ANGST UM DIE KINDER
(Pädoauaphobie)
Mutter und Kind haben von Natur aus eine symbiotische Beziehung. Ursache dafür ist selbstverständlich der biologische Ernährungsvorgang im Mutterleib: Dort bildeten zwei Organismen eine Einheit. Eine solche Abhängigkeit ist eine wunderbare Voraussetzung, um zahlreiche elementare Ängste zu entwickeln und zu pflegen – in diesem Falle insbesondere die durchaus auch im gegenständlichen Sinne zu verstehende Trennungsangst. In den ersten Lebensmonaten ist die Sorge um das Kind natürlich berechtigt, da das Zusammen- oder aber Getrenntsein mit bzw. von der Gebärerin über das nackte körperliche Überleben eines Säuglings entscheiden kann. Niemand wird dies ernsthaft bestreiten. Aber auch in den folgenden Jahrzehnten kann die Bindung eng und damit die Angst vor deren Auflösung groß bleiben. Es wurden Frauen gesehen, die den Staatsexamina ihrer Kinder beiwohnten, um diesen in den Prüfungspausen die Brust geben zu können. Entwöhnung ist der größte Feind der Angst um die Kinder. Entbindung muss nicht zwangsläufig auch Abnabelung bedeuten!
Weit verbreitet ist der Erste-Hilfe-Rucksack, den viele moderne Mütter mit sich führen, wenn sie ihre Kinder zur Schule bringen (oder zur Arbeit): Traubenzucker, 3–7 Sorten homöopathische Kügelchen, Pflaster, Verbandsmaterial, Apfelstückchen, Trinkfläschchen, Selbstverteidigungsspray, Erste-Hilfe-Ratgeber, Ersatzhandy, 10–15 Notfallnummern, Wechselklamotten, Wundsalben, Zahnbürsten und -pasten für den Fall einer notwendigen auswärtigen Übernachtung, dazu eigene Nachtwäsche und eine Flasche Rotwein, falls eines der Kinder ins Krankenhaus eingeliefert wird und Mutti dort ebenfalls übernachten muss. Oder einfach nur so, für das Schlückchen zwischendurch, auf den Schreck, falls dem Nachwuchs auch heute erstaunlicherweise wieder nichts zugestoßen ist. Was vor allem dem rund um die Uhr getragenen Helm zu verdanken ist. It’s a jungle out there.
Natürlich haben Mütter zunächst Angst um ihre eigene körperliche Unversehrtheit, nicht nur um die des Kindes. Sie befürchten schlicht, mit der Geburt etwas von sich selbst zu verlieren, diesem ein Leben lang hinterherlaufen und sich um dessen Ernährung kümmern zu müssen. Einen Teil des eigenen Körpers nicht unter Kontrolle zu haben, ist ein unangenehmes Gefühl; das kennen viele auch von ausgelassenen Karnevalsfeiern oder von ihren Reisen in ferne Länder mit ungewöhnlichen Essgewohnheiten. Um sich auf das Wesentliche konzentrieren zu können, begraben manche Mütter den Mutterkuchen nach der Entbindung im eigenen Garten. Sie befürchten, den sonst auch noch einkleiden, einschulen oder verheiraten zu müssen.
Ihre Sorgen muss die Gebärerin unbedingt an die Kinder weitergeben, sie muss ihnen von klein auf signalisieren: Das Leben ist ein harter Keks, den keiner allein verdaut bekommt. Mutterlosigkeit ist gleichbedeutend mit Lebensgefahr – das ist das wunderbare Gefühl, mit dem jede Mutter ihr Kind auf die Lebensreise schicken sollte: Ohne mich stirbst du. Vor allem aber transportiert sie damit auch die Angst: Ohne dich sterbe ich! Dieses latente Schuldgefühl wird kein Kind ertragen.
Mütter betrachten den Nachwuchs gerne als eine Art freiwillig getragene Fußfessel: Jede räumliche Trennung löst Schmerzalarm aus. So ist nichts schlimmer für eine Mutter, als zu wissen, ihr Kind wird ein sogenannter Fahrschüler.
