ANGST VOR DEM ALLERSCHLIMMSTEN, FURCHTBARSTEN, DAS MAN SICH NUR VORSTELLEN KANN

(Panophantahorrophobie)

Ängste hervorrufen können auch Menschen, die Angst haben. Denn die geraten womöglich völlig außer Kontrolle.

Nie werde ich den Tag vergessen, an dem ich es zum ersten Mal hörte – das, was ich seitdem »den Schrei« nenne. Ausdruck der tiefsten, grausamsten Furcht, derer ich jemals Zeuge werden musste, abgesehen von Jamie Lee Curtis in »Halloween« natürlich.

Ich befand mich im Esszimmer der herrlichen Altbauwohnung, in der ich damals lebte. Eine bezaubernde junge Dame war gerade bei mir eingezogen und ich hatte das Gefühl, dass mein Leben sich verändern könnte. Nicht immer nur Sex, Geld und Alkohol, nein, auch mal Streit, Möbelkataloge und benutzte Tampons im Klo – warum nicht?

Ich schenkte uns gerade Wein ein und freute mich auf einen entspannten Filmabend. Wir hatten uns auf einen Emmerich-Film geeinigt, die kleine Katastrophe für zwischendurch. Und dann hörte ich ihn: den Schrei. Nicht aus dem Fernseher, sondern aus der Küche. Er war nicht artikuliert, er war nicht schrill – er war schlimmer. Es handelte sich einen der normalen Stimmlage meiner Geliebten absolut nicht entsprechenden, tiefen, kehligen Laut. Es war furchtbar. Mir brach sofort der Schweiß aus. Angst pur. Kennen wir ja auch aus dem Kino: Das Leben des Helden scheint endlich in Ordnung zu kommen; er hat mit seiner großen, neuen Liebe schließlich auch mal ein wenig Glück gehabt, nach seinen zahllosen, harten Opfern der Vergangenheit. Er verspricht, öfter und früher nach Hause zu kommen, sich in den Innendienst versetzen zu lassen. Und dann – zack – wird die Liebe seines Lebens brutal ermordet. Und es heißt doch wieder: Sex, Geld und Alkohol.

In größter Sorge stürzte ich in die Küche, wo sich meine Süße aufhielt. War jemand durch das Seitenfenster eingedrungen? Das Vordach des Nachbarhauses bot dafür eine Art ideale Räuberleiter – für uns ein steter Grund zur Unruhe.

Oder hatte sie sich verletzt? Die meisten Unfälle passieren im Haushalt. Oder war das der Hausflur? Vielleicht war auch dem Hund etwas zugestoßen? War sie plötzlich eines leblos in seinem Korb liegenden Kadavers gewahr geworden? War ihr Dalmatiner eines der zahllosen beklagenswerten Opfer dieser verschluckbaren Kleinteile von IKEA? Das würde zumindest den animalischen Klang ihrer Stimme erklären.

Verdammt, es hatte sich angehört, als wäre ihr die Seele mit einem Ruck aus dem Leib gefahren. Ja, doch, es hatte was vom »Exorzisten«.

Ich stürzte in die Küche, auf alles gefasst. Sapperlot, was sah ich da? Nichts. Meine Süße starrte einfach nur gegen die Wand. Oh Gott, dachte ich, sie hat den Verstand verloren, jetzt ist es passiert. Ausgerechnet heute, wo ich doch mit ihr »Independence Day« sehen wollte. Oder gerade deshalb?

