte er nicht von dem Brief erzählen. Schon damals hätte er besser den Mund gehalten. Sie war es, die vor siebzehn Jahren dieses Haus gebaut und bezahlt hatte. Mit seinem schmalen Beamtensalär hätte er sich niemals eine solche Villa leisten können. Es hatte ihr Spaß gemacht, ihn, den kleinen Gymnasiallehrer, unter ihre Fittiche zu nehmen und ihn in die richtigen gesellschaftlichen und politischen Kreise einzuführen. Daniela war eine sehr gute Ärztin, in Königstein und Umgebung hatte sie viele wohlhabende und ausgesprochen einflussreiche Privatpatienten, die das politische Talent ihres Mannes erkannten und förderten. Gregor Lauterbach verdankte seiner Frau alles, das hatte er schmerzlich begreifen müssen, als sie ihm damals um ein Haar ihre Gunst und Unterstützung entzogen hätte. Seine Erleichterung, als sie ihm verziehen hatte, war unendlich gewesen. Mit ihren 58 Jahren sah sie noch blendend aus – eine Tatsache, die ihm ständig Sorgen bereitete. Auch wenn sie seit damals nie mehr miteinander geschlafen hatten, liebte er Daniela doch aus tiefstem Herzen. Alle anderen Frauen, die durch sein Leben und sein Bett huschten, waren unwichtige, rein körperliche Angelegenheiten. Er wollte Daniela nicht verlieren. Nein, er durfte sie nicht verlieren! Unter gar keinen Umständen. Sie wusste zu viel von ihm, sie kannte seine Schwächen, seine Minderwertigkeitskomplexe und die Anfälle quälender Versagensängste, die er mittlerweile im Griff hatte. Lauterbach fuhr zusammen, als sich der Schlüssel in der Haustür drehte. Er stand auf und schleppte sich in die Halle.
»Du bist ja wach«, stellte seine Frau erstaunt fest. Sie sah ruhig und gelassen aus, wie immer, und er fühlte sich wie ein Seemann auf rauer See, der in der Ferne den rettenden Leuchtturm erblickt.
Sie betrachtete ihn prüfend und schnupperte. »Du hast Alkohol getrunken. Ist etwas passiert?«
Wie gut sie ihn kannte! Noch nie hatte er ihr etwas vormachen können. Er setzte sich auf die unterste Treppenstufe.
»Ich kann nicht schlafen«, erwiderte er nur, sparte sich jede Begründung und Ausrede. Ganz plötzlich und mit einer Heftigkeit, die ihn erschreckte, sehnte er sich nach ihrer mütterlichen Liebe, nach ihrer Umarmung, ihrem Trost.
»Ich gebe dir eine Lorazepam«, sagte sie.
»Nein!« Gregor Lauterbach erhob sich, schwankte etwas und streckte die Hand nach ihr aus. »Ich will keine Tabletten nehmen. Ich will …«
Er brach ab, als er ihren erstaunten Blick sah. Fühlte sich mit einem Mal kümmerlich und mickrig.
»Was willst du?«, fragte sie leise.
»Ich will heute Nacht nur einfach bei dir schlafen, Dani«, flüsterte er mit belegter Stimme. »Bitte.«
Pia betrachtete die Frau, die ihr am Küchentisch gegenübersaß. Sie hatte Andrea Wagner mitgeteilt, dass die Rechtsmedizin die sterblichen Überreste ihrer Tochter Laura freigegeben hatte. Da die Mutter des toten Mädchens einen gefassten Eindruck gemacht hatte, stellte Pia ihr ein paar Fragen über Laura und deren Verhältnis zu Tobias Sartorius.
»Warum möchten Sie das wissen?«, fragte Frau Wagner argwöhnisch.
»Ich habe mich in den letzten Tagen ausführlich mit den alten Akten beschäftigt«, erwiderte Pia. »Und irgendwie habe ich das Gefühl, dass etwas damals übersehen wurde. Als wir Tobias Sartorius gesagt haben, man hätte Laura gefunden, da hatte ich den Eindruck, dass er wirklich ahnungslos war. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, ich will damit nicht sagen, dass ich ihn für unschuldig halte.«
Andrea Wagner blickte sie aus stumpfen Augen an. Eine ganze Weile sagte sie gar nichts.
»Ich habe aufgehört, über all das nachzudenken«, sagte sie dann. »Es ist schwer genug, vor den Augen des ganzen Dorfes immer weiterzumachen. Meine anderen beiden Kinder mussten im Schatten ihrer toten Schwester aufwachsen, ich habe alle Kraft gebraucht, damit sie eine einigermaßen normale Kindheit hatten. Aber das ist nicht einfach mit einem Vater, der sich jeden Abend im Schwarzen Ross bis zur Besinnungslosigkeit betrinkt, weil er nicht akzeptieren will, was geschehen ist.«
Das klang nicht bitter, es war die Feststellung einer Tatsache.
»Ich lasse das Thema nicht mehr an mich ran. Sonst wäre hier schon längst alles in die Binsen gegangen.« Sie wies mit einer Handbewegung auf einen Stapel Papier auf dem Tisch. »Unbezahlte Rechnungen, Mahnungen. Ich gehe im Supermarkt in Bad Soden arbeiten, damit das Haus und die Schreinerei nicht zwangsversteigert werden oder wir in die gleiche Lage kommen wie der Sartorius. Irgendwie muss es ja weitergehen. Ich kann mir nicht leisten, in der Vergangenheit zu leben, wie mein Mann das tut.«
Pia sagte nichts. Nicht zum ersten Mal erlebte sie, wie ein schreckliches Ereignis das Leben einer ganzen Familie komplett aus der Bahn werfen und für immer zerstören konnte. Wie stark mussten Menschen wie Andrea Wagner sein, um Morgen für Morgen aufzustehen und weiterzumachen, ohne Hoffnung auf Besserung? Gab es im Leben dieser Frau überhaupt noch irgendetwas, was sie freute?
»Ich kenne Tobias seit seiner Geburt«, fuhr Andrea Wagner fort. »Wir waren mit der Familie befreundet, wie mit allen Leuten hier im Dorf. Mein Mann war Wehrführer bei der Feuerwehr, Jugendtrainer im Sportverein, Tobias war sein bester Stürmer. Manfred war immer sehr stolz auf ihn.« Ein Lächeln huschte über ihr blasses, abgehärmtes Gesicht, erlosch aber sofort wieder. Sie seufzte. »Keiner hätte ihm so was zugetraut, ich erst auch nicht. Aber man kann einem Menschen eben nur vor die Stirn gucken, nicht wahr?«
»Ja, damit haben Sie wohl recht.« Pia nickte bestätigend. Die Familie Wagner hatte weiß Gott genug Schlimmes erlebt, sie wollte nicht weiter in alten Wunden stochern. Eigentlich hatte sie auch überhaupt keine Grundlage, um Fragen zu einem längst aufgeklärten Fall zu stellen. Da war eben nur dieses undeutliche Gefühl.