»Fahrschüler« heißt natürlich nicht, dass das Kind bereits im Alter von sechs Jahren seinen Führerschein macht. »Fahrschüler« ist ein insbesondere in Kleinstädten verbreiteter total abfälliger Ausdruck, eine beleidigende Beschreibung jener Kinder, die nicht mit dem Fahrrad oder zu Fuß zur Schule kommen können, sondern mit dem Bus geholt werden müssen. Als wären sie behindert. Oder, wie man es heutzutage politisch korrekt formuliert: »benachteiligt«. Dieser Ausdruck beschreibt den Zustand allerdings auch besser: Benachteiligt sind Fahrschüler definitiv. Es handelt sich nämlich meistens um die Kinder von Landwirten oder Ökomuttis, die, fernab von jeder Infrastruktur, in mehr oder weniger ausgebauten Bauernhäusern auf mehr oder weniger bewirtschafteten Höfen wohnen. Oder besser: hausen. Auf dem Land wird eher gehaust als gewohnt. Als Jugendlicher trifft man sich hier meistens abends an der Bushaltestelle.
Dort stehen diese »Fahrschüler« auch morgens, irgendwo im Nebel, im Nichts. Und warten darauf, dass man sie abholt. Sie befinden sich noch vor Tagesanbruch an einsamen, feuchten, kalten, dunklen Orten, an denen sonst niemals jemand anhalten würde, aus Angst, dass man ihn überfällt, vergewaltigt und vierteilt. Und nach dem Unterricht, wenn alle anderen Kinder bereits wieder in den wohligen Schoß der Familie zurückgekehrt sind und Mutters Schnitzel genießen, sitzen »Fahrschüler« immer noch in der Schule in irgendwelchen Warteräumen und glotzen durch verdreckte Fensterscheiben – in der stillen Hoffnung, dass sie jemand holt.
Als »Fahrschüler« ist ihr Kind, so der Albtraum aller Mütter, stets und ständig allein unterwegs und permanent in Gefahr – fern der Heimat potentiellen Gewalttätern, der Willkür des örtlichen Nahverkehrs und dem Kalorienterror amerikanischer Schnellrestaurants hilflos ausgeliefert.
Viele Mütter ertragen das nicht. Meine Eltern beispielsweise wollten ihren Kindern dieses Schicksal unbedingt ersparen und sind extra aus einem hübschen Häuschen in den Hügeln in die kleine Stadtwohnung gezogen. Vergeblich. Die Angst wurde nur größer …
Doch der Reihe nach: Mein Jahrgang war der letzte geburtenstarke: 1965. Danach ging es bergab mit den Zeugungsraten. Ein tolles Gefühl: Man kommt auf die Welt und schlagartig verlieren alle die Lust. Und sagen: »So, damit soll es dann auch genug gewesen sein.« Die Grundschulen meiner heimatlichen Kleinstadt aber waren wegen dieser Kinderschwemme zu der Zeit extrem überlastet, die Kapazitäten der dort tätigen Pädagogen erschöpft. So wurde die Einschulung der 65er zu einem besonderen Ereignis.
Der erste Schultag ist ohnehin nicht von schlechten Eltern; gerade der des Jüngsten, des Lieblings, des Nesthäkchens macht garantiert niemandem nie und nirgends wirklich Freude. Es ist hart, besonders für eine Mutter, auch das jüngste Kind der brutalen Obhut von Vater Staat übergeben zu müssen, gewissermaßen von Amts wegen zum Loslassen gezwungen zu werden. An diesem Tag biegen auch die Elternteile in die Zielgerade ein. Danach geht es für sie nämlich bergab. Bald werden sie nur noch zu zweit sein – und in Schussfahrt aufeinander zurasen.
Für das Kind ist es allerdings kein gutes Signal, wenn die Eltern in so einer Situation heulen. »Der Junge, jetzt ist er schon so groß …!« Normalerweise ist man dann ca. einmeterzwölf! Soll man etwa aufhören zu wachsen?