Langsam, ganz langsam hob sich ihre Hand und ich realisierte, dass sie mir etwas zeigen wollte. Sie deutete auf den dunklen Spalt hinter Waschmaschine und Trockner. Was mochte da sein? Einbrecher und kalter Hund waren damit jedenfalls ausgeschlossen. »Da …«, sagte sie. »Äh, ja?«, erwiderte ich. Pause. Dann seufzte sie: »Spinne!« Ui, dachte ich, das ist was Ernstes, das Sprachzentrum ist betroffen. Ich war verunsichert und wiederholte daher einfach erstmal ihre Worte, um Zeit zu gewinnen. »Da, Spinne!«. Erneute Pause. Ich versuchte es erneut: »Und …?« Sie: »Riesenspinne …!!!« Ich brummte zustimmend, nachdem ich des Tieres nach einigem Suchen auch selbst gewahr geworden war. Die war für Spinnenverhältnisse wirklich riesig. Will sagen: Man konnte sie mit bloßem Auge erkennen. Langsam schien meine Süße zu realisieren, dass wir ja noch nicht so lange zusammenlebten und ich vielleicht eine Art Unerfahrenheit in solchen Situationen besitzen könnte. Sie stotterte: »Ich … habe … Angst vor Spinnen …«

Ich bin in meinem Umfeld nicht für meine feine Klinge bekannt. Ich schätze den Säbel für seine klärende Wirkung endgültiger Art. Das Florett nehme ich nur zum Rasieren. Insofern war auch hier meine Reaktion weit entfernt von dem, was man landläufig »sensibel« zu nennen pflegt. Ich polterte: »Das musst du doch nicht, das ist doch lächerlich. Schließlich beißen die nicht!« Und zack, hatte ich ein Küchentuch in der Hand, die Spinne darin zerdrückt und in den Mülleimer geworfen.

Und wieder schrie sie auf. »Neiiiin!«, rief sie, »Tu das nicht! Das ist doch ein unschuldiges Tier!«. »Ja!«, sagte ich, »Und du hast davor Angst. Der Satz lautet: Töte, was du fürchtest. Und nicht: Schrei es an!« »Aber, aber … Das war eine männliche Wolfsspinne!«. »Bitte?!«, sagte ich, »Eine was?« – »Eine männliche Wolfsspinne!« – »Von denen habe ich noch nie was gehört. Hast Du so was studiert? War das hier die letzte ihrer Art? Quasi der letzte Mohikaner? Und woher weißt du, dass das eine männliche Spinne war? Hast du ihr zwischen die Beine gesehen? Und, wenn ja, zwischen welche?«

Langsam aber kehrte Farbe in ihr Gesicht zurück und sie begann wieder zu atmen. Einen kurzen Moment fühlte ich mich als Held. Ich hatte sie vor der Brutalität der Natur gerettet und unseren gemeinsamen Lebensraum gegen die eindringenden Vorboten der Wildnis verteidigt. Ich war definitiv cool. Meine Süße starrte zwar noch den Rest des Abends paralysiert auf den Bildschirm. Das allerdings tat ich auch. »Independence Day«: Ein Säufer, ein Jude und ein Schwarzer retten die Welt. Zumindest ein ungewohnter Anblick.

Trotz des versauten Abends ging ich aber davon aus, dass sie den Verlust des Achtbeiners, das Aussterben der Wolfsspinnenart als solches verkraften würde. Schließlich hatte auch die Öffentlichkeit davon nicht im Geringsten Notiz genommen: Kein Greenpeace-Aktivist ließ sich an unserer Fassade herunter und kein Tierschützer baute in unserer Einfahrt seinen Infostand auf.

Es herrschte Frieden. Kurz.

Einige Wochen später gingen mir nämlich die Socken aus. Es verschwanden nicht einzelne, wie früher schon mal, nein, alle.

Bei Strümpfen handelt es sich meines Erachtens um elementare Ressourcen, die zum Überleben unverzichtbar sind. Nackten Fußes in die Schuhe gehört für mich zum Widerwärtigsten, was unsere Zeit so zu bieten hat. Rangiert direkt hinter Rektalgeräuschen als Klingelton und Barbusigen-Quizshows. Auch, wenn es sich beim Schuhinhalt um den gebräunten, schlanken Knöchel eines Seglers handelt: Das tut man nicht. Wenn ich keine Socken habe, bleibe ich lieber zuhause. In Sandalen wiederum gehören Strümpfe keinesfalls!

