ANGST VORM KOMMUNISMUS
(Sozialophobie)
Die Angst vor dem Kommunismus ist zur Zeit wieder deutlich auf dem Vormarsch. Und das, obwohl er sich als politisches System selbst desavouiert hat und praktisch verschwunden ist. Dieser gegnerlose Antisozialismus ist zu begrüßen, da die daraus erwachsende Individualisierung und Isolation hervorragende Voraussetzungen sind für vielerlei weitere Ängste.
Angst vorm Kommunismus ist eine Form von Sozialphobie und hat ihre Ursache in den totalitären Systemen der Vergangenheit, in denen das Kollektiv missbraucht wurde. Resultat war ein elementares Misstrauen gegenüber dem, was die Mehrheit will, sowie dem, was der Staat tut.
Ein zweiter Grund für diese Angst vor dem Gemeinsinn ist die zunehmend undurchschaubare wirtschaftliche Lage, allgemein wie individuell. Wenn ein Zechpreller erwischt wird, kann er neuerdings sagen: »Tut mir leid, ich wusste nicht, dass ich mir das Bier nicht leisten kann, verstehen Sie, die Globalisierung!« Dieses Argument kann auch der Wirt nachvollziehen.
Denn durch die zunehmende Komplexität von wirtschaftlichen Zusammenhängen kann man sich natürlich leicht bedroht fühlen. Früher war der in China umfallende Sack Reis tatsächlich bedeutungslos. Heute gerät sofort der DAX ins Rutschen. Was auch immer das bedeuten mag: Man hört davon sofort in den Nachrichten – als »Breaking News« bei N24. Das ruft Panik hervor.
Denn Fernsehen und Zeitung vermitteln eine Vielzahl sogenannter Informationen, die nicht sonderlich gut recherchiert, einseitig dargestellt und von einem Normalbürger mangels volkswirtschaftlicher Kenntnisse meist nicht auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen sind. Aber alle haben dieselbe Botschaft: Es geht uns schlecht. Es geht weiter bergab. Und andere, denen es noch schlechter oder mit denen es noch schneller bergab geht, ziehen uns mit runter. Ergebnis ist, dass angesichts der bedrohlichen Gesamtlage niemand mehr dem Gemeinsinn vertraut, sondern jeder ausschließlich für sich das Bestmögliche zu erreichen versucht. Mit der Begründung: Die haben angefangen! Die Globalisierungsdebatte erinnert an Schulhofauseinandersetzungen.
Sozialophobie ist oft nicht nur die Angst vor anderen, sondern auch die um sich selbst. Grundlage der Furcht vorm Kommunismus ist daher die tiefe Überzeugung: Niemand tut etwas für uns, wenn wir es nicht selber tun. Wir müssen uns nehmen, was wir wollen. Geschenkt ist nur der Tod. Wenn es schon den Mineralölkonzernen so schlecht geht, dass sie immer zu Ferienbeginn mit windigsten Scheinargumenten und notfalls auch komplett losgelöst von Rohölpreis und Eurokurs den Benzinpreis erhöhen müssen – wie steht es dann um uns? Müssen wir am Essen sparen, damit wir uns den Sanifair-Stuhlgang danach überhaupt noch leisten können? Müssen wir damit rechnen, demnächst fürs Atmen bezahlen zu müssen?
Bedroht fühlt man sich dann wahlweise von Zuwanderern oder Frauen (»Die nehmen uns die Arbeitsplätze weg«), von Zuwendungsempfängern (»Die leben doch von meinen Steuergeldern!«) oder auch schlicht vom Nachbarn (»Wieso haben die ein derart großes Planschbecken? Haben die geerbt?«). Hier kommen Neid und Missgunst als verstärkende Gefühle ins Spiel. Teilen möchte man mit solchen Schmarotzern nichts (siehe: Angst vor Arbeit).
Diese Ängste schaffen zudem ein schier unerschöpfliches Reservoir von Wählerstimmen für die dunkle Seite des Parteienspektrums: Wie britische Wissenschaftler herausfanden, besitzen Menschen mit konservativer Einstellung nämlich oft eine vergrößerte Amygdala. Nur Schisser wählen rechts! Und sorgen damit dafür, dass auch ihre eigene Lebensgrundlage immer mehr gefährdet wird, wogegen sie sich durch eine weitere Verdunklung ihrer Einstellung zu behelfen versuchen etc. pp.
Allen, denen es bisher undenkbar erschien, beispielsweise die CDU zu wählen, die deutsche Schwesterpartei der in Italien verbotenen Democrazia Christiana, sei gesagt: Sie sollten das Fürchten lernen! Plötzlich werden Ihnen insbesondere die innen- und sozialpolitischen Überzeugungen des konservativen Spektrums in einem völlig anderen Licht erscheinen (siehe: Angst vor Dunkelheit).