Sie verabschiedete sich von Frau Wagner, verließ das Haus und ging über den verwahrlosten Hof hinüber zu ihrem Auto. Aus dem Innern der Werkstatt drang das kreischende Geräusch einer Säge an ihr Ohr. Pia hielt inne, dann machte sie kehrt und öffnete die Tür der Schreinerei. Es war nur fair, wenn sie auch Manfred Wagner mitteilte, dass er in Kürze seine Tochter zu Grabe tragen und damit einen Schlussstrich unter ein entsetzliches Kapitel ziehen konnte. Vielleicht würde er irgendwie wieder Fuß fassen können im Leben. Er stand mit dem Rücken zu ihr an einer Werkbank und schob ein Brett durch eine Bandsäge. Als er die Maschine abstellte, machte Pia sich bemerkbar. Der Mann trug keine Ohrenschützer, nur eine schmuddelige Baseballkappe, und in seinem Mundwinkel hing ein erloschener Zigarillo. Er streifte sie nur mit einem unfreundlichen Blick und bückte sich nach einem weiteren Brett, wobei seine verbeulte Hose herunterrutschte und Pia die unschöne Aussicht auf den haarigen Ansatz seines verlängerten Rückens präsentierte.
»Was wollen Sie?«, nuschelte er. »Ich hab zu tun.«
Er hatte sich seit ihrer letzten Begegnung nicht mehr rasiert, seine Kleidung verströmte den scharfen Geruch von altem Schweiß. Pia schauderte und machte unwillkürlich einen Schritt rückwärts. Wie musste es sein, tagein, tagaus mit einem solch ungepflegten Mann zusammenleben zu müssen? Ihr Mitgefühl mit Andrea Wagner wuchs.
»Herr Wagner, ich war gerade bei Ihrer Frau, aber ich wollte es auch Ihnen persönlich sagen«, begann Pia.
Wagner richtete sich auf und wandte sich zu ihr um.
»Die Rechtsmedizin hat …« Pia verstummte. Die Baseballkappe! Der Bart! Es gab keinen Zweifel. Vor ihr stand der Mann, den sie mit dem Foto aus dem Film der Überwachungskamera suchten.
»Was?« Er starrte sie mit einer Mischung aus Aggressivität und Gleichgültigkeit an, doch dann wurde er blass, als habe er Pias Gedanken gelesen. Er wich zurück, das schlechte Gewissen stand ihm ins Gesicht geschrieben.
»Es … es war ein Unfall«, stammelte er und hob hilflos die Hände. »Ich schwöre Ihnen, ich wollte das nicht. Ich … ich hab nur mit ihr reden wollen, wirklich!«
Pia holte tief Luft. Sie hatte also mit ihrer Vermutung, es könne eine Verbindung zwischen dem Angriff auf Rita Cramer und den Ereignissen aus dem Herbst 1997 geben, recht behalten.
»Aber … aber … als ich gehört hab, dass dieser … dieser dreckige Mörder raus ist aus'm Knast und wieder hier in Altenhain, da … da ist auf einmal alles wieder in mir hochgekommen. Ich dachte, die Rita, die kenn ich doch gut. Wir waren Freunde, früher. Ich wollte nur mit ihr reden, damit sie dafür sorgt, dass der Kerl hier verschwindet … aber dann ist sie vor mir weggelaufen … und sie hat nach mir geschlagen und getreten … und auf einmal … auf einmal war ich so wütend …« Er brach ab.
»Wusste Ihre Frau davon?«, wollte Pia wissen. Wagner schüttelte stumm den Kopf. Seine Schultern sackten nach vorne.
»Erst nicht. Aber dann hat sie das Foto gesehen.«
Natürlich hatte Andrea Wagner ihren Mann erkannt, so, wie ihn jeder Altenhainer erkannt hatte. Sie hatten geschwiegen, um ihn zu schützen. Er war einer der Ihren, ein Mann, der auf grausame Weise seine Tochter verloren hatte. Vielleicht hielten sie das Unglück, das er der Familie Sartorius zugefügt hatte, sogar für ausgleichende Gerechtigkeit.
»Dachten Sie, Sie kommen damit durch, nur weil das ganze Dorf Ihre Tat gedeckt hat?« Pias Mitgefühl mit Manfred Wagner war wie weggefegt.
»Nein«, flüsterte er. »Ich … ich wollte ja zur Polizei gehen.«
Plötzlich übermannten ihn Kummer und Zorn. Er ließ die Faust auf die Werkbank krachen. »Dieser dreckige Mörder hat seine Strafe abgesessen, aber meine Laura, die ist für immer tot! Als Rita mir nicht zuhören wollte, da hab ich plötzlich rotgesehen. Und das Geländer war so niedrig.«
Andrea Wagner stand mit vor der Brust verschränkten Armen und ausdrucksloser Miene im Hof und sah zu, wie zwei Polizeibeamte ihren Mann abführten. Der Blick, mit dem sie ihn streifte, sprach Bände. Zwischen den beiden war kein Rest von Zuneigung, geschweige denn Liebe mehr übrig. Was sie noch zusammenhielt, mochten die Kinder sein, die Pflichten des Alltags oder die Perspektivlosigkeit einer Trennung, aber nicht viel mehr. Andrea Wagner verachtete ihren Mann, der seine Sorgen und Probleme im Alkohol ertränkte, statt sich ihnen zu stellen. Pia empfand echtes Mitleid mit der leidgeprüften Frau. Die Zukunft der Familie Wagner sah nicht viel rosiger aus als die Vergangenheit. Sie wartete, bis der Streifenwagen den Hof verlassen hatte. Bodenstein war schon informiert und würde später auf dem Kommissariat mit Wagner sprechen.
Pia setzte sich in ihr Auto, schnallte sich an und wendete. Sie fuhr durch das kleine Gewerbegebiet, das hauptsächlich aus der Firma Terlinden bestand. Hinter einem hohen Zaun lagen auf einem weitläufigen Gelände große Werkshallen zwischen gepflegten Rasenflächen und Parkplätzen. Wollte man zum Hauptgebäude gelangen, einem großen, halbrunden Bau mit einer meterhohen gläsernen Front, musste man Schranken und ein Pförtnerhäuschen passieren. Mehrere Lkw warteten vor einer der Schranken auf Einlass, auf der anderen Seite wurde ein Lkw von Wachpersonal kontrolliert. Der Lkw hinter ihr hupte. Pia hatte schon den linken Blinker gesetzt, um auf die B519 nach Hofheim abzubiegen, doch dann entschloss sie sich zu einem kurzen Besuch bei Familie Sartorius und bog nach rechts ab.