Alle trafen sich vor der Grundschule. Alle Kinder. Viele Kinder. Zu viele! Die Klassen wurden zusammengestellt. Schnell wurde klar – es waren sechs. Die Grundschule aber bot nur Platz für vier. So musste meine Mutter plötzlich mit ansehen, wie wir überzähligen Kinder in einen Bus verfrachtet wurden. Was war das? War ihr Sohn jetzt etwa doch Fahrschüler? Vor allem wusste scheinbar keiner, wohin die Reise gehen sollte. Panik pur! Busse ins Nichts haben in Deutschland schließlich eine schlechte Tradition. Und die Rede ist hier nicht von Auswärtsfahrten nach Cottbus.
Da kamen schlimme Ängste hoch, der Trip mutierte zum Horror. Einer übertraf den anderen mit Schreckensvisionen: Vielleicht würden unsere Eltern ja für ihre zeugungstechnische Zügellosigkeit bestraft und man nähme ihnen ihre jeweils dritten Kinder weg?! Einer hatte gehört, dass man das in China so mache. Würden wir nach Amerika verkauft und müssten dort auf Baumwollfeldern arbeiten? Damals lasen wir schließlich noch »Onkel Toms Hütte«! Oder würden wir in der benachbarten Süßwarenfabrik arbeiten müssen, bis wir mit 15 einfach grußlos umfielen? Tod für Toffifee, wäre das unser Schicksal?
In Wirklichkeit war es fantastisch – jedenfalls für uns Kinder. Wir landeten nämlich keineswegs in einem Arbeitslager, sondern nur in der Grundschule des Nachbarortes Hörste. Klingt wie schwerhörig. Genau: benachteiligt. Denn warum dieser Vorort nicht unter der Überschülerung litt, war relativ offensichtlich: Dort war schon lange niemand mehr vorbeigekommen, um den Genpool aufzufrischen. Was auch zur Konsequenz hatte, das wir Stadtkinder in der Grundschule allesamt überragende Noten hatten. Im Vergleich zur inzestuös eingetrübten Dorfbevölkerung war das zwar keine besondere Leistung. Aber: eine aufbauende Erfahrung. Ich gehe daher bis heute gerne auf Tournee. Mein Elternhaus allerdings hatte zunächst große Mühe, mein aufkeimendes Selbstbewusstsein wieder zu ersticken. Hierzu empfehlen wir die Klassiker, mit denen Mütter ja schon seit Generationen erfolgreich operieren: »Schwimm nicht zu weit raus!«, »Geh da nicht allein hin!«, »Kratz dich nicht auf!« oder »Zieh dich warm an!«. Und natürlich der ewige Top-Klammer-Spruch: »Halt dich gut fest!«
Insbesondere die Wahl der Kleidung darf als effektive angstbildende Maßnahme gelten. Wer als Kind bei 25 Grad eine braun-orange gestreifte, von Mutti selbstgestrickte Pudelmütze tragen musste, kann es bezeugen. Dadurch gelingt zweierlei: 1. Die Angst der Mutter, in diesem Falle um die Gesundheit des Kindes, bestimmt das Handeln – nicht die realen Witterungsbedingungen. 2. Das Kind wird sozial isoliert und damit umso mehr auf die Akzeptanzsignale der Gebärerin angewiesen sein. Den Heranwachsenden müssen daher so lange wie möglich Brote geschmiert und die Schnürsenkel gebunden werden. Auch sollten sie, am besten in einem beheizten, trockenen Fahrzeug, persönlich überall hingebracht und abgeholt werden. Nur von Mutti persönlich. Die Kleinen werden dankbar sein! Auch, wenn sie groß sind.
Auch Männer können von der Angst um die Kinder profitieren: Sie müssen nur ihrer Partnerin gegenüber den kindlichen, passiven Part einnehmen. Dazu sollten sie sich stets und ständig verletzen, erkranken oder anderweitig einen Mitleid erregenden Eindruck machen. Jammern allein ist meist nicht ausreichend! Frauen sind misstrauisch. Sie müssen wirklich das Gefühl haben, der Mann würde – wie Kinder – ohne ihre Hilfe schlagartig umkommen. Wenn sie davon aber einmal überzeugt ist, legt sie abends freudig seine »Klamotten für morgen« ins Bad. Kocht und putzt. Und baut im Idealfall sogar IKEA-Regale allein auf.