ANGST VOR FAHRRÄDERN
(Cyclophobie)
Die Angst vor Fahrrädern ist eine zivilisatorische Spätangst. Insbesondere, seit die Geschwindigkeit, der Preis und die Ausstattung des Fahrrads der eines mittelgroßen Charterflugzeugs entsprechen, sind vielerlei Befürchtungen ins Kraut geschossen.
Man kann Ängste auf verschiedene Arten mit Fahrrädern in Verbindung bringen. Gut möglich ist es, sich vor einem Sturz zu fürchten. Für diesen braucht es nicht immer äußere Einflüsse. Nachdem das eigene Gleichgewicht im Alter von ca. drei Jahren so weit im Lot ist, dass man überhaupt Rollschuhe, Skateboard oder Fahrrad besteigen kann, verliert man diese Sicherheit gegen Ende seines Lebens in aller Regel von selbst wieder. Da kann man sich sorgen! Denn Liegefahrräder haben die ältere Generation noch nicht für sich begeistern können.
Wer mit seinem Auto gelegentlich durch Wohngebiete fährt und die auf ihn zuhaltenden Fahrrad-Senioren genauer beobachtet, weiß, wovon die Rede ist. Der kennt ihren panischen Blick angesichts deines Wagens, ihre Angst, dass sie stürzen und sich den Oberschenkelhals brechen könnten, der sieht aber auch ihren Riesenradius und ihr enormes Schwanken. Da schiebt auch der Fahrzeugführer Panik: Wer will schon, dass ein unterversicherter Rentner auf der Kühlerhaube aufschlägt?! Und womöglich nachher Recht bekommt, weil das Auto aufgrund seiner Farbe zu schlecht zu sehen war oder dergleichen (siehe: Angst um den Vergaser; Angst vorm Altern; Angst vor den Eltern).
Eine andere Möglichkeit für Menschen aller Generationen besteht natürlich darin, sich mit Hilfsmitteln selbst aus dem Gleichgewicht zu bringen, wie schweren Taschen am Lenker oder der kichernden Freundin auf dem Gepäckträger.
Auch unter Alkoholeinfluss sind Stürze häufig vorprogrammiert. Was insbesondere dadurch an Reiz gewinnt, dass einem das Fahrrad ja von manchen als Alternative zum PKW bei Trunkenheit empfohlen wird. Wahrscheinlich, weil die Konsequenzen durchaus schmerzhafter sein können. Und den Richtigen treffen: Auf diese Weise hat sich schon mancher Trinker gesundgestoßen.
Eine weitere Fahrradangst bezieht sich darauf, von einem Drahtesel erfasst zu werden. Was gerade in Ballungsräumen sehr gefährlich werden kann. Insbesondere Fahrradkuriere sind dort stets mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit unterwegs, nicht nur, aber auch auf Fahrradwegen. Sie stehen stets unter Druck und auf dem Schlauch. Allein der Anblick eines Kuriers ist furchterregend und erinnert an den »Kurier des Zaren«, wie ihn der (von der Springerpresse in den Tod getriebene) Raimund Harmstorf verkörperte: gehetzter, irrer Blick, aus Augen, die tief in dunklen Höhlen liegen, da Schlaf im Leben eines Boten eine deutlich untergeordnete Rolle spielt. Manche der modernen Kuriere tragen daher auch ganzjährig verspiegelte Sonnenbrillen. Dazu zerrissene, maximal dreiviertellange Hosen und Schuhe mit Spikes, die mit dem Blut ihrer Opfer getränkt sind. Wild stehen die aus Zeitmangel schon lang nicht mehr gewaschenen oder geschnittenen Haare in die Gegend. Ellenbogen- oder Knieschützer haben Kuriere selbstverständlich nicht. Das wäre das falsche Signal, denn das hieße ja, sich bereits vorab mit dem Sturz anzufreunden. Einen Helm dagegen tragen sie, weil dieser ihr Drohpotential erhöht: Allein seinetwegen flüchten die meisten Fußgänger schon in die Hauseingänge, wenn sie seiner gewahr werden, stammt er in aller Regel doch aus dem ersten Weltkrieg. Der Helm, nicht der Kurier. Man hat sogar schon Original-Pickelhauben gesehen. Der Drahtesel des Fahrradkuriers ist karg: nackter schwarzer Stahl, mehr nicht. Damit sie es sich nicht zu bequem machen können, gibt es keinen Sattel. Ein Schutzblech auch nicht. Der in alle Richtungen ungehindert spritzende Dreck bestraft vielmehr die Passanten, die es wagen, nicht ausreichend Abstand zu halten. Verwandte kennen diese Radrowdys nicht, als Freunde haben sie nur sich selbst. Ausgebildet werden sie in abgeschirmten Camps im bergischen Land. Um danach eine Schneise der Verwüstung durch unsere Städte zu ziehen. Der Fahrradkurier ist der Selbstmordattentäter der westlichen Welt. Im Jenseits erhält er 72 Polstersessel.
Allerdings ist man auch auf dem Land nicht frei von der Angst vor dem Fahrrad. In abgeschiedenen Regionen wie dem Harz oder dem Hunsrück ist es den Menschen schlicht zu schnell. Die lokalen Medizinmänner warnen die Eingeborenen nach wie vor vor diesem Verkehrsmittel.
Aber neben der Geschwindigkeit gibt es auch noch ein weiteres angsterregendes Merkmal des Fahrradfahrens: die äußere Erscheinung. Wenn man beispielsweise als evangelischer Pfarrer in seiner Freizeit mit seiner Familie die Karl-May-Festspiele besucht und daher Federschmuck und Kriegsbemalung trägt, möchte man nicht gesehen werden. Oder nur von Blutsverwandten. Gleiches gilt für die Menschen, die sich sonntags in zu enge, pastellfarben gemusterte Fahrradanzüge quetschen (mit Gesäßpolster, auch Sitzpad genannt) und in ihre zu kleinen Schühchen, Ruckedikühchen. Auf dem Kopf befindet sich ein lustiger Bärchenhelm von Lidl, an den klammen Fingern Handschuhe von Penny und am Lenker eine Trinkflasche von IKEA. Dies ist an sich schon kein schöner Anblick. Noch peinlicher ist es aber, wenn diese Klödens und Armstrongs für Arme während ihres sogenannten Trainings plötzlich grußlos in den Straßengraben kippen. Dabei gesehen zu werden, bereitet ihnen Sorgen.