Der Frühnebel hatte sich gelichtet und Platz für einen trockenen, sonnigen Tag gemacht, ein Hauch von Spätsommer mitten im November. Altenhain lag wie ausgestorben da, Pia sah lediglich eine junge Frau, die zwei Hunde spazieren führte, und einen alten Mann, der in der Einfahrt seines Hofes stand, die Arme auf das halbhohe Tor gelegt, im Gespräch mit einer älteren Frau. Sie fuhr am Schwarzen Ross mit seinem noch leeren Parkplatz und an der Kirche vorbei, folgte der scharfen Rechtskurve und musste bremsen, weil eine dicke, graue Katze in würdevoller Langsamkeit die schmale Straße überquerte. Vor der ehemaligen Gaststätte von Hartmut Sartorius stand ein silberner Porsche Cayenne mit Frankfurter Kennzeichen. Pia stellte ihr Auto daneben ab und betrat den Hof durch das weit geöffnete Tor. Von Müllbergen und Schrotthaufen war nichts mehr zu sehen, auch die Ratten hatten sich wohl in ergiebigere Gefilde verzogen. Sie ging die drei Stufen zur Haustür des Wohnhauses hoch und klingelte. Hartmut Sartorius öffnete. Neben ihm stand eine blonde Frau. Pia traute ihren Augen kaum, als sie Nadja von Bredow erkannte, die Schauspielerin, deren Gesicht nicht zuletzt durch die populäre Rolle der Kriminalkommissarin Stein aus dem Hamburger Tatort in der ganzen Republik bekannt geworden war. Was tat diese Frau hier?
»Ich finde ihn schon«, sagte sie gerade zu Hartmut Sartorius, der neben dieser hochgewachsenen, eleganten Erscheinung noch verhärmter wirkte als sonst. »Vielen Dank erst mal. Wir sehen uns später noch.«
Sie streifte Pia mit einem desinteressierten Blick und ging an ihr vorbei, ohne zu grüßen oder ihr wenigstens zuzunicken. Pia blickte ihr nach, dann wandte sie sich dem Vater von Tobias zu.
»Nathalie ist die Tochter unserer Nachbarn«, erklärte dieser unaufgefordert, weil er wohl das Erstaunen in Pias Gesicht bemerkt hatte. »Sie und Tobias haben zusammen im Sandkasten gespielt, und sie hat während seiner ganzen Haftzeit den Kontakt zu ihm gehalten. Als Einzige von allen.«
»Aha.« Pia nickte. Auch eine berühmte Schauspielerin musste irgendwo aufgewachsen sein, warum also nicht in Altenhain?
»Was kann ich für Sie tun?«
»Ist Ihr Sohn da?«
»Nein. Er ist spazieren gegangen. Aber kommen Sie doch herein.«
Pia folgte ihm ins Haus und weiter in die Küche, die ebenso wie der Hof bedeutend aufgeräumter aussah als bei ihrem letzten Besuch. Warum eigentlich führten die Leute die Polizei immer in ihre Küche?
Amelie ging in Gedanken versunken am Waldrand entlang, die Hände in den Jackentaschen. Dem heftigen Regen der vergangenen Nacht war ein stiller, milder Tag gefolgt. Über den Obstbaumwiesen lagen dünne Nebelschleier, die Sonne fand einen Weg durch die graue Wolkendecke und ließ den Wald hier und da in Herbstfarben erglühen. Rot, gelb und braun leuchteten die letzten Blätter an den Ästen der Laubbäume, es duftete nach Eicheln und feuchter Erde, nach einem Feuer, das irgendjemand auf einer der Wiesen angezündet hatte. Amelie, das Großstadtkind, sog die frische, klare Luft tief in ihre Lungen. Sie fühlte sich so lebendig wie selten zuvor und musste sich eingestehen, dass das Leben auf dem Land durchaus angenehme Seiten hatte. Unten im Tal lag das Dorf. Wie friedlich es aus der Ferne wirkte! Ein Auto krabbelte wie ein roter Marienkäfer die Straße entlang und verschwand im Gewirr der dicht beieinanderstehenden Häuser. Auf der Holzbank neben dem alten Wegekreuz saß ein Mann. Als Amelie näher kam, erkannte sie zu ihrem Erstaunen Tobias.
»Hey«, sagte sie und blieb vor ihm stehen. Er hob den Kopf. Ihr Erstaunen verwandelte sich in Entsetzen, als sie sein Gesicht sah. Dunkelviolette Blutergüsse zogen sich über seine linke Gesichtshälfte, ein Auge war zugeschwollen, seine Nase auf die Größe einer Kartoffel angewachsen. Eine Platzwunde an der Augenbraue war geklammert.
»Hey«, erwiderte er. Sie sahen sich einen Moment an. Seine schönen, blauen Augen waren glasig, er hatte starke Schmerzen, das war nicht zu übersehen. »Sie haben mich erwischt. Gestern Abend, in der Scheune.«
»Na super.« Amelie setzte sich neben ihn. Eine Weile sagte keiner der beiden ein Wort.
»Eigentlich müsstest du zu den Bullen gehen«, sagte sie zögernd und ohne rechte Überzeugung. Er schnaubte abfällig.
»Im Leben nicht. Hast du vielleicht eine Zigarette?«
Amelie kramte in ihrem Rucksack und förderte ein zerknautschtes Zigarettenpäckchen samt Feuerzeug zutage. Sie zündete zwei Zigaretten an, reichte ihm eine.
» Gestern Abend ist der Bruder von der Jenny Jagielski ziemlich spät mit seinem Kumpel, dem dicken Felix, ins Schwarze Ross gekommen. Sie haben mit zwei anderen Kerlen in einer Ecke gehockt und waren ganz komisch drauf«, sagte Amelie, ohne Tobias anzusehen. »Und bei der üblichen Skatrunde am Stammtisch fehlten der alte Pietsch, der Richter vom Laden und der Traugott Dombrowski. Die sind erst gegen Viertel vor zehn aufgetaucht.«
»Hm«, machte Tobias nur und zog an seiner Zigarette.
»Vielleicht waren es welche von denen.«
»Höchstwahrscheinlich sogar«, erwiderte Tobias gleichgültig.