Die konservative und neoliberale Seite der Politik spricht mittlerweile ausschließlich von Einschnitten, Einsparungen und Geldknappheit. Sich selbst meinen sie damit nicht. Und auch nicht diejenigen, die über den Großteil des Vermögens im Land verfügen. Der normale Bürger aber soll den Gürtel enger schnallen, bei sich anfangen. Schmerzliche Maßnahmen seien vonnöten, heißt es dann.
Offensichtlich haben diese Parteien ihrerseits Angst, den Herausforderungen der globalen Wirtschaft nicht gewachsen zu sein. Und nicht zu Unrecht, wenn man die intellektuellen Leistungen unseres konservativen und neoliberalen Führungspersonals bedenkt. Sofern es sich dabei überhaupt um deren geistiges Eigentum handelt. Ihre Ohnmacht ist das Einzige, was diese Politiker mit ihren Wählern teilen. Daher sollten wir ihnen helfen bei der Bewältigung dieser übermenschlichen Aufgaben.
Liebe Leserinnen und Leser: Sie sollten überprüfen, ob Sie Ihrerseits schon weit genug gegangen sind. Oder ob sie noch leichtfertig dem sich als Sozialstaat tarnenden Kommunismus vertrauen. Trauen Sie sich mehr Angst zu! Ihr Ziel sollte die Staatsparanoia der Tea-Party-Anhänger in den USA sein – nur ohne den religiösen Fanatismus.
Also: Treten Sie unbedingt aus der Kirche aus! Dadurch höhlen Sie die Finanzierung sozialer Dienstleistungen durch diesen Träger aus und verschieben deren Kosten auf die nachfolgende Generation. Achten Sie überhaupt darauf, möglichst wenig Steuern zu bezahlen, am besten gar keine. Schulen Sie zur Not um und erlernen Sie einen handwerklichen Beruf oder eröffnen Sie eine Kneipe. Beides bedeutet Schwarzarbeit Steuerfreiheit. Schicken Sie Ihre Kinder auf eine elitäre Privatschule – monatlich 1000,– Euro sollten Sie sich das Minimum kosten lassen. Die Gebühren bezahlen Sie natürlich nicht, sondern lassen sie in die anschließende Privatinsolvenz einfließen. Nutzen Sie keinesfalls öffentliche Verkehrsmittel und wenn, dann ohne Fahrschein. Und bleiben Sie sitzen, wenn eine Schwangere oder ein tattriger Greis einsteigt – die sollen ruhig stehen. Leeren Sie die Hotelminibar, füllen Sie die Flaschen mit Urin wieder auf und stellen Sie sie zurück. Sollte das auffallen und das Hotel die zu diesem Zwecke hinterlegte Kreditkarte belasten wollen, melden Sie sie einfach als gestohlen. Schaffen Sie sich einen Computer mit drahtlosem Netzwerkzugang an, damit Sie keinen eigenen Telefonanschluss finanzieren müssen. Auch Strom und Kabelfernsehen kann man sich mit ein wenig handwerklichem Geschick kostenfrei aus der Nachbarschaft besorgen. Zahlen Sie keine Müllgebühren, sondern werfen Sie Ihren Unrat auf die Straße. Für Sperrgut gibt es Autobahnparkplätze. Und nehmen Sie Vergünstigungen und Sozialleistungen in Anspruch, die Ihnen nicht zustehen – für Behinderte, Kinderreiche etc. Missachten Sie Warteschlangen, -nummern und -listen – also alles, was nach dem kommunistischen »Gerechtigkeitsprinzip« funktioniert. Drängeln Sie sich vor. Ellbogen raus! Denken Sie an die neoliberale Interpretation der Französischen Revolution: Freihandel – Ungleichheit – Brüderle!
Dann wird eines Tages endlich Freiheit unser Land bestimmen: Schulen werden nicht mehr renoviert, den öffentlichen Nah- und Fernverkehr betreiben rumänische Schleuserbanden, 30 cm tiefe Löcher in Bundesstraßen werden nicht mehr beseitigt, sondern als Schicksalsschläge hingenommen, Fassaden öffentlicher Gebäude werden nicht mehr erneuert, öffentliche Krankenhäuser an amerikanische Schönheitschirurgen veräußert, die Stadtreinigungen an neapolitanische Subunternehmer ausgelagert, Universitäten werden per Drittmittel aus der Wirtschaft finanziert werden und sich dafür durch die günstige, kontrollfreie Vergabe von Doktortiteln revanchieren. Und wer ärztliche Behandlung erhält, wird von Hedgefonds bestimmt.
Dann leben wir endlich in einer freien Welt! So wie die FDP sie sich wünscht. (Komisch nur, dass die öffentliche Infrastruktur genauso aussieht wie in der DDR. Schrott-Sozialismus aus Angst vor dem Kommunismus – eine ironische Pointe der Weltgeschichte.)