GERMAN ANGST
»German Angst« ist ein internationaler Fachausdruck für die unseren Landsleuten zugeschriebene Form des skeptischen Pessimismus. Das dazu passende Geräusch wäre am ehesten ein tiefer Seufzer. Wir bringen damit zum Ausdruck, dass wir nicht an Änderung glauben – und in keinem Falle an eine zum Guten. Wir wissen nicht, was wir tun sollen – aber immerhin wissen wir ganz genau, dass das, was wir tun, das Falsche gewesen sein wird. Und tun dann lieber gar nichts. Es ist eine Form von Fatalismus, garniert mit einem Hauch negativer Zukunftserwartung und moralischer Egozentrik.
»German Angst« entspringt wohl originär der Vorsicht des Nordmannes, der für die kalte Jahreszeit Vorräte anlegen musste, um nicht zu verhungern. Daher war sein Lebenswandel stets geprägt von Vorsicht und Berechnung. Die Bewohner südlicherer Regionen gelten dagegen als glücklicher, sind aber meist hungrig.
Neben den alltäglichen, der Depression ähnlichen Formen erscheint die »German Angst« auch in der Außenpolitik: als eine Art Zaudern. Deutschland wägt so lange ab, ob Gewalt gegen einen Diktator angewendet werden darf, bis dieser alle Oppositionellen eliminiert und sich das Problem somit erledigt hat. Wir seufzen dann einmal tief und zweifeln andernorts weiter. Unser kollektives Verhalten ähnelt darin auch dem individuellen: Andere Nationen vergleichen unsere Regierungen in ihrer Entscheidungsfreude gerne mit Eltern, die so lange diskutieren, ob sie ihren Kindern das Tischdecken zumuten können, bis diese ausgezogen sind. Jahrzehntelang kämpfte Deutschland um die Möglichkeit, am zentralen Tisch der Weltpolitik zu sitzen und mitzuentscheiden. Und was war konsequenterweise unsere erste Amtshandlung im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen? Eine Enthaltung.
Diese Regeln der »German Angst« lassen sich ohne Weiteres auch im Privatleben anwenden. Zu Silvester kann man an Dutzenden unterschiedlicher Veranstaltungsorte Karten oder in Restaurants Sitzplätze reservieren – um dann letzten Endes zuhause mit Freunden einen Spieleabend zu machen. Mit Raclette. Im Urlaub kann man früh aufstehen und Handtücher auf eine Vielzahl von Sonnenstühlen in unterschiedlichen Positionen und Himmelsrichtungen legen, um zu guter Letzt aber wegen der Hitze lieber auf dem klimatisierten Zimmer zu bleiben. Man kann sich nach dem Abitur um unterschiedliche Studienplätze bewerben in unterschiedlichen Fächern und an unterschiedlichen Orten – um dann doch den elterlichen Hof zu übernehmen. Probieren Sie es aus! Ihre Angst, das Falsche zu tun, wird umso größer, je mehr Möglichkeiten Sie nicht wahrgenommen haben. Beschäftigen Sie sich mit Politik, lesen Sie die Zeitung und sehen Sie regelmäßig die Tagesschau. Seufzen Sie tief und sagen Sie: »Man müsste mal …« oder »Das kann so nicht weitergehen!«. Und tun Sie: nichts. Irgendwann fürchten Sie sich dann sogar davor, überhaupt vor die Tür zu treten. Weil da draußen zu viele Leute sind, denen Sie nicht geholfen haben.