»Ja, aber … wenn du doch weißt, wer es gewesen sein könnte …« Amelie wandte den Kopf und begegnete seinem Blick. Sie sah schnell wieder weg. Es war bedeutend einfacher, mit ihm zu reden, wenn sie ihm nicht in die Augen sah.
»Warum bist du auf meiner Seite?«, fragte er plötzlich. »Ich war zehn Jahre im Knast, weil ich zwei Mädchen umgebracht habe.«
Seine Stimme klang nicht bitter, nur müde und resigniert.
»Ich war drei Wochen im Jugendarrest, weil ich für einen Freund gelogen und behauptet habe, das Dope, das die Bullen gefunden habe, wäre meins«, entgegnete Amelie.
»Was willst du denn damit sagen?«
»Dass ich nicht glaube, dass du zwei Mädchen umgebracht hast.«
»Nett von dir.« Tobias beugte sich vor und verzog das Gesicht. »Ich muss dich dran erinnern, dass es einen Prozess gab mit einem Haufen Beweisen, die allesamt gegen mich sprachen.«
»Ich weiß.« Amelie zuckte die Schultern. Sie zog noch einmal an ihrer Zigarette, dann schnippte sie die Kippe in die Wiese auf der anderen Seite des geschotterten Weges. Sie musste ihm unbedingt von den Bildern erzählen! Wie sollte sie nur damit anfangen? Sie entschied sich für einen Umweg.
»Haben die Lauterbachs damals schon hier gewohnt?«, fragte sie.
»Ja«, erwiderte Tobias erstaunt. »Wieso willst du das wissen?«
»Es gibt ein Bild«, sagte Amelie. »Eigentlich sogar mehrere. Ich hab sie gesehen, und ich meine, auf drei Bildern ist der Lauterbach drauf.«
Tobias blickte sie aufmerksam und verständnislos zugleich an.
»Also, ich glaube, es gibt jemanden, der damals beobachtet hat, was wirklich passiert ist«, fuhr Amelie nach kurzem Zögern fort. »Thies hat mir Bilder gegeben, die …«
Sie verstummte. Ein Auto kam mit hoher Geschwindigkeit den schmalen Weg hoch, ein silberner Geländewagen. Der Schotter knirschte unter den breiten Reifen, als der Porsche Cayenne direkt vor ihnen anhielt. Eine schöne, blonde Frau stieg aus. Amelie sprang auf und schulterte ihren Rucksack.
»Warte!« Tobias streckte bittend den Arm nach ihr aus und erhob sich mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Was für Bilder? Was ist mit Thies? Nadja ist meine beste Freundin. Du kannst ihr das auch alles erzählen.«
»Nee, lieber nicht.« Amelie blickte der Frau skeptisch entgegen. Sie war sehr schlank und wirkte sehr elegant mit ihren engen Jeans, dem Rollkragenpullover und der beigefarbenen Daunenweste mit dem auffälligen Logo eines teuren Designerlabels. Das glatte, blonde Haar hatte sie zu einem Knoten frisiert, auf ihrem ebenmäßigen Gesicht lag ein besorgter Ausdruck.
»Hallo!«, rief die Frau und kam näher. Sie musterte Amelie kurz mit einem misstrauischen Blick, dann wandte sich ihr ausschließliches Interesse Tobias zu.
»O mein Gott, Schatz!« Sie legte ihre Hand sanft an seine Wange. Diese vertraute Geste versetzte Amelie einen Stich, und sie verspürte sofort eine heftige Abneigung gegen diese Nadja.
»Wir sehen uns später«, sagte sie schnell und ließ die beiden allein.
Pia hatte ein zweites Mal an diesem Tag an einem Küchentisch Platz genommen und höflich einen Kaffee abgelehnt, nachdem sie Hartmut Sartorius von Manfred Wagners Geständnis und Verhaftung unterrichtet hatte.
»Wie geht es Ihrer Exfrau?«, fragte sie dann.
»Unverändert«, erwiderte Sartorius. »Die Ärzte reden nur drum rum und legen sich nicht fest.«
Pia betrachtete das ausgemergelte und müde Gesicht von Tobias' Vater. Der Mann hatte nicht viel weniger leiden müssen als die Wagners, im Gegenteil: Während den Eltern der Opfer Mitgefühl und Solidarität entgegengebracht wurde, hatte man die Eltern des Täters ausgegrenzt und für das Tun ihres Sohnes bestraft. Das Schweigen wurde unbehaglich. Pia wusste selbst nicht, warum sie hierhergefahren war. Was wollte sie eigentlich hier?
»Lässt man Sie und Ihren Sohn denn jetzt einigermaßen in Ruhe?«, fragte sie schließlich. Hartmut Sartorius stieß ein kurzes, bitteres Lachen aus. Er zog eine Schublade auf und holte einen zerknitterten Zettel heraus, den er Pia reichte.
»Der war heute im Briefkasten. Tobias hat ihn weggeworfen, aber ich habe ihn wieder aus dem Mülleimer geholt.«
Mörderpack, las Pia. Verschwindet von hier, bevor noch ein Unglück passiert.
»Ein Drohbrief«, stellte sie fest. »Anonym, oder?«
»Natürlich.« Sartorius zuckte die Schultern und setzte sich wieder an den Tisch. »Gestern haben sie Tobias in der Scheune überfallen und zusammengeschlagen.« Seine Stimme schwankte, er kämpfte um Beherrschung, aber in seinen Augen glänzten plötzlich Tränen.
»Wer?«, wollte Pia wissen.
»Die alle.« Sartorius machte eine hilflose Handbewegung. »Sie trugen Masken und hatten Baseballschläger. Als ich … als ich Tobias in der Scheune gefunden habe … da … dachte ich zuerst, er sei … er sei tot.«
Er biss sich auf die Lippen, senkte den Blick.
»Warum haben Sie nicht die Polizei gerufen?«
»Das bringt doch nichts. Es wird nie aufhören.« Der Mann schüttelte mit einer Mischung aus Resignation und Verzweiflung den Kopf. »Tobias bemüht sich, den Hof wieder einigermaßen herzurichten, und hofft, dass wir einen Käufer finden.«
»Herr Sartorius.« Pia hielt den Drohbrief noch immer in der Hand. »Ich kenne die Akten über den Fall Ihres Sohnes. Und mir sind einige Ungereimtheiten aufgefallen. Eigentlich wundert es mich, dass Tobias' Anwalt damals nicht in Revision gegangen ist.«
»Das wollte er ja, aber das Gericht hat eine Revision abgelehnt. Die Indizien, die Zeugenaussagen – alles war eindeutig.« Sartorius fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Alles an ihm strahlte Mutlosigkeit aus.
»Aber jetzt ist Lauras Leiche gefunden worden«, beharrte Pia. »Und ich frage mich, wie Ihr Sohn das tote Mädchen innerhalb einer knappen Dreiviertelstunde aus dem Haus in den Kofferraum seines Autos geschafft, nach Eschborn auf das abgesperrte Gelände eines ehemaligen Militärflughafens gebracht und in einen alten Bodentank geworfen haben soll.«
Hartmut Sartorius hob den Kopf und sah sie an. In seinen verschwommenen blauen Augen glomm ein winziger Hoffnungsfunke, der aber sofort wieder erlosch.
»Es nützt nichts. Es gibt keine neuen Beweise. Und selbst wenn, für die Leute hier ist er ein Mörder und wird es immer bleiben.«
»Vielleicht sollte Ihr Sohn Altenhain für eine Weile verlassen«, riet Pia. »Wenigstens bis nach der Beerdigung des Mädchens, wenn sich die Gemüter hier wieder einigermaßen beruhigt haben.«
»Und wo soll er hingehen? Wir haben kein Geld. Tobias wird so schnell keinen Job bekommen. Wer stellt schon einen Knacki ein, auch wenn der ein abgeschlossenes Studium hat?«
»Er könnte vorübergehend in die Wohnung seiner Mutter ziehen«, schlug Pia vor, aber Hartmut Sartorius schüttelte nur den Kopf.
»Tobias ist dreißig Jahre alt«, sagte er. »Es ist gut von Ihnen gemeint, aber ich kann ihm nichts befehlen.«
»Ich hatte gerade echt ein Dejá-vu, als ich euch beide auf der Bank gesehen habe.« Nadja schüttelte den Kopf. Tobias hatte sich wieder hingesetzt und betastete vorsichtig seine Nase. Die Erinnerung an die Todesangst, die er gestern Nacht empfunden hatte, lag wie ein düsterer Schatten über dem sonnigen Tag. Als die Männer endlich aufgehört hatten, auf ihn einzuschlagen, und verschwunden waren, hatte er mit dem Leben abgeschlossen. Wäre nicht einer von ihnen zurückgekehrt, um ihm den Lappen aus dem Mund zu ziehen, wäre er an dem Knebel erstickt. Sie hatten es wirklich ernst gemeint. Tobias fröstelte bei dem Gedanken daran, wie nah er dem Tod gewesen war. Die Verletzungen, die er davongetragen hatte, waren zwar schmerzhaft und sahen dramatisch aus, aber sie waren nicht lebensbedrohlich. Sein Vater hatte gestern Nacht noch Frau Dr. Lauterbach angerufen, und sie war sofort gekommen, um ihn zu verarzten. Sie hatte die Platzwunde an seiner Augenbraue geklammert und ihm Schmerztabletten dagelassen. Sie schien ihm nicht nachzutragen, dass er auch ihren Mann damals in den Prozess hineingezogen hatte.
»Findest du nicht?«, drang Nadjas Stimme in sein Bewusstsein.
»Was meinst du?«, fragte er. Sie war so schön und so besorgt. Eigentlich wurde sie zu Dreharbeiten in Hamburg erwartet, aber offenbar war er ihr wichtiger. Nach seinem Anruf von vorhin musste sie direkt losgefahren sein. Das zeichnete eine echte Freundin aus!
»Dass die Kleine eben Stefanie so ähnlich sieht. Unglaublich!«, sagte Nadja und ergriff seine Hand. Sie streichelte mit dem Daumen seinen Handballen, eine zärtliche Berührung, die ihm unter anderen Umständen vielleicht gefallen hätte. Jetzt aber störte sie ihn.
»Ja, unglaublich ist Amelie wirklich«, antwortete er versonnen. »Unglaublich mutig und unerschrocken.«
Er dachte daran, wie sie den Überfall im Hof weggesteckt hatte. Jedes andere Mädchen wäre in Tränen aufgelöst nach Hause oder zur Polizei gelaufen, nicht so Amelie. Was hatte sie ihm eben noch erzählen wollen? Was hatte Thies ihr gesagt?
»Gefällt sie dir?«, wollte Nadja wissen. Wäre er nicht so in Gedanken gewesen, hätte er vielleicht eine andere, diplomatischere Antwort gegeben.
»Ja«, antwortete er aber. »Ich mag sie. Sie ist so … anders.«
»Anders als wer? Als ich?«
Da blickte Tobias auf. Er begegnete ihrem konsternierten Blick, wollte lächeln, aber das Lächeln wurde zu einer Grimasse.
»Anders als die Leute hier, wollte ich sagen.« Er drückte ihre Hand. »Amelie ist gerade mal siebzehn. Sie ist wie eine kleine Schwester.«
»Na, dann pass mal auf, dass du der kleinen Schwester nicht den Kopf verdrehst mit deinen blauen Augen.« Nadja entzog ihm ihre Hand und schlug die Beine übereinander. Sie blickte ihn mit schräggelegtem Kopf an. »Ich glaube, du hast keinen blassen Schimmer davon, wie du auf Frauen wirkst, oder?«
Ihre Worte erinnerten ihn an früher. Wieso hatte er damals nie bemerkt, dass in Nadjas kritischen Bemerkungen über andere Mädchen immer ein Funken von Eifersucht gesteckt hatte?
»Ach, komm schon«, sagte er und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Amelie arbeitet im Schwarzen Ross und hat da einiges aufgeschnappt, was sie so gehört hat. Unter anderem hat sie Manfred Wagner auf dem Fahndungsfoto erkannt. Er war es, der meine Mutter von der Brücke gestoßen hat.«
»Wie bitte?«
»Ja. Und sie glaubt auch, dass der Pietsch, der Richter und der Dombrowski mich gestern Nacht zusammengeschlagen haben. Sie kamen gestern ungewöhnlich spät zu ihrem Skatabend.«
Nadja starrte ihn ungläubig an. »Das ist nicht dein Ernst!«
»Doch. Außerdem ist Amelie der festen Überzeugung, dass es jemanden gibt, der damals etwas beobachtet hat, was mich entlasten könnte. Gerade als du gekommen bist, wollte sie mir etwas von Thies, vom Lauterbach und von irgendwelchen Bildern erzählen.«
»Das wäre ja … das … das wäre ja ungeheuerlich!« Nadja sprang auf und ging ein paar Schritte bis zu ihrem Auto. Sie drehte sich um und sah Tobias aufgebracht an. »Aber warum hat denn derjenige nie etwas gesagt?«
»Tja, wenn ich das nur wüsste.« Tobias lehnte sich zurück und streckte vorsichtig die Beine aus. Jede Bewegung seines geschundenen Körpers schmerzte, trotz der Tabletten. »Auf jeden Fall muss Amelie auf irgendetwas gestoßen sein. Stefanie hatte mir damals erzählt, sie hätte was mit dem Lauterbach. Du erinnerst dich an ihn, oder?«
»Natürlich.« Nadja nickte heftig und starrte ihn an.