Also sah ich zutiefst besorgt nach, was passiert war. Ob womöglich der Abfluss verstopft wäre, die Waschmaschine defekt oder die Frau verstorben. Was insbesondere unglücklich gewesen wäre, da es die erste ihrer Art war, die sich bereiterklärt hatte, für meine Kleidung die Verantwortung zu übernehmen, inklusive Ausstattung und Auffrischung, Erwerb, ästhetischen Gesamtkonzepts – und eben auch Reinigung. Ihr Verlust hätte für mich definitiv auch Auswirkungen gehabt, was mein Erscheinungsbild anbetrifft. Auch das besorgte mich.

Im Sanitärbereich der Wohnung angekommen, musste ich feststellen, dass die Reinigungs-Abseite großräumig abgesperrt war. Davor türmte sich ein phänomenaler Schmutzwäscheberg, wie ich ihn seit meiner Studentenzeit in der Marburger WG nicht mehr gesehen hatte. Davor wiederum saß meine Allerwerteste. Ich war erleichtert, als ich sie sah. Was offenbar allerdings nicht auf Gegenseitigkeit beruhte: Befragt, was es denn mit diesem Haufen auf sich habe und ob es irgend etwas gebe, was ich wissen sollte, lavierte meine Süße im Kreis. Sie saß dort offenbar schon länger, war sichtbar erschöpft und kämpfte mit Kreislaufschwankungen, die wahrscheinlich auf Dehydration zurückzuführen waren.

Irgendwann gestand sie, dass es einen Wäsche-Delay gebe. »Oh«, sagte ich. Nun, sie komme bereits seit längerem nicht mehr an die Waschmaschine. »Oh!«, sagte ich erneut, »Wegen der vielen Wäsche davor?« – »Nein!«, antwortete sie, »Wegen der Spinne dahinter!« Ich griff bereits zum Küchentuch, da fiel sie mir in den Arm. »Genau deswegen habe ich nichts gesagt! Ich hatte Angst, dass du sie wieder tötest! Bitte, bitte, tu ihr nichts!« – »Hm«, grübelte ich, »Stirbt dann wieder jemand aus? Sollen wir jetzt ihretwegen umziehen? Oder barfuß laufen, bis das Vieh eines natürlichen Todes stirbt? Oder sich womöglich auch noch bei uns in einer für dich zufriedenstellenden Weise vermehrt hat?« – »Bitte, bitte, tu ihr nichts! Bring sie einfach raus!!!!«

Ich war gerührt. Mit welchem Pathos sie sich für die Schwachen einsetzte! Für die Wehrlosen! Für die Stummen! Ich lenkte ein. Schließlich würde ich eines Tages womöglich selbst solcher Zuwendung bedürfen, wenn ich schwach, wehrlos und stumm wäre. Als der Letzte einer aussterbenden Art fühle ich mich ohnehin schon lange.

Seit diesem Tag also nehme ich periodisch wiederkehrend Glas und Bierdeckel zur Hand, um Spinnen aus Ecken und Ritzen zu pflücken, sie unverletzt in das nächste Gebüsch zu tragen und dort freizulassen. Und jedes Mal fühle ich mich wie ein Held: Ich rette meine Frau UND die Welt. Nur blöd, dass Spinnen einen phänomenalen Orientierungssinn haben. Mittlerweile frage ich mich, ob es sich nicht immer wieder um dasselbe Exemplar handelt. Jedes Mal, wenn ich sie raustrage, überlegt sich die Spinne schon wieder einen Weg hinein. Ich bin Sisyphos. Oder Unkas. Oder Spider Man. Egal – Ich bin ein Held. Danke, Angst!

Die 33 tollsten Ängste ...: ... und wie man sie bekommt
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