ANGST VOR DEN ELTERN
(Parentophobie)
Angst vor den Eltern ist prinzipiell angebracht, sie ist gut und wird seit Menschengedenken für sinnvoll gehalten. Schließlich ist sie nicht umsonst im moralischen Zentralkatalog »Die zehn Gebote« verewigt. Gelegentlich verharmlost man sie auch als »Achtung« oder »Respekt«.
Die Furcht vor den Eltern hat ursprünglich natürlich nichts damit zu tun, dass sie überraschend sonntagnachmittags vor der Tür stehen, zwei unterschiedliche Stücke Torte auf den Teller und einen bestimmten Tee in die Tasse wollen, um sich dann über den Zustand des Autos (Vater) und des Gartens (Mutter) zu beschweren. So sehr er einem auch bevorsteht: Der Verwandtenbesuch ist eine spätere zivilisatorische Entwicklung – und eines von zahlreichen Beispielen dafür, dass die Mobilität von Senioren nicht immer ein Segen sein muss. Zumindest nicht für die Umwelt.
Natürlich ist die Furcht vor den Eltern viel älter. Sie ist zunächst körperlich begründet. Sie sind die »Großen«, die »Erwachsenen«. Sie sind einfach stärker. Sie können beispielsweise Nägel aus Stahl in Wände aus Beton schlagen. Sie können auch die auf Regalen oder Schränken in luftiger Höhe versteckten Süßigkeiten lächelnd erreichen und sich einverleiben. Kinder müssen dazu mehrere Stühle aufeinanderstellen oder eine Räuberleiter bilden. Oder noch schlimmer: um Erlaubnis bitten. Und dann vor dem Naschen erst die Hausaufgaben zu Ende machen.
Eltern können nahezu alles, ohne jemanden bitten oder Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen: Sie dürfen ins »tiefe Becken«. Sie können nachts um die Häuser ziehen und dürfen Auto fahren. Wenn auch nicht unbedingt direkt nacheinander. Erwachsene können sich alles erlauben. Meistens fragen sie noch nicht mal – sie tun es einfach. Das ist für Kinder zutiefst frustrierend, da sie nicht den Eindruck haben, ihre Eltern verhielten sich in irgendeiner Weise konsequenter als sie selbst. Oder hätten sich ihre Autonomie irgendwie verdient. Diesen Eindruck müssen die Erziehungsberechtigten auch massiv unterstützen, indem sie anders handeln als sie predigen, selbst tun, was sie verbieten und vor allem dabei den Eindruck vermitteln, sie handelten nach Lust und Laune und keineswegs irgendeinem Prinzip folgend. Das Kind darf nie wissen, woran es ist. Nur so kann es die angemessenen Angstgefühle den Eltern und später allen Autoritäten gegenüber entwickeln (siehe: Angst vor Arbeit).
Leider bereiten viele Eltern ihren Kindern große Probleme, indem sie ihnen beispielsweise die Konsequenzen ihres Handelns klarmachen. Das ist kontraproduktiv: Stringente Erziehung erschwert es enorm, sich vor Eltern zu fürchten. Tun Sie das nicht!
Inkonsequenz sollte die oberste Handlungsmaxime der Erziehungsberechtigung sein. Lob und Tadel, Zuneigung und Missachtung dürfen für das Kind in keinem erkennbaren Zusammenhang mit seinem Verhalten stehen. Vielmehr soll der Nachwuchs stets auf der Hut sein, sich dauerhaft wegducken müssen, weil er nie weiß, wann und warum ihn was trifft. Nur dies ermöglicht es Kindern, auch im späteren Leben ängstlich zu bleiben. Körperliche Gewalt, so befriedigend sie für den Anwender auch sein mag, gilt es allerdings, zu vermeiden, da der Nachwuchs dann früher oder später zurückschlagen oder das Weite suchen wird. Das ist kontraproduktiv.
Auch wenn die Kinder, wie es so schön heißt, »alt genug« sind, sollten sie die Furcht vor den Eltern nicht verlieren. Auch wenn man zweifellos flügge ist und sich selbst ernähren kann, wird man früh genug erkennen, wie angsterregend ähnlich man den Eltern ist. Und dass ausgerechnet die unangenehmsten Eigenschaften sich vererbt haben. Hier kann ein regelrechtes Epizentrum schönster Ängste entstehen: Man fürchtet jede Begegnung mit den Eltern, da diese einem stets aufs Neue vor Augen führt, was an ihnen man immer schon verachtet hat. Aber eben zugleich auch an sich selbst. Weshalb es sinnlos ist, sich aus dem Weg zu gehen. Hier können Angst, Sorge und Frustration eine lebenslängliche zirkuläre Komposition bilden.
Die Furcht vor körperlicher Züchtigung o. Ä. empfindet man ab einem gewissen Alter zumeist nicht mehr, da von einem zerbrechlichen Leib keine direkt Gefahr mehr ausgeht – abgesehen von Infektionen, die sich durch die Luft übertragen. Dieses Risiko sollte man allerdings eingehen, da man bei zu seltenen oder zu distanzierten Besuchen der Eltern um sein Erbe fürchten muss, das jahrzehntelange Gekrieche und Geducke also womöglich umsonst war (siehe: Angst vorm Altern).
Selbstverständlich ist es auch möglich, Angst vor den Eltern anderer Kinder zu entwickeln. Diese werden ihre Brut gegen jede Art äußere Einflussnahme verteidigen. Sie sollten es sich daher gut überlegen, ob Sie wirklich den Ladendieb festhalten oder beim Elternabend das Thema Drogen ansprechen wollen. In den neuen alternativen Vierteln unserer Großstädte wiederum werden Kinderwagen als Waffe eingesetzt; aus jeder Faser des Körpers der ihn führenden Mutter spricht der Satz: »Ich tue das für mein Land! Aus dem Weg, Rentenschnorrer!« Weichen Sie besser aus. Und fürchten Sie sich vor dem Tag, an dem die Kinder solcher Eltern Ihre Regierung wählen.