»Ich dachte erst, sie sagt das nur so, um sich wichtig zu machen, aber dann habe ich die beiden zusammen hinter dem Zelt gesehen, auf der Kerb. Das war der Grund, weshalb ich schnurstracks nach Hause gegangen bin. Ich war …«, er brach ab, suchte nach den richtigen Worten, um den Gefühlsaufruhr zu beschreiben, der damals in ihm getobt hatte. Kein Blatt Papier hätte zwischen die beiden gepasst, so eng beieinander hatten sie dagestanden, und der Lauterbach hatte seine Hand auf ihrem Po liegen gehabt. Die jähe Erkenntnis, dass Stefanie mit anderen Männern herummachte, hatte ihn wie ein Strudel in ein tiefes Loch gerissen.
»… wütend«, ergänzte Nadja gerade.
»Nein«, widersprach Tobias. »Ich war eben nicht wütend. Ich war … verletzt und traurig. Ich habe Stefanie echt geliebt!«
»Stell dir mal vor, das käme raus.« Nadja lachte leise und ein wenig boshaft. »Was meinst du, was das für Schlagzeilen geben würde: ein Kinderficker als Kultusminister!«
»Meinst du denn, die hatten ein richtiges Verhältnis?«
Nadja hörte auf zu lachen. In ihren Augen lag ein eigenartiger Ausdruck, den er nicht deuten konnte. Sie zuckte die Achseln.
»Zugetraut hätte ich es ihm auf jeden Fall. Er war ja wie bekloppt hinter seinem Schneewittchen her, hat ihr sogar die Hauptrolle gegeben, obwohl sie so was von talentfrei war! Wenn sie nur um die Ecke kam, hing ihm die Zunge aus dem Hals.«
Plötzlich waren sie mittendrin in dem Thema, das sie bisher so sorgfältig vermieden hatten. Tobias hatte sich damals nicht gewundert, dass Stefanie die Hauptrolle im Weihnachtsmärchen der Theater AG bekommen hatte. Schon rein äußerlich war sie die ideale Besetzung für das Schneewittchen. Er erinnerte sich lebhaft an den Abend, als es ihm das erste Mal richtig aufgefallen war. Stefanie war in sein Auto gestiegen, sie hatte ein weißes Sommerkleid getragen und roten Lippenstift, das dunkle Haar hatte im Fahrtwind geweht. Weiß wie Schnee, rot wie Blut, schwarz wie Ebenholz – das hatte sie selbst gesagt und gelacht. Wohin waren sie gefahren, an jenem Abend? In dieser Sekunde traf ihn die Erkenntnis wie ein Blitzschlag. Da war der Gedanke wieder, der seit Tagen in seinem Kopf herumspukte! … könnt ihr euch erinnern, wie meine Schwester den Schlüsselbund von meinem Alten für den Flugplatz geklaut hat und wir in dem alten Flugzeughangar Rennen gefahren sind? Das hatte Jörg am Donnerstagabend in der Garage gesagt. Natürlich konnte er sich erinnern! Auch an diesem Abend waren sie dorthin unterwegs gewesen, Stefanie hatte ihn gedrängt, schnell loszufahren, damit sie alleine im Auto waren. Jörgs Vater Manfred Richter war beim Fernmeldeamt gewesen und hatte in den siebziger und achtziger Jahren auf dem Gelände des ehemaligen Militärflughafens gearbeitet! Als Kinder hatten Jörg, er und die anderen ihn gelegentlich begleiten und auf dem verwilderten Areal spielen dürfen, während er dort zu tun hatte. Später dann, als sie älter waren, hatten sie dort heimlich Autorennen veranstaltet und Partys gefeiert. Und nun war Lauras Skelett genau dort gefunden worden. Konnte das ein Zufall sein?
Wie aus dem Boden gewachsen stand er vor ihr, gerade als sie sich noch einmal umgewandt hatte, um einen letzten Blick auf Tobias und diese blonde Schnecke mit dem Luxusschlitten zu werfen.
»Mensch, Thies!«, stieß sie erschrocken hervor und wischte sich verstohlen die Tränen von der Wange. »Musst du mich so erschrecken, verdammt?«
Manchmal war es ihr schon unheimlich, wie lautlos Thies auftauchen und verschwinden konnte. Erst jetzt bemerkte sie, dass er krank aussah. Seine Augen lagen tief in den Höhlen und glänzten fiebrig. Er zitterte am ganzen Körper, hielt die Arme fest um seinen Oberkörper geschlungen. Ihr schoss der Gedanke durch den Kopf, dass er wirklich wie ein Irrer wirkte. Sofort schämte sie sich dafür.
»Was ist mit dir? Geht's dir nicht gut?«, fragte sie.
Er reagierte nicht, blickte sich nervös um. Sein Atem ging schnell und stoßweise, als sei er gerannt. Plötzlich löste er die Arme von seinem Oberkörper und ergriff zu Amelies großem Erstaunen ihre Hand. Das hatte er noch nie getan. Berührungen waren ihm zuwider, das wusste sie.
»Ich konnte Schneewittchen nicht beschützen«, sagte er mit heiserer, angespannter Stimme. »Aber auf dich passe ich besser auf.«
Seine Augen wanderten unruhig hin und her, immer wieder blickte er zum Waldrand hoch, als erwarte er aus dieser Richtung irgendeine Gefahr. Amelie schauderte. Die Puzzlestückchen setzten sich mit einem Mal wie von selbst in ihrem Kopf zusammen.
»Du hast gesehen, was passiert ist, stimmt's?«, flüsterte sie. Thies wandte sich abrupt um und zog sie mit sich, ihre Hand immer noch fest umklammert. Amelie stolperte hinter ihm her durch einen matschigen Graben und dichtes Gestrüpp. Als sie den schützenden Wald erreicht hatten, verlangsamte Thies das Tempo etwas, dennoch war es viel zu schnell für Amelie, die zu viel rauchte und zu wenig Sport trieb. Eisern hielt er ihre Hand fest; als sie stolperte und hinfiel, zerrte er sie gleich wieder hoch. Es ging bergauf. Trockene Zweige knackten unter ihren Füßen, Elstern zeterten in den Wipfeln der Tannen. Unvermittelt blieb er stehen. Amelie blickte sich keuchend um und erkannte durch die Bäume ein Stück unterhalb des Hangs die hellroten Dachziegel der Terlinden-Villa. Schweiß rann über ihr Gesicht, sie hustete. Warum war Thies um das ganze Grundstück herumgelaufen? Der Weg quer durch den Park wäre weitaus weniger beschwerlich gewesen. Er ließ ihre Hand los und machte sich an einem rostigen, schmalen Tor zu schaffen, das sich mit einem widerwilligen Quietschen öffnete. Amelie folgte ihm durch das Tor und sah, dass sie sich direkt hinter der Orangerie befanden. Thies wollte wieder nach ihrer Hand greifen, aber sie entzog sie ihm.
»Warum rennst du wie ein Bekloppter durch die Gegend?«
Sie versuchte, das Unbehagen, das sie plötzlich erfüllte, zu verdrängen, aber mit Thies stimmte etwas ganz und gar nicht. Die beinahe lethargische Ruhe, die er üblicherweise an den Tag legte, war verschwunden, und als er sie nun anblickte, ganz direkt und ohne ihrem Blick auszuweichen, erschreckte sie der Ausdruck in seinen Augen.
»Wenn du niemandem etwas sagst«, sagte er leise, »dann zeige ich dir mein Geheimnis. Komm!«
Er öffnete die Tür der Orangerie mit dem Schlüssel, der unter der Fußmatte lag. Sie überlegte kurz, ob sie einfach weglaufen sollte. Aber Thies war ihr Freund, er vertraute ihr. Also beschloss sie, auch ihm zu vertrauen, und folgte ihm in den Raum, den sie gut kannte. Er schloss die Tür von innen sorgfältig ab und blickte sich um.
»Kannst du mir sagen, was mit dir los ist?«, fragte Amelie. »Ist irgendetwas passiert?«
Thies antwortete nicht. Er rückte im hinteren Teil des großen Raumes eine große Kübelpalme zur Seite und lehnte das Brett, auf dem sie gestanden hatte, an die Wand. Neugierig trat Amelie näher heran und sah erstaunt eine in den Boden eingelassene Falltür. Thies öffnete die Luke und drehte sich zu ihr um. »Komm«, forderte er sie auf.
Amelie betrat die schmale, rostige Eisentreppe, die steil nach unten ins Dunkel führte. Thies schloss die Luke über sich, Sekunden später flammte schwach eine Glühbirne auf. Er schob sich dicht an ihr vorbei und öffnete eine massive Eisentür. Ein Schwall trockener, warmer Luft schlug ihnen entgegen, und Amelie staunte nicht schlecht, als sie den großen Kellerraum betrat. Heller Teppichboden, in einem fröhlichen Orange gehaltene Wände. Ein Regal voller Bücher an der einen, ein gemütlich aussehendes Sofa auf der anderen Seite. Die hintere Hälfte des Raumes war mit einer Art Paravent abgetrennt. Amelie klopfte das Herz bis in den Hals. Thies hatte ihr nie signalisiert, dass er etwas von ihr wollte, und auch jetzt glaubte sie nicht, dass er über sie herfallen und sie vergewaltigen würde. Außerdem war sie notfalls mit ein paar Schritten auf der Treppe und im Park.
»Komm«, sagte Thies wieder. Er schob den Paravent zur Seite, und Amelie sah ein altmodisches Bett mit einem hohen hölzernen Kopfteil. An der Wand hingen Fotografien, säuberlich in Reih und Glied aufgehängt, wie es Thies' Art war.
»Komm nur. Ich habe Schneewittchen schon so viel von dir erzählt.«
Sie kam näher heran, und es verschlug ihr den Atem. Mit einer Mischung aus Grauen und Faszination blickte sie in das Gesicht einer Mumie.
»Was hast du denn?« Nadja ging vor ihm in die Hocke, legte die Hände vorsichtig auf seine Oberschenkel, aber er schob sie ungeduldig weg und stand auf. Er humpelte ein paar Meter, blieb dann stehen. Der Verdacht war ungeheuerlich!
»Lauras Leiche lag in einem Bodentank auf dem Gelände des alten Militärflughafens in Eschborn«, sagte Tobias mit belegter Stimme. »Du erinnerst dich sicher, dass wir dort früher öfter gefeiert haben. Jörgs Vater hatte ja noch die Schlüssel für das Tor.«
»Was meinst du?« Nadja kam ihm nach und sah ihn verständnislos an.
»Ich habe Laura nicht in den Tank geworfen«, erwiderte Tobias heftig und biss die Zähne so fest aufeinander, dass sie knirschten. »Verdammt, verdammt, verdammt.« Er ballte die Hände zu Fäusten. »Ich will wissen, was wirklich passiert ist! Meine Eltern wurden ruiniert, ich hab zehn Jahre im Knast gesessen, und dann stößt Lauras Vater auch noch meine Mutter von einer Brücke! Ich kann das alles nicht mehr ertragen!«, schrie er, während Nadja stumm vor ihm stand. »Komm mit mir, Tobi. Bitte.«
»Nein!«, entgegnete er scharf. »Kapierst du's nicht? Genau das wollen die doch erreichen, diese Arschlöcher!«
»Gestern haben sie dich nur zusammengeschlagen. Was, wenn sie wiederkommen und Ernst machen?«
»Mich umbringen, meinst du?« Tobias blickte Nadja an. Ihre Unterlippe zitterte leicht, ihre großen grünen Augen schwammen in Tränen. Nadja hatte es wirklich nicht verdient, dass er sie anschrie. Sie hatte als Einzige unerschütterlich zu ihm gehalten. Ja, sie hätte ihn sogar im Gefängnis besucht, aber das hatte er nicht gewollt. Plötzlich war sein Zorn verraucht, und er verspürte nur noch ein schlechtes Gewissen.
»Entschuldige bitte«, sagte er leise und streckte die Arme aus. »Ich wollte dich nicht anschreien. Komm zu mir.«
Sie lehnte sich an ihn, schmiegte ihr Gesicht an seine Brust, und er schloss sie fest in seine Arme.
»Wahrscheinlich hast du recht«, flüsterte er in ihr Haar. »Die Zeit lässt sich sowieso nicht mehr zurückdrehen.«
Sie hob den Kopf, blickte ihn an. Tiefe Besorgnis stand in ihren Augen. »Ich habe Angst um dich, Tobi.« Ihre Stimme zitterte leicht. »Ich will dich nicht noch einmal verlieren, jetzt, wo ich dich endlich wiederhabe!«
Tobias verzog das Gesicht. Er schloss die Augen und legte seine Wange an ihre. Wenn er doch nur wüsste, ob es gutgehen könnte mit ihm und ihr! Er wollte nicht wieder enttäuscht werden. Lieber blieb er bis an sein Lebensende alleine.
Manfred Wagner saß wie ein Häufchen Elend an dem Tisch im Vernehmungsraum und hob mühsam den Kopf, als Pia und Bodenstein eintraten. Aus rotgeränderten, wässrigen Trinkeraugen starrte er sie an.
»Sie haben sich mehrerer schwerer Verbrechen schuldig gemacht«, begann Bodenstein ernst, nachdem er das Tonband eingeschaltet und die notwendigen Angaben für das Protokoll gemacht hatte. »Körperverletzung, gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr und – je nachdem, wie der Staatsanwalt das beurteilt – fahrlässige Tötung oder sogar Totschlag.«
Manfred Wagner wurde noch eine Spur blasser. Sein Blick wanderte zu Pia und zurück zu Bodenstein. Er schluckte.
»Aber … aber … Rita lebt doch noch«, stammelte er.
»Das stimmt«, bestätigte Bodenstein. »Aber der Mann, auf dessen Windschutzscheibe sie gefallen ist, ist noch am Unfallort einem Herzinfarkt erlegen. Ganz abgesehen von dem Sachschaden an den Autos, die in den Unfall involviert waren. Diese Angelegenheit wird für Sie schwerwiegende Konsequenzen haben, und es war nicht gut, dass Sie sich nicht der Polizei gestellt haben.«
»Das wollte ich ja tun«, beteuerte Wagner mit weinerlicher Stimme. »Aber … aber die haben mir alle abgeraten.«
»Wen meinen Sie?«, fragte Pia. Jegliches Mitgefühl für den Mann war in ihr erloschen. Er hatte einen schlimmen Verlust erlitten, aber das rechtfertigte nicht seinen Angriff auf Tobias' Mutter.
Wagner zuckte die Schultern, blickte sie nicht an.
»Die alle«, erwiderte er, genauso vage wie Hartmut Sartorius wenige Stunden zuvor, als Pia ihn gefragt hatte, wer hinter den anonymen Drohbriefen und dem Angriff auf seinen Sohn stecke.
»Aha. Tun Sie immer, was die alle sagen?« Es klang schärfer als beabsichtigt, zeigte aber Wirkung.
»Sie haben doch keine Ahnung!«, fuhr Wagner auf. »Meine Laura war etwas ganz Besonderes. Sie hätte es zu was gebracht. Und sie war so schön. Manchmal konnte ich gar nicht glauben, dass sie wirklich mein Kind war. Und dann musste sie sterben. Wurde einfach weggeworfen, wie ein Stück Müll. Wir waren eine glückliche Familie, hatten gerade neu gebaut, draußen im neuen Gewerbegebiet, und meine Schreinerei lief gut. Im Ort waren wir eine gute Gemeinschaft, jeder war mit jedem befreundet. Und dann … verschwanden Laura und ihre Freundin. Tobias hat sie ermordet, dieses eiskalte Schwein! Ich hab ihn angebettelt, mir zu sagen, warum er sie ermordet hat und was er mit ihrer Leiche gemacht hat. Aber er hat es nie gesagt.«
Er krümmte sich und schluchzte haltlos. Bodenstein wollte schon das Aufnahmegerät abschalten, aber Pia hielt ihn zurück. Weinte Wagner wirklich aus Kummer um die verlorene Tochter oder aus purem Selbstmitleid?
»Hören Sie auf mit dem Theater«, sagte sie.
Der Kopf von Manfred Wagner fuhr hoch, er starrte sie so verblüfft an, als hätte sie ihm in den Hintern getreten. »Ich habe mein Kind verloren«, begann er mit zittriger Stimme.
»Das weiß ich«, schnitt Pia ihm das Wort ab. »Und dafür haben Sie mein ganzes Mitgefühl. Aber Sie haben noch zwei andere Kinder und eine Frau, die Sie brauchen. Haben Sie überhaupt nicht darüber nachgedacht, was es für Ihre Familie bedeutet, wenn Sie Rita Cramer etwas antun?«
Wagner blieb stumm, aber plötzlich verzerrte sich sein Gesicht.
»Sie wissen ja gar nicht, was ich mitgemacht habe in den letzten elf Jahren!«, schrie er zornig.
»Ich weiß aber, was Ihre Frau mitgemacht hat«, erwiderte Pia kühl. »Sie hat nicht nur ein Kind verloren, sondern auch ihren Mann, der sich vor lauter Selbstmitleid jeden Abend betrinkt und sie völlig im Stich lässt! Ihre Frau kämpft ums Überleben. Und was tun Sie?«
Wagners Augen begannen zu funkeln. Pia hatte offenbar eine wunde Stelle getroffen.
»Was geht Sie das an, zum Teufel?«
»Wer hat Ihnen geraten, sich nicht der Polizei zu stellen?«
»Meine Freunde.«
»Etwa dieselben Freunde, die tatenlos zusehen, wie Sie sich jeden Abend im Schwarzen Ross volllaufen lassen und Ihre Existenz aufs Spiel setzen?«
Wagner öffnete den Mund zu einer Entgegnung, sagte aber nichts. Sein feindseliger Blick wurde unsicher, glitt zu Bodenstein.
»Ich lass mich hier nicht fertigmachen.« Seine Stimme schwankte. »Ohne einen Anwalt sag ich keinen Ton mehr.«
Er verschränkte die Arme vor der Brust und presste das Kinn auf die Brust, wie ein trotziges Kind. Pia sah ihren Chef an und hob die Augenbrauen. Bodenstein drückte auf die Stopp-Taste des Aufnahmegerätes.
»Sie dürfen nach Hause gehen«, sagte er.
»Bin ich … bin ich nicht … verhaftet?«, krächzte Wagner erstaunt.
»Nein.« Bodenstein stand auf. »Wir wissen ja, wo wir Sie finden können. Der Staatsanwalt wird Anklage gegen Sie erheben. Einen Anwalt brauchen Sie auf jeden Fall.«
Er öffnete die Tür; Wagner wankte an ihm vorbei, begleitet von dem Beamten, der beim Verhör im Raum gewesen war. Bodenstein blickte ihm nach.
»Fast könnte er einem leidtun in seiner ganzen Jämmerlichkeit«, sagte Pia neben ihm. »Aber auch nur fast.«
»Wieso bist du ihn so hart angegangen?«, wollte Bodenstein wissen.
»Weil ich das Gefühl habe, dass viel mehr hinter der ganzen Sache steckt, als wir im Moment sehen können«, antwortete Pia. »In diesem Kaff geht irgendetwas vor sich. Und zwar seit damals. Da bin ich mir ganz sicher.